Kapitel 1
Heute
Während ich mitten in der Nacht auf dem abgelegenen Pfad unterwegs bin, kann ich an nichts anderes denken als an meine Tochter Abby. Sie wird ohne ihre Mutter aufwachsen. Was für ein Leben wird das für sie sein? Welchen bleibenden Schaden wird sie davontragen?
„Weitergehen“, sagt er und stößt mir die Hand ins Kreuz. Ich muss nicht hinter mich sehen, ich weiß auch so, wer da ist und mich meinem Tod entgegenführt. Ich kann es nicht fassen, dass es dazu kommen konnte.
Vielleicht habe ich das ja verdient, immerhin habe ich bei beiden versagt. Zuerst bei Imogen, jetzt bei Abby, meinen beiden Mädchen – meinen Babys. Ich werde nicht miterleben, wie sie erwachsen werden.
„Hier abbiegen“, sagt er und gibt mir einen Schubs. Seine Stimme klingt kalt und herzlos.
Ich befolge seine Anweisung, stolpere aber über die Wurzel eines Baums. Ich lande auf meinen Knien. Im Dunkeln kann ich den Untergrund kaum ausmachen. Durch das Betäubungsmittel dreht sich in meinem Kopf noch immer alles.
„Steh auf“, brüllt er mich an und zerrt mich am Ellbogen hoch.
Ich stolpere vorwärts, dann bleibe ich einfach stehen.
„Was soll das werden?“, knurrt er mich an.
„Ich weiß nicht, was du vorhast, aber bring es einfach zu Ende“, antworte ich. „Bring mich um, dann ist es vorbei.“ Auf meine Aufforderung reagiert er mit Schweigen. Was geht ihm in diesem Moment durch den Kopf? Wird er es tatsächlich durchziehen? Ist mein Leben vorbei? Oder bedauert er seine Entscheidungen?
„Weitergehen“, murmelt er und gibt mir erneut einen Schubs.
Die Nachtluft ist kalt und riecht nach Herbstlaub. Es wird das Letzte sein, was ich in meinem Leben rieche. Warum habe ich ihn so weit getrieben? Es gab so viele Gelegenheiten, bei denen ich hätte aufhören können. Ich hätte entscheiden können, dass ich die Jagd nach der Wahrheit weit genug getrieben habe. Aber ich habe weitergemacht. Und jetzt muss ich den Preis für meinen Stolz bezahlen.
Ich könnte versuchen, mich gegen ihn zu wehren, aber das wäre völlig sinnlos. Er würde mich einfach überwältigen. Wenn ich ihn nicht noch mehr verärgere, als ich es ohnehin schon getan habe, gewährt er mir vielleicht einen gnädigen Tod. Das ist das Beste, worauf ich hoffen kann, wenn ich bedenke, was ich alles weiß.
„Wir sind da“, sagt er.
Er hat mich an den Rand einer Steilwand geführt. Ein Blick nach unten verrät mir, dass mich der sichere Tod erwartet. Er muss es so geplant haben, dass alles nach einem Unfall aussieht. Ich trage Wanderschuhe und warme Kleidung, die er mir angezogen hat, als ich bewusstlos war. Niemand wird einen Verdacht hegen.
Unwillkürlich muss ich seufzen, als ich in die dunkle Leere starre. Der Abgrund wird fast unsichtbar, als sich Wolken vor den Halbmond schieben. Ich frage mich, ob jemand meine Leiche finden wird. Ich hoffe es Abby zuliebe, denn sie soll nicht glauben, dass ihre Mutter sich abgesetzt und sie im Stich gelassen hat.
„Umdrehen“, sagt er.
„Nein“, erwidere ich. Der Irre will mir tief in meine Seele blicken, wenn er mich von der Klippe stößt. Ich werde nicht zulassen, dass sein Gesicht das Letzte sein wird, was ich in meinem Leben zu sehen bekomme. Meine letzten Gedanken werden Imogen und Abby gelten.
„Mach schon“, brüllt er mich an. Seine Stimme schallt durch die Nacht, aber das macht nichts. Ich glaube nicht, dass sich im Umkreis von vielen Meilen auch nur ein Mensch aufhält.
„Nein“, wiederhole ich. Mein Widerstand führt allerdings dazu, dass mich zwei starke Hände an den Schultern packen und mich gegen meinen Willen umdrehen. Jetzt kann ich nur noch die Augen zukneifen und an meine Kinder denken. Er kann mir das Leben nehmen, aber meine Gedanken kann er nicht töten.
„Mach die Augen auf, Maia“, herrscht er mich an.
Ich schüttele den Kopf. Ich werde so sterben, wie ich es will.
Er drückt mich runter auf die Knie und sagt: „Mach die Augen auf, du musst die Wahrheit sehen.“
Die Wahrheit. Das Wort zwingt mich dazu, über die letzten Wochen und über all die Dinge nachzudenken, die ich herausgefunden habe. Mein Leben ist in Rekordzeit in sich zusammengestürzt, und das alles nur, weil ich nicht die Lügen akzeptieren konnte, die er meinetwegen konstruiert hatte.
„Maia“, sagt er mit ernster Stimme.
„Nein“, beharre ich. „Das werde ich nicht tun.“
„Mach einfach die Augen auf“, redet er weiter auf mich ein, während er nach wie vor meine Schultern festhält. „Dann wird es vorbei sein.“
Ich kann nicht nachgeben. Das ist nämlich das, was er will. Vielleicht möchte ich ja wissen, was er mich so unbedingt sehen lassen möchte, aber meine Neugier ist nicht von Bedeutung. Er glaubt, dass er alles kontrollieren kann, aber für meine allerletzten Gedanken gilt das nicht.
Gerade als ich damit rechne, dass er mich in den Abgrund stößt, lässt er mich los und geht ein paar Schritte nach hinten. Ohne es eigentlich zu wollen, schlage ich die Augen auf.
Und dann sehe ich es.
Mir bleibt die Luft weg.
Nichts hätte mich in irgendeiner Weise auf das hier vorbereiten können.
Kapitel 2
Zweieinhalb Wochen zuvor
Der Tag, von dem ich immer gedacht hatte, ich könnte ihn ewig vor mir her schieben, war schließlich doch gekommen. Mein Mann und ich waren mit den Vorbereitungen für unsere erste Dinnerparty mit Freunden und Verwandten nach über fünf Jahren beschäftigt. Nicht einen einzigen Gast hatten wir in dieser ganzen Zeit bei uns zu Hause empfangen, in dieser Zeit seit Imogens Tod.
Es ging um mehr als darum, eine Dinnerparty zu geben. Wir feierten unseren Hochzeitstag. Dabei war es eigentlich unwichtig, aus welchem Grund man zu einer Dinnerparty einlud. Der Hochzeitstag war mehr oder weniger nur ein willkommener Anlass.
In unserer Küche duftete es intensiv nach gebratenem Fleisch und frischgebackenem Brot. Doch unter all diesen köstlichen Aromen lauerte ein Unbehagen, das sich einfach nicht vertreiben lassen wollte. Es umgab all die positiven Erwartungen, die ich mir von diesem Abend versprach.
„Alles in Ordnung, Maia?“, fragte mich Brad zum x-ten Mal und warf mir über die Schulter einen Blick zu. Mit flinken Handgriffen hackte er die Zutaten für den Salat klein. Er war zwar kein Koch, aber ich wusste seine Unterstützung vor allem an einem solchen Abend zu schätzen.
Ich reagierte mit einem Schulterzucken und setzte ein gezwungenes Lächeln auf, auch wenn er mein Gesicht gar nicht sehen konnte. Dann wiederholte ich die Worte, die ich den ganzen Tag über einstudiert hatte und die sich für mich wie eine fremde Sprache anhörten: „Wie du schon gesagt hast: Es ist an der Zeit.“ Aber während ich weiter Kartoffeln schälte, zuckten meine Augen.
„Okay“, sagte er.
Warum musste er mich immer wieder fragen? Unseren Hochzeitstag mit Freunden und Familie zu feiern, war seine Idee gewesen. Er hatte gesagt, dass wir so etwas dringend brauchten. Aber er wusste auch, was er dabei von mir verlangte. Auch wenn ich dem Ganzen zugestimmt hatte, war es nichts, was ich wollte. Aber was ich wollte und was ich brauchte, stimmte ohnehin nur noch selten mit seinen Vorstellungen überein.
Es war von Brad gut gemeint. Er tat nur etwas, wovon er glaubte, es würde uns beiden helfen. Aber es gab Probleme, die ließen sich nicht mit Dinnerpartys und guten Absichten lösen. Selbst wenn wir zehn Jahre mit dieser Party gewartet hätten, würde es für mich keinen Unterschied bedeuten. Ich würde auch dann noch so gebrochen sein wie in diesem Moment. Der Verlust des erstgeborenen Kindes war eine Wunde, die die Zeit niemals heilen konnte. Aber genau genommen war Verlust ohnehin nicht der richtige Begriff.
Imogens Tod fühlte sich an wie eine dritte Person, die sich mit uns im Zimmer aufhielt, eine schweigende Präsenz, die die Wände in tiefe Schatten tauchte. Es war diese Präsenz, die mich den Kontakt mit allen anderen Leuten meiden lassen wollte. Ich konnte die Mienen dieser Leute einfach nicht ertragen. Doch Brad half mir, meine Angst zu überwinden. Trotz dieser ständigen unterschwelligen Furcht würden wir einen Hauch von Normalität finden, wie sie unsere Beziehung verdient hatte.
„Hast du deine Medikamente genommen?“, fragte er.
„Das weißt du doch. Du hast mich erst vor einer Stunde danach gefragt.“
„O ja, stimmt. Entschuldige.“
Ich vergaß nie, die Medikamente zu nehmen, die meine Ängste bekämpften. Erst recht nicht an einem Abend wie diesem, an dem wir Gastgeber waren. Mein Psychiater Dr. Mason Corbyn verschrieb mir diese Tabletten schon seit Jahren. In der ersten Zeit nach Imogens Tod suchte ich den Mann mehrmals die Woche auf, aber inzwischen hatte ich es auf einen Termin im Monat reduzieren können. Würde es allein nach mir gehen, dann würde mich der Mann schon längst nicht mehr wiedersehen.
Aus dem Nebenzimmer hörte ich das vergnügte Glucksen unserer dreijährigen Tochter, die unser zweites Kind war. Abbys unschuldige Laute brachten mich viel leichter ins Hier und Jetzt zurück als jedes noch so starke Medikament. Sie half mir, mich auf etwas zu konzentrieren. Sie war das strahlende Licht und die pure Freude mitten in diesem endlosen, finsteren Unwetter. Ich hatte sie gar nicht verdient. Ganz sicher nicht, nachdem ich es nicht geschafft hatte, für Imogens Sicherheit zu sorgen. Und ganz sicher nicht nach jenem Tag, von dem an mit einem Mal alles anders war, als dieses Monster …
Meine Hände zuckten leicht, das Messer verfehlte die Kartoffel und ritzte meine Haut auf. Ich verzog den Mund und schnappte leicht nach Luft, während ich zusah, wie sich auf meinem Daumen ein Blutstropfen bildete. Sofort begann ich daran zu saugen und bemerkte einen metallischen Geschmack. Es war nur ein oberflächlicher Schnitt, doch der eine Tropfen Blut hatte genügt, um mich näher an jenen finsteren Ort zu bringen, den ich mit aller Macht meiden wollte.
„Vorsichtig, Honey“, sagte Brad und kam zu mir. Seine Stimme holte mich in die Gegenwart zurück. Er passte immer auf mich auf, als wäre ich unfähig, auf mich selbst aufzupassen. An manchen Tagen traf das durchaus zu, aber ich war kein hilfloses Kleinkind.
Brad stellte sich zu mir und nahm mir das Messer aus der Hand. Unsere Blicke trafen sich, und wir unterhielten uns einen Moment lang, ohne dabei ein Wort zu sagen. Er wusste, warum ich so fahrig war. Aber das war ein Thema, über das wir nie redeten.
Wir redeten nicht über Imogen. Und erst recht nicht über die Art und Weise, wie sie gestorben war.
„Alles in Ordnung?“, fragte er abermals.
„Es geht mir gut“, versicherte ich ihm. Es war eine Lüge, die ich ständig wiederholen musste, wenn ich diesen Abend heil überstehen wollte. Wenn ich aus dem Trott herauskommen wollte, in den ich verfallen war, musste ich mich unangenehmen Situationen aussetzen. Die bloße Vorstellung ließ mich schaudern, aber welche andere Wahl hatte ich schon? Entweder ich stellte mich unserem Hochzeitstagsdinner und ließ die Vergangenheit hinter mir, oder aber ich würde immer weiter ins Ungewisse abdriften.
„Ach, übrigens“, sagte er auf einmal. „Fletcher schafft es heute nicht. Er sagt, dass er sich morgen ganz früh auf den Weg zur Arbeit machen muss.“
„Tut mir leid, das zu hören, Honey“, erwiderte ich und schürzte die Lippen. Fletcher war Brads bester Freund, aber wenn ich ganz ehrlich sein sollte, dann war ich froh darüber, dass er nicht kommen würde. Auch ohne ihn würde das Ganze für mich schwierig genug sein.
Das schrille Läuten der Türglocke ertönte und ließ mein Herz rasen. Unsere ersten Gäste trafen ein, und diese Dinnerparty würde stattfinden, ganz gleich ob ich das wollte oder nicht.
Brad legte eine Hand auf meine Schulter. „Ganz ruhig“, sagte er. „Atme tief durch. Du schaffst das.“
Ich widersetzte mich dem Verlangen, mich von seiner Hand zu befreien. Stattdessen tat ich, was er gesagt hatte, indem ich tief einatmete und dann die Luft einen Moment lang anhielt. Als ich langsam wieder ausatmete, zwang ich mich, meine Lippen zu jenem einladenden Lächeln zu verziehen, das ich einstudiert hatte. Es erforderte noch immer eine Menge Arbeit, vor allem dann, wenn ich mich je wieder ganz normal fühlen wollte. Das konnte mir nur gelingen, wenn ich mein Gesicht dazu zwang, Mienen aufzusetzen, die es nicht aufsetzen wollte. Aber die Welt hörte nun mal nicht auf sich zu drehen, nur weil mir übel war.
Ich strich mein knielanges schwarzes Kleid glatt und betete inständig, dass ich dabei nicht mein Blut auf dem Stoff verschmiert hatte. Nicht, dass das irgendwem aufgefallen wäre. Aber ich hätte es gewusst. Es gab Flecken, die bekam man nie wieder aus dem Stoff heraus.
Bevor wir die Küche verließen, lächelte Brad mich ein letztes Mal mitfühlend an. In diesem Moment fiel mir wieder ein, dass wir das Ganze ja gemeinsam durchstehen mussten. Ich würde ihm immer Rückendeckung geben, ganz gleich, was passierte.
Während ich zur Haustür ging, sah Brad nach Abby. Die meisten Eltern hätten dafür gesorgt, dass sich jemand den Abend über um ihre dreijährige Tochter kümmerte, vor allem an einem Abend, an dem ein Hochzeitstag gefeiert wurde. Aber mir fiel es schwer, von meiner Tochter getrennt zu sein.
Ich setzte das auf, was ich für ein überzeugendes Lächeln hielt, und ging weiter zur Tür. Als ich an unserem reich verzierten Wandspiegel nahe der Haustür vorbeikam, warf ich einen kurzen Blick auf mein Spiegelbild. In dem verschnörkelten Rahmen sah ich eine Frau mit blassem Gesicht, die schon lange nicht mehr die Sonne zu sehen bekommen hatte. Normalerweise verließ ich unser Haus in Brookfield Terrace am Rand von Syracuse so gut wie gar nicht. Jedenfalls nicht, wenn es irgendeine andere Lösung gab. Was mir geliefert werden konnte, das wurde von mir selbst dann bestellt, wenn ich einige Tage länger darauf warten musste.
Je länger ich mein Spiegelbild betrachtete, umso weniger sah ich dort mich selbst. Mit jeder Sekunde, die verstrich, veränderte sich das Bild, bis nicht mehr ich dort stand – sondern er.
Ich kniff kurz die Augen zu und schüttelte den Kopf. Da ich immer noch vor dem Spiegel stand, warf ich einen prüfenden Blick auf meine schulterlangen, kastanienbraunen Haare und blies eine Strähne zur Seite. Selbst an einem guten Tag machten meine Haare nie das, was ich wollte. Warum also sollte ein besonderer Abend wie dieser eine Ausnahme bilden?
Eine Stimme tief in meinem Inneren wies mich an, das Läuten zu ignorieren und darauf zu warten, dass die Leute, die draußen standen, wieder weggingen. Bestimmt konnten sie mit ihrer Zeit etwas Besseres anfangen. Die meisten von ihnen hatten mich ohnehin seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen.
Wieder wurde geläutet.
„Nein“, flüsterte ich. Ich konnte nicht zulassen, dass die Stimme in meinem Hinterkopf die Kontrolle übernahm. Ich musste meinen Weg zurück zu dem finden, was normal war. Nicht nur meinetwegen, sondern auch Abby zuliebe. Es war an der Zeit, dass ich mich der Welt stellte. Die permanente Angst, mit der ich lebte, mochte eine allgegenwärtige Last sein, die ich nicht abschütteln konnte. Aber wir mussten wieder unser Leben leben. Und der erste Schritt dorthin bestand darin, diese Tür zu öffnen.
Wieder atmete ich tief durch und setzte erneut mein Lächeln auf. Dann murmelte ich den einen Satz vor mich hin, als wäre er ein Zauberspruch. „Es ist an der Zeit.“
Kapitel 3
„Maia!“, rief London lauthals, während sie mir einen Kuss zuhauchte. Sie war groß und sah atemberaubend aus, sie hatte platinblonde, kurze Haare und strahlte ein unbegründetes Selbstbewusstsein aus, das man einfach nicht ignorieren konnte. So wie üblich ließ sie mit ihrem Ausruf jeden im Haus wissen, dass sie eingetroffen war.
„Es wurde auch Zeit, dass ihr mal eine Party gebt“, sagte London und hängte ihren Mantel auf, ohne darauf zu warten, dass ich ihn ihr abnahm.
„Ich weiß“, erwiderte ich und schloss die Tür. „Es ist schon lange überfällig.“
London Chambers, eine meiner ältesten Freundinnen, traf als erster Gast ein. Sie hatte ich schon gekannt, lange bevor Brad in mein Leben getreten war, und sie war bei all meinen Höhen und Tiefen für mich dagewesen. Jedenfalls für die meisten. Brad war derjenige, der mich durch den Verlust unserer Tochter begleitet hatte. Niemand sonst hätte diesen Schmerz verstehen können. London hatte in dieser Zeit ihr Bestes gegeben, um mir zu helfen, doch was ich damals gebraucht hatte, war weit über das hinausgegangen, was Freundschaft hätte leisten können.
„Was für ein Tag“, seufzte sie.
„Ich dachte, du bringst ein Date mit.“
Sie hielt in der Bewegung inne und zog die Augenbrauen hoch. Ich hatte nicht taktlos sein wollen, aber London rühmte sich damit, bei jeder Einladung mit einem Mann an ihrer Seite zu erscheinen, von denen viele außerdem gut zehn Jahre jünger waren als sie selbst. Früher war mir das irgendwie peinlich gewesen, aber irgendwann hatte ich mich an die Typen gewöhnt, die sie zu Partys und anderen Einladungen mitbrachte. Aber das war damals gewesen, als ich solche Dinge noch mitgemacht hatte.
„Oh, frag lieber nicht. Ich hatte einen hinreißenden Kerl am Haken, aber dann kam ihm irgendein ‚Notfall‘ dazwischen.“
„Das tut mir leid“, entgegnete ich. Ein angeblicher Notfall wäre die ideale Lösung gewesen, um die Party zu unserem Hochzeitstag abzusagen. Warum war mir selbst nicht schon vor ein paar Stunden diese Idee gekommen?
„Ich meine, ich bin ein großes Mädchen“, redete London weiter. „Wenn er nicht mitkommen wollte, hätte er das nur sagen müssen. Ich schwöre dir, Maia, eines Tages habe ich genug davon, mich mit diesen Jungs herumzuschlagen. Was ich brauche, ist ein Mann, der mir den Boden unter den Füßen wegzieht und der mir einen Ring auf meinen Finger steckt.“
Wir sahen uns kurz an, dann mussten wir beide laut lachen. Ich wusste so gut wie London selbst, dass sie niemals sesshaft werden würde. Es war nicht ihr Stil. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie sie zum Altar schritt, und erst recht konnte ich mir nicht vorstellen, dass sie dabei glücklich sein könnte.
Gerade als unser Gelächter verstummte, läutete es wieder an der Tür.
„Hm, wer könnte das wohl sein?“, fragte London und warf einen wissenden Blick auf die Haustür.
Ich ging hin, öffnete und sah Brads Schwester Claire mit ihrem neuen Ehemann Richard und meiner Nichte Thea.
„Hey, Leute“, sagte ich mit schüchterner Stimme und umarmte einen nach dem anderen. Es fühlte sich so peinlich an, wie ich mich angehört haben musste. Ich kam mir regelrecht eingerostet vor. Claire und ich hatten über die Jahre hinweg immer wieder mal Differenzen gehabt, aber insgesamt verstanden wir uns doch ganz gut. Fast hätte ich sie nicht eingeladen, aber sie war Brads Schwester. Als ich sie jetzt leibhaftig vor mir stehen sah, war ich froh, dass er mich dazu gedrängt hatte. Aber nur für einen Augenblick. Wie üblich sagte Claire geradeheraus das, was ihr als Erstes in den Sinn kam. „Du siehst erschöpft aus, Maia.“
Ich überging den dringenden Wunsch, etwas Unhöfliches zu erwidern, und begnügte mich mit einer Erklärung: „Ich habe letzte Nacht nicht gut geschlafen, tut mir leid.“ Das war nichts Ungewöhnliches. Ich wurde oft in den frühen Morgenstunden wach. Manchmal war ich dann schweißgebadet. Bei anderen Gelegenheiten riss ich die Augen weit auf, weil ich von etwas Entsetzlichem geträumt hatte, an das ich mich kaum erinnern konnte.
„Ignorier sie einfach“, sagte Richard. In einer Hand hielt er eine Flasche Meiomi Pinot Noir. Zweifellos hatte er sie persönlich ausgesucht und mitgebracht, um die billigere Auswahl an alkoholischen Getränken aufzuwerten, die Brad und ich zusammengestellt hatten.
Mein Gefühl sagte mir, dass ich davon ein oder zwei Gläser brauchen würde, um diesen Abend zu überstehen. Natürlich sollte ich eigentlich keinen Alkohol trinken, da ich meine Tabletten genommen hatte. Mit einem verlegenen Lächeln auf den Lippen überreichte er mir die Flasche.
„Danke“, sagte ich. „Das wäre aber nicht nötig gewesen.“
„Keine Ursache“, antwortete Claire. Ich wusste, ihr Kommentar hatte nichts zu bedeuten. Es war einfach nur ihre Art zu reden. Ihr Blick wanderte von mir zu London. Sie ging weiter und zog ihren Mantel aus. „Sieh mal an, wer da ist“, sagte sie und schaute sich demonstrativ um. „Was denn? Ganz ohne Toy Boy?“
Ich verkniff mir ein frustriertes Stöhnen, als London und Claire auf die übliche Tour loslegten. Die beiden waren im besten Fall wie Feuer und Wasser. Normalerweise ging es harmlos zu, aber gelegentlich lief es auch schon mal aus dem Ruder. Vor allem, wenn Alkohol im Spiel war, und Alkohol würde an diesem Abend eine zentrale Rolle spielen.
„Wie ist das Eheleben denn so, Claire?“, konterte London. „Ich habe gehört, dass man gerade erst einen neuen Mopp erfunden hat.“
Claire lachte gekünstelt, während sie Thea ins Haus führte. Anstatt London zu ignorieren, legte sie noch eine recht unverhohlene Anspielung nach, von der ich hoffte, dass ihre Tochter sie nicht verstand. Ich konnte nur seufzen und die Augen verdrehen. Man warf sich jetzt schon gegenseitig Beleidigungen an den Kopf, aber vermutlich wäre es ohne die auch keine richtige Dinnerparty gewesen.
Richard machte den Eindruck, dass ihm das Ganze unangenehm war. Dabei sah er mich an, als würde er darauf warten, dass ich endlich dazwischenging und die beiden Streithähne trennte. Allerdings würde ich mich unter keinen Umständen einmischen.
Ich reagierte mit einem an Richard gerichteten Schulterzucken. Er war ein Mann der leisen Töne, der das genaue Gegenteil von Claire zu sein schien. Aber sie hatten vor einem Jahr geheiratet, und soweit mir bekannt war, hatte es in der Zeit keine Probleme zwischen den beiden gegeben. Ich hatte mich nicht in der Lage gesehen, zu ihrer Hochzeit zu gehen. Aber ich hatte genügend ausgelassene Schnappschüsse in den sozialen Medien gesehen, um mir vorstellen zu können, dass er für Thea ein toller Stiefvater war. Vielleicht war er ja genau der Typ Mann, den Claire brauchte, wenn man überlegte, was für eine Katastrophe ihr Ex gewesen war, der sie wortlos verlassen hatte.
Ich dirigierte London und Claire in Richtung Esszimmer und ließ sie ihren Schlagabtausch fortsetzen, während ich mich auf den Weg in Richtung Küche machte. Richard und Thea beschlossen mir zu folgen. Unterwegs fragte Richard nach Brad, und ich musste unwillkürlich lächeln, da mir klar war, dass er versuchte, dem potenziellen Drama irgendwie aus dem Weg zu gehen.
„Brad ist im Wohnzimmer“, verriet ich ihm.
„Danke, Maia“, sagte er und schaute erleichtert drein, während er sich auf seiner Flucht von Thea begleiten ließ.
***
Im Verlauf der nächsten Stunden trafen weitere Gäste ein. Meine ehemalige Kollegin und gute Freundin Hazel und ihr Ehemann Mike waren die Nächsten, die an unsere Tür anklopften. Mitgebracht hatten sie ihre drei kleinen und aufgedrehten Kinder. Als Letzte trafen die Thompsons von schräg gegenüber ein, sie wurden von ihren beiden Kindern begleitet.
Schon bald saßen wir alle an unserem erweiterten Esstisch, aßen, tranken und unterhielten uns ganz so wie früher. Es war der Anfang eines unterhaltsamen Abends mit einer kleinen Auswahl netter Leute, die uns wichtig waren. Unser Hochzeitstag war nichts weiter als ein passender Vorwand gewesen, um sie alle einzuladen. Es gab noch andere, die wir als unsere Gäste hätten begrüßen können, aber ich wollte die Gästeliste so kurz wie nur möglich halten, ohne bei Brad auf Widerstand zu stoßen. Hätte ich ihm freien Lauf gelassen, dann würde es im ganzen Haus von Freunden und Angehörigen wimmeln.
Ich sah zu den Kindern, die an ihrem eigenen Tisch saßen, den wir für sie gedeckt hatten. Die anderen Kinder alberten rum und lachten ausgelassen, nur Abby war schweigsam und sah auf ihren Teller. Sie war es nicht gewöhnt, so viele Kinder um sich zu haben, was natürlich ganz allein meine Schuld war. Ihr Leben lang hatte ich sie von anderen Menschen ferngehalten, weil ich um ihre Sicherheit besorgt gewesen war. Letztlich hatte ich damit nur bewirkt, dass sie genauso verschlossen und in sich gekehrt war wie ich.
Brad beendete abrupt meinen Gedankengang, indem er mit der Gabel gegen sein Weinglas tippte. Das war gut von ihm, denn ich war kurz davor gewesen, in lautes Schluchzen auszubrechen. Ich wandte meinen Blick von Abby und den anderen Kindern ab.
„Wenn ich für einen Moment um eure Aufmerksamkeit bitten dürfte“, sagte Brad und brachte die lauten Gespräche am Tisch zum Verstummen, während sich alle Blicke auf ihn richteten.
„Ich bin kein Freund von Ansprachen, aber im Namen der ganzen Familie Fairbanks – also Maia, Abby und ich – möchte ich euch dafür danken, dass ihr heute Abend hergekommen seid. Es bedeutet uns enorm viel, dass ihr euch die Zeit genommen habt, mit uns unseren zehnten Hochzeitstag zu feiern. Wie ihr alle wisst, waren die letzten fünf Jahre für unsere Familie alles andere als leicht. Imys Verlust hat uns härter getroffen, als wir es uns je hätte vorstellen können. Wir hatten vergessen, wer wir sind und was es heißt zu leben. Ohne es zu wollen haben wir die meisten von euch in dieser Zeit bei der einen oder anderen Gelegenheit enttäuscht. Das tut uns sehr leid.“
Ich sah mich im Esszimmer um und stellte fest, dass allen Tränen in den Augen standen. Ich empfand es schon als schrecklich schwierig, Imogens Namen laut auszusprechen. Aber so offen über ihren Tod zu reden, war noch viel schlimmer, als ich es erwartet hatte. Es war bewundernswert, wie sehr sich Brad im Griff hatte.
Er räusperte sich und fuhr fort: „Heute Abend feiern wir nicht nur unsere Ehe, sondern wir wollen auch die verlorene Zeit nachholen. Ich weiß, es ist nicht viel, aber es ist ein Anfang.“
Unsere Gäste strahlten vor Begeisterung, während sie meinem Ehemann förmlich an den Lippen hingen. Er hatte mir gesagt, dass sie alle sich freuen würden, diese Worte von ihm zu hören. Ich hatte es ihm nicht geglaubt, doch jetzt sah ich es mit eigenen Augen. Er war ein kluger Mann, der immer erhobenen Hauptes und voller Stolz dastand. Seine ordentlich frisierten dunklen Haare verlieh ihm eine Aura des Respekts, und seine leuchtend blauen Augen schlugen jeden in ihren Bann. Ich war stolz darauf, mit ihm verheiratet zu sein.
Sein dunkles Button-down-Hemd betonte seine athletische Statur, und mit seinen Gesten untermalte er die Worte seiner Ansprache. Diese vertrauten, kraftvollen Hände hatten mir immer Trost gespendet. In Augenblicken wie diesen erinnerte ich mich wieder an den Mann, in den ich mich verliebt hatte.
„Und mit diesem Abendessen“, schloss Brad ab, „möchten wir euch alle wieder in unserem Zuhause und in unserem Leben willkommen heißen. Auf eine glückliche Zukunft. Cheers!“ Als er dann einen Schluck aus seinem Weinglas trank, war ich völlig überrascht. Ich war davon überzeugt gewesen, dass er das Glas nur zur Schau in der Hand hielt. Immerhin hatte Brad seit mindestens zwei Jahren keinen Tropfen Alkohol mehr getrunken. Nach Imys Tod hatte er begonnen, mehr als üblich zu trinken. Er war zwar nicht zum Alkoholiker geworden, aber viel hatte nicht mehr gefehlt.
Ich sah ihn an, weil ich sehen wollte, ob mit ihm alles in Ordnung war, aber er achtete nicht auf mich. Vielleicht war es von mir aber auch eine Überreaktion gewesen. Denn was sollte ein Schluck schon Schlimmes anrichten?
Alle am Tisch erwiderten das „Cheers“ und tranken einen Schluck. Auch ein paar Kinder imitierten ihre Eltern und erhoben ihr Limonadenglas auf Brad. Abby betrachtete sichtlich verwirrt das Treiben um sie herum. Wieder regte sich mein schlechtes Gewissen. Sie war zwar erst drei, aber eine solche Umgebung hätte für sie nicht etwas völlig Fremdartiges sein dürfen. Wie dauerhaft war der Schaden, den ich ihr beim Umgang mit anderen Menschen zugefügt hatte?
Ich trank noch einen Schluck Wein. Ich konnte nicht zulassen, dass meine Vergangenheit über meine Zukunft bestimmte. Ich hatte das lange genug mitgemacht. Es war an der Zeit, auf die Worte meines Mannes zu hören und nach vorn zu blicken. Wir mussten Abby mit der realen Welt vertraut machen, und der heutige Abend war der erste von vielen noch folgenden Schritten.
Als Abby zwei Jahre nach dem Verlust von Imogen zur Welt kam, bereitete mir das jede Menge Probleme. Schon die Geburt war nicht nach Plan verlaufen, und danach war alles nur noch schlimmer geworden. Abby schlief kaum eine Nacht durch, und sie zu füttern war jedes Mal ein Albtraum. Jeder Arzt, jede Schwester und jede Hebamme hatte dazu eine andere Meinung, und ich hatte das Gefühl, den Verstand zu verlieren. Imogen war so ein ruhiges Baby gewesen. Ehe ich mich versah, steckte ich in den nächsten tiefen Depressionen und konnte kaum noch etwas tun.
Brad war die ganze Zeit für mich da und gab sein Bestes, um mir zu helfen. Aber ich konnte ihm ansehen, dass es ihm genauso viel abverlangte wie mir – und manchmal sogar noch mehr. Es war kein Wunder gewesen, dass er irgendwann anfing, sich jeden Abend zu betrinken. Regelmäßig fand ich ihn im Wohnzimmer auf der Couch liegend vor, wo er seinen Rausch ausschlief. Brad hatte nie zuvor so viel getrunken, und dass er an einem solchen Punkt angelangt war, machte mir klar, wie sehr ihn das alles belastete.
Londons lautes Gelächter setzte meinem Gedankengang ein jähes Ende. Ich zwang mich dazu, mich ganz auf sie zu konzentrieren, während sie eine Geschichte zum Besten gab, die ich schon hundertmal gehört hatte. Ich kannte die Geschichte auswendig, doch es war die Art von Ablenkung, die ich jetzt brauchte.
***
Je weiter der Abend voranschritt, umso deutlicher wurden vertraute Abläufe erkennbar. Alte Streitthemen – sowohl harmlose als auch hitzig diskutierte – kamen wieder zur Sprache. Manche Dinge änderten sich einfach nie. Zwischen Komplimenten wurden immer wieder spitze Bemerkungen eingestreut, doch es wurde mehr belustigt als beleidigt reagiert. Ich war davon überzeugt, dass sich unsere Gäste gut unterhalten fühlten, aber mein Lächeln kostete mich umso mehr Kraft, je später es wurde.
Brad und ich sahen uns quer durchs Zimmer an. Er hatte die Augenbrauen zusammengezogen und trank immer noch Wein. Wie viele Gläser waren es inzwischen? Ich hatte die Übersicht verloren und hielt mir vor, dass ich besser dafür gesorgt hätte, ihn nur ein Glas trinken zu lassen. Aber dafür war ich viel zu sehr mit meinen eigenen Ängsten beschäftigt gewesen. Aber sicher hätte er mir doch anmerken sollen, wie viel Stress mir dieser Abend bereitete und wie sehr ich seinen Rückhalt benötigte, um das alles zu überstehen. Immerhin war diese Party seine Idee gewesen.
Ohne es wirklich zu wollen, zog ich mich in mich selbst zurück und verließ innerlich das Zimmer. Es fiel mir längst doppelt so schwer als zu Beginn dieses Abends, jeder Unterhaltung zu folgen. Der Lärm schien außer Kontrolle geraten zu sein, und ich konnte meinen Blick nicht von den zahllosen benutzten Tellern und Gläsern abwenden, die überall herumstanden. Ich wollte laut schreien und sie alle anbrüllen, auf der Stelle mein Haus zu verlassen.
Als hätte Hazel mir meine Anspannung angemerkt, die ich gar nicht nach außen wirken ließ, klatschte sie auf einmal in die Hände und lenkte die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf sich.
„Wie wär’s mit einem Spiel?“
„Einem Spiel?“, wiederholte Claire.
Ich atmete erleichtert auf, als sich für einen Augenblick Stille über den Raum legte.
„Ja, ich kenne da was Gutes.“ Sie sah sich um, weil sie sicherstellen wollte, dass auch wirklich jeder zuhörte. „Zwei Wahrheiten und eine Lüge.“
Leises Gemurmel war am Tisch zu hören. „Das könnte Spaß machen“, meinte London.
„Und wie funktioniert es?“, wollte Claire wissen.
„Ganz einfach“, sagte Hazel. „Wir sind nacheinander an der Reihe, einmal um den Tisch herum. Wer an der Reihe ist, muss zwei Wahrheiten und eine Lüge erzählen. Dann müssen wir raten, was davon die Lüge ist. Die Partner dürfen dabei nicht helfen.“
Erneut wurde gemurmelt, und die Erwachsenen lächelten sich untereinander an.
„Aber meine Lehrerin hat gesagt, dass Lügen verkehrt ist“, wandte Jackson ein, einer der Jungs der Thompsons. Wir mussten alle lachen, als seine Mutter ihm erklärte, dass es sich nur um ein Spiel handelte. Dennoch schien der bloße Gedanke Jackson zu stressen, doch er ließ sich schnell wieder ablenken. Abby starrte uns alle unverändert mit diesem leeren Blick an, den sie schon früh an diesem Abend aufgesetzt hatte. Von einer Dreijährigen konnte man nicht erwarten, dass sie verstand, worüber wir uns unterhielten. Dennoch war sie einfach nicht sie selbst, und mir war klar, dass ihr die vielen fremden Leute zu schaffen machten, die alle das sonst so vertraute Zuhause bevölkerten. Was sollte erst sein, wenn ich gezwungen war, sie nächstes Jahr in die Vorschule zu schicken? Brad hatte mir mehr als deutlich zu verstehen gegeben, dass er es für keine gute Idee hielt, wenn ich selbst sie zu Hause unterrichten würde.
„Ich bin dabei“, verkündete Hazels Ehemann Mike und rieb sich die Hände.
Ich sah Brad an, der mit einem Schulterzucken reagierte und grinsend den nächsten Schluck Wein trank. „Klingt lustig.“ Er redete ein wenig schleppend. Ich hatte keine Ahnung, welche Wirkung so viele Gläser Wein auf ihn haben würden, nachdem er zwei Jahre lang praktisch durchgehend nüchtern gewesen war.
„Okay“, fuhr Hazel fort. „Dann schaffen wir die Kinder mal in ein anderes Zimmer und beschäftigen sie, damit wir nicht aufpassen müssen, was wir sagen.“
Alle waren sich einig, dass das Spiel noch besser sein würde, wenn die Kinder nicht bei uns waren. Mir drehte sich bei diesem Gedanken der Magen um. Auch wenn Abby nur im Nebenzimmer sein würde, ertrug ich die Vorstellung nicht, dass sie dort mit all den anderen Kindern allein sein würde. Sie würde nicht damit zurechtkommen. Aber ich konnte nicht widersprechen, weil ich sie damit zum Sonderling gemacht hätte. Sie brauchte das hier so, wie ich selbst es auch brauchte.
Unaufgefordert brachten wir Mütter die Kinder nach nebenan ins Wohnzimmer, damit sie sich einen Film ansahen, und wiesen die älteren Kinder an, so gut wie möglich auf die jüngeren aufzupassen. Abby war die Jüngste in der Gruppe und wusste nicht, was sie machen sollte. Ich setzte sie auf den Fußboden und gab ihr ein Malbuch und Buntstifte, dann fragte ich, ob eines der anderen Mädchen, das etwa in ihrem Alter war, ihr Gesellschaft leisten würde. Thea meldete sich freiwillig und lächelte Abby fröhlich an.
„Mommy ist gleich nebenan, wenn du irgendwas brauchst, okay?“
Sie nickte, sagte aber kein Wort. Sie kam mir so jung und so hilflos vor. Unwillkürlich musste ich an Imogen denken. Sie war erst vier gewesen, als …
„Alles in Ordnung?“, fragte Claire und zwinkerte mir zu.
„Ähm … ja. Ich wollte mich nur vergewissern, dass sie alles hat.“
„Ihr passiert schon nichts“, flüsterte Claire. Sie wusste, was in meinem Kopf vor sich ging. Na ja, zumindest größtenteils.
Wir kehrten ins Wohnzimmer zurück und waren bereit für das Spiel. Zwei Wahrheiten und eine Lüge. Es klang nach einer simplen Idee. Damit würde ich zurechtkommen. Ich musste mich nur darauf konzentrieren.
Was sollte da schon passieren?
Kapitel 4
Einer nach dem anderen erzählten wir jene zwei Wahrheiten und eine Lüge, und ich musste überrascht feststellen, wie viel Vergnügen mir das Spiel machte. Ich hatte völlig vergessen, wie es war, wenn man Zeit mit anderen Erwachsenen verbrachte. Und was es bedeutete, einfach etwas Spaß zu haben.
Hazel machte den Anfang mit der dreistesten Lüge überhaupt, damit wir einen leichten Einstieg bekamen. „Ich habe mir einmal in Florida einen Ringkampf mit einem Alligator geliefert“, sagte sie. Dabei war sie in ihrem ganzen Leben noch nie in Florida gewesen, womit der angebliche Ringkampf allein aus diesem Grund schon reine Erfindung war.
Als London an der Reihe war, musste ich so laut lachen wie schon seit Jahren nicht mehr. Ihre beiden Wahrheiten waren Geschichten, die wir alle mehr als einmal von ihr zu hören bekommen hatten. Wer London allerdings nicht näher kannte, wäre sicher davon überzeugt gewesen, dass er von ihr ein Märchen aufgetischt bekam. Beide Wahrheiten drehten sich um gescheiterte Liebesbeziehungen in fernen Ländern. Ich hätte schwören können, dass diese Frau schon jetzt fünf ganze Leben verbraucht hatte, um so viel erleben zu können. Dann kam ihre Lüge, und ich wäre fast vom Stuhl gefallen.
„Ich bin noch nie von einem Kerl abserviert worden.“
Wir durchschauten sie auf der Stelle. Niemand wollte ihr das glauben, und London versuchte nicht mal, auf ihrer Geschichte zu beharren. Ich stimmte in das Gelächter der anderen ein, und augenblicklich regte sich mein schlechtes Gewissen. Ich hätte nicht so sehr auf Kosten meiner Freundin lachen sollen. Ihr zerstörerisches Verhalten war keineswegs ein Witz. Sie griff oft zu selbstironischem Humor, um ihre wahren Gefühle zu überspielen. Ich hatte längst aufgehört mitzuzählen, wie viele Beziehungen sie über die Jahre gehabt hatte. Ich wünschte, sie würde endlich den Richtigen finden und sesshaft werden.
Die nächsten Gäste waren an der Reihe und sorgten dafür, dass die Stimmung fröhlich und ungezwungen blieb. Insgeheim fürchtete ich mich schon vor dem Moment, wenn alle Augen auf mich gerichtet sein würden. Würde es jemanden kümmern, wenn ich unter einem Vorwand das Zimmer verließ, unmittelbar bevor ich dran war? Ich wusste, ich taugte nicht für dieses Spiel. Ganz bestimmt würde ich etwas verkehrt machen. Oder mir würde nichts Lustiges einfallen, das ich sagen konnte.
Ich überlegte, ob ich eine zusätzliche Dosis meiner Medikamente einnehmen sollte. Dr. Corbyn hatte mir ja gesagt, dass es nicht schlimm war, hin und wieder eine Tablette mehr zu nehmen, wenn mir eine Situation über den Kopf wuchs. Ich hätte das schon machen sollen, bevor die ersten Gäste eingetroffen waren. Der heutige Abend schien exakt die Situation zu sein, für die meine Arznei entwickelt worden war. Ich hatte aber dem Verlangen widerstanden, weil ich den Abend aus eigener Kraft überstehen wollte, anstatt mich auf ein Medikament zu verlassen, das mir diese Aufgabe abnehmen sollte. Ich zählte bis zehn und hielt mir vor Augen, dass ich das Atmen nicht vergessen durfte.
Dann war Richard an der Reihe, womit ich nach ihm die Nächste sein würde. Ich blieb sitzen und sagte mir, dass das Spiel eine willkommene Abwechslung von jenen Gedanken sein würde, die mir den ganzen Abend über zu schaffen machten.
Die Thompsons erzählten gemeinsam zwei Wahrheiten und eine Lüge, die keiner von uns erriet. Am Ende schauten sie ein wenig überheblich in die Runde. Sie hatten uns alle so mühelos hinters Licht geführt, dass es schon ein wenig beunruhigend war.
Nachdem wir mit den Thompsons fertig waren, war ich dran.
„Jetzt du, Maia“, sagte London und trank wieder einen Schluck Wein. Sie mäßigte sich nicht. Ich konnte nur hoffen, dass sie es nicht zu weit treiben würde. Wir sprachen mittlerweile alle gut dem Wein zu, was eigentlich keine so gute Idee war, wenn gleichzeitig das Haus voller Kinder war. Aber der Abend hatte Fahrt aufgenommen und würde sich so bald nicht bremsen lassen.
„Honey?“, sagte Brad und deutete mit dem Weinglas auf mich. Er wollte sich vergewissern, dass ich ganz bei der Sache war.
„Oh, tut mir leid. Na, mal sehen“, sagte ich, um Zeit zu schinden. Ich entschied mich für drei einfache Dinge, die ich in einem Zug vortrug. „Ich habe mal Skydiving gemacht. Ich bin auf jedem Kontinent gewesen. Und ich hatte mal eine Schlange als Haustier.“
„Oh, die sind gut“, erwiderte Claire, während sie mich von Kopf bis Fuß musterte, schließlich mit zusammengekniffenen Augen anstarrte und dabei ihr Weinglas hochhielt.
„Du hasst Schlangen, und du gehst nicht gern auf Reisen“, sagte sie. „Aber ich kann dich mir beim besten Willen nicht beim Skydiving vorstellen.“
Ich zuckte nur mit den Schultern.
London beugte sich vor und betrachtete mich eindringlich. „Ich weiß es auch nicht. Mein Gott, du kleiner Satan.“
Alle mussten lachen und drehten sich zu Brad um. Der konzentrierte sich ganz auf seinen nächsten Schluck Wein und schaffte es, keine Miene zu verziehen, dabei aber ein wenig beschwipst zu wirken.
„Irgendeiner muss was sagen“, merkte Hazel an.
„Ich lasse dir gern den Vortritt“, gab London zurück.
„Weißt du was? Ich werde was sagen: Die Schlange als Haustier. Das ist die Lüge.“
Ich schüttelte den Kopf. „Es sind die Kontinente. Ich hatte mal einen Tag lang eine Schlange als Haustier. Und mit Anfang zwanzig habe ich Skydiving gemacht.“
„Verdammt“, rief London. „Das wusste ich doch! Du hast mich nur mit so viel Wein abgefüllt, damit ich das vergesse.“
„Ja, klar, ich habe dich abgefüllt“, erwiderte ich und musste so wie die anderen lachen. In diesem Moment fühlte ich mich wieder ganz normal. So wie jetzt war es auch früher zugegangen.
Hazel stieß geschlagen die Luft aus, während ich mich dankend verbeugte.
Ich lächelte meinen Mann an, der diese Geste erwiderte. Vielleicht war das hier der erste Schritt hin zu unserem Neuanfang. Die Vergangenheit würde ich zwar niemals vergessen, aber heute Abend konnte ich sehen, dass alles möglich war.
„Brad ist an der Reihe“, rief London, ehe sie wieder nach ihrem Weinglas griff.
„Also gut“, sagte Brad und krempelte die Ärmel hoch. Mit einem großen Schluck leerte er sein Glas.
„Das sieht ja richtig gefährlich aus“, meinte Richard amüsiert.
„Das ist es auch, Richard“, antwortete Brad lauter als eigentlich nötig. Es war der Wein, der ihn so reagieren ließ.
„Dann wollen wir mal“, fuhr Brad fort. „Ich habe noch nie einen Harry Potter-Film gesehen.“ Erstaunte Blicke machten am Tisch die Runde. „Ich habe mal ein Fahrrad gestohlen“, fügte er hinzu. Diesmal war vor allem Gelächter zu hören. Dann richtete er seinen Blick in die Ferne und lachte fast boshaft, ehe er die dritte Behauptung folgen ließ: „Einmal habe ich einen Mann umgebracht.“
Lautes Gelächter brach aus, und Mike verschüttete seinen Wein. Ich konnte diese Reaktionen gut verstehen. Die Vorstellung, dass Brad – ein Mann, der nicht mal eine Spinne zerquetschen wollte – ein Mörder sein sollte, war zu absurd, um sie in Erwägung zu ziehen. London wischte sich vor Lachen die Tränen weg und hatte Mühe, sich wieder zu beruhigen.
Ich ließ mich von der guten Laune anstecken und konnte ebenfalls nicht aufhören zu lachen. Das änderte sich erst in dem Moment, in dem ich Brad ansah. Unsere Blicke trafen sich, gerade als er sein Weinglas ein weiteres Mal auffüllte. Etwas Kaltes, Finsteres funkelte in seinen Augen, das mein Herz einen Schlag lang aussetzen ließ. So etwas war mir bei ihm noch nie aufgefallen.
Es war etwas, das sich in meinen Verstand fraß und an den Rändern einer unheimlichen Erinnerung zerrte, die ich weiterhin begraben wissen wollte.
Ich versuchte, mich an der Tischkante festzuhalten, verfehlte sie aber und stieß mit dem Glas an. Zum Glück war es leer.
„Alles in Ordnung?“, fragte mich Claire, die mir am Tisch gegenübersaß.
Ich konnte ihr in diesem Moment nicht in die Augen sehen, daher winkte ich einfach ab. „Mir geht es gut“, flüsterte ich, während der Spaß an diesem Spiel ohne mich weiterging. London sagte, der Mord sei die Lüge gewesen.
„Richtig“, verkündete Brad und haute mit der Faust auf den Tisch, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. „Als Kind habe ich mal ein Fahrrad gestohlen, und ich habe nie einen Harry Potter-Film gesehen.“
Hazel meldete sich als Erste zu Wort. „Das kann nicht sein. Jeder hat Harry Potter gesehen.“
„Dann muss ich wohl ein Mörder sein“, gab Brad zurück.
Wieder mussten alle lachen, nur ich nicht. Stattdessen erfüllte Entsetzen mein Herz in einem Maß, das über mein Verständnis hinausging. Ich konnte das nicht begreifen, auch wenn mir klar war, um was es ging. Abrupt kniff ich die Augen zu und atmete aus, während ich mir die Atemtechniken ins Gedächtnis rief, die ich von Dr. Corbyn gelernt hatte. Ich musste bis zehn zählen, ehe ich meine Gedanken wieder im Griff hatte.
Brad wurde als Betrüger bezeichnet, weil er nach Meinung der anderen drei Lügen erzählt hatte.
Da ich aus dem Zimmer raus musste, zog ich mich unter dem Vorwand zurück, nach den Kindern sehen zu wollen. Da mir die Worte nur im Flüsterton über die Lippen kamen, war Claire die Einzige, die davon etwas mitbekam.
Als ich zur Tür ging, sah ich noch einmal nach Brad. In seinen Augen loderte eine noch intensivere Finsternis. Vielleicht hatte ich einfach nur zu viel getrunken. Oder der Stress rund um die Party machte meinem Hirn zu schaffen. Das waren makellose rationale Erklärungen, aber die genügten nicht. Ich wusste genau, was ich in seinen Augen sah.
War ich verrückt? Ich konnte doch nicht ernsthaft das denken, was ich dachte. Eine Sache war dennoch sicher: Zum ersten Mal seit Langem war ich mir nicht sicher, ob ich meinem Ehemann über den Weg trauen konnte. Mein Atem ging hart und angestrengt, während eine Frage durch meinen Verstand hallte: War Brad ein Mörder?
Kapitel 5
Ich zog mich aus dem Stimmengewirr der Party zurück, um im Wohnzimmer nach Abby zu sehen. Es war mein Vorwand, um das Esszimmer verlassen zu können, doch in Wahrheit war Abby der einzige Grund, wieso ich nicht zusammengeklappt war.
Brad ein Mörder? Ich musste immer wieder an den Ausdruck in seinen Augen denken, an diesen blanken und beharrlichen Wahnsinn. Aber das war völlig verrückt. Ich hatte viel zu viel Wein getrunken, und jetzt spielten mir meine Ängste einen Streich. Das war alles. Mein Verstand hatte etwas gesehen, was gar nicht da war.
Ehe ich nach Abby sah, lief ich schnell nach oben ins Schlafzimmer und holte das Fläschchen mit den Tabletten aus der Schublade meines Nachttischs. Ich hatte nicht gewollt, dass es dazu kam, aber mir blieb keine andere Wahl. Ich nahm eine zweite Dosis und schluckte sie, weil es das war, was ich brauchte, um diesen Abend zu überstehen.
Nachdem ich ein paar Minuten lang für mich allein dagesessen hatte, hüllte mich eine Nebelwolke ein. Die Arznei hatte begonnen, ihre Magie zu entfalten und meinen Atem zu beruhigen.
Ich ging nach unten und betrat das Wohnzimmer. Sofort erfasste mein Blick Abby, die von ausgelassenem Gelächter und Lärm umgeben mit Thea spielte und nichts um sich herum wahrzunehmen schien. Die älteren Kinder sahen sich auf Netflix einen Zeichentrickfilm an und kümmerten sich in keiner Weise um die jüngeren Kinder – ganz so, wie ich es befürchtet hatte.
Ich wusste nicht so genau, ob es an den Tabletten oder an dem Anblick von Abby lag, die völlig begeistert mit Thea spielte. Auf jeden Fall wurde ich mit einem Mal von jenem Abgrund zurückgezogen, der mich hatte verschlingen wollen. Aus dieser Perspektive hatte ich ihre Unschuld noch nie erlebt. Meistens war ich diejenige, die mit ihr spielte. Seit ihrer Geburt waren Brad und ich ihre einzigen Spielgefährten gewesen. Zu erleben, wie Abby völlig unbekümmert mit ihrer Cousine spielte, war eine Freude, die ich ihr viel zu lange vorenthalten hatte. Wie hatte ich nur so grausam sein können?
Es war unmöglich, ein Kind vor all den komplexen Geschehnissen der wirklichen Welt zu beschützen. Das war mir klar. Es war egoistisch von mir gewesen, etwas anderes für möglich zu halten. Ich hatte Abby nicht verdient. Sie war eine zweite Chance gewesen, ein kostbares Wunder. Eines, das ich um jeden Preis beschützen musste. Ihre Verwundbarkeit war für mich zum Einzigen geworden, was mir wichtig war. Brad unterstützte meinen Wahnsinn und versuchte, unsere Familie funktionieren zu lassen. An manchen Tagen hätte ich mir gewünscht, er hätte das nicht getan.
Indem ich dachte, ich tue das Richtige für meine Tochter, hatte ich mich nie mit anderen Müttern getroffen, um die Kinder untereinander spielen zu lassen. Ich hatte Abby so oft wie möglich daheim spielen lassen. Claire lud uns zu sich ein, und auch die Thompsons luden sie zu allen Geburtstagpartys ihrer Kinder ein, aber ich ließ sie nie hingehen. Ich ging auch nicht jeden Tag mit ihr im Park spazieren, weil ich so fest entschlossen gewesen war, alles zu tun, damit sie in Sicherheit war.
Ohne es eigentlich zu wollen, hatte ich Abby alles vorenthalten, was das Leben lebenswert machte.
Wie erstarrt stand ich am Rand des Wohnzimmers und bekam die Konsequenzen meines Handelns vor Augen geführt. Es fühlte sich an, als würde eine tonnenschwere Last auf mir ruhen.
Abbys Lachen linderte die Unruhe in meinem Kopf. Meine außer Kontrolle geratenen Gedanken kehrten an den Platz zurück, auf den sie gehörten. Zumindest für den Moment. Als ich die Kinder so spielen sah, überkam mich ein überwältigendes Gefühl von Dankbarkeit. Alles würde gut werden.
Ich nahm mir noch etwas mehr Zeit, um das wundervolle Bild zu betrachten, das sich mir bot. Thea konnte so gut mit Abby umgehen. Sie machte das so fantastisch, dass Abby noch immer nichts davon mitbekommen hatte, dass ich mich im Wohnzimmer aufhielt. Das war eine beachtliche Leistung. Die beiden wirkten fast wie Schwestern. Thea war wie die ältere Schwester, die Abby nie hatte, die sie aber hätte haben sollen.
Brad war an dem Tag, als es geschah, nicht bei mir gewesen, sondern so wie immer im Büro in Syracuse, um genug Geld zu verdienen, damit ich zu Hause bei Imogen bleiben konnte. Er wollte, dass ich mich den ganzen Tag um Imogen kümmern konnte und mir keine Gedanken über meinen alten Job machen musste, in den ich erst zurückkehren sollte, wenn ich das wirklich wollte. Aber ich wünschte, er wäre bei uns gewesen. Er hätte dafür gesorgt, dass Imogen nichts geschieht. Er hätte diesen bösartigen Dreckskerl aufgehalten, und alles wäre völlig anders gekommen.
Etwas mehr als ein Jahr, nachdem mir Imogen genommen worden war, stellte ich fest, dass ich mit Abby schwanger war. Von dem Moment an, als der Arzt die Schwangerschaft bestätigte, konnte ich nur noch darüber nachdenken, was ich alles tun würde, um mein neues Baby zu beschützen. Nichts Schlimmes würde ihr jemals zustoßen. Sie würde meine zweite Chance für ein glückliches Leben sein. Ich würde bereitwillig sterben, wenn ich wüsste, dass sie in Sicherheit war.
Mit einem strahlenden Lächeln kam Abby zu mir gelaufen und sprang mir förmlich in die Arme, als ich mich hinhockte. „Mommy!“, quiekte sie fröhlich. Ich drückte sie fest an mich und hielt sie in meinen Armen. Im Handumdrehen hatte sie mich fast völlig von dem Kummer befreit, der meinen Kopf beherrschte.
„Wo ist Daddy?“, fragte Abby. Es war eigentlich längst Zeit für sie, ins Bett zu gehen, aber ich konnte mich nicht dazu durchringen, sie jetzt um den Spaß zu bringen, auf den sie so lange Zeit hatte verzichten müssen.
„Daddy spielt ein Spiel.“
Neugierig sah sie mich an. „Ein Spiel?“
„Ich erzähle dir später davon, Sweetheart. Hast du viel Spaß?“
„Ja!“ Prompt ließ sich Abby aus meiner Umarmung gleiten und lief zurück zu Thea.
Ich stand da und legte die Hände auf die Hüften, während ich den Kindern beim Spielen zusah. Sie wirkten so unschuldig, dass ich nicht anders konnte, als wieder an Brad zu denken. Dieser Gesichtsausdruck war so offensichtlich gewesen. Dahinter verbarg sich etwas Bösartiges. Steckte ein Körnchen Wahrheit in dem, was er gesagt hatte?
Einmal habe ich einen Mann umgebracht.
Der bloße Gedanke ließ mir einen Schauer über den Rücken laufen. Der Abend hatte mich einfach zu sehr gestresst. Brad ein Mörder? Unmöglich. Ich kannte ihn besser als jeder andere.
Wir waren beide Anfang zwanzig, als wir uns begegneten, und wir sprühten vor Hoffnung und Ehrgeiz. Wir verliebten uns, heirateten schließlich und gründeten eine Familie. Brad war immer für mich da gewesen. Auch nach dem schrecklichen Tod von Imogen war er bei mir geblieben. Er hatte mir das Leben gerettet. Ganz gleich, wie unausstehlich ich auch gewesen war, hatte er uns nie aufgegeben.
Trotz des Rückhalts, den er mir gab, konnte Brad zu Anfang nicht verstehen, wie viel schlimmer mein Schmerz im Vergleich zu seinem war. Schließlich war er nicht dabei gewesen, als es passiert war. Er wurde nicht auf Schritt und Tritt von seinen Schuldgefühlen verfolgt. Ich wiederum konnte nicht anders, als meine Schuld in Wut zu verwandeln und die an ihm auszulassen. Er war der letzte Mensch auf Erden, der es verdient hatte, so behandelt zu werden, doch ich konnte einfach nicht anders. Als dann Abby zur Welt kam, machte ich ihm mit meinen Wochenbettdepressionen erneut das Leben zur Hölle. Es war schon erstaunlich, dass er mich immer noch liebte.
Er war ein guter Mensch.
Warum konnte ich aber dann nicht rigoros die Möglichkeit ausschließen, dass Brad jemanden getötet haben könnte? Der Gedanke war so sinnlos. Wir hatten bloß bei einem Spiel mitgemacht, mehr nicht. Und trotzdem …
„Er ist kein Mörder“, flüsterte ich.
„Was?“, fragte Peter, einer der älteren Thompson-Jungs.
„Gar nichts“, sagte ich und lächelte ihn an. „Welchen Film seht ihr euch an?“
Peter sah mich sekundenlang an, dann zuckte er mit den Schultern und ging weg. Ich atmete aus und verließ das Wohnzimmer, um zur Party zurückzukehren. Mit ein bisschen Glück nahm ich auf dem Weg dorthin wieder Vernunft an.
Ich legte einen Umweg durch die Küche ein, um nachzusehen, ob sich dort noch irgendetwas fand, was ich unseren Gästen anbieten konnte. Das würde es etwas glaubwürdiger machen, dass ich so plötzlich aufgestanden und rausgegangen war. Aber ich legte in der Küche gar keinen Stopp ein, sondern ging vorbei und hielt wie ferngesteuert auf die Treppe zu, die nach oben zu unserem Schlafzimmer führte. Ich wollte der Party fernbleiben und mich unter der Bettdecke verstecken.
Aus dem Esszimmer schallte das Gelächter durch das ganze Haus. Ich ließ mir wieder den ganzen Spaß entgehen. Wie viel Zeit hatte ich damit vergeudet, einfach nur dazustehen? Ein Dinner zum Hochzeitstag sollte mich nicht so aus der Fassung bringen. Alles war so gut gelaufen, bis Brad diese Bemerkung gemacht hatte. Aber Hazel hatte ja unbedingt vorschlagen müssen, dass wir uns die Zeit mit irgendeinem verdammten Spiel vertreiben.
Ich riss mich zusammen und gesellte mich wieder zu den anderen. Es würde zu nichts führen, allen anderen den Abend zu verderben. Ich musste einfach eine gute Gastgeberin sein.
Als ich das Esszimmer betrat, musste ich feststellen, dass nicht länger Zwei Wahrheiten und eine Lüge gespielt wurde. Unsere Gäste hatten ihre Plätze verlassen und standen in kleinen Gruppen zusammen und unterhielten sich leise. Der Abend war noch entspannter als zu dem Zeitpunkt, da ich das Zimmer vorhin verlassen hatte.
Claire zeigte Richard ein gerahmtes Foto unserer Familie. Sie zeigte auf jede der Personen auf dem Schwarzweiß-Foto und redete mit gesenkter Stimme. Als sie mich in der Tür stehen sah, stellten sie den Bilderrahmen wieder hin. Claire lächelte mich verlegen an und entfernte sich von diesem Foto.
Mir wurde schnell klar, was das Problem war. Claire hatte so wie praktisch jeder hier Imogen gekannt, und wahrscheinlich war sie es, die sie Richard auf dem Foto gezeigt hatte. Als Einziger hier im Raum hatte er nie die Gelegenheit bekommen, Imogen kennenzulernen.
Seitdem hatte ich kein Foto mehr von einem professionellen Fotografen machen lassen. Alle Fotos an den Wänden, die Abby zeigten, hatte ich aufgenommen. Ich brachte es einfach nicht fertig, mit ihr für einen Termin zu einem Fotografen zu fahren oder einen zu uns nach Hause zu bestellen. Außerdem kam mir irgendetwas an dem Ganzen Imogen gegenüber respektlos vor.
Ich strich mein Kleid glatt und setzte mich in den Sessel. Mit halb geschlossenen Augen sah Brad mich einen Moment an und fragte: „Ist alles in Ordnung, Honey?“ Das „Honey“ betonte er dabei zu sehr und auf eine unangenehme Weise.
Ich reagierte mit einem einstudierten Lächeln. „Ja. Ich habe nur nach Abby und den anderen Kindern gesehen.“
Mit starrem Blick nickte er, dann trank er wieder einen Schluck Wein. Das Funkeln in seinen Augen erinnerte mich an das, was mir während des Spiels aufgefallen war. Wurde ich in diesem Moment von ihm verhört? Bevor Brad auf die Idee kommen konnte, ich könnte ein Problem haben, drehte ich mich weg. Nicht, dass irgendetwas nicht in Ordnung gewesen wäre. Ich musste nur eine Nacht durchschlafen, dann würde mir klar sein, wie sehr ich mich irrte, was Brad anging.
Londons Absätze verursachten ein lautes Klacken auf dem Parkettboden im Esszimmer, während sie zu mir geschwankt kam. Ihre Wangen glühten, und bei jedem unsicheren Schritt wippten die blonden Strähnen hin und her, die sich aus ihrer Frisur gelöst hatten.
„O Gott, ich glaube, ich hab ein Glas zu viel getrunken“, sagte sie mit schleppender Stimme. In der Hand hielt sie ein halbvolles Glas, aus dem sie noch einen Schluck trank, ehe sie sich in den Sessel neben mir fallen ließ. Etwas Wein spritzte auf den Tisch.
„Freut mich, dass du deinen Spaß hast, London“, sagte Brad mit einem zynischen Grinsen.
„Ja, natürlich, Bradley“, gab sie zurück. „Darum hast du mich doch überhaupt eingeladen. Damit du auf meine Kosten Witze reißen kannst, nicht wahr?“
„Das ist nicht wahr“, herrschte er sie an.
„Ganz ruhig, Mörder“, murmelte sie.
Mein Herz begann zu rasen. Ich wusste, London scherzte nur. Trotzdem versetzten ihre Worte mir einen Schlag.
„Bradley, der Mörder. Ja, das ergibt wirklich einen Sinn. Du hast diesen typischen Blick eines Serienmörders. Sag mal, wo ist denn dein bester Kumpel Fletcher? Ich dachte, er würde auch hier sein.“
„Der hat zu tun“, warf Brad ihr in giftigem Tonfall an den Kopf. Brad und London standen sich nicht nahe, aber normalerweise gingen sie doch viel zivilisierter miteinander um.
„Okay“, ging Hazel dazwischen und nahm Londons Glas an sich. „Ich glaube, es wird Zeit, dir ein paar Tassen Kaffee einzuflößen.“
„Wie du meinst“, erwiderte London. „Ich hab von diesem Abend sowieso die Nase voll. So ein blödes Arschloch hat mich einfach abserviert. Was soll’s also?“
„Mach dir darüber keine Gedanken“, sagte Hazel, während sie mich ansah und mit den Schultern zuckte. Dann lotste sie London in Richtung Küche, wobei sie sich weiter leise murmelnd über irgendetwas beklagte. Eigentlich hätte ich diejenige sein sollen, die dafür sorgte, dass London wieder nüchtern wurde, aber ich fühlte mich in diesem Moment absolut nutzlos.
„Die gute alte London wird sich auch nie ändern“, kommentierte Brad und sah mich dabei an, als erwarte er irgendeine Antwort.
Ich wollte nichts Gemeines sagen, doch er starrte mich an. Ich wollte zur Seite sehen, aber es gelang mir einfach nicht. Schließlich erwiderte ich: „Mhm, sieht so aus.“
Sein Blick blieb noch einige Sekunden länger auf mich gerichtet, während er noch einen Schluck Wein runterkippte. Noch vor ein paar Stunden war er um mich besorgt gewesen, aber jetzt schlug mir von ihm nur Gleichgültigkeit entgegen. Bildete ich mir etwas ein, was gar nicht da war? Oder brachte der Alkohol sein wahres Ich ans Licht?
Richard stellte sich zwischen uns, weil er Brad etwas zum Thema Football fragen wollte. Ich nutzte die Gelegenheit, um mich an einer Unterhaltung zwischen Claire und den Thompsons zu beteiligen. Nach wenigen Augenblicken stand ich bei ihnen und lauschte mit einem halben Ohr der zweiten Hälfte irgendeiner Begebenheit.
Gelächter und Gerede bildeten die Geräuschkulisse, als ich meinem Mann einen Blick zuwarf. Wieder regte sich in meiner Magengrube Unbehagen.
Mein Ehemann ist kein Mörder, wiederholte ich wie ein Mantra und hoffte, auf diese Weise all die Zweifel zu zerstreuen, die sich in meinem Kopf festsetzen wollten.
Mein Ehemann ist kein Mörder.