Leseprobe Wollschwein und Winterleiche | Ein humorvoller Alpenkrimi

Kapitel 2

Odette

Sie schloss die Tür hinter sich, blieb einen Moment nachdenklich stehen und bereitete sich schließlich einen Grüntee zu. Während sie an dem heißen Getränk nippte, dachte sie über ihren kauzigen Nachbarn nach. Ob wohl alle Leute auf dem Land so einsilbig waren? Immerhin konnten sie dann nicht so demütigend und beleidigend werden wie ihr Agent Hannes. Verbitterung färbte ihre Gefühle bei diesem Gedanken.

Wenn es allerdings um seine Fell- und Borstenfreunde ging, zeigte sich Anton erstaunlich mitteilsam, beinahe gesellig. Besonders dieses drollige Schwein, das auf den kunstvollen Namen Persephone hörte, musste sein ganzer Stolz sein. Dabei sah das Tier aus, als wäre ihm beim Trocknen seiner Zotteln der Föhn explodiert.

Sie war beeindruckt von Antons schlichtem Hof. Anders als in Stadtnähe, wo man Nutztiere für die Massenproduktion einsetzte, legte man hier offenbar mehr Wert auf Vielfalt und Bescheidenheit. Der Bauernhof des Nachbarn bestand aus einem Wohnhaus, das ihrem, von den roten Fensterläden abgesehen, zum Verwechseln ähnlich sah, und einem Holzstall hinter dem Haus. Auf dem rückseitigen Teil der Weide befand sich noch ein kleinerer Stall neueren Datums, was an dem hellen Holz zu erkennen war. Vermutlich die Unterkunft für das Wollschwein. Auf dem Schotterweg, der zu ihren Häusern führte, flanierten Hühner und ein stattlicher Hahn. Außerdem glaubte Odette, das vereinzelte Muhen von Kühen vernommen zu haben. Möglicherweise besaßen diese ein gesondertes Gehege hinter dem Stall. Der Freilauf des Wollschweins war nämlich gleichzeitig auch der Garten des Wohnhauses, da eine Treppe von der überdachten Veranda hinunterführte. Jedenfalls schien der Flecken Land einmal die Bezeichnung Garten verdient zu haben. Aktuell sah das Grundstück eher aus wie eine morastige Einöde.

Ihr Blick glitt über die Berge an Umzugskartons, die sich wie überdimensionale Legobausteine in ihrem neuen Zuhause stapelten. Obwohl es hier noch alles andere als wohnlich war, verströmte allein der Charakter des Häuschens Charme und Behaglichkeit. Odette hatte sich bewusst für ein Haus entschieden, das sich in jeglicher Hinsicht von ihrem bisherigen Leben in der Stadt unterschied.

Schwere, rußgeschwärzte Holzbalken trugen die Decke. Ein grüner Kachelofen war die einzige Wärmequelle in der Behausung. Die Holzdielen des Fußbodens waren abgewetzt von abertausenden von Schritten. Die Türangeln und die ausgetretenen Stufen der Treppe in die obere Etage knarzten und knackten bei jeder Bewegung. In manchen Zimmern pfiff der Wind durch eine undichte Ritze der teilweise milchigen Fenster. Odettes neues Zuhause lebte und atmete. Es hatte zweifellos schon einige Generationen durch Freud und Leid begleitet. Deshalb hatte sie es ausgewählt.

Odette trommelte mit ihren aufgeklebten Kunstnägeln auf die Tischplatte. Der Umzug war ein folgenschwerer Entschluss gewesen, ein einsamer noch dazu. Sie hatte sich einen Teil ihrer Pensionskasse auszahlen lassen, um das neue Eigenheim auf dem Land finanzieren zu können. Ein Zurück gab es also nicht mehr. Mit dem Neuanfang ließ sie auch ihr bisheriges Umfeld, namentlich ihre Freunde, hinter sich. Wenn man sie denn noch als solche bezeichnen konnte. Odette musste den Tatsachen ins Auge sehen: Ihre ruhmreichen Tage als Schauspielerin gehörten der Vergangenheit an. Hannes hatte seine Drohung in die Tat umgesetzt und sich nie mehr bei ihr gemeldet. Ihre zunehmende psychische Verstimmung, die sich zu einer ausgewachsenen Krise entwickelte, führte dazu, dass sich ihre sogenannten Freunde ebenfalls schrittweise aus ihrem Leben verabschiedeten. Eine Odette, die nicht mehr unterhaltsam war, den Schein nicht mehr mit einem oscarreifen Lächeln wahren konnte, war wie ein Staubsauger, der nicht mehr bereit war, Staub zu schlucken. In der heutigen Wegwerfgesellschaft machte man sich gar nicht erst die Mühe, ihn zu reparieren. Man warf ihn weg und ersetzte ihn durch ein schillerndes, funktionstüchtiges Gerät, dessen Benutzung in erster Linie Spaß bereitete und keine Anstrengung erforderte. Sinnbildlich gesprochen.

Ihr war klar geworden, dass die Stadt und das Filmbusiness ihrer mentalen Gesundheit nicht mehr zuträglich waren. Sie brauchte einen kontrastreichen Neuanfang. Zwar war sie fünfundfünfzig und kurz vor uralt, aber das bedeutete ja nicht, dass man aus dem kläglichen Rest seines Lebens nicht doch noch etwas Großartiges machen konnte, oder? Neuerdings hatte sie eine Strickzeitschrift abonniert. Stricken, so schworen viele Experten, sei meditativ und heile die Seele. Abgesehen davon würde Odette einiges an Kleingeld sparen, wenn sie bald in der Lage wäre, Socken, Unterwäsche (ja, auch diese!) und Pullover selbst herzustellen. Aus demselben Grund hatte sie sich ein Haus mit Garten ausgesucht. Sie wollte diverse Gemüsesorten und wilde Beeren anbauen. In Hollywood nannte man das Superfood, und diese Nahrung hielt angeblich besser jung als Botox. Außerdem war sie preiswerter. Fehlten nur noch ein Job und der Emotional Rescue, wie die Rolling Stones so schön sangen. Odettes Neigung zum Singledasein hatte mittlerweile leider chronische Züge angenommen. Nebst ihrer Hausstauballergie war das eines jener negativ behafteten Phänomene, die sie einfach nicht in den Griff bekam. Sie seufzte. Das war nämlich noch nicht das Ende ihrer mentalen Bestandsaufnahme. Eine Rekapitulation ihrer glanzvollen Karriere führte ebenfalls zu einem enttäuschenden Ergebnis. Auch wenn Hannes ein Arschloch war … ihr millionenschweres Lächeln in Tom Cruises Richtung war tatsächlich dem Schnitt zum Opfer gefallen. Bitter, aber wahr.

Draußen dämmerte es bereits. Die Herbstabende geizten an diesem Ort der Welt offenbar mit Licht, denn die Sonne verschwand ziemlich rasch hinter den Bergwipfeln und tauchte die Umgebung in verschiedene Nuancen von Nachtschattenblau.

Persephone freilich schienen weder die Kälte noch der Mangel an Tageslicht etwas auszumachen. Sie trottete nach wie vor frohen Mutes von einem Ende des Geheges zum anderen, steckte ihren Rüssel in den matschigen Untergrund oder grunzte vergnügt, als führe sie Selbstgespräche.

Im Haus nebenan ging das Licht an. Ob der grimmige Anton wohl kochen konnte? Odette beherrschte es jedenfalls nicht – noch nicht. Sie war es gewöhnt, am Set von Caterern verpflegt zu werden. Im Kühlschrank starrte ihr gähnende Leere entgegen. Nun bereute sie es, die Pralinen an ihren Nachbarn verschenkt zu haben, zumal seine Frau ja ohnehin nicht mehr dort lebte, um sie zu essen. Andererseits durfte sich Odette nun nicht gehen lassen, bloß weil sie der Leinwand den Rücken zugekehrt hatte. Sie wollte über kurz oder lang schließlich nicht aussehen wie Persephone.

Mit einer entschlossenen Bewegung griff sie zu ihrem Handy. Eine ihrer wenigen verbliebenen Freundinnen, selbst Schauspielerin, Single, lebenserfahren (ein diplomatisches Synonym für alt) und beruflich auf dem Abstellgleis, hatte von einer neuen Dating-App geschwärmt. Nina hatte ihren üppigen Busen oder ihren knackigen Hintern für Nahaufnahmen jeglicher Art im Sinne eines Leichen-Doubles zur Verfügung gestellt, bevor sie wie Odette mit dem Abgelaufen-Stempel gebrandmarkt wurde.

Diese App war speziell für Frauen und Männer mittleren Alters konzipiert, und das Resultat war dermaßen genial, dass Nina bereits nach zwei Monaten Verliebtsein nach Südfrankreich zu ihrem Angebeteten zügelte. Die ganz große Liebe, hieß es.

Flame-Cut war die reifere Variante von Tinder und bedeutete so viel wie abgebrannt. Die App bestand auf ehrlichen Profilen, daher gab es schonungslose Rubriken für naturbedingte optische Entgleisungen, Schreck-lass-nach-Marotten und altersverursachte Defekte und Probleme. Odette dachte nach, dann eröffnete sie ein Profil.

Name und Alter: Odette Ernestine Montebello, Ü40.

Beruf: Renommierte Schauspielerin mit Kontakten nach Hollywood.

Derzeitige Tätigkeit: Im frühzeitigen Ruhestand.

Schonungslos ehrlich: Anorektisch veranlagter Stoffwechsel, Netzstrumpfhosen-Fetischistin, Neigung zur Damenbart-Bildung (Laserbehandlung geplant), Lachfalten im Gesicht, nymphomanische Züge bei zunehmendem Mond.

Odette hielt sich bei solchen Angelegenheiten immer an die Sandwichregel. Einige scheinbar negative Eigenschaften, die eigentlich positiv waren, danach weniger erfreuliche Dinge, die man aber relativierte, und zum Schluss noch etwas Schmeichelhaftes.

Klick und weg. Sie war zufrieden mit dem Start ihres neuen Lebens.

Kapitel 3

Odette

Sie zog die Bettdecke über den Kopf und hoffte, dass ihr die Ohrstöpsel nun die wohlverdiente Ruhe bescherten. Das Singen, das wohl eher als mehrstimmiges Krakeelen bezeichnet werden musste, war eine Zumutung.

Als die Maklerin ihr im Sommer das Haus zeigte, hatte sie versucht, Odette davon abzuhalten, mit den Nachbarn zu reden. Bestimmt hätte ihr dann irgendjemand verraten, warum niemand hier wohnen wollte, obwohl es so idyllisch auf einer erhöhten Terrasse mit Blick über das gesamte Tal lag. Der Grund waren die Gymnasialverbindungen.

Die Hütte der Verbindung Concordia lag nur einen Katzensprung von Odettes neuem Zuhause entfernt, jene der Fraternitas gottlob etwas weiter weg. Odette hatte das schnuckelige Häuschen der Concordia aus dunkel gebranntem Holz mit den orange-weiß-violett bemalten Fensterläden für ein Ferienhaus gehalten. Weit gefehlt, wie sie schon wenige Wochen nach ihrem Einzug in dieses alpine Paradies feststellen musste.

Eine Horde von Jugendlichen war mit Mützen und Farbbändern bekleidet, singend und lachend an ihrem Haus vorbeigezogen. Sie schenkte ihnen keine Beachtung. Als sie sich jedoch an besagtem Tag zu Bett legte, ging es los. Die Schüler verließen ihre Hütte, brüllten durch die nächtliche Stille und erlaubten sich derbe Scherze. Sie kritzelten Odettes hölzerne Eingangstür mit Kreide voll, schnitten ihrem Besen die Borsten ab und füllten das Milchfach des Briefkastens mit leeren Bierflaschen. Dabei sangen sie ständig diese schrecklich ordinären Lieder, deren Text Odette wie ein dämonisches Echo verfolgte.

Odette hoffte inständig, dass ihr das in dieser Nacht – einmal, nur einmal – erspart bleiben würde.

Schließlich versank sie in einen unruhigen Schlaf.

 

Zu ihrem Erstaunen hatten die Ohrstöpsel wahre Wunder bewirkt. Odette erwachte erst wieder, als die Sonne ihre matten Finger durch einen Spalt der zugezogenen Vorhänge streckte. Sie rekelte sich in ihrem Bett, stand auf und tapste schlaftrunken zum Fenster. Mit einem Ruck riss sie die Gardinen auf, um die milde Wärme der Wintersonne auf ihrer Haut spüren zu können. Ein traumhaftes Panorama begrüßte sie an diesem Morgen. Der wolkenlos blaue Himmel spannte sich über ein glitzerndes Winterwunderland. Waren die Wintermonate in der Stadt stets grau, matschig und nass, so fand man sich hier auf dem Land in einem Traum aus Weiß wieder. Die Bäume trugen den Schnee wie gezuckerte Ballkleider. Dächer stemmten ihre hölzernen Schultern tapfer gegen die meterhohen Schneemassen. Die Kühe dampften bei ihrem morgendlichen Auslauf auf der Weide wie heiße Marroni auf dem Zürcher Weihnachtsmarkt. Odette seufzte und lächelte. Tiefer Frieden erfüllte sie.

Als ihr Blick allerdings auf den Garten vor ihrem Haus fiel, gefror ihr das Blut in den Adern.

Sie stieß einen spitzen Schrei aus, taumelte nach hinten und hielt sich entsetzt die Hand vor die Augen. Das musste eine Fata Morgana sein – ausgelöst durch die Schneeblende oder was auch immer es auf dem Land sonst noch für mysteriöse Erscheinungen gab.

Vorsichtig trat sie erneut ans Fenster und linste zwischen ihren Fingern nach draußen. Nein, es hatte sich nichts an der Tatsache geändert, dass in ihrem Garten ein junger Mann ähnlich einer Vogelscheuche mit ausgebreiteten Armen und hängenden Beinen an einem Holzkreuz hing. Er trug einen schlichten blauen Kapuzenpullover, weite Jeans mit einem bunten Ledergürtel und klobige schwarze Turnschuhe. Die Insignien der Concordia, das Farbenband und die Mütze in Orange-Weiß-Violett, vervollständigten die Aufmachung. Der braunhaarige Junge war mit Seilen an ein Holzgebilde gebunden, das an eine Heinze zum Heutrocknen erinnerte. Sein Kinn ruhte auf der Brust, als sei er ohnmächtig.

Oder tot.

»Ach, du meine Güte!« Erst in diesem Augenblick entdeckte Odette, dass sich noch jemand in ihrem Garten aufhielt.

Persephone.

Irgendjemand musste sie aus ihrem Gehege herausgeholt und auf ihr Grundstück gejagt haben. Die Wollschweindame rannte wie von Sinnen im Zickzack von einem Ende des Zauns zum anderen und gab eine Mischung aus Grunzen und Quieken von sich. Odette zog sich eilig an und jagte sofort zu ihrem Nachbarn.

»Anton!«, brüllte sie, während sie völlig aufgelöst an dessen Tür hämmerte und klingelte. Die Kälte kroch vom Boden her unter ihre Kleidung, und ihre Zähne klapperten so stark, dass ihre Kiefer schmerzten. Nach einer gefühlten Ewigkeit erschien ihr Nachbar endlich im Türrahmen. Die braunmelierten Haare standen ihm wirr vom Kopf ab und erinnerten an Persephones Borsten. Er kniff ständig die graublauen Augen zusammen, als müsse er noch die Reste des Schlafs aus ihnen blinzeln. Sie musste ihn von der Couch heruntergeklingelt haben, denn normalerweise war er frühmorgens bereits im Stall bei seinen Tieren und somit längst wach.

»Was zum Kuckuck ist eigentlich …«

»Was in mich gefahren ist?« Odettes Stimme überschlug sich. »Da ist ein Toter in meinem Garten. Hast du denn in der Nacht gar nichts gehört?«

Besser, man kam sofort zur Sache.

»Nana, wollen wir jetzt mal nicht gleich den Teufel an die Wand malen, oder? Natürlich nicht. Das Krakeelen der Jungs bin ich ja schon gewöhnt, und außerdem befindet sich mein Schlafzimmer im rückseitigen Teil des Hauses«, brummte Anton verstimmt und kratzte sich ratlos am Kopf.

»Falls er trotz der Kälte noch gelebt haben sollte, ist er zwischenzeitlich jedenfalls gestorben, weil du noch immer hier herumstehst und nach Flöhen suchst, anstatt mir endlich zu helfen!«

Da war eine gottverdammte Leiche in ihrem Garten! Wenn jemand das beurteilen konnte, dann ja wohl sie, die Oscarpreisträgerin aller Leichenschauspieler.

Schließlich bequemte sich ihr lethargischer Nachbar endlich dazu, sich etwas überzuziehen und ihr zu ihrem Haus zu folgen. Vor dem Gartentor blieb er wie angewurzelt stehen. Die Augen drohten ihm aus den Höhlen zu quellen.

»Persephone? Um Himmels willen, was machst du denn hier? Komm her, mein Mädchen, komm her!« Seine Stimme nahm einen weichen und fürsorglichen Klang an, während er versuchte, sich dem immer noch wild herumrennenden Schwein zu nähern. Schließlich gelang es ihm, das Tier durch sein Murmeln und etliche Streicheleinheiten so weit zu beruhigen, dass es sich zurück in sein heimisches Gehege führen ließ.

Odette schlich sich derweil an den jungen Mann heran, der den Eindruck erweckte, bloß ein kleines Nickerchen in sehr unbequemer Lage abzuhalten. Sie wagte nicht, irgendwas anzufassen, doch sie hielt ihm einen Finger unter die Nase, um festzustellen, ob er noch atmete.

Tat er nicht.

»Wir sollten einen Arzt und die Polizei rufen«, schlug Anton vor, als er aus Persephones Gehege zurückgekehrt war. »Bloß nichts anfassen.«

Da stimmte ihm Odette zu.

Unfassbar, da wollte sie ihrem alten Leben den Rücken kehren, und das Erste, was ihr im vermeintlichen Garten Eden begegnete, war eine Leiche. Mokierte sich das Schicksal etwa über ihre gescheiterten Karrierepläne?

In diesem Moment bemächtigte sich ihr ein überaus ketzerischer Gedanke. Was, wenn es Mord war? Mit Morden kannte sich Odette schließlich aus …