Prolog
Sebastian
Es gibt in diesem Augenblick genau zwei Realitäten, die wahr sein könnten: Entweder drehe ich mich im Kreis oder der Raum bewegt sich um mich herum. Zumindest bin ich mir in einer Sache ziemlich sicher: Mindestens einer von uns sollte dringend damit aufhören.
»Trink, trink, trink!« Der laute Sprechchor hallt von den Wänden wider, während zwei Typen meinen besten Freund an den Beinen nach oben ziehen. Die feiernde Menge applaudiert grölend, nachdem er sein Bier über Kopf und durch einen Strohhalm geleert hat.
»Fuck, ja!«, brüllt Maddox, als sie ihn auf seine Füße zurückgestellt haben und er die Arme triumphierend in die Höhe reißt. »Auf den Beginn der Karriere, die unsere Eltern für uns ausgesucht haben!«
Die Menge jubelt wieder, irgendwer dreht die Musik lauter und ich kann selbst nicht mehr sagen, ob auf dieser Party fünfzig oder doch fünfhundert Leute anwesend sind. Allerdings ist Ersteres wahrscheinlicher, weil sie nur für Jura-Erstsemester ist.
»Auf das Patriarchat!«, ruft der Typ neben mir, aber diesmal will ihm kaum einer zustimmen. Er prostet der Meute trotzdem zu und nimmt einen kräftigen Schluck aus seiner Bierflasche, die hinterher überschäumt.
Sein Name ist Chad, was er Maddox und mir vorhin ausführlich erklärt hat. Eigentlich heiße er George Chadwick, aber irgendwie tue das ja gefühlt jeder Dritte in diesem Land, also nenne man ihn seit seiner Kindheit nur Chad. Ich glaube, ich habe an diesem Abend schon mindestens drei Georges kennengelernt, die von irgendwelchen Eliteschulen fürs Studium nach Oxford geschickt worden sind. Maddox und ich, in dieser Stadt aufgewachsen, sind damit heute wohl die Minderheit in diesem Raum.
»Bas, das musst du auch mal ausprobieren«, meint Maddox zu mir und legt mir einen Arm um die Schultern, als er auf die großgewachsenen Kerle deutet, die ihn vorhin hochgehoben haben.
»Nein, denn dann müsste ich mich leider von meinem Mageninhalt verabschieden«, protestiere ich und greife zu einer Flasche Limonade. Hoffentlich verdünnt das den Alkohol schnell, schließlich ist der Abend noch jung und wir haben uns vorgenommen, es an unserem ersten Tag an der Uni ruhig angehen zu lassen. Doch dann trudelte der Flyer mit Infos zur Erstsemester-Party in unserem Wohnheim ein.
»Lass uns mit den Mädels da hinten tanzen«, schlägt Maddox vor. »Die Blonde sieht eh schon die ganze Zeit zu dir rüber.«
»Später«, murmele ich und fasse mir an die Stirn. »Ich glaube, ich muss mich mal setzen.« Ich schiebe meinen Kumpel zu unserer neuen Bekanntschaft Chad, damit er ihn zum Tanzen überredet. Ich hingegen bahne mir schwankend einen Weg durch die Menge und will mich aufs Sofa fallen lassen. Ein knutschendes Pärchen kommt mir zuvor.
»Nehmt euch ein Zimmer«, maule ich, obwohl ich nicht mal weiß, wo sich die nächsten Zimmer befinden. Mein Dad arbeitet, seit ich denken kann, an dieser Uni und doch habe ich sie bis heute meistens gemieden.
Ich setze meinen Weg torkelnd fort und lehne mich schließlich mit der Schulter gegen eine Wand. Wenn sich bloß nicht alles so drehen würde! Für einige Sekunden schließe ich die Augen und atme die stickige, feuchte Luft ein.
Als ich die Lider wieder hebe, entdecke ich einen braunen Lockenkopf auf der anderen Seite des Raums, der weder trinkt noch tanzt, sondern mit ratloser Miene an der Tür steht. Er hält den Partyflyer in der Hand und wirkt inmitten der Feiernden vollkommen verloren.
Sein Anblick würde mich mehr amüsieren, wenn er nicht ein so seltsames Gefühl in meinem Magen auslösen würde, für das nicht die Mischung aus Bier und Limonade verantwortlich ist. Warum frage ich mich gerade, wie er wohl mit längeren Haaren aussehen würde? Obwohl seine Haare kurz geschnitten sind, fallen ihm ein paar störrische Locken in die Stirn.
Ich lasse meinen Blick über sein ovales Gesicht, den strengen Ausdruck in seinen Augen, das markante Kinn und seine sportliche Statur wandern. Mit der Kombination aus schwarzem T-Shirt und der Jeans fällt er unter den vielen Hemd- und Stoffhosenträgern auf.
Ich blicke an mir selbst herab und fühle mich in meinem hellblauen Hemd, dem Pullover mit V-Ausschnitt und der beigen Stoffhose plötzlich wie verkleidet. Unruhig drehe ich die teure Uhr an meinem Handgelenk, bevor ich mich mit der Schulter von der Wand abstoße. Ich stelle mein Getränk aufs nächstbeste Regal, nehme die Uhr ab und verstaue sie in meiner Hosentasche. Anschließend fahre ich mir mit gespreizten Fingern durchs Haar, das mir knapp über die Ohren reicht, weil ich es als Rebellion gegen meinen Vater wachsen lasse.
Mit erhöhtem Puls kämpfe ich mich durch die Menge und komme bei dem Lockenkopf an, der gerade ein kurzes Gespräch mit jemandem beendet.
»Ja, groß und lange blonde Haare«, erklärt er, doch der andere schüttelt bedauernd den Kopf, ehe er sich wieder seiner Gruppe widmet.
Warum genau ich hinübergelaufen bin, kann ich mir jetzt auch nicht mehr erklären. In der Nähe des Lockenkopfes fühle ich mich auf einmal nicht mehr so selbstbewusst wie sonst. Als er mich bemerkt, rutscht mein Herz eine Etage tiefer. Halleluja, wie eisblau können Augen sein? Ich bin wie paralysiert und begreife erst nach mehreren Sekunden, dass sich sein Mund bewegt.
»… wahrscheinlich auch nicht gesehen, oder?«
»Was?«, frage ich irritiert und viel zu leise für die Lautstärke der Musik. Er betrachtet mich einen Moment, der mir trotz der vielen Leute um uns herum zu intim vorkommt.
Als er bemerkt, dass ich ihn nicht verstanden habe, heben sich seine Mundwinkel zu einem Schmunzeln und seine Gesichtszüge werden weicher.
»Ich habe heute Nachmittag einem Mädchen meinen Hoodie geliehen und dann war sie plötzlich weg. Ich habe den hier«, er hält den Partyflyer in die Höhe, »in unserem Wohnheim gefunden und dachte, ich treffe sie vielleicht hier.«
»Und du hast keinen Namen?«
»Doch, ich bin Caleb«, erwidert er verwirrt und sieht sich wieder nach der Gesuchten um.
»Ich meinte, ob du ihren Namen kennst«, sage ich grinsend und deute mit der Hand auf mich. »Ich bin übrigens Bas.«
»Oh«, macht er überrascht, bevor er lacht und auf seinen Wangen tiefe Grübchen entstehen. »Sorry, langer Tag. Und nein, ich habe vergessen, sie nach ihrem Namen zu fragen. Aber vermutlich ist ihr Name nicht so ungewöhnlich wie deiner.«
»Bitte was?«, gebe ich lachend zurück. »Das ist ein Spitzname.«
Der Restalkohol macht mich ganz schummrig im Kopf. Vielleicht ist es auch mehr als das. Caleb beugt sich nämlich näher zu mir und der Geruch seines Aftershaves kitzelt in meiner Nase.
»Haben deine Geschwister deinen echten Namen verstümmelt?«
»Das war ich ganz allein. Fand Sebastian zu lang. Und du besitzt keinen zweiten Pullover?«, frage ich, nachdem ich an seinem verwaschenen T-Shirt hinabgeblickt habe. Das hat auch schon eindeutig bessere Zeiten erlebt.
»Ehrlich gesagt nein. Ich hab nicht bedacht, dass es im Oktober abends doch schon so kalt wird, und habe beim Umzug unklug gepackt.«
»Dann kauf dir doch einen neuen.«
»Toller Hinweis, warum bin ich da noch nicht selbst drauf gekommen? Vielen Dank, Sebastian«, erwidert er und mir entgeht nicht der sarkastische Ton und das herausfordernde Funkeln in seinen Augen, das mich kurzzeitig vergessen lässt, dass wir nicht allein auf dieser Party sind. »Der Umzug hat das monatliche Budget meines Stipendiums fast vollständig verbraucht. Wenn ich in den nächsten Wochen die Wahl zwischen Frieren und Verhungern habe, dann kenne ich meine Entscheidung.«
»Na gut«, gebe ich schmunzelnd zurück. »Vielleicht findest du das Mädchen ohne Namen ja noch wieder. Wie sieht das Diebesgut denn aus?«
»Ein mausgrauer Kapuzenpullover mit einer Originalunterschrift von Harry auf dem Ärmel.«
»Von Prinz Harry?«
»Von Harry Styles«, entgegnet Caleb amüsiert.
»Mausgrau und Harry Styles? Klingt nach einer üblen Kombi.«
»Jetzt bekomme ich also sogar Modetipps von dir. Hast du noch mehr gute Lebensweisheiten?«
»Hm«, überlege ich laut und sehe mich um, bis ich in der Nähe einen Getränkekasten entdecke und uns je eine Flasche Bier organisiere. »Flüssignahrung gibt’s hier meistens irgendwo gratis. Das spart dir Geld. Du musst nur wissen, wo.«
»Merke ich mir«, sagt Caleb, beugt sich an mir vorbei und tauscht die Bierflasche im Kasten gegen eine Cola. »Ich wähle aber lieber die hier.« Er schnappt sich einen Flaschenöffner von einem Tisch in der Nähe, öffnet sein Getränk und hinterher meines. Dann prostet er mir zu, bevor er einen kräftigen Schluck nimmt.
Mein Blick wandert dabei an Calebs Hals entlang, verfolgt die Bewegung seines Adamsapfels, zeichnet das glattrasierte Kinn nach und bleibt schließlich an seinen Lippen hängen. Ein Tropfen rinnt über seine Unterlippe. Caleb fängt ihn mit dem Zeigefinger auf und leckt ihn hinterher ab. Das Gefühl, das diese Geste in mir auslöst, erwischt mich so eiskalt, dass ich meine eigene Flasche fester umklammere. Himmel, was war das denn? Das Ziehen in meiner Brust ist direkt in meine Leistengegend gewandert.
Ich beiße mir auf die Zunge und atme die stickige Luft in dem überfüllten Gemeinschaftsraum ein, während ich versuche, das heiße Prickeln in meinem Nacken zu ignorieren.
»Harry also«, sage ich, um meine Gedanken auf etwas Unverfängliches zu lenken. »Ich hätte gedacht, du bist eher der Typ für jemanden wie Niall?«
»Wer?«
»Das ist ehrlich gesagt der Einzige, der mir aus der Band noch einfällt.« Ich lache wieder und lehne mich mit der Schulter neben Caleb gegen die Wand. »Ich kenne mich mit Popmusik nicht so gut aus. Mein Dad hat mich viel mit Klassik gequält.«
Ich greife nach meinem Hemdkragen und ziehe ihn etwas weiter aus meinem Pullover. Ist es hier drinnen wärmer geworden?
»Ich war letztes Jahr nur auf dem Harry-Styles-Konzert in London, nachdem meine zehnjährige Schwester mir monatelang keine Ruhe gelassen hat, bis ich endlich zugestimmt habe, sie zu begleiten.« Caleb hebt einen Mundwinkel und sein schiefes Grinsen jagt mir den nächsten Schauer den Rücken entlang. »Und dein Vater ist Pianist oder warum die klassische Musik?«
»Vermutlich denkt er, das passt zu seinem Ruf.« Ich nippe an meinem Bier und kann nicht anders, als Calebs Grinsen zu erwidern. »Er ist Professor. Also nicht viel besser.«
»Hier in Oxford?«, fragt Caleb und interpretiert meinen vielsagenden Blick richtig. »Ach du Scheiße«, meint er lachend. »Er unterrichtet Jura und wir sind gerade auf einer Party für Jura-Erstsemester.«
»Tja, jetzt kennst du mein größtes Geheimnis. Und wie lautet deines?«
»Ich besitze einen Pullover mit einem Autogramm von Harry Styles.« Caleb sieht sich kurz nachdenklich im Raum um. »Und ja«, sagt er schließlich. »Ich würde Harry wählen und ihn sicherlich nicht von der Bettkante stoßen.«
Ich versuche, nicht allzu überrascht über diese Info zu wirken. Caleb beugt sich zu mir vor und der Duft seines Aftershaves überfordert mich sofort. Hilfesuchend nehme ich einen Schluck Bier und weiß nicht, wie ich richtig reagieren soll. Sein Blick gleitet über meinen Körper und die Stellen, an denen er länger verharrt, fangen zu kribbeln an. Flirtet er etwa gerade mit mir? Dann habe ich mir die sexuelle Spannung zwischen uns also nicht eingebildet.
»Oder dich«, sagt er da auch schon so leise, als wolle er es erst testen. So leise, dass ich es über die Musik und das Stimmengewirr kaum hören kann. Mein Blick ist allerdings auf seinen Mund fixiert und ich kann die beiden Worte von seinen Lippen ablesen. Eine Fähigkeit, die ich mir als Kind vor der Scheidung meiner Eltern angeeignet habe, um aus der Ferne ihre Streitereien verstehen zu können. Heute sorgt es dafür, dass das Ziehen in meinem Unterleib stärker wird.
»Ich bin übrigens bi«, stoße ich hervor.
»Okay«, meint Caleb und lacht. »Herzlichen Glückwunsch dazu?«
»Ich meinte das nur –«
»Ich bin schwul. Hundertprozentig«, rettet er uns aus der unangenehmen Situation und ich streiche mir mit einem verlegenen Lachen durch die Haare.
»Gut zu wissen«, erwidere ich, bevor mein Blick erneut an seinem Mund hängen bleibt. Wie sehr ich ihn küssen will, verunsichert mich auf eine Art, die ich nicht kenne. Eine solche Spannung, die seit dem ersten Moment unseres Kennenlernens besteht, habe ich vorher noch nie gefühlt. Das provokative Funkeln in Calebs Augen lädt mich dazu ein, mich einfach nur vorzubeugen und meine Lippen auf seine …
Abrupt stolpere ich zur Seite, als jemand seine Hände von hinten auf meine Schultern legt und mich rüttelt.
»He, mein Getränk«, protestiere ich und halte die überschäumende Flasche von mir weg. Automatisch weicht Caleb ein Stück zurück und die aufgeheizte Stimmung zwischen uns kühlt schlagartig ab.
»Lass uns was Verrücktes machen«, meint Maddox, unseren neuen Bekannten Chad im Schlepptau, und wedelt mit einem Schlüssel vor meinem Gesicht herum. Ich frage gar nicht, wohin der führt, weil Maddox mir eh nur eine Scherzantwort geben würde. Er hat augenscheinlich deutlich mehr getrunken als ich.
»Ich finde, wir brauchen ein Erinnerungsstück an unseren ersten Abend an der Uni«, erklärt Maddox mit einer Ernsthaftigkeit, die er nur wenige Sekunden durchhält. »Ich könnte alternativ auch verkünden, dass sich alle mit uns gutstellen müssen, wenn sie bessere Noten bei Professor -«
»Mads«, raune ich ihm ärgerlich zu. »Du wolltest meinen Dad doch nicht erwähnen.« Vorsichtig schiele ich zu Caleb, der sich das Lachen kaum verkneifen kann. Ihm habe ich von meinem Vater erzählt, aber ich muss es ja nicht direkt jedem auf die Nase binden. Es wird sich in der ersten Woche eh schnell herumsprechen. Bis dahin will ich herausfinden, wer von den Jungs, mit denen ich abhänge, nicht nur einen Kurs bei Professor Henderson bestehen will.
»Dann musst du wohl mitkommen«, entgegnet Maddox, fest von seinem Plan überzeugt. »Denn diese Party wird langsam öde.«
»Na gut«, brumme ich und stelle meine klebrige Bierflasche irgendwo ab. Chad und Maddox laufen schon in Richtung Ausgang, ich hingegen wende mich wieder Caleb zu: »Willst du mitkommen? Vielleicht begegnet uns auf dem Weg ja deine Pullover-Diebin.«
Sein merkliches Zögern stürzt mich innerlich in die nächste Krise, was ich gar nicht von mir gewohnt bin. Ich will schon ergänzen, dass es eine blöde Idee war und ich meinen besten Freund nur davon abhalten muss, etwas noch Dümmeres auszuhecken, als Caleb wider Erwarten nickt.
»Das erhöht wahrscheinlich meine Chance, bis zum Monatsende nicht zu erfrieren«, meint er und begleitet mich an der feiernden Menge vorbei.
Draußen ist es deutlich kälter und wir beeilen uns, zu Chad und Maddox aufzuschließen. Die beiden albern so laut herum, dass sie uns kaum bemerken. Ich blicke zu Caleb, der sich die nackten Arme reibt.
»Das kann man sich ja nicht ansehen«, sage ich und ziehe meinen Pullover aus, weil ich immerhin noch ein langärmliges Hemd drunter trage. Ich reiche ihm meinen Pulli. Caleb zögert kurz, nimmt ihn dann aber entgegen.
»Danke«, murmelt er und streift sich den Pullover über. Es ist äußerst unterhaltsam, dass er sich danach offenbar nicht anmerken lassen will, wie viel besser die Kälte jetzt zu ertragen ist. Ihn in meinem Pullover zu sehen, führt unweigerlich dazu, dass auch mir wärmer wird.
Während wir zu unserem bislang noch unbekannten Ziel laufen, schaut Caleb mehrmals über seine Schulter.
»Alles okay?«, will ich wissen.
»Ja, ich dachte bloß … ach, nicht so wichtig. Sind wir bald da?«
Weil ich merke, wie unbehaglich sich Caleb fühlt, rufe ich meinem besten Freund zu: »Mads! Ist es noch weit?«
»Fast da«, meint dieser und ich ahne nichts Gutes, als er auf das runde Gebäude, das einen Teil der Bodleian Library beherbergt, zusteuert. Maddox’ Schwester arbeitet hier neben ihrem Studium. Sie studiert schon im dritten Jahr an der Universität Oxford und wird ihren Bruder eigenhändig umbringen, wenn sie erfährt, dass er diesen Schlüssel aus ihrer Jackentasche gestohlen hat. So wie ich ihn kenne, wird er ihr sicherlich beteuern, dass er ihn nur brauchte, um ein Buch auszuleihen, das nach Vorlesungsbeginn ansonsten direkt weg ist.
Er muss sich diesen Streich schon länger überlegt haben und ist anscheinend nicht so betrunken, wie ich dachte. Wir kommen nämlich viel zu leicht in die Radcliffe Camera, deren Rundbau mit der markanten Kuppel ein Wahrzeichen der Stadt ist.
»Hier muss doch irgendwo …« Maddox findet einen Lichtschalter und Chad applaudiert begeistert. Caleb ist neben mir ganz ruhig geworden und sieht sich im großen Lesesaal um, als wäre er noch nie hier gewesen. Und nachdem ich das gedacht habe, wird mir klar, dass das mit großer Wahrscheinlichkeit auch so ist.
»Faszinierend«, wispert er und an seiner Mimik ist abzulesen, dass er das ernst meint. Ganz im Gegensatz zu Maddox und Chad, die ein Wettrennen durch die Tischreihen veranstalten. Über der Tür schaut die Statue von John Radcliffe, dem Stifter, wie mein Dad mir unzählige Male erzählt hat, vorwurfsvoll zu uns herunter.
Caleb läuft inzwischen auch an den Tischen vorbei und lässt den Kopf in den Nacken fallen, um die reichlich verzierte Kuppel zu betrachten. Er wirkt dabei so konzentriert, dass ich ihn unbemerkt beobachten kann. Seine ehrliche Begeisterung ist irgendwie niedlich und etwas völlig anderes, als ich erwartet hätte.
Derweil ist Maddox wieder bei mir angelangt und packt mich am Arm.
»Wer von uns beiden als Letzter oben ist, muss die nächste Rechnung im Pub übernehmen«, raunt er mir zu und reißt mich ein Stück nach vorn, bevor er mich loslässt und lachend weiterrennt.
»Warte!«, rufe ich ihm nach und laufe ihm hinterher. Gegen ihn hatte ich aber schon im Sportunterricht während der Schulzeit keine Chance, er ist ein begnadeter Läufer.
Maddox erreicht die Galerie vor mir und ich schnappe auf der obersten Stufe der Wendeltreppe nach Luft. Ich umklammere das Treppengeländer und presse mir eine Hand auf den Magen, weil das Bier Wellen darin schlägt.
Chad findet es inzwischen lustig, die Bücher in den Regalen umzusortieren oder zu verstecken. Mein bester Freund wandert zwischen den Tisch umher und überlegt wohl, was er als Andenken mitnehmen könnte. Dann fällt seine Wahl auf etwas ganz oben auf dem Regal.
»Hilf mir mal«, meint er und deutet auf den Tisch. Ich helfe ihm beim Tragen, damit er auf den Tisch klettern und die Büste vom Regal holen kann.
»Jetzt hab ich dich«, raunt Maddox dem steinernen Kopf zu und hält ihn triumphierend in die Höhe, bevor er ihn mir reicht.
»Wer ist das?«, frage ich und lese den eingravierten Namen vor: »Plinius.«
»Keine Ahnung.« Maddox rückt den Tisch zurück. »Aber er macht sich bestimmt gut als Trophäe in meinem Zimmer.«
»Vielleicht bringt der dir ja mehr bei als unser Lateinlehrer damals«, scherze ich.
»Latein und ich? Das wird nichts mehr in diesem Leben.«
»Hey, Leute!«, ruft auf einmal Chad aus dem Erdgeschoss, nachdem er Caleb auf der Wendeltreppe fast umgerannt hat. Maddox nimmt mir so schwungvoll die Büste ab, dass ich zur Seite stolpere und mit der Schulter gegen eine Säule stoße. Er sprintet ebenfalls die Treppe hinunter und Caleb und ich bleiben allein auf der Galerie zurück.
»Vielleicht sollten wir auch …« Ich unterbreche mich mit einem Räuspern, weil ich in seiner Nähe plötzlich so befangen bin. Auf dem Weg nach unten macht sich der Alkohol wieder bemerkbar und die Form der Wendeltreppe trägt nicht gerade dazu bei, dass sich weniger in meinem Kopf dreht. Kurz halte ich inne und Caleb bleibt dicht neben mir stehen, als ich mich zu ihm drehe.
»Alles okay?«, fragt er mit rauer Stimme. Ich komme gar nicht dazu, ihm zu antworten, weil mich seine blauen Augen in ihren Bann ziehen. Ich wage es kaum zu atmen, denn die Spannung zwischen uns ist zurückgekehrt.
Caleb stößt hörbar Luft durch die Nase aus, dann schließt er die Lücke zwischen uns und küsst mich. Obwohl ich es mir seit unserem ersten Wortwechsel schon vorgestellt habe, trifft mich das Gefühlsfeuerwerk unvorbereitet. Ich weiche nach hinten aus, bis ich das Geländer im Rücken spüre. Caleb löst sich direkt von mir, in seinem Gesicht spiegelt sich Verunsicherung wider.
»Tut mir leid«, flüstert er. »Ich habe da wohl etwas falsch –«
Diesmal lasse ich ihn nicht ausreden, sondern kralle mich in seinem geliehenen Pullover fest und ziehe ihn zu mir. Keiner von uns hat Zeit für neue Zweifel, als ich seinen Mund gierig mit meinem verschließe. Ich schlinge einen Arm um ihn und greife mit einer Hand in seine Locken, die viel weicher sind, als ich sie mir vorgestellt habe.
Was auch immer ich mir ausgemalt habe, dieser Kuss übertrifft jede Erwartung. Ich ziehe Calebs Kopf noch näher, um unseren Kuss zu intensivieren. Er presst seinen Oberkörper an meinen und erkundet meinen Mund so stürmisch und fordernd mit seiner Zunge, dass meine Knie weich werden. Ich spüre seine Hände an meinen Wangen und kann gerade noch ein Stöhnen zurückhalten. Verflucht, das fühlt sich so gut an. Ich will auf jeden Fall mehr davon.
»Hey«, raunt uns auf einmal jemand von der Seite zu und unser heißer Kuss findet ein jähes Ende. Caleb weicht zurück, steigt drei Stufen hinab und bringt möglichst viel Abstand zwischen uns. Flach atmend blicke ich zu Maddox, der am unteren Treppenende steht und seltsam ernst wirkt. Es ist nicht das erste Mal, dass er mich beim Rummachen erwischt, wenn auch das erste Mal mit einem Typen.
»Draußen ist jemand«, sagt er nun und ein Ruck wandert durch Caleb.
»Shit«, wispert er und setzt sich in Bewegung, ohne noch einmal zu mir zu sehen. Ich folge ihm und Maddox, als plötzlich das Licht ausgeht.
»Hier entlang«, meint mein bester Freund und leuchtet uns den Weg mit seinem Smartphone, bis wir Chad an der Tür treffen. Draußen drückt er Maddox wieder die Büste in die Hand und wir rennen über den Platz. Im schwachen Licht der Laternen kann ich schemenhaft Menschen erkennen und nicht genau sagen, ob sie uns bemerkt haben. Erst in der Nähe der Wohnheime halten wir inne.
»Was für eine blöde Idee«, murmelt Caleb und stützt sich schwer atmend mit den Händen auf den Oberschenkeln ab.
»Lustig wolltest du sagen«, verbessert Maddox ihn und schlägt mit Chad ein, der die Statue mustert.
»Wenn ich mal tot bin, müsst ihr mich auch als so hässliche Figur verewigen«, sagt er und greift nach dem Kopf. »Wir sollten sie ganz oben aus einem Fenster werfen und sehen, in wie viele Teile sie zerspringt.«
»Spinnst du?«, protestiert Maddox. »Die will ich in mein Zimmer stellen.« Sie ziehen ein paar Mal beide an der Büste, während ich zu Caleb sehe. Er ist wirklich blass geworden.
»Ich glaube, ich sollte mal in mein Wohnheim zurück«, meint er und obwohl das nicht das ist, was ich eigentlich will, nicke ich. Als er sich streckt, um meinen Pullover auszuziehen, gibt er ein Stück seines nackten Bauches preis und ein Ziehen wandert durch meinen Magen. Es war nicht mal eine Sekunde und doch genügte die Zeit, um die feinen Haare von seinem Bauchnabel bis zum Bund seiner Boxershorts zu verfolgen. Ich nehme meinen Pulli zurück und bedanke mich murmelnd. In meinem Kopf herrscht plötzlich absolute Leere.
»Kann ich deine Nummer haben?«, höre ich mich selbst fragen und ziehe wie automatisiert mein Smartphone aus der Hosentasche, um es Caleb hinzuhalten. Er beobachtet kurz meine rangelnden Freunde und tippt dann seine Nummer in mein Adressbuch.
»Komm«, meint Maddox, der wohl den Kampf um Plinius gewonnen hat, und zerrt an meinem Arm, weil wieder Stimmen hinter uns zu hören sind. »Du hast doch jetzt seine Nummer. Du kannst Romeo an einem anderen Tag wiedersehen.«
Die nahenden Schritte scheinen Caleb derart zu beunruhigen, dass er in eine andere Richtung verschwindet und nicht mehr zurücksieht. Dabei hätte ich so gern einen Blick auf seine von unserem stürmischen Kuss geröteten Lippen erhascht. Um die Erinnerung daran zu konservieren und vielleicht noch einmal in Versuchung zu geraten.
Wir rennen in die entgegengesetzte Richtung und ich reiche Maddox meinen Pullover, damit er die Büste darin einwickeln kann.
»Du hättest mir ruhig sagen können, dass du bi bist«, flüstert er mir zu und als ich schon denke, er ist sauer auf mich, lacht er. »Ehrlich, Mann. Das macht jede Party ab jetzt deutlich spannender.«
Ich will ihm nicht sagen, dass es mir bis zu meiner Begegnung mit Caleb gar nicht so bewusst war. Doch das prickelnde Gefühl, das seine Berührungen in meinem Gesicht hinterlassen haben, ist Bestätigung genug. Ich habe garantiert nicht genug. Wenn Maddox uns nicht unterbrochen hätte, wäre ich vielleicht sogar auf ganz andere Gedanken gekommen.
Auf dem Weg zu unserem Wohnheim trennen wir uns von Chad und kommen an einer Gruppe Studis vorbei, die wohl zu der Party wollen, auf der wir vorhin waren. Ich würde weiterlaufen, wenn nicht der graue Pullover der großen Blondine meine Aufmerksamkeit auf sich ziehen würde. Ihre Freundinnen bemerken, dass ich neben ihnen langsamer geworden bin, und stoßen sie mit den Ellbogen an.
»Hey, Sienna«, raunt eine Rothaarige ihr zu, während mein Blick an ihrem Ärmel mit der Unterschrift hängen bleibt.
»Hi«, sage ich möglichst freundlich zu ihr. Mein Puls rast, als ich an die Ereignisse der vergangenen Stunde denke. »Ich glaube, der Hoodie gehört einem Freund von mir.« Es fühlt sich komisch an, Caleb als einen Freund zu bezeichnen, nachdem wir uns vorhin auf der Wendeltreppe so innig geküsst haben.
»Du willst meinen Pulli?«, fragt die Blondine namens Sienna und spitzt ihre Lippen. Ich nicke und sie gibt ein sympathisches Lachen von sich. »Wollen wir nicht erst mal ausgehen, bevor ich mich vor dir ausziehe?« Ihre Freundinnen kichern und halten Siennas Tasche fest, damit sie den Kapuzenpullover loswerden kann. »Sag ihm Danke von mir.«
»Mache ich.« Ich schnappe mir den Pulli und schließe wieder zu Maddox auf, der vielsagend mit den Augenbrauen wackelt. Uns entgeht beiden nicht, dass Sienna mir länger nachsieht.
»Die hätte sich gern noch mehr von dir ausziehen lassen«, meint er belustigt. »Scheint so, als wäre der Campus nicht sicher vor dir, Henderson.«
Kapitel 1
Sebastian
Zwei Jahre später.
Ich bringe mein Motorrad zwischen zwei Autos zum Stehen und ziehe mir den Helm vom Kopf. Mit einer Hand streiche ich mir durch die Haare, schnappe dann meinen Rucksack und klemme mir den Helm unter den Arm. Ich bin mal wieder spät dran, die Vorlesung beginnt in wenigen Minuten und trotzdem treffe ich noch jede Menge Kommilitonen auf dem Campus. Zu Beginn des neuen Trimesters nach der Sommerpause hält sich die Motivation überall in Grenzen.
»Lässt du mich irgendwann mal mitfahren?«, fragt Sienna gut gelaunt, als ich bei ihr und ihren Freundinnen stehen bleibe und sie mit einem kurzen Kuss begrüße. Sie nimmt mir den Helm ab und will ihn sich aufsetzen, doch Maddox holt mich ein und kommt ihr zuvor.
»Keine Chance«, erwidert er an meiner Stelle. »Bas lässt nicht mal mich mitfahren und wir kennen uns, seit wir zehn sind.«
»Da ihr im Kopf erst zwölf seid, also genauso lange wie wir«, meint Sienna und betrachtet ihre rot lackierten Fingernägel, bevor ihr Blick auf ihre diamantbesetzte Armbanduhr fällt. »Wir sollten los, wir müssen ja nicht direkt in den neuen Kursen einen schlechten Eindruck hinterlassen.«
Maddox sieht Sienna und ihren Freundinnen nach, ehe er sich mir zuwendet: »Seid ihr wieder zusammen?«
»Weiß nicht«, antworte ich schulterzuckend und erobere mir den Motorradhelm zurück. »Wir waren am Wochenende zusammen auf einer Party, recht betrunken und na ja, dann führte eines zum anderen.«
»Wie die letzten gefühlt hundert Male auch.«
»Sie hat ein paar sehr überzeugende Argumente«, gebe ich lachend zurück.
»Und dann fällt dir wieder auf, wie eitel sie ist und dass ihr eigentlich gar keine gemeinsamen Interessen teilt.«
»Ja, aber dann ist sie immer schon auf dem Rückweg in ihr eigenes Zimmer«, sage ich lachend und klopfe mit den Fingerknöcheln gegen den Helm. »Na dann, auf ins Verderben.«
Der Hörsaal ist schon gut gefüllt, als wir uns Plätze im hinteren Drittel suchen. Strafrecht ist nicht mein Lieblingsthema, vor allem nicht bei Professor Sanchez, der mich durch seine anhaltende Konkurrenz mit meinem Dad nicht leiden kann und daraus keinen Hehl macht.
»Der Verräter ist auch schon da«, flüstert Maddox und deutet mit dem Kopf kaum merklich auf die ersten Sitzreihen. Als Chad zu uns stößt und den freigehaltenen Platz neben mir einnimmt, wage ich einen kurzen Blick in den vorderen Teil des Hörsaals. Dort gibt es noch eine Menge freie Sitze und auf einem lässt sich gerade Caleb nieder.
Obwohl ich es nicht will, löst sein Anblick, wenn ich ihn ein paar Wochen nicht gesehen oder möglichst gut ignoriert habe, jedes Mal ein angenehmes Ziehen in meinem Bauch aus. Dicht gefolgt von Enttäuschung und Wut.
Maddox hat damals Recht behalten. Ich habe meinen ›Romeo‹ schon am Morgen nach unserem gemeinsamen Abend wiedergesehen, als er mit der Dekanin und dem Hausmeister in unserem Wohnheim stand und Letzterer unsere Zimmer durchsucht hat. Dabei haben sie nicht nur in Maddox’ Zimmer die Statue gefunden, sondern auch bei der Durchsuchung meines Zimmers ein bisschen Weed unter meinem Kissen. Chad haben wir nicht verpfiffen, wir beide hingegen mussten mit den Konsequenzen klarkommen.
Wir haben wochenlang Buße getan, indem wir den Campus sauber gehalten haben. Außerdem hat Maddox, dessen Beziehung zu seinen Eltern seit frühester Jugend angespannt ist, sein zum Studienanfang geschenktes Auto verloren und mein Dad hat mich ein paar Sitzungen zu einer Therapeutin geschickt, bis ich ihm hoch und heilig versprechen konnte, nie wieder Weed zu konsumieren. Als wäre das alles nicht genug gewesen, meiden Caleb und ich uns seit diesem Tag zwar, unsere Stundenpläne ähneln sich aber so stark, dass wir nahezu jeden Kurs gemeinsam belegen.
Leider bin ich damals nicht betrunken genug gewesen, um unseren Kuss zu vergessen. Es ärgert mich bis heute, dass ich sogar bereit gewesen wäre, herauszufinden, wohin uns die Begegnung geführt hätte. Seit der Sache mit Caleb habe ich eine Menge Leute in Pubs oder auf Partys kennengelernt, es waren auch ein paar Typen dabei, doch meistens lande ich in Siennas Bett.
Caleb habe ich nie geschrieben und sein Pullover hat auch nie den Weg zu ihm zurückgefunden. Als der Hausmeister an besagtem Morgen vor zwei Jahren mein Zimmer durchsucht hat, lag Calebs Pulli wie die meisten meiner Klamotten auf dem Boden. Vor Wut wollte ich ihn danach am liebsten in den Müll schmeißen, habe mich aber nicht getraut und ihn stattdessen ganz tief in meinem Kleiderschrank vergraben. Seitdem liegt er dort wie eine Art Mahnmal und erinnert mich daran, dem Falschen vertraut zu haben.
Am meisten wühlt es mich jedoch auf, dass ich auf gewisse Weise froh über Calebs Verrat und unsere daraus resultierende Feindschaft bin. Ich hasse das Jurastudium, doch Caleb Parker hasse ich noch mehr. Unsere stetig wachsende Abneigung ist seit Beginn vielleicht der belebenste Teil meines Studiums. Traurig, aber wahr.
Von dem Caleb, den ich damals kennengelernt habe, ist heute nicht mehr viel übrig. Das ausgewaschene T-Shirt, die Jeans und die Sneaker sind Hemd, Stoffhose und Lederschuhen gewichen, das anzügliche Schmunzeln einem strengen Ausdruck und die Haare sind so kurz geschnitten, dass man seine Locken nur noch erahnen kann. Kurzum: Caleb ist inzwischen auswechselbar wie jeder andere in diesem Hörsaal.
Kopfschüttelnd wende ich mich von ihm ab und klinke mich wieder in das Gespräch zwischen Maddox und Chad ein, die sich über ein Video im Internet unterhalten. Lange haben wir dafür allerdings nicht Zeit, denn Professor Sanchez betritt den Hörsaal und startet die Vorlesung wie gewohnt, indem er ein dickes Buch auf sein Pult fallen lässt.
»Was ist Strafrecht?«, fragt er mit lauter Stimme und die ersten tippen auf ihren Laptops mit, als er mit einer Definition in die Vorlesung startet.
Die nächste halbe Stunde interessiert mich herzlich wenig. Ich beschäftige mich lieber unter dem Tisch mit meinem Smartphone, Maddox spielt gelangweilt ein Kartenspiel auf seinem Laptop und Chad scheitert an seiner Mitschrift, weil das Display seines Tablets andauernd ausgeht.
»Kommen wir zu einem Beispiel«, meint Professor Sanchez irgendwann und fängt an, unten im Hörsaal auf und ab zu gehen. »Stellen Sie sich folgendes Szenario vor: Eine Frau und ein Mann gehen ein paar Mal miteinander aus. Dann findet die Frau heraus, dass er zweigleisig fährt und will ihm eine Lektion erteilen. Sie fährt zu seiner Wohnung und zerkratzt mit dem Schlüssel seine Autotür. Anschließend stellt sie fest, dass auf dem Parkplatz an diesem Tag der Nachbar geparkt und sie damit das falsche Auto beschädigt hat. Welche rechtlichen Fragen müssen wir uns hiernach stellen?« Professor Sanchez sieht sich im Hörsaal um, sein Blick bleibt an mir hängen. »Mr Henderson, was denken Sie darüber?«
Mir hätte klar sein müssen, dass er mich anspricht, weil er das gern macht. Dennoch trifft es mich so überraschend, dass ich mein Smartphone fallen lasse und es laut polternd zu Boden stürzt. Es rutscht ein paar Sitzreihen nach vorn, bis eine Kommilitonin es mit dem Fuß stoppt.
Ich atme tief durch, weil alle Blicke auf mich gerichtet sind.
»Mr Henderson?«, fragt Professor Sanchez und ignoriert gekonnt, was eben geschehen ist. »Sind Sie noch wach?«
»Ja«, stoße ich hervor und setze mich aufrechter hin. »Ich meine, wir müssen zuerst danach fragen, ob sie mit Vorsatz gehandelt hat.«
»Führen Sie das bitte genauer aus.«
»Natürlich«, grummele ich und drücke die Schultern nach hinten, um größer zu wirken. »Das Gericht muss beispielsweise prüfen, ob sich die Frau des Risikos bewusst war, ein anderes Auto zu beschädigen.«
»Immerhin hat dieser Nachbar noch ein Auto«, murmelt Maddox neben mir und ich verkneife mir ein Lachen, was der Professor mitbekommt.
»Finden Sie das etwa witzig, Mr Henderson?«
»Na ja.« Ich zögere. »Es ist nur ein Kratzer und sie hatte ja gute Gründe für die Tat.«
Es ist Professor Sanchez deutlich anzumerken, dass er einen genervten Seufzer zurückhalten muss. Stattdessen unterbricht ein Schnauben in der ersten Reihe die angespannte Stille im Hörsaal.
»Möchten Sie auch etwas dazu sagen, Mr Parker?« Professor Sanchez wendet sich ihm zu. Ich hingegen kneife die Augen zusammen und blicke zu meinem liebsten Feind, der offenbar auch im neuen Trimester nicht müde wird, mir auf die Nerven zu gehen.
Caleb zögert einige Sekunden, ehe er sich räuspert und nickt.
»Es geht hierbei vor allem um die Frage, ob die Frau grob fahrlässig gehandelt hat und falls nicht, ob es direkter oder indirekter Vorsatz war«, sagt er und wie so oft habe ich das Gefühl, er spricht nicht über einen fiktiven Fall, sondern über unseren Abend in der Bibliothek.
»Sie wusste ja nicht, dass es das Auto des Nachbarn ist«, werfe ich ein und die Köpfe drehen sich aus seiner Richtung wieder in meine, denn das Spektakel will niemand der Anwesenden verpassen. »Außerdem hat der Nachbar auf dem Privatparkplatz eines anderen geparkt. Trägt er damit nicht eine Mitschuld?«
»Jetzt geht es also um die Schuldfrage«, mischt sich Professor Sanchez ein, weil er vermutlich glaubt, mit der Moderation habe er die Diskussion noch unter Kontrolle.
»Wie soll der Nachbar denn ahnen können, dass sein Auto beschädigt wird?«, fragt Caleb mit lauter Stimme und hat sich auf seinem Tisch niedergelassen, um mich über die Sitzreihen hinweg besser ansehen zu können.
Wir diskutieren sicherlich zehn Minuten über das Thema und der Schlagabtausch wird vom Raunen der Menge oder kleinem Applaus begleitet. Professor Sanchez lässt uns gewähren – insgeheim glaube ich ja, dass er es regelrecht genießt, wenn sein bester Student mit mir, dem Sohn seines Rivalen, aneinandergerät. Wie schon in den vergangenen Vorlesungen befeuern wir uns gegenseitig, bis sich jeder klar auf einer Seite positioniert hat und nicht von seinem Standpunkt abweichen will. Und wie jedes Mal erreichen wir irgendwann eine Ebene, die weder sachlich noch professionell ist und uns deshalb umso mehr gegeneinander aufwiegelt.
»Wie ich vorhin schon aus dem dazugehörigen Paragrafen zitiert habe, verstößt so etwas gegen das Gesetz«, unterbricht mich Caleb irgendwann mit zusammengezogenen Augenbrauen. »Das wüsstest du, wenn du zur Abwechslung auch mal etwas Gedrucktes lesen würdest, anstatt dir nur Videos auf deinem Smartphone anzuschauen.«
Ein neues Raunen wandert durch den Hörsaal und würde Professor Sanchez sowas nicht bestrafen, hätten einige unsere Diskussion bestimmt gefilmt. Mein Smartphone hat inzwischen seinen Weg zu mir zurückgefunden, aber ich bin so auf mein Streitgespräch mit Caleb fokussiert, dass ich alles andere im Raum vollkommen ausblende.
Jetzt hält es mich nicht mehr auf meinem Stuhl. Ich springe auf und stütze mich mit den Händen an der Tischkante ab.
»Menschen handeln aus Emotionen heraus, Parker«, gebe ich zornig zurück. »Was du wüsstest, wenn dein Herz nicht durch einen Prozessor und dein Hirn nicht durch eine Festplatte ausgetauscht worden wären, damit mehr Paragrafen hineinpassen.«
Es folgt wieder ein Raunen und hinter vorgehaltenen Händen sogar Gelächter im Saal, was ein Gefühl der Genugtuung in mir auslöst.
»Immerhin laufe ich mit Strom und muss nicht mit Bier betankt werden«, kontert Caleb und ich muss wieder an unsere erste Begegnung zurückdenken. Ich habe nie jemandem davon erzählt, von unserem Kuss weiß nur Maddox. Caleb will sicherlich auch nicht auf diese Art mit mir in Verbindung gebracht werden, er hält mich offensichtlich für den letzten Höhlenmenschen.
»Wow, wie überaus enttäuschend«, entgegne ich und lache trocken auf. »Du hast Schnaps vergessen, Parker. Aber das kann man jemandem, der nur zu Partys eingeladen wird, wenn sie frühzeitig beendet werden sollen, ja nicht vorwerfen.«
Der Hörsaal kocht inzwischen und applaudiert, was ich nur am Rande wahrnehme. Mein Fokus liegt weiterhin auf Caleb, dessen Lippen sich zu einem schmalen Lächeln verziehen. Mein Puls beschleunigt sich wieder. Dann erhebt er sich ebenfalls und klatscht, als der Applaus der anderen abebbt.
Jeder andere Dozent hätte längst eingegriffen, doch Professor Sanchez steht mit verschränkten Armen an der Seite des Hörsaals und beobachtet die Dynamik zwischen uns mit größtem Interesse.
»Gute Strategie, Henderson«, sagt Caleb mit sarkastischem Unterton. »Völlige Ahnungslosigkeit mit Witzen auf Kosten des Gegners überspielen. Dabei weiß eigentlich jeder der Anwesenden, dass du das vergangene Studienjahr nur mithilfe deines Vaters überlebt hast.«
Das ist zu viel für mich. Der Kommentar über meinen Dad und dass alle gespannt auf meinen Gegenschlag warten, machen es so gut wie unmöglich, meinen Zorn zu zügeln. Also werfe ich meine Sachen in meinen Rucksack und greife nach meinem Motorradhelm. Anschließend stürme ich wütend aus dem Hörsaal, bevor ich mich vollständig vergessen kann.