Kapitel eins
Der Regen peitscht nieder. Gnadenlose Wasserstrahlen prasseln auf die Straße und spritzen in hohem Bogen wieder hoch. Die Scheibenwischer rasen wie wild hin und her, können die schlechte Sicht jedoch nicht maßgeblich verbessern. Auf der glitschigen Straße steht das Wasser, die Reifen rutschen und schlittern durch die Wasserströme, die über den Asphalt fließen und sich in den Rinnen sammeln. Doch die Abflüsse sind übervoll und können kein Wasser mehr aufnehmen.
Heute Nacht ist kein Mond zu sehen. Selbst wenn nicht Neumond wäre, würde die dichte Wolkendecke keinen Strahl durchlassen. Die hoch aufragenden, fremdartigen Straßenlaternen entlang des Straßenrands sind nutzlos. Ihr schwaches Licht ist fast vollständig verschwunden, bevor es den tief darunterliegenden Boden erreicht.
Nach einer Woche unaufhörlichen Regens droht der Fluss jede Minute über die Ufer zu treten, und was einst ein ruhiges und friedliches Gewässer war, ist nun ein reißender Strom. Eine Wetterwarnung der Stufe Gelb – die bald auf Rot verschärft werden wird – wurde ausgegeben, und niemand bei klarem Verstand würde in einer solchen Nacht diese Straße entlangfahren, geschweige denn mit überhöhter Geschwindigkeit.
Doch die Personen in diesem Auto sind nicht bei klarem Verstand – oder zumindest eine von ihnen nicht.
Zwischen Beifahrer und Fahrer findet ein verzweifelter Kampf um die Kontrolle über das Lenkrad statt. Zwei Paar Hände reißen es hin und her, und das Auto schlingert wild von einer Seite zur anderen, während es dahinrast. Nach einem letzten schlitternden Ausreißer stürzt es mit der Motorhaube voran in den Fluss, wo es einige Sekunden lang an der Oberfläche verharrt, als könnte es schwimmen, bevor es lautlos im schwarzen Wasser versinkt.
Wenige Augenblicke später kommt ein Auto um die Kurve gebogen – mit deutlich reduzierter Geschwindigkeit –, und die Scheinwerfer des ersten Autos, das langsam im Wasser verschwindet, durchschneiden die nächtliche Dunkelheit und leuchten dem Fahrer direkt ins Gesicht. Verwirrt weiß er nicht sofort, was er da sieht, doch sobald er die Situation begreift, fährt er an den Straßenrand, stellt den Motor ab und setzt einen Notruf ab.
Nachdem er aufgelegt hat, macht der Fahrer – ein Mann Mitte sechzig, der auf dem Heimweg von einem Besuch bei seiner Tochter und ihrem Neugeborenen ist – keine Anstalten, aus dem Auto auszusteigen. Er weiß, dass er keine Chance hat, jemanden aus dem Wasser zu holen, weil er kein guter Schwimmer ist. Und selbst wenn er es wäre, würde er in einer Nacht wie dieser eher selbst ertrinken, als jemandem das Leben zu retten. Außerdem hat der Notdienst ihm die klare Anweisung gegeben, nicht ins Wasser zu springen, sondern dies den Profis zu überlassen. Also sitzt er im Auto und wartet geduldig, wobei er im Rückspiegel nach den Blaulichtern Ausschau hält und betet, dass sie bald kommen. Obwohl er sich sicher ist, dass es niemand mehr lebend aus diesem Auto schaffen wird.
Als die Blaulichter endlich in Sicht kommen, atmet er erleichtert auf. Er muss sich nicht länger verantwortlich fühlen. Jetzt liegt es in ihren Händen. Er zieht die Kapuze über, steigt aus dem Auto und läuft durch den Regen zu den Rettungskräften, die aus dem Fahrzeug springen und mit Taschenlampen und Scheinwerfern die Umgebung ausleuchten. Als er bei ihnen ankommt, ist er bereits völlig durchnässt. Mit Gesten und lauten Erklärungen über den prasselnden Regen hinweg zeigt er ihnen, wo er das Auto verschwinden gesehen hat. Ein Suchscheinwerfer auf einem der Fahrzeuge schwenkt herum, und er sieht zu, wie er über den Fluss schweift. Mehrere Feuerwehrleute laufen zum Ufer, und als er in ihre Richtung schaut, sieht er, wie sie auf eine Stelle im Wasser zeigen, die im Lichtstrahl dunkler erscheint.
Eine Leiche.
Doch dann bewegt sich die Gestalt, und etwas, das wie ein Arm aussieht, reckt sich in die Luft. Die Gestalt lebt, realisiert er.
Jemand hat überlebt.
Kapitel zwei
Megan
Helles Licht brennt sich in meine Netzhäute, als ich die Augen aufschlage, und ich schließe sie schnell wieder. In Vorbereitung, sie wieder zu öffnen, atme ich tief und zitternd ein. Das bereue ich jedoch augenblicklich, da diese Anstrengung einen stechenden Schmerz vom Nacken bis zum Scheitel auslöst. Ich bleibe regungslos liegen, bis der Schmerz wieder nachlässt.
Ein Kater, das ist es. Eine grausame Erinnerung daran, dass ich keinerlei Alkohol mehr vertrage, weil er mich tagelang außer Gefecht setzt. Die Nachwirkungen sind bei Weitem schlimmer als jegliches vorübergehende Vergnügen, das ich möglicherweise durch das Trinken hatte. Irgendetwas muss passiert sein, das mich zum Trinken gebracht hat. Etwas Furchtbares, wenn es mich dazu getrieben hat, meine selbst auferlegte Regel zu brechen, auf Alkohol zu verzichten, wenn es sich irgendwie vermeiden lässt.
Nur fühlt es sich nicht wirklich wie ein Kater an, denn das sind immer hämmernde Kopfschmerzen, als würde jemand mit einem Vorschlaghammer von innen auf meinen Schädel einschlagen. Katerkopfschmerzen hören nicht auf, egal wie still ich liege. Dazu käme heftiges Erbrechen, das noch lange anhält, nachdem der letzte Krümel aus meinem Magen ausgestoßen wurde.
Also. Kein Kater.
Mir ist heiß und mein Körper fühlt sich eingeengt an, als würde mich etwas Schweres niederdrücken. Plötzlich überkommt mich die Panik. Mein Gehirn schreit mich an, dass ich entführt wurde und irgendwo gefesselt bin, gefangen, unfähig zu fliehen. Ich bin jetzt die Gefangene eines Verrückten und wurde an einen Ort mitten im Nirgendwo verschleppt, wo mich niemand je finden wird und ich den Rest meines Lebens meinem Entführer ausgeliefert sein werde. Schreckliche Bilder von dem, was mir angetan werden wird, überschlagen sich in meinem Kopf, und ich ermahne mich, mich zu beruhigen, nicht gleich das Schlimmste zu denken. Ich zwinge mich, die Hände zu bewegen, spreize die Finger und fühle eine weiche Oberfläche. Langsam öffne ich die Augen einen Spaltbreit und sehe die Umrisse eines Baumwollleintuchs, das helle Blau einer Decke darüber. Sie ist bis zu meinem Hals hochgezogen und hält mich behaglich an Ort und Stelle fest. Ich drücke die Finger nach unten und erkenne das vertraute Gefühl einer Matratze.
Ich liege in einem Bett.
Aber nicht in meinem eigenen Bett, denn als ich die Finger weiterwandern lasse, spüre ich an beiden Seiten die Kanten der Matratze. Das ist ein Einzelbett, und ich habe ein Doppelbett.
Wir haben ein Doppelbett.
Ich öffne die Augen ganz und sehe, dass das Licht, das mich geblendet hat, eine lange, schmale Deckenlampe ist. Daneben ist ein brauner Fleck. Ich konzentriere mich darauf und komme zu dem Schluss, dass es sich um einen ehemaligen Wasserschaden handelt. Gemurmelte Gespräche dringen zu mir durch; Geräusche von Geschäftigkeit, das Klacken von Absätzen auf einem harten Boden, das rhythmische Piepen eines Geräts. Oder vielleicht von einem Handy. Ich drehe den Kopf, ignoriere den Schmerz, der mich zum Aufhören drängt, und versuche zu erkennen, wo ich bin.
Ein großer Raum. Weiße Wände, Betten, von denen einige mit dreiviertellangen Vorhängen umgeben sind, die nur die Sicht auf die Rollfüße der Betten freigeben.
Ein Krankenhaus.
Ich versuche, mich zu erinnern, wie, wann und warum ich hierhergekommen bin. Aber ich weiß keine Antwort darauf. Da ist nur Leere. Wurde ich operiert, gab es einen Eingriff? Schon möglich, aber wenn ja, kann ich mich nicht daran erinnern. Vielleicht ist diese Amnesie eine Nachwirkung der Narkose.
„Oh, hallo. Sie sind wach. Wie fühlen Sie sich?“
Ein Gesicht erscheint vor mir und beugt sich über mich. Braune Augen, gerötete Wangen, ein winziges Loch an der Augenbraue, wo sie ein Piercing gestochen hat. Braune, zurückgebundene Haare. Ein junges, offenes Gesicht, um die zwanzig, vielleicht jünger. Sie lächelt, während sie auf meine Antwort wartet, aber es ist ein professionelles Lächeln, das ihre Augen nicht erreicht.
„Wo bin ich?“
„Im Krankenhaus.“
„Warum?“
„Erinnern Sie sich nicht?“, fragt sie, ohne meine Frage zu beantworten. „Können Sie mir Ihren Namen sagen?“
„Megan Fordham“, antworte ich automatisch. „Aber ich weiß nicht, warum ich hier bin.“
„Sie hatten einen Unfall. Wir glauben, dass Sie sich vollständig erholen werden, aber wir behalten Sie noch ein paar Tage zur Beobachtung hier.“
Ich fühle ihre kalten Finger auf meiner Haut, als sie mein Handgelenk ergreift, um meinen Puls zu messen. Obwohl sie nur ihre Arbeit macht, ist ihre Berührung beruhigend. Ein Unfall, also keine Operation. Ich schließe die Augen. Regen, der gegen eine Windschutzscheibe prasselt, fließt innen über meine Augenlider, begleitet von hypnotisch schwingenden Scheibenwischern, die das Wasser mit jedem Hin und Her wegwischen. Ich war irgendwohin unterwegs, so viel weiß ich noch, also muss es ein Autounfall gewesen sein. Was sonst?
„Ein Autounfall?“
Sanft legt sie meine Hand zurück auf das Bett. „Ja. Aber Sie werden sich wieder erholen. Sie haben Prellungen, aber keine schweren Verletzungen.“ Wieder dieses professionelle Lächeln. Sie zieht das Leintuch zurecht, steckt die Bettdecke um mich fest und streicht sie glatt.
„Was ist passiert? Ich kann mich nicht erinnern.“
Sie zögert, weicht meinem Blick aus. „Die Oberschwester wird gleich mit Ihnen sprechen. Sie wird Ihnen alles erklären.“
Ich greife nach der Decke, schlage sie zurück und versuche, mich aufzurichten, mich aufzusetzen.
„Es ist besser, wenn Sie liegen bleiben.“
Ich ignoriere sie, ignoriere den Schmerz, der mir bei jeder Bewegung durch den Schädel schießt. Im Liegen fühle ich mich hilflos, und das halte ich nicht aus.
Nach einem Moment seufzt sie und hilft mir, mich aufzusetzen, indem sie die Kissen in meinem Rücken so arrangiert, dass ich mich anlehnen kann.
„Besser?“, fragt sie.
„Ja.“ Der Raum dreht sich, und ein heftiger Brechreiz steigt in mir auf, doch ich schlucke ihn hinunter. Langsam lässt der Schmerz in meinem Kopf nach und wird erträglich.
„Wie bin ich hierhergekommen?“
„Die Oberschwester wird Ihnen alles erklären.“ Sie weicht zurück, kann es kaum erwarten, meinen Fragen zu entkommen.
„Warum können nicht Sie es mir sagen?“
„Die Oberschwester wird mit Ihnen sprechen“, wiederholt sie und wendet sich zum Gehen. Doch sie ist nicht schnell genug, denn ich sehe es: das Aufflackern in ihren Augen.
Diesen Blick habe ich schon einmal gesehen, und ich weiß, was er bedeutet: Es gibt schlechte Nachrichten und sie will nicht diejenige sein, die sie mir überbringt.
***
Als ich aufwache, liegt mein Kopf unbequem auf einer Seite, mein Arm hängt über die Bettkante und mein Gesicht ist neben meinem weit geöffneten Mund nass. Ich habe gesabbert. Die Erinnerung kehrt zurück: Die Oberschwester sollte mir sagen, warum ich hier bin, aber obwohl ich es unbedingt wissen wollte, bin ich eingeschlafen. Ich wische mir das Gesicht ab, richte mich auf, und diesmal sind die Schmerzen nicht mehr so stark.
Sie sind erträglich.
Wie lange habe ich geschlafen? Minuten? Stunden?
Ich habe keine Ahnung.
Ein Plastikkrug und -becher stehen auf dem quadratischen Nachtschrank. Unbeholfen drehe ich mich zur Seite, strecke mich und ziehe den Krug zu mir heran. Ich schenke Wasser in den Becher ein, wobei ich ein wenig verschütte. Mit zitternden Händen nehme ich den Becher und trinke ihn in großen Schlucken leer, wobei die Schmerzen in meiner Kehle mich zusammenzucken lassen. Die Flüssigkeit erreicht meinen Magen, und ich muss gegen den Drang ankämpfen, es direkt wieder auszuspeien; ich hätte langsamer trinken sollen. Nachdem ich den Becher wieder auf den Nachttisch geschoben habe, lasse ich mich in die Kissen zurückfallen und betrachte meine Umgebung. An der gegenüberliegenden Wand stehen vier Betten. Die Vorhänge um die Betten zu meiner Linken und Rechten sind zugezogen, sodass meine Sicht auf einen schmalen Streifen in der Mitte der Krankenhausstation beschränkt ist. Am Ende des Raumes kann ich gerade noch den Rand eines Türrahmens erkennen. Ich starre auf den blauen Vorhangstoff – oder ist es Papier? – und frage mich, wer in den Betten neben mir liegt. Es scheint ruhiger als bei meinem ersten Erwachen, und ein schwacher Essensgeruch liegt in der Luft. Ich habe keine Ahnung, wie spät es ist, aber durch die Fenster fällt Tageslicht. Vielleicht ist das die Ruhe nach dem Mittagessen.
Ich schaffe es, mich aufzurichten, und lehne mich nach vorne, kann aber keine Krankenpfleger oder Ärzte sehen. Dann fällt mir ein, dass es irgendwo in der Nähe einen Notfallknopf geben muss. Mum hatte bei ihren unzähligen Krankenhausaufenthalten immer einen in Greifweite. Obwohl Mum tot ist, muntert mich diese Erinnerung seltsamerweise auf, denn sie bedeutet, dass ich mein Gedächtnis nicht vollständig verloren habe.
Ich schlage die Decke zurück und schwinge meine Beine über die Bettkante. Der Krankenhauskittel, den ich trage, ist um meine Taille hochgerutscht. Schnell ziehe ich ihn hinunter, um meine Blöße zu bedecken, auch wenn niemand herübersieht. Über dem Kopfbrett hängt ein Kabel. Ich greife danach und drücke den roten Knopf in der Mitte. Es ertönt kein Geräusch, also drücke ich noch einmal. Mir ist bewusst, dass ich ungeduldig bin, aber das ist mir egal, denn ich habe lange genug gewartet.
Als niemand kommt, drücke ich noch einmal und lasse diesmal meinen Finger auf dem Knopf. Irgendwo muss es gerade summen. Zwei Krankenschwestern tauchen am Ende der Station auf, bleiben jedoch plaudernd in der Tür stehen. Warum brauchen sie so lange? Ich halte den Knopf weiterhin gedrückt, und nach einem Moment trennen sie sich, und eine kommt auf mich zu. Sie ist in Marineblau gekleidet. Das bedeutet, sie ist die Stationsleiterin, die Oberschwester.
„Sie sind wach.“ Sie kommt auf mich zu, nimmt mir den Rufknopf aus der Hand und hängt das Kabel über das Kopfbrett. Dann erst geht sie ans Fußende des Bettes, nimmt das Klemmbrett, das dort hängt, und sieht es durch. „Wie fühlen Sie sich?“
„Nicht so gut.“
„Der Arzt hat Ihnen Schmerzmittel verschrieben, die gegen die Schmerzen helfen werden. Sie haben etwas getrunken“, sagt sie mit Blick auf den Becher. „Das ist gut.“
„Was ist mit mir passiert?“
„Sie waren in einen Autounfall verwickelt.“
Aufs Neue regt sich eine Erinnerung: Regen, Dunkelheit.
„Bin ich gefahren? Habe ich jemanden angefahren?“
„Ich weiß nicht, ob Sie am Steuer saßen, diese Information hat uns die Polizei nicht gegeben. Aber ich weiß, dass Sie niemanden angefahren haben. Das Auto, in dem Sie saßen, ist während des Unwetters von der Straße abgekommen und in den Fluss gestürzt. Sie wurden aus dem Wasser gerettet.“
Eine Erinnerung, wie meine Hände das Lenkrad umfassten, blitzt in meinem Gehirn auf. Ich bin gefahren.
Oder doch nicht?
Denn da waren noch andere Hände am Lenkrad. Beide von uns versuchten, die Kontrolle über das Auto zu erlangen. Kämpften um die Kontrolle. Ich war nicht allein.
„Wo ist Rick?“
Keine Antwort.
„Wo ist mein Mann?“ Er war bei mir, da bin ich mir ganz sicher. Oder spielt mir meine Erinnerung einen Streich?
Sie hängt das Klemmbrett wieder ans Bettende, kommt dann um das Bett herum und setzt sich neben mich.
„Es tut mir sehr leid“, sagt sie und nimmt meine Hand. „Aber ich muss Ihnen leider sagen, dass Ihr Mann aufgrund seiner Verletzungen das Bewusstsein nicht wiedererlangt hat.“
Ihre Worte ergeben keinen Sinn, können keinen Sinn ergeben.
Tot. Rick ist tot.
Wie kann er tot sein?
„Die Ärzte haben ihr Bestes versucht, aber leider konnten sie nichts mehr tun.“ Sie tätschelt meine Hand. Ihre Finger sind warm, meine eiskalt. Ich starre auf sie hinunter.
„Kann ich jemanden für Sie anrufen?“, fragt sie. „Ein Familienmitglied, eine Freundin?“
„Nein“, bringe ich nach einem Moment hervor. „Es gibt niemanden.“
Kapitel drei
Megan
Das ist erst die zweite Beerdigung, auf der ich je war.
Die erste war die meiner Mutter vor zwei Jahren.
Auf den Tag genau. Das war mir bewusst, sobald der Termin für Ricks Beerdigung vorgeschlagen wurde, aber ich habe mir nicht die Mühe gemacht, ihn zu ändern, obwohl Elaine mich dazu überreden wollte, weil dieser Tag auch in ihr Gedächtnis gebrannt ist. Was macht es schon für einen Unterschied, dass sie am gleichen Tag wie die meiner Mutter stattfindet?
Keinen.
Außerdem hatte ich nichts mit den Vorbereitungen zu tun, obwohl Rick mein Mann war. Keith und Elaine haben sich um alles gekümmert. Elaine hat sicher den größten Teil übernommen, auch wenn Keith versuchen wird, die Lorbeeren dafür einzuheimsen. Da ich kaum richtig funktionierte, habe ich zugelassen, dass sie die Sache in die Hand nehmen und alles organisieren. Die Wahl des Bestatters, der Blumen, des Sargs, der Lesungen, der Zeitungsanzeige – das alles haben sie ausgesucht.
Elaine hat sich Mühe gegeben, den Anschein zu erwecken, dass ich daran beteiligt war, indem sie mir ab und zu eine Broschüre oder ein Bild unter die Nase hielt und mich fragte, ob es mir gefiele, und ich antwortete einfach mit einem Ja oder einem Nicken, ohne wirklich zu registrieren, was ich vor mir hatte. Mir ist das alles egal. Wenn es nach mir ginge, würde ich mir keine Beerdigung antun, denn ich brauche kein Ritual mit Krematorium, Blumen und Trauerfeier, um mich von Rick zu verabschieden. Er ist tot und kommt nie wieder, und all das ist nur für andere Leute, hauptsächlich für Kollegen und Bekannte von Rick, die ich kaum kenne. Sie waren kein Teil unseres gemeinsamen Lebens. Der heutige Tag ist etwas, das ich hinter mich bringen muss, weil es erwartet wird, wenn jemand stirbt; es ist die Norm, es ist erforderlich, es wird erwartet.
Was würde Rick von alldem halten? Wäre es ihm wichtig, was für eine Beerdigung er bekommt? Welche Musik gespielt wird, wenn der Sarg ins Krematorium getragen wird? Ich weiß es ehrlich gesagt nicht, weil wir nie darüber gesprochen oder auch nur darüber nachgedacht haben. Wir waren seit einem Jahr verheiratet, und da wir noch jung waren, hatten wir den Tod und Beerdigungen nicht auf dem Schirm. Über solche Dinge sprachen nur alte Leute, die ihr Leben bereits quasi hinter sich hatten, nicht wir. Wir hatten die Zeit auf unserer Seite und noch Jahrzehnte des Lebens vor uns.
Nur dass das bei ihm doch nicht der Fall war.
„Alles in Ordnung, Liebes?“ Elaine tätschelt meine Hand und mustert mich besorgt. Sie trägt dasselbe schwarze Kleid mit Jäckchen wie bei Mums Beerdigung, und ich nehme an, dass sie es erst zum zweiten Mal trägt. Seit Mums Tod hat sie aber offensichtlich ein wenig zugenommen, denn das Kleid sitzt etwas eng und sie zieht es nach jedem Schritt wieder nach unten über die Knie. Sie hat es extra für Mums Beerdigung gekauft, und ich weiß, dass es teuer war. Nicht, weil sie es mir gesagt hat, sondern weil ich es selbst anprobiert und als zu alt für jemanden in meinem Alter abgetan habe. Elaine stand es vor zwei Jahren gut und auch jetzt noch, obwohl sie ständig den Rock runterzieht. Es ist elegant und passt perfekt zu einer Siebenundfünfzigjährigen – so alt wäre Mum jetzt auch, wenn sie noch am Leben wäre.
Als ich nicke, tätschelt sie noch mal meine Hand und drückt sie. Die Wärme und das Gefühl ihrer Finger sind tröstlich, beruhigend. Hätte Elaine sich nicht um mich gekümmert, hätte ich mich wahrscheinlich einfach zusammengerollt und mein Leben aufgegeben. Auf ihre liebevolle Art hat sie mich jeden Morgen praktisch aus dem Bett gezerrt und mich dazu gezwungen, weiterzumachen, und mir gesagt, dass diese düsteren Tage wieder vorbeigehen würden.
Ich weiß nicht, ob ich ihr glaube.
Ich schaue auf ihre Hand hinab, die meine umschließt. Meine Finger sind eiskalt, schon seit dem Unfall. Mir wird einfach nicht warm, egal wie viele Schichten ich trage oder wie hoch ich die Heizung aufdrehe.
Ein rasselnder Raucherhusten erinnert mich daran, dass Elaines Ehemann Keith auf meiner anderen Seite auf der Rückbank des Autos sitzt. Während unserer Fahrt zum Krematorium starrt er stoisch aus dem Fenster, und jedes Mal, wenn er durch die Nase ein- und ausatmet, ist ein leises Pfeifen zu hören. In der Luft liegt ein leichter Geruch nach seinem zitronigen Aftershave und nach Zigarettenrauch, und ich spüre seine Ungeduld, dass endlich alles vorbei ist, damit wir zum Leichenschmaus gehen können und er sein erstes Bier trinken kann.
Nicht dass ich es ihm verübeln kann. Ich will auch, dass es vorbei ist.
Noch fünf Minuten, dann sind wir da. Dann beginnt der Zirkus und wir werden die Rituale durchlaufen, die richtigen Dinge sagen und so tun, als würde uns das alles Trost und einen gewissen Frieden bringen. Rick würde den Leichenschmaus für Geldverschwendung halten, weil er nicht hier ist, um ihn zu genießen. Plötzlich steigt in mir der Drang auf, über diesen Gedanken zu lachen, aber ich halte mich zurück, aus Angst, hysterisch zu wirken.
Wenigstens ist der erste Teil vorbei – der allerschlimmste Teil, nämlich als der Leichenwagen mit Ricks Sarg unser Haus verließ und der Bestatter in seinem schwarzen Anzug und mit steinerner Miene langsam und feierlich vor dem Fahrzeug herschritt. Ich hatte vergessen, dass sie das tun. Bei meiner Mum vor zwei Jahren war es genauso, und schon damals war es ein Schock für mich. Ich hatte keine Ahnung, dass man das so macht, weil ich noch nie auf einer Beerdigung gewesen war und nicht wusste, was mich erwartete. Es hatte etwas so unglaublich Trauriges und Endgültiges an sich, wodurch ich es schlimmer fand als die Beerdigung selbst. Als unser Auto dem Leichenwagen im Schritttempo die Straße hinauffolgte, brach ich völlig zusammen. Ich erinnere mich an Weinen und Schreien, dass ich es nicht ertragen konnte, dass Mum nicht tot sein konnte, dass ich nicht weiterleben konnte. Keith und Elaine konnten ihre Bestürzung über meine nackte Trauer nicht verbergen, und als wir endlich beim Krematorium ankamen, mussten sie mir aus dem Auto helfen, da ich kaum noch laufen konnte. Sie stützten mich auf beiden Seiten und trugen mich praktisch in den Trauerraum.
Ich dachte, ich würde mich nie von dem Verlust meiner Mum erholen; ich wollte mich nicht erholen, ich wollte auch sterben.
Und dann kam Rick, die Liebe meines Lebens, und hat mir neuen Lebenswillen geschenkt.
Und jetzt ist auch er tot.
Der Straßenlärm verändert sich, als der Fahrer das Auto geschmeidig auf die Schotterauffahrt zum Krematorium lenkt. Ich schaue auf und sehe, wie das gedrungene, quadratische Gebäude immer näher kommt. Innerlich bereite ich mich auf das vor, was nun bevorsteht. Es dauert keine Stunde, sage ich mir. Die Trauerfeier dauert keine Stunde.
Das stehe ich durch.
Wir halten an, und ich klettere hinter Keith aus dem Auto, während Elaine auf der anderen Seite aussteigt. Schneeflocken wehen mir ins Gesicht, trocken und pulvrig, überhaupt nicht wie Schnee. Die Wettervorhersage hat einen Kälteeinbruch angekündigt, und es wurden Unwetterwarnungen herausgegeben, wie Elaine berichtete, die das Wetter wie ein Falke beobachtet und immer Angst hat, eingeschneit zu werden, obwohl sie mitten in der Stadt wohnt. Es ist bitterkalt, und meine dünne schwarze Jacke und mein Kleid bieten keinerlei Schutz gegen den eisigen Wind, der meine Haare herumpeitscht. Ich hätte sie zu einem Dutt zusammenbinden sollen, aber ich habe sie offen gelassen, sodass sie in sanften Wellen auf meine Schultern fallen und mein Gesicht umrahmen. So mochte Rick es am liebsten. Er hat mir immer gesagt, dass mein natürlich blondes Haar eines der ersten Dinge war, die ihm an mir aufgefallen sind.
Vor dem Auto nimmt Elaine meine Hand fest in ihre, und ich lasse mich von ihr führen wie ein Kind. Wir drei betreten die Eingangshalle, Keith voran. Dort wartet die Trauerrednerin gemeinsam mit mehreren anderen Beamten, und als sie uns sieht, löst sie sich von der Gruppe und kommt auf uns zu. Ihr Mund bewegt sich schnell, so viele Worte strömen heraus, aber ich kann nicht hören, was sie sagt; es ist, als wäre der Ton ausgeschaltet, und ich befände mich in einem Vakuum und würde aus der Ferne zusehen. Werde ich gleich ohnmächtig? Mir ist nicht schwindelig, aber ich fühle mich seltsam, als wäre ich nicht wirklich hier.
Die geschwätzige, vogelähnliche Trauerrednerin – Sheila heißt sie, glaube ich – kam letzte Woche vorbei, um für die Trauerrede alles über Ricks Leben zu erfahren. Wenn ich mich an das Gespräch zu erinnern versuche, höre ich nur ihr unaufhörliches Gezwitscher. Elaine war dabei, also hat vielleicht sie die Lücken in meinen Erzählungen gefüllt. Ich habe zu Hause eine Kopie von dem, was sie sagen wird, aber ich habe mir nicht die Mühe gemacht, es zu lesen.
Ricks Leben auf drei Seiten zusammengefasst.
Nach ein paar Minuten entfernt sie sich wieder von uns, und obwohl ich kein Wort gesagt habe, wird mir klar, dass ich das auch nicht muss. Heute wird nichts von mir erwartet, außer dass ich anwesend bin. Dieser Gedanke tröstet mich. Ich muss gar nichts tun.
Jetzt betreten wir zu dritt die Kapelle, wo wir unsere Plätze in der ersten Reihe einnehmen und schweigend dasitzen wie drei Krähen. Ich starre auf das Rednerpult und dann auf den Sockel dahinter, auf dem der Sarg aufgestellt werden wird, und versuche, nicht an die Vorhänge zu denken, die am Ende der Trauerfeier geschlossen werden. Ab in den Brennofen, würde Rick sagen, wenn er hier wäre. Sobald sich diese Vorhänge schließen, wird Rick für immer fort sein.
Der Raum füllt sich langsam. Das Geräusch von Schritten, das Murmeln gedämpfter Stimmen, das Rascheln vom Hochnehmen der Trauerfeierabläufe von den Sitzen dringen zu meinem Gehirn durch. Ich kann wieder hören. Husten, Räuspern, das Knarren der Sitze, wenn sich die Leute setzen. Ich drehe mich nicht um, um zu sehen, wer da ist; ich werde sie alle noch früh genug sehen, wenn sie sich verabschieden. So viel weiß ich noch von Mums Beerdigung.
Ich höre, wie Elaine Keith etwas darüber zumurmelt, dass die Beerdigung „gut besucht“ sei. Das hat sie auch bei der von Mum gesagt, als ob es wichtig wäre, wie viele Leute kommen, wenn der Mensch, den man am meisten liebt, gestorben ist. Mum erzählte mir, dass meine Großeltern es sich später im Leben zum Hobby gemacht hatten, Beerdigungen von Bekannten zu besuchen, weil sie ein Alter erreicht hatten, in dem das zu einer regelmäßigen Veranstaltung wurde. Es war eine Art Ausflug, eine Gelegenheit, alte Freunde wiederzusehen, inklusive gratis Speis und Trank. So beschrieben sie es. Das brachte mich immer zum Lachen, obwohl ich nur vage Erinnerungen an meine Großeltern habe, da ich bei ihrem Tod gerade einmal vier Jahre alt war. Heute kann ich mir nichts Schlimmeres vorstellen als eine Beerdigung.
Die Musik setzt ein, und ich erkenne eines von Ricks Lieblingsliedern, eines von dreien, die ich ausgewählt habe. Das war mein einziger Beitrag zu seiner Beerdigung. Ich höre, wie sich Türen öffnen, und diesmal kann ich mich nicht davon abhalten, mich umzudrehen, weil ich weiß, was jetzt passiert: Der Sarg wird hereingebracht. Vier schwarz gekleidete Sargträger tragen ihn langsam den Gang entlang, den Blick starr nach vorne gerichtet. Der Sarg sieht zwischen den vier Männern klein aus, dabei war Rick über einen Meter achtzig groß. Eins achtundachtzig, wie er immer sagte, um die acht Zentimeter nicht zu vergessen. Wie kann jemand, der so voller Leben war, zu etwas in einem Holzsarg reduziert werden? Nicht mehr ein Mensch, nur noch ein Körper. An einem Tag war er noch da, am nächsten war er weg. Wie kann das sein?
Ich wende mich ab, damit ich den Sarg nicht sehen muss; ich kann nicht zusehen. Stattdessen schaue ich mich um und stelle fest, dass jeder Platz besetzt ist. Wir haben Freunde, allerdings nicht so viele, aber Rick hatte viele Arbeitskollegen. Ich habe keine Familie und ging davon aus, dass sich, wenn überhaupt, nur wenige von Ricks Verwandten die Mühe machen würden, zu kommen, da er keinen Kontakt zu ihnen gehalten hat. Seine Eltern sind schon lange tot, und zu seiner einzigen Schwester hatte er kein enges Verhältnis und hatte sie seit Jahren nicht mehr gesehen. Obwohl wir verheiratet waren, habe ich sie nie kennengelernt. Sie ist jünger als Rick, und ich habe noch nicht einmal ein Foto von ihr gesehen. Ist sie hier? Würde sie zur Beerdigung ihres Bruders kommen, zu dem sie seit Jahren keinen Kontakt mehr hatte? Würde sie überhaupt erfahren, dass er gestorben ist? Elaine hat dafür gesorgt, dass das Bestattungsinstitut die Todesanzeige in mehreren Zeitungen veröffentlicht hat, aber nicht jeder liest die Todesanzeigen.
Ich tue das jedenfalls nie.
Rick war, wie er selbst sagte, ein „Armeebalg“, der ständig umziehen musste. Mit elf Jahren wurde er auf ein Internat geschickt und verbrachte die Ferien nicht mit seinen Eltern, die im Ausland stationiert waren, sondern mit seinen Freunden. Daher hatte er auch keine Beziehung zu seiner Schwester; sie war nie Teil seines Lebens. Und als wir heirateten, war das in einem Standesamt, nur wir beide und zwei angeheuerte Trauzeugen. Danach erzählten wir es unserem kleinen Freundeskreis und taten so, als wäre es eine spontane, romantische Entscheidung gewesen, obwohl das natürlich nicht stimmte. Man kann nicht heiraten, ohne einen Monat vorher einen Termin zu vereinbaren.
Elaine berührt meinen Arm und holt mich zurück in die Gegenwart. Ich drehe mich nach vorne. Shirley, die Trauerrednerin, spricht nun. Direkt schalte ich ab, weil ich keine Lust habe, ihre geschönte Version von Ricks Leben zu hören. Wird irgendjemand der Anwesenden darin den Mann wiedererkennen, den er kannte?
Ich starre auf den Boden und wünsche mir, dass alles vorbei ist.
***
Wir biegen in den Parkplatz ein und halten direkt vor dem Eingang des Hotels. Zu spät merke ich, dass ich besser hätte aufpassen sollen, wo der Leichenschmaus stattfindet. Ich erinnere mich vage daran, dass Elaine mir eine Broschüre für ein Hotel unter die Nase gehalten hat, aber mir ist nicht aufgefallen, dass es sich um das Regency Arms handelte. Nicht dass es eine schlechte Wahl wäre, denn es ist genau die richtige Art von vornehm – nicht einschüchternd, aber sie verstehen ihr Handwerk. Das Restaurant ist sehr gut, was bedeutet, dass – obwohl wir kein volles Menü bestellen – das Buffet sicher erstklassig und der Service ausgezeichnet sein werden. Hier gibt es keine blassen Würstchen im Teigmantel oder eingerollte Sandwiches, also ist es theoretisch der perfekte Veranstaltungsort. Elaine hätte nicht ahnen können, dass dies der letzte Ort auf Erden war, den ich gewählt hätte, um das Leben meines kürzlich verstorbenen Ehemannes zu feiern.
Dieser Ort weckt schlimme Erinnerungen, sowohl für mich als auch für Rick.
Ich verdränge den Gedanken; ich habe schon genug um die Ohren. Wenn ich diese Erinnerungen in mein Gehirn lasse, bin ich am Ende und werde den Rest nicht überstehen.
„Bereit?“ Elaine hält meine Hand mit eisernem Griff umklammert, und obwohl ich sie sehr lieb habe, will ich sie gerade am liebsten wegstoßen und abhauen. Ich glaube, sie hat Angst, dass ich kneife, wie Keith hinter meinem Rücken zu ihr gesagt hat, als ich aus dem Krematorium geflohen bin, sobald sich nach der Trauerfeier die Türen geöffnet hatten. Die Etikette sah vor, dass ich in den Gedenkgarten gehen und dort die anderen Trauergäste begrüßen, mir ihre Blumen ansehen, Beileidsbekundungen entgegennehmen und mich für ihr Kommen bedanken sollte.
Ich konnte mich zu nichts davon durchringen.
Als die Vorhänge vor dem Sarg zugezogen wurden, schaffte ich es gerade noch, sitzen zu bleiben. Wären die Türen zu diesem Zeitpunkt bereits offen gewesen, hätte ich in Hochgeschwindigkeit das Weite gesucht, um so viel Abstand wie möglich zwischen mich und das zu bringen, was mit Ricks Leiche geschehen würde. Als ich in den Wagen stieg, der vor dem Krematorium wartete, starrte der Fahrer mich schockiert an, auch wenn er versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen. Ich blieb dort auf der Rückbank sitzen und atmete zitternd ein und aus, bis Elaine mich suchen kam.
Da sind wir nun, und wieder einmal will ich weglaufen, fliehen, so tun, als würde das alles nicht passieren. Keith neben mir wartet spürbar ungeduldig darauf, dass er endlich aussteigen und geradewegs zur Bar gehen kann, aber Elaine hat ihn sicher ermahnt, dass ich das Hotel als Erste betreten muss. Elaine und Mum waren seit ihrer Schulzeit beste Freundinnen, standen sich näher als Schwestern und waren immer füreinander da. Aber Mum mochte Keith nie – trotz aller Bemühungen – und verstand einfach nicht, warum Elaine ihn geheiratet hatte. Mum hielt ihn nie für gut genug für ihre beste Freundin, auch wenn sie es um Elaines willen möglichst verbarg. Ich glaube, Keith wusste, was sie über ihn dachte, da sie immer einen eher distanzierten Umgang miteinander pflegten. Keith und ich haben uns wenig zu sagen, obwohl Elaine wie eine zweite Mutter für mich ist, aber ich bemühe mich, stets höflich zu bleiben. Mum hat oft zu mir gesagt, dass Keith nichts und niemanden mag, außer seinem täglichen Bier und Zigaretten.
„Ja, ich bin bereit.“ Ich setze mich aufrecht hin, straffe die Schultern und atme tief ein. Es ist Zeit, mich dem letzten Abschnitt der Beerdigung zu stellen und sie hinter mich zu bringen. Nach dem heutigen Tag muss ich mit meinem Leben weitermachen. Schluss mit dem Zu-Hause-Verkriechen.
„Das hier ist der bessere Teil, Liebes“, sagt Elaine und drückt meine Hand. „Jeder kann in Erinnerungen an Rick und all die schönen Zeiten schwelgen. Es wird nicht so schlimm werden.“
Ich ringe mir ein Lächeln ab, und sie wirkt beruhigt, auch wenn ich ihr das keine Sekunde abkaufe. Das war nicht der beste Teil von Mums Beerdigung; es gab keinen besten Teil. Für Elaine werde ich versuchen, eine tapfere Miene aufzusetzen. Sie behandelt mich wie die Tochter, die sie nie hatte, sogar schon, als Mum noch lebte, weil „Keith und mir nie ein Kind geschenkt wurde“, wie sie es ausdrückt. Nach einem weiteren Tätscheln und Drücken meiner Hand lässt sie mich los, steigt aus dem Auto und wartet, bis ich ihr folge. Einen Moment lang stehen wir da und starren die imposante Fassade des Regency Arms hinauf.
Ich verdränge die schrecklichen Erinnerungen an jene Nacht und gehe zielstrebig auf den Hoteleingang zu.
Bringen wir es hinter uns.