1
Das Schlimmste an Weihnachten? Absolut alles!
Kaum füllen sich die Supermärkte mit dem ersten Weihnachtsgebäck, und die Straßen von Syracuse erstrahlen in einem Meer aus Lämpchen, Glitzer und Immergrün, rauscht meine Stimmung in den Keller. Die Magie, die Besinnlichkeit, die Zeit der Harmonie und des Friedens … nein, das ist nichts für mich. Während alle um mich herum von weihnachtlicher Euphorie erfasst werden, fühlt sich diese Jahreszeit für mich an wie ein monatelanger Montag.
Diese schreckliche Zeit wird vergehen! Das ist mein Mantra, als ich am Morgen die Redaktion betrete, bewaffnet mit einem Mehrweg-Kaffeebecher, der die Größe eines Eimers hat. Das ist die Menge an Koffein, die ich benötige, um meine Lebensgeister zu wecken und mich in ein soziales Wesen zu verwandeln, das diesen Namen verdient. Den Spruch Yes, but coffee first lebe ich mit Leib und Seele.
„Lucinda, meine Beste! Da bist du ja endlich!“ Mein Chef versprüht offenkundig gute Laune. Die New York Yankees haben gestern gewonnen. Mit einem Grinsen, das mir vertraut und zugleich verdächtig vorkommt, empfängt er mich in seinem Büro. An einem Montagmorgen bedeutet das selten etwas Gutes.
„Ich habe eine Mega-Story für dich, du wirst ausflippen!“ Während er vor Begeisterung beinahe platzt, zähle ich innerlich die Mega-Storys der Vergangenheit auf: Der große Durchbruch: Die neue Ampelschaltung an der Kreuzung der Almond Street, Die kulinarische Revolution: Das Diner an der Ecke führt vegane Burger ein, Haute Couture: Ein neuer Secondhand-Laden öffnet seine Pforten.
„Ich weiß, was du denkst, aber dieses Mal ist es anders. Kein Cupcake-Opening, keine Graffiti-Enthüllung. Etwas, das wirklich bewegt. Komm, setz dich.“ Er deutet auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch, während er einen Stapel Papiere zur Seite schiebt, um Platz zu schaffen.
Ich stelle meinen Kaffeebecher ab und nehme widerwillig Platz, um mir die neueste „große Geschichte“ anzuhören, die sich wahrscheinlich als weiterer Flop herausstellen wird.
„Das Tierheim an der Near Eastside braucht dringend unsere Hilfe zu Weihnachten“, beginnt er.
Ich zucke innerlich zusammen. Tiere und Weihnachten könnten genauso gut auf meiner Liste der Dinge stehen, die die Welt nicht braucht.
„Die Heimleitung ist momentan völlig unterbesetzt. Sie suchen nicht nur Leute, die adoptieren, sie brauchen kurzfristig auch Unterbringungsmöglichkeiten. Notlösungen, wenn es zu eng wird. Denn sonst können sie dicht machen. Und da kommst du ins Spiel. Du hilfst dem Tierheim, indem du eines der Tiere vorübergehend aufnimmst, du schreibst darüber, und die Leser werden es dir gleichtun. Na, was sagst du?“
Ich runzle die Stirn. „Tiere? Über Weihnachten?“, wiederhole ich mit einem skeptischen Unterton.
„Genau. Und du wirst ein Tier mit nach Hause nehmen – als Test. Selbstverständlich kannst du es vor deinem Urlaub zurückgeben, das ist schon geklärt. Sie sind dankbar für jede helfende Hand und für die Aufmerksamkeit, die sie durch deinen Artikel bekommen werden“, sagt er mit einem Schmunzeln, das mir verrät, dass er genau weiß, wie sehr ich gegen diese Idee bin. „Es geht um die Authentizität, Lucinda. Die Leser wollen echte Geschichten.“
Die Leser unserer Lokalzeitung lassen sich an einer Hand abzählen, verglichen mit den Zahlen der New York Times.
„Hätte man nicht vor ein paar Monaten schon an eine solche Aktion denken müssen?“, frage ich, und die Skepsis dringt dabei aus jedem meiner Worte.
„Lass das mein Problem und das des Tierheims sein. Deine Aufgabe ist es lediglich, dich vorübergehend um ein Tier zu kümmern und bis zum zweiundzwanzigsten Dezember einen Artikel zu liefern. Am Tag danach kannst du in deinen wohlverdienten Urlaub fahren.“
Lediglich vorübergehend um ein Tier kümmern.
„Und wenn ich Nein sage?“, frage ich. Ich kann meine Frustration kaum verbergen.
„Die Entscheidung liegt bei dir“, entgegnet er gelassen. „Aber du weißt, ein Karrieresprung kommt nicht von allein.“
Ich stöhne leise und nicke. Vielleicht ist das die Story, die endlich etwas bewegt – wenn schon nicht in meinem Weihnachtsherz, dann in meiner beruflichen Laufbahn.
„Bis wann möchtest du eine Antwort, George?“
„Nimm dir die Zeit, die du brauchst, Lucinda“, antwortet mein Chef. „Aber vergiss nicht, die Warteliste der Kollegen ist lang …“
„… und alle sind bereit, meinen Platz einzunehmen, falls ich passen sollte, richtig?“, falle ich ihm ins Wort. „Keine Sorge, das ist mir durchaus bewusst.“
Ich weiß, dass nicht nur einige Kollegen, sondern auch die oberste Etage nicht gerade unglücklich wäre, mich dauerhaft loszuwerden. Ich bin ihnen zu unbequem, zu unbestechlich, zu wenig Kaffeekränzchen-Kollegin. Zu ehrgeizig … sagen sie.
„Ich gebe dir bis Mitte der Woche Bescheid“, sage ich und mache mich auf den Weg zur Küche. Was ich jetzt brauche, ist ein weiterer Kaffee – diesmal mit einem ordentlichen Schuss zusätzlicher Milch, um mich für diesen Auftrag zu wappnen. Das Thema an sich ist zugegebenermaßen spannend, vorausgesetzt, man ignoriert meine tief verwurzelte Antipathie gegen Tiere … ganz besonders gegen Hunde. Alles wäre mir lieber, selbst eine Expedition an den Nordpol, um über den Weihnachtsmann zu schreiben, aber nicht …
Moment, was war das?
Ich bin normalerweise keine, die die Ohren spitzt. Klatsch und Tratsch interessieren mich nicht, mein Sorgen-Rucksack ist mit meinen eigenen Themen ohnehin gut gefüllt. Aber wenn mein Name fällt und dies direkt aus den Mündern der beiden Schlangen der Redaktion, dann bleibe ich an der Türschwelle stehen und lausche.
Denise ist die rechte Hand des Big Boss‘ und Greg unser Junge für alles. Beide könnten als Redaktions-Zwillinge durchgehen, nicht nur wegen ihres perfekt synchronisierten Tagesablaufs, sondern vor allem wegen ihres angeborenen Lästergens. Wo der Klatsch von Denise aufhört und Gregs Tratsch beginnt, lässt sich oft schwer sagen.
„Diesmal ist sie fällig, Greg! Sie hasst Weihnachten, und sie hasst Tiere, das ist hier ein offenes Geheimnis. Sie wird diesen Bericht niemals schreiben und selbst wenn, wird ihn unser Chef nicht freigeben, dafür werde ich sorgen. Spätestens zu Jahresbeginn ist Lucinda Thorne Geschichte“, zischt Denise.
„Wie kann jemand Tiere nicht lieben?“, gibt Greg mit dramatischer Lästerstimme seinen Senf dazu.
„Einen wunderschönen guten Morgen, Office-Zwillinge!“, begrüße ich beide mit übertriebener Herzlichkeit. Ich steuere schnurstracks auf die Kaffeemaschine zu, die leider keine Taste Kaffee mit Alkohol besitzt.
Sie antworten nicht, aber ich kann ihre Reaktionen hinter meinem Rücken deutlich spüren. Mir stellt sich jedes einzelne Nackenhaar auf.
Mit einem brühend heißen Latte Macchiato in der Hand laufe ich zurück in das Büro meines Chefs, der gemütlich in den Sportteil der New York Times vertieft ist.
„Ich nehme die Herausforderung an, George“, verkünde ich mit fester Stimme.
Er schaut auf und grinst mich an. „Ich wusste, dass du meine Beste bist, Lucinda! Also, dein Tierheim-Besuch ist am Donnerstag, hier hast du alles, was du benötigst …“
Da stehe ich, nicke automatisch und fühle mich dabei wie einer dieser Wackeldackel, während in meinem Kopf Szenarien von sabbernden Hunden und kratzenden Katzen herumspuken.
Ich hasse Tiere. Ich hasse Weihnachten. Aber was ich noch weniger ertrage, ist die Vorstellung, dass Denise Recht behält und mein Name aus einer Laune heraus aus dem Türschild radiert wird.
Egal, was kommt: Ich werde liefern, und ich werde es diesen Schlangen zeigen!
2
Das Tierheim befindet sich in einem kleinen Gebäude am Rande eines ruhigen Wohnviertels. Es sieht aus, als hätte es schon bessere Tage gesehen und spiegelt perfekt meine Begeisterung für diesen Auftrag wider.
Kaum überschreite ich die Schwelle, werde ich von einer Symphonie aus Bellen und Miauen empfangen. Dazu mischt sich der Geruch von nassem Fell, Heu und dem „Eau de Zoo“, das Markenzeichen jedes Tierheims.
Was zum Teufel mache ich hier eigentlich? Soll ich mir das wirklich antun? Was wäre die Alternative? Meinen Job zu verlieren, meine Wohnung zu räumen und als Straßenmusikantin mein Glück zu versuchen? Dafür müsste ich aber zunächst lernen, zu singen oder ein Instrument zu spielen.
„Guten Morgen und herzlich willkommen. Sie sind sicherlich Ms. Thorne? Wir haben schon auf Sie gewartet. Ich bin Alice Anderson“, empfängt mich die einzige Mitarbeiterin, die ich weit und breit sehen kann.
Als sie meinen leicht verwirrten Blick auffängt, fügt sie hinzu: „Wir, die Tiere und ich.“
Sie und die Tiere, eine Arche-Noah im Miniaturformat? Und ich, die darüber schreiben darf? Herrlich!
Vor mir steht eine mittelgroße Frau mit lebhaften braunen Augen, die vor Energie strahlen. Ihre Haare sind zu einem praktischen Pferdeschwanz gebunden, und einige freche Locken umrahmen ihr Gesicht. Sie trägt eine einfache Jeans und ein dunkelblaues verwaschenes T-Shirt mit dem Logo des Tierheims. Die Risse in der Hose, und die Löcher im Shirt verraten mir, dass sie zahlreiche Arbeitstage hinter sich haben. Ihre Hände sind rau und kräftig. Um ihren Hals baumelt eine Brille an einer bunten Schnur, und ihre Turnschuhe sehen aus, als hätten sie bereits viele Gassi-Touren hinter sich. Sie strahlt Autorität und gleichzeitig Freundlichkeit aus.
„Unser Tierheim hat schon bessere Zeiten erlebt, sowohl was die Anzahl der Mitarbeiter, als auch die der ehrenamtlichen Helfer angeht. Momentan bin ich alleine hier.“
„Sie managen das hier alles im Alleingang?“ Ich kann es nicht glauben. Ich wäre schon mit einem einzelnen Goldfisch überfordert.
„Eigentlich sind wir ein Team von drei Leuten: Mike, Lisa und ich. Aber Mike fällt leider krankheitsbedingt auf unbestimmte Zeit aus. Lisa muss sich derzeit um ihre senile Mutter kümmern, bis ihr Bruder aus dem Ausland zurückkommt. Also halte nur ich im Augenblick die Stellung. Darren hilft uns aus, wann immer es ihm sein Job als Tierarzt erlaubt“, erklärt Alice mir. „Wir vermitteln lieber dauerhaft, ganz klar. Aber in solch einer Notlage ist selbst eine liebevolle Übergangslösung besser als keine.“
„Sie stemmen die Arbeit derzeit allein und kümmern sich 24/7 um diese … um die Tiere?“ Das Wort, das ich eigentlich im Sinn habe, spreche ich lieber nicht aus. „Was ist mit ihrer Familie?“ In dem Moment, als ich die Frage stelle, blitzt der Gedanke an meine eigene auf.
„Wissen Sie, Ms. Thorne, es ist mehr Berufung als Beruf. Diese Tiere zu hegen und zu pflegen, ihnen ein zweites Zuhause zu geben – das füllt mein Leben aus. Da bleibt wenig Zeit und Raum für eine Familie im traditionellen Sinne“, erklärt Alice mir mit einem sanften Lächeln.
„Sie erwähnten ehrenamtliche Helfer …“, hake ich nach.
Alice nickt. „Wir erhalten viele Spenden – Futter, Medikamente, Spielzeug, Decken – und dafür sind wir unglaublich dankbar. Gleich sehen Sie, wie voll unser Lager ist. Aber die Zeit, Ms. Thorne, das ist es, was wir am dringendsten benötigen. Aber wenn es darum geht, werden die Menschen zunehmend geiziger. Was nach langen Arbeitstagen übrigbleibt, wird selten an uns verschenkt.“
Ich nicke. Auch wenn ich mit Tieren nichts am Hut habe, das hier sieht definitiv nach einem Job aus, der keinen Feierabend kennt. Wird man nicht nach einer Weile in einem Raum geruchsblind? Ich stehe seit knapp zehn Minuten an Ms. Andersons All-In-One-Tisch – Empfang, Schreibtisch, medizinische Notfallecke – aber eine bunte Palette an Tiergerüchen bohrt sich weiterhin in meine Nase. Dabei habe ich mich den Käfigen nicht einmal genähert.
„Nun, ich schlage vor, ich stelle Ihnen die Stars unserer Einrichtung vor“, reißt Alice mich euphorisch aus meinen Gedanken.
Mit einem innerlichen Seufzen folge ich ihr und beginne den Rundgang im Tierheim. Ich tauche in eine Welt ein, die mir fremder nicht sein könnte. Das Heim ist ein Gewirr aus engen Gängen und Käfigen und wirkt wie ein chaotisches, lebendes Puzzle aus tausenden ungelöster Teile. Egal wo ich hinsehe, blicken Tiere neugierig zurück, fauchen mich an oder ignorieren mich einfach. Es fühlt sich an wie ein überfülltes Wartezimmer im Zoo. Von den Wänden blättert die Farbe, aber an einer Stelle entdecke ich ein Bild, das fröhliche Tiere im Gras zeigt – ein krasser Kontrast zu den realen Umständen hier.
Sogar ein wenig Weihnachtsdekoration hat es hierher geschafft. Selbstgebastelte Sterne aus buntem Papier und Glitzer baumeln von den Decken. Sie drehen sich sanft im Luftzug. Einige ramponierte rote Schleifen hängen an den Käfiggittern, als würden sie versuchen, die tristen Metalltüren in festliche Geschenke zu verwandeln. In einer Ecke steht ein krummer, nackter Weihnachtsbaum.
Ich muss zugeben: Jemand hat sich Mühe gegeben, hier ein kleines bisschen Wärme hineinzubringen.
Der Geruch, der mich beim Eintreten empfangen hat, begleitet mich weiterhin, und das Konzert aus Bellen, Miauen und Fiepen bildet die Hintergrundmusik.
„Sind sie nicht niedlich?“, fragt mich Alice.
Und laut, ja. Chaotisch auch. Aber irgendetwas in mir will nicht ganz so kategorisch Nein sagen, wie ich es gewohnt bin. Stattdessen presse ich ein „Oh, absolut entzückend!“, hervor und hoffe, dass mein Sarkasmus nicht allzu offensichtlich ist.
Plötzlich bleibt Alice wie angewurzelt stehen, und ich laufe prompt gegen ihren Rücken.
„Mist! Hören Sie es auch? Das Telefon vorn klingelt, und ich erwarte einen dringenden Anruf von Darren“, ruft sie hastig.
Ich höre weiterhin nur das Konzert der Tierstimmen.
„Schauen Sie sich ein wenig um, Ms. Thorne, ich bin gleich zurück. Und dann sagen Sie mir, welches Goldstück Sie für einige Wochen bei sich aufnehmen möchten“, wirft sie mir über die Schulter zu und verschwindet in Richtung ihres multifunktionalen Arbeitsplatzes.
Vorsichtig nähere ich mich den Käfigen und betrachte ihre Insassen. Sie sind in Bereiche aufgeteilt. Zuerst kommen die Katzen. Ich entdecke eine graue Perserkatze, die majestätisch auf ihrem Thron aus Kissen liegt. Mit dem Haar, das sie verliert, könnte man täglich einen neuen Teppich weben. Das ist die einzige Rasse, die ich namentlich benennen kann. Eine weitere Katze, die der Grinsekatze aus Alice im Wunderland zum Verwechseln ähnlich sieht, streckt neugierig eine Pfote durch die Gitterstäbe. Ich möchte gerade einen Schritt auf sie zugehen, als sie ihre Krallen ausfährt. Meine innere „Tiere-und-ich-werden-niemals-Freunde“-Sirene heult los. In einer Ecke raufen einige Kätzchen miteinander. Heute sind sie noch zuckersüß, aber morgen werden sie schon zu gefährlichen Raubkatzen heranwachsen.
Ich komme in die Hundezone. Alles um mich herum wedelt. Als ob sie alle sagen wollten: „Wähl mich, wähl mich!“ Mit Hunderassen kenne ich mich besser aus. Ein älterer Labrador schaut mich mit sanften Augen an. Ein verspielter Terrier versucht meine Aufmerksamkeit zu gewinnen, indem er bellt und gegen die Gittertür springt. Kurz darauf trabt er in eine Ecke und verrichtet nonchalant sein Geschäft. Tiere haben keine Scham, und ich beneide sie darum. Aber meine weiße Stoffcouch sieht das sicher anders. Inmitten dieser Szenerie befindet sich ein schwarz-weißer Hund, die lebende Karikatur des berühmten Comic-Hundes Snoopy. Er hat es sich bequem gemacht, und wie die Zeichentrickfigur schnarcht er zufrieden auf dem Dach einer kleinen Holzhütte, die so gebaut wurde, dass sie ihm als erhöhtes Bett dient. Irgendetwas an seinem Auftritt hat Stil. Ich erwische mich selbst beim Schmunzeln. Als Kind habe ich diese Figur geliebt.
Weiter hinten gibt es einen Bereich für kleinere Tiere. Meerschweinchen und Hasen hocken in ihren Häuschen und knabbern vorsichtig an ihrem Futter, gelegentlich quieken sie leise. In einer ruhigen Ecke sonnt sich eine Schildkröte wie ein Zen-Meister auf einem Stein, unberührt vom Trubel um sie herum.
„Hier bin ich wieder!“, ruft Alice plötzlich hinter mir.
Ich habe sie nicht kommen hören und schrecke hoch. „Hero liebt es, sich unter der Lampe zu räkeln und seine Panzerplatten zu wärmen. Darren meinte, wenn Sie sich sputen, könnten Sie Ihren neuen Mitbewohner direkt für einen Gesundheitscheck vorbeibringen. Heute Vormittag ist nicht viel los, und die Praxis ist gleich zwei Blocks weiter.“
Darrens Name klingt für mich bereits wie ein Synonym für zusätzlichen Stress.
„Und, Ms. Thorne … verraten Sie mir, welches Tier Ihr Herz erobert hat?“ Alices Augen leuchten vor Begeisterung.
Ich räuspere mich, und mein Blick fällt auf den Schildkrötenstein. „Ähm, tatsächlich hätte ich mich für ihn hier entschieden …“, beginne ich und hoffe insgeheim, dass diese Entscheidung mich vor schlaflosen Nächten bewahren wird.
„Für Hero?“, Alice sieht mich an, als hätte ich ihr erzählt, dass auf dem Mond Zimmer frei wären. „Das geht leider nicht.“
„Aber ich bringe Ihnen Hero doch wieder. Bald. Sehr bald“, erkläre ich der Tierheimmitarbeiterin erneut die Spielregeln.
„Ich kenne die Vereinbarungen, Ms. Thorne. Trotzdem kann ich Ihnen Hero nicht mitgeben. Er kann das Tierheim nicht verlassen. Er ist unser Maskottchen.“
Nun stehe ich da mit einer Mischung aus Panik, Panik und abermals Panik. Ich lasse meinen Blick erneut durch das Heim und die Käfige schweifen: Meerschweinchen oder Hasen sind keine Option. Kein Rudel in meiner Wohnung! Außerdem machen sie unglaublich viel Dreck. Katzen sind ebenfalls ausgeschlossen. Meine Wohnung bietet zu viele Flächen, die mit Kratzbäumen verwechselt werden könnten. Bleibt also nur ein Hund. Jubel und Konfetti! Ich habe keine andere Wahl.
Mein Blick fällt auf den würdevollen alten Labrador. „Wie sieht‘s mit dem Senior aus?“
Alice schüttelt den Kopf. „Parry würde ich Ihnen nicht empfehlen. Er ist … nun ja, sagen wir, sehr freigiebig mit seinen persönlichen Seen.“
„Wie bitte?“
„Er leidet an Inkontinenz, Ms. Thorne.“
Ach, du krummes Desaster!
„Und was ist mit ihm?“ Ich zeige auf den schwarz-weißen Sheepadoodle – das Schild am Käfig hat mir die Rasse verraten – der weiterhin im Land der Träume ist und im Moment wohl seine REM-Phase genießt.
„Das ist unser SnowPee“, stellt Alice ihn mir vor.
„SnowPee?“, wiederhole ich den Namen sicherheitshalber.
„Ja. Wissen Sie, er liebt den Schnee und macht aus jedem Schneefeld ein Kunstwerk mit gelben Akzenten.“
Seine Neigung zum Langschläfer überzeugt mich eindeutig mehr als seine künstlerischen Fertigkeiten.
„Ich entscheide mich für SnowPee“, sage ich schließlich.
Wenn er so lange schläft, werde ich nicht viel von ihm mitbekommen. Und das ist eine gute Sache!
„Ausgezeichnete Wahl, Ms. Thorne. Sie werden ihn lieben.“ Alice klatscht vor Freude in die Hände.
Ich bezweifle das sehr, aber ich werde mein Bestes geben.
Die nächste halbe Stunde ist ein Chaos aus Bürokratiekram. Alice händigt mir Formulare und Versicherungspapiere aus: Unterschriften hier, Initialen dort, Adressen, Notfallnummern und ein Crashkurs über das Leben eines Sheepadoodles. Der Pakt von Versailles ist sicherlich entspannter abgelaufen.
„Das hier ist nur die Kurzfassung“, versichert sie mir, „da es keine Adoption im eigentlichen Sinne ist, und Sie ihn ja vor Ihrem Weihnachtsurlaub zurückbringen. Also in genau …“
„… einundzwanzig Tagen“, falle ich ihr ins Wort. Und siebzehn Stunden.
Zu guter Letzt reicht sie mir eine Visitenkarte des Tierarztes und beschreibt mir Schritt für Schritt den Weg dorthin.
„Nun fehlt nur noch unser Protagonist. Passt die Holzhütte in Ihr Auto?“, fragt sie mich. Mein Gesichtsausdruck muss Bände sprechen, denn sie fügt hastig hinzu: „Ohne seine Hütte ist SnowPee aufgeschmissen und Sie ebenso. Glauben Sie mir, er kann heulen wie ein Wolf bei einer Vollmondnacht.“
Tja, was soll ich dazu sagen? Hier sitze ich nun. Mein Beifahrer ist eine lebende Comic-Figur in einem geliehenen Hunde-Autositz, die Holzhütte auf der Rückbank versperrt mir jegliche Sicht, und statt den Artikel über das Gin-Tasting im Diamond‘s zu redigieren, fahre ich zu einem Tierarzt.
Der Warteraum der Tierarztpraxis von Dr. Darren Perkins ist hell, großzügig und lässt keinen Platz für jegliche Form von Unordnung. In jeder Ecke liegt zwar Tierspielzeug, aber sehr akkurat arrangiert. Weihnachtsgirlanden umrahmen die Fenster, sie sind schlicht gehalten, mit roten Kugeln in unterschiedlichen Größen. Eine ähnlich minimalistische Dekoration ist im kompletten Wartebereich verteilt.
SnowPee, der im Auto tief geschlafen hat, ist nun plötzlich wach und sichtlich nervös. Seine Pfoten trippeln unruhig über den Boden, und sein Schwanz wedelt nur zögerlich. Er bleibt dicht an meiner Seite. Gelegentlich hebt er den Kopf zu mir und hechelt leicht – er scheint tatsächlich aufgeregt zu sein. Er schnüffelt vorsichtig an den Stuhlkanten und wirft mir immer wieder einen beinahe gehetzten Blick zu.
„Dr. Perkins wird Sie gleich empfangen, Ms. Thorne. Wir hatten einen Notfall, ein Gecko hat sich am Schwanz verletzt“, erklärt mir die Tierarzthelferin. Auf ihrem Namensschild steht Joanne, und sie erinnert mich an meine Großmutter. Das ist heute schon die zweite Erinnerung an meine Vergangenheit.
„Darren wird sich bestimmt freuen, dich gleich zu sehen, kleiner Mann! Komm her, du darfst das heutige Türchen öffnen, SnowPee!“, ruft sie den Hund zu sich.
„Türchen?“, frage ich verwundert.
„Ja, von unserem Tier-Adventskalender“, antwortet Joanne, als wäre es das Natürlichste auf der Welt.
Ich öffne den Mund für eine spitze Bemerkung, aber irgendetwas an Joannes Lächeln hält mich zurück. Ich verstehe nicht, weshalb man Tiere vermenschlichen muss.
Als hätte sie meine Gedanken gelesen, sagt sie sanft: „Indem wir ihnen menschliche Züge verleihen, ehren wir nicht nur ihre Präsenz in unserem Leben, sondern auch die Emotionen, die sie in uns wecken. Sie sind mehr als nur Tiere. Sie sind unsere Lehrer, Freunde und Tröster.“
Ich nicke. Nur einmal, fast unmerklich. War da nicht mal ein Hund in deiner Kindheit, der vom Fußende deines Bettes auf dein Kissen springen durfte und es sich dort gemütlich machte? Ich überhöre meine innere Stimme dezent und springe dankbar auf, als sich die Tür des Behandlungsraumes öffnet.
Eine tiefe, warme und ermutigende Stimme erfüllt den Raum. „Du wirst sehen, Daniel, mit der Zaubersalbe und dem magischen Verband wird es Zardy bald wieder besser gehen. Komm nächste Woche Dienstag wieder vorbei, und vergiss nicht, das Türchen zu öffnen. Joanne wird dir ein Bonbon geben.“
„Sie sind mein Held, Dr. Perkins. Sie haben meinem Jungen und mir den Tag gerettet. Bis nächste Woche“, bedankt und verabschiedet sich die Mutter des kleinen Daniels, der sich gerade einen Erdbeerdrops genüsslich in den Mund schiebt.
„Ich mache nur meine Arbeit, Mrs. Brand. Bis nächste Wo… Ah, wen haben wir denn da? Wenn das nicht mein Lieblingshund ist. SnowPee, komm her, mein Großer!“
Plötzlich scheint SnowPees Aufregung wie weggeblasen. Er stürmt auf den Arzt los, springt an ihm hoch, und sein Schwanz hört gar nicht mehr auf zu wedeln. Er sieht aus wie das pure Glück auf vier Pfoten. Ich bleibe stehen und beobachte die Szene. Es fühlt sich warm an. Das irritiert mich ein wenig.
„Und Sie müssen die Journalistin sein, die unseren SnowPee zu Hause aufnimmt, richtig?“ Dr. Darren Perkins schreitet mit einem entspannten Lächeln auf mich zu, und in diesem Augenblick zerfällt das Bild des älteren Tierarztes mit grauen Schläfen und Hornbrille, das ich im Kopf hatte.
Vor mir steht ein junger Mann, der einer Rockband entsprungen scheint. Unter seinem weißen Kittel schauen dunkelblaue Jeans und ein weißes Longsleeve hervor. Er trägt helle Turnschuhe, und seine dunklen Haare sind etwas zu lang, sodass sie ihm rebellisch ins Gesicht fallen. Seine grünen Augen mustern mich von Kopf bis Fuß, dann huscht ein Grinsen über sein Gesicht.
Lacht er etwa über mich?
„Nur für kurze Zeit“, antworte ich knapp.
„Wie bitte?“, fragt er, und sein Gesicht nimmt nun einen interessierten Ausdruck an.
„Ja, ich bin die Journalistin, die Ihren SnowPee zu Hause aufnimmt. Nur für kurze Zeit“, wiederhole ich seine und meine Worte.
„Freut mich, Sie kennenzulernen, Journalistin-die-unseren-SnwowPee-zu-Hause-aufnimmt-nur-für-kurze-Zeit. Ich bin Dr. Perkins. Sie können mich aber Darren nennen.“ Er streckt mir seine Hand hin.
„Lucinda Thorne. Sie können mich Ms. Thorne nennen oder Lucinda, falls Sie mir irgendwann einen Kaffee ausgeben.“ Habe ich das gerade tatsächlich laut gesagt?
Er lacht und ich … verdammt, ich lächle zurück. Sein Händedruck ist fest und sanft zugleich. Ich ziehe reflexartig die Hand zurück, nicht weil es unangenehm ist, im Gegenteil.
„Ms. Thorne also. Möchten Sie mir in den Behandlungsraum folgen? SnowPee, mein Großer, ab auf die Liege mit dir.“
SnowPee scheint auf das Kommando gewartet zu haben. Kaum hat Dr. Perkins es ausgesprochen, sprintet er ihm hinterher. Die beiden scheinen eine besondere Verbindung zu haben. Seine Pfoten rutschen über den glatten Boden, als sei er ein Eiskunstläufer ohne Schlittschuhe. Er sprüht vor Energie, kein Vergleich zum komatösen und nervösen Hund, der er vorhin noch war. Kann mir bitte jemand wiederholen, weshalb ich Hero nicht mitnehmen durfte? Ach ja, das einzige Tier, das wahrscheinlich genauso begeistert von dieser Zwangsgemeinschaft gewesen wäre wie ich, durfte das Tierheim nicht verlassen.
„Bitte schließen Sie die Tür, Ms. Thorne. Sie können gern dort Platz nehmen.“ Dr. Perkins deutet auf einen gemütlichen Stuhl zwischen seinem Schreibtisch und der Liege. Ich folge seiner Anweisung und setze mich.
Der Raum ist hell und freundlich, gefüllt mit allerlei medizinischen Geräten. An einer Wand sind detaillierte anatomische Bilder verschiedener Tiere angebracht, gegenüber hängen minimalistische Tierzeichnungen. Auch hier macht sich die Weihnachtszeit bemerkbar: Auf Darrens Schreibtisch steht eine kleine Tanne, dekoriert mit bunten, leicht kitschigen Schleifen. Ich fühle mich wie ein Alien, sowohl in der Welt der Tiermedizin als auch in der des Festes. Vollkommen fehl am Platz!
SnowPee hingegen scheint sich in Dr. Perkins‘ Anwesenheit sheepadoodlewohl zu fühlen. Mit einem geschickten Satz springt er auf die Untersuchungsliege, wedelt ununterbrochen mit dem Schwanz und schaut den Arzt erwartungsvoll an. Darren tätschelt liebevoll SnowPees Kopf, bevor er mit der gründlichen Untersuchung beginnt. Er tastet den Hund ab, misst seine Körpertemperatur, entnimmt sogar Blut. Währenddessen liegt SnowPee völlig entspannt auf dem Rücken, die Pfoten von sich gestreckt, als bekäme er gerade eine Luxus-Wellnessbehandlung.
„Was meinst du, SnowPee, ist Lucy hier nicht eine wunderbare neue Hundemama? Du hast eine tolle Wahl getroffen.“
Das hat er nicht ernsthaft getan! Er hat nicht gerade über drei Ecken mit mir gesprochen und dabei … Ich hasse das, es erinnert mich zu sehr an …
„Mein Name ist Ms. Thorne oder Lucinda! Das habe ich Ihnen bereits gesagt. Bitte nennen Sie mich nicht Lucy! Und Sie können sich direkt an mich wenden. Außerdem habe ich ihn ausgesucht und nicht er mich.“ Mein Ton ist schroff und das ist beabsichtigt.
„Nun, Sie können mir schlecht SnowPees Gefühlszustand mitteilen, Ms. Thorne“, erwidert Dr. Perkins jetzt mit einem distanzierten Unterton.
„Oh bitte … es ist doch offensichtlich, dass Sie …“ Ich breche mitten im Satz ab, weil SnowPee plötzlich einen quietschenden Laut von sich gibt.
„Entschuldige, mein Großer, da habe ich wohl zu fest auf die Pfote gedrückt. Lass mal sehen … na, was haben wir denn da? Eine Zecke, die …“
„Grundgütiger!“, entfährt es mir. Daran habe ich überhaupt nicht gedacht. Rasch stehe ich auf und trete näher an die Liege heran, um das parasitäre Monster genauer zu inspizieren. Ich habe Zecken schon immer verabscheut.
„Halt still, SnowPee. Ich weiß, diese kleinen Biester können ganz schön lästig sein. Aber keine Sorge, ich kümmere mich darum.“ Dr. Perkins greift nach einer Pinzette, während ich unentschlossen dastehe und nicht weiß, ob ich hinschauen oder wegsehen soll – wie vor einer entscheidenden Szene in einem Horrorfilm.
Er nimmt mir die Entscheidung ab. „Könnten Sie bitte SnowPee festhalten, während ich das hier mache? Er muss ruhig bleiben.“
Zögernd greife ich nach dessen Halsband und halte ihn sanft, aber bestimmt. Der Hund blickt mich mit großen Augen an und scheint zu verstehen, dass ich nur helfen will. Dr. Perkins zückt die Pinzette und arbeitet präzise und konzentriert, seine Hände sind vollkommen ruhig. Ich kann nicht aufhören, darauf zu starren. SnowPee zuckt kurz zusammen und wimmert.
„Entschuldige, mein Großer, das war‘s auch schon“, sagt der Tierarzt und entsorgt die Zecke fachgerecht. „Ich habe die Stelle desinfiziert, aber haben Sie ein Auge darauf. Wenn sie anschwillt oder er sich zu oft daran leckt, kommen Sie bitte wieder.“
„Ich werde darauf achten“, erwidere ich.
Eigentlich hatte ich nicht vor, meine Vorweihnachtszeit in einer Tierarztpraxis zu verbringen, doch möchte ich auch auf keinen Fall, dass das Tier leidet. Zumal ich mit einer entzündeten Pfote völlig überfordert wäre.
„War das alles?“
Dr. Perkins zögert einen Moment, dann schaut er mich an, ein kleines Lächeln auf den Lippen. „Wenn Sie auf einer tropischen Insel stranden würden und nur eine Zutat zum Würzen wählen könnten – wäre es Zucker oder Salz?“
Überrascht blinzle ich ihn an. „Wie bitte?“
„Nur so eine Frage.“ Sein Lächeln wird breiter. „Rein hypothetisch.“
„Pfeffer“, antworte ich.
„Schöne Antwort, Ms. Thorne.“ Er schaut mich spitzbübisch an. „Sie nehmen nicht den einfachen Weg. Bitte rufen Sie morgen früh wegen der Blutergebnisse an, oder ähm … wenn Sie weitere Fragen haben …“
„Ich notiere es mir. Und wenn der Hund mir noch ein Loch ins Sofa kaut, sende ich Ihnen ein Beweisfoto zu. Frohe Weihnachten, Dr. Perkins!“
„Frohe Weihnachten, Ms. Thorne“, antwortet der Tierarzt mit einem knappen Lächeln. Er streicht SnowPee erneut über den Kopf und wendet sich dann der Tür zu, um sie zu öffnen und seiner Empfangsdame kurz Bescheid zu sagen, dass sie dem tapferen Patienten ein Leckerli geben soll. Er hält die Tür für mich auf, hält aber keinen Blickkontakt. Ich zögere kurz, bevor ich hindurchgehe und er sie leise und wortlos hinter mir schließt.
Der Hund hüpft schwanzwedelnd zu Joanne, die sich liebevoll mit ihm über die Auswahl des richtigen Leckerlis unterhält.
Ein schneller Blick auf die Uhr verrät mir, dass ich rechtzeitig zur Mittagspause zurück in der Redaktion sein werde. Ich stehe vor der Wahl: essen im Park, wo SnowPee sich austoben könnte, oder mit den Tratsch-Tanten in der Büroküche?
Das Wetter nimmt mir die Entscheidung ab. Es fällt dieser typische Vorweihnachts-Nieselregen, der alles mit einem grauen Schleier überzieht. Da erscheinen mir selbst meine beiden klatschsüchtigen Kollegen wie eine willkommene Abwechslung gegenüber der tristen Außenwelt.