Leseprobe Wenn er mich findet | Der düstere Psychothriller mit schockierenden Wendungen

Kapitel 1

Scarlett

heute

Dans Atemgeräusche neben mir verändern sich. Lange, tiefe Züge werden zu kürzeren. In einer Minute klingelt sein Wecker. Er ist schon immer kurz davor wach geworden. Der Wecker klingelt und ich schrecke zusammen, obwohl ich darauf vorbereitet war. Seufzend schließe ich meine Augen. Es ist anstrengend, immer so angespannt zu sein.

Das ansteigende Läuten endet abrupt und das Bett quietscht, als Dan sich zu mir herüberrollt und meine Stirn küsst, bevor er unter den warmen Decken hervorspringt und nebenan im Bad verschwindet. Er steht immer auf, als hätte er bereits zwei Tassen Kaffee getrunken.

Ich mag es nicht, wie das Bett sich anfühlt, wenn er fort ist. Wie die Laken ohne die Wärme seines Körpers auskühlen. Hinter der Badezimmertür höre ich Wasser, das in die Badewanne fließt. Dan ist noch nicht unter die Dusche getreten. Ich spitze meine Ohren und warte darauf, dass das Geräusch sich verändert. Ein paar Sekunden vergehen und sein Körper, der nun zwischen dem Duschkopf und der Wanne steht, dämpft das Geräusch.

Unten erwacht die Kaffeemaschine gurgelnd zum Leben. Mein Zeichen aufzustehen. Ich lausche den Geräuschen des Morgens und suche nach einem, das nicht dazugehört. Doch es gibt keines. Es gibt nie eines.

Der Boden unter meinen Füßen ist kalt und ich bekomme Gänsehaut. Ich nehme meinen Morgenmantel vom Haken an der Tür und gehe nach unten. Durch die Wände hindurch kann ich die Vögel hören. Sie zwitschern laut und konstant. Ich liebe Sommermorgen und besonders die vielen Tiere draußen, aber ihre Geräusche erinnern mich immer daran, wie dünn die Wände sind, und nicht zum ersten Mal frage ich mich, ob jemand in der Lage wäre, ein Loch hineinzuschneiden und einzudringen. Könnte ich es ausprobieren, ohne dass Dan es bemerkt?

Eine kleine blaue Schachtel auf der Küchenzeile reißt mich aus meinen Überlegungen, eine Wand einzureißen. Neben der Schachtel befindet sich ein Zettel mit meinem Namen darauf. In meinem Leben hat es eine Zeit gegeben, in der ich mich wirklich über meinen Geburtstag gefreut habe. Mein Vater hat immer ein Riesending daraus gemacht, egal wie wenig Geld wir hatten. Er hatte Geschenke in glänzendes rotes Papier gewickelt, mein Lieblingsessen gekocht und den ganzen Tag mit mir zusammen das Geburtstagslied gesungen.

Doch dann hat sich alles geändert und ich begann, den Tag meiner Geburt und meine bloße Existenz zu hassen. Und ich bin gerade nicht im Entferntesten dramatisch.

Ich starre das Schmuckkästchen an. Wenn es ein Ring ist … der Ring … Dann hätte er ihn sicher nicht hier stehenlassen, damit ich ihn allein finde. Ich starre weiter darauf, als würde meine Röntgensicht jeden Augenblick einsetzen, und ich könnte den Inhalt sehen, ohne das Kästchen zu berühren.

„Alles Gute zum Geburtstag, Scarlett.“ Dan nimmt mich in die Arme und küsst mich auf die Schulter. Ich habe nicht gehört, wie das Wasser ausgegangen und er die Treppe heruntergekommen ist.

„Danke. Du hättest mir nichts kaufen müssen.“

„Ach, Quatsch. Mach es auf.“

Er gießt Kaffee ein, während ich den Deckel von der Schachtel nehme, die Luft anhalte und bete, dass es kein Diamantring ist. Der Deckel geht auf und ich sehe eine feine Goldkette mit einem kleinen Rubinanhänger. Sie ist zierlich und schlicht. Ich liebe sie. „Danke.“

Ich lege meine Arme um seinen Hals und er stellt die Kaffeekanne auf die Küchenzeile zurück, um mich zu drücken. Er duftet nach seinem Moschusduschgel und ich entspanne mich in seiner Umarmung, inhaliere seinen Geruch und zähle bis zehn, bevor ich zurücktrete.

„Was hast du heute vor?“, fragt er.

„Brunch mit Marin. Davor oder danach habe ich ein paar Dinge in der Stadt zu erledigen. Dann komme ich nach Hause zurück.“ Ich zucke die Achseln, denn dieser Tag ist genau wie alle anderen.

„Bist du mit der Arbeit für deine Klienten fertig?“

Ich nicke. „Gestern habe ich den letzten Fall abgeschlossen. Diese Woche habe ich offiziell frei.“

Lächelnd nimmt er einen Schluck Kaffee aus seinem Thermosbecher. „Gut. Du verdienst eine Pause. Ich komme heute nicht allzu spät von der Arbeit. Gegen drei sollte ich zu Hause sein. Der Tisch ist für sechs Uhr reserviert. Isaac und Crystal treffen uns dort. Vergiss nicht, Marin zu fragen, ob sie auch kommen möchte. Klingt das gut?“

„Perfekt“, sage ich. Und so ist es auch. Mit jeder neuen Information lässt die Spannung in meinen Muskeln nach. Es gibt nichts, was ich mehr hasse als Überraschungen.

„Gut. Bis später, Süße.“ Er küsst mich auf die Lippen und verschwindet zur Tür hinaus. Nun bin ich allein.

Ich nehme den Kaffee, den Dan mir eingegossen hat, mit nach unten in meinen Sportraum im Keller. Ich habe Zeit für ein schnelles Workout, obwohl ich mich in jeder Minute, in der ich allein bin, unwohl fühle. Ich schalte die Stereoanlage ein und drehe den Lautstärkeregler weit nach rechts.

An der gegenüberliegenden Wand hängen mehrere Bildschirme. Ich kann mein Spiegelbild auf der dunklen Oberfläche sehen. Wie jedes Mal, wenn ich hier unten bin, verspüre ich den Drang, sie einzuschalten. Dann würden die Kameras im Haus und darum herum anspringen. Ich könnte die Umgebung und jedes einzelne Zimmer sehen. Doch wie jedes Mal, wenn ich diesen Drang verspüre, ignoriere ich ihn. Vor ein paar Jahren war ich zu dem Schluss gekommen, dass die Kameras meine Paranoia nur verstärkten. Ich starre auf die schwarzen Bildschirme, erhöhe meinen Puls und beginne mit einem Boxworkout.

Als ich erschöpft bin und der Schweiß in Strömen von mir hinabrinnt, gehe ich nach oben und bereite mich auf den Tag vor. Eine schnelle Dusche und ich bin fertig. Je weniger Zeit ich allein verbringe, desto besser. Ich brauche genau fünfzehn Minuten, bis ich zum Auto gehe.

Die Straße ist ruhig. Fast alle sind bei der Arbeit und diejenigen, die noch zu Hause sind, werden in den nächsten Stunden aufbrechen. Ich greife nach dem Griff der Autotür, als ich zusammenschrecke, weil ich hinter mir Schritte höre. Ich fahre herum und atme erleichtert aus, als ich Tiff sehe, unsere Nachbarin, die den Gehweg entlangjoggt. Lächelnd winke ich ihr zu, als sie vorbeiläuft, und boxe in die Seite meines Autos, als sie sich weiter unten auf der Straße befindet.

Ich knalle die Tür hinter mir zu, fahre auf die Straße und dann Richtung Stadt. Ich liebe es, in einer kleinen Stadt zu leben. Weil jeder jeden kennt. Mir gefällt, dass es keine Anonymität gibt. Keinen Ort zum Verstecken. Es ist der perfekte Platz, um zu verschwinden.

Ich bin verschwunden.

Aber für wie lange? Dieser Gedanke nagt immer an mir.

Ich fahre auf den Parkplatz des einzigen Lebensmittelgeschäfts im Umkreis von zwanzig Meilen. Rick, der an der Kasse sitzt, winkt mir zu, während ich zu den Gewürzen in Gang sechs gehe. Aus den Lautsprechern plärrt die Musik irgendeiner haarigen Metalband aus den Achtzigern. Ich kann hören, wie er mitsingt, als ich weiter in den Laden vordringe.

Neben Rick und seiner Metalmusik sind meine Schritte das Einzige, was ich höre. Auf dem Parkplatz stehen noch zwei Autos. Ricks roter Taurus und ein grauer Ford Ranger. Terry, der Bankier, fährt einen Ranger, doch der sollte jetzt bei der Arbeit sein. Mit einem unguten Gefühl im Magen gehe ich in den nächsten Gang, während ich überlege, wem der kleine Pickup noch gehören könnte.

Tom hat einen Ranger, aber der ist blau. Ist Billys Truck ein Ranger? Der ist klein und grau. Aber ich glaube, es ist ein S10.

Ich stoße mit jemandem zusammen, der auch gerade in die Tiefkühlabteilung möchte. Meine Hand fliegt zur Rückseite meines Gürtels und ich mache einen schnellen Schritt zurück.

„Es tut mir so leid!“, sagt der Mann. Ich erkenne ihn nicht und weiß nicht, ob das gut ist oder schlecht. „Ich habe Sie nicht gesehen.“ Seine Worte klingen melodisch. Runde Vokale. Tennessee, wenn ich raten müsste.

„Kein Problem“, sage ich, meine Hand noch immer auf dem Griff meines Messers.

Ich mache einen Schritt nach links, um an ihm vorbeizugehen. Er trägt ein blaues Hemd, das in Khakihosen steckt. Sein Haar ist frisch geschnitten und sein Gesicht glattrasiert. Hoover, Illinois, ist eine der schöneren Kleinstädte, von denen noch nie jemand etwas gehört hat, aber er ist zu schick, um hierherzugehören.

„Können Sie mir sagen, wo ich das gefrorene Gemüse finde?“, fragte er mit einem Lachen.

„Im Gang dort drüben.“ Ich nicke in die Richtung. „Nicht von hier?“ Ich beende meine Frage mit südstaatlicher Freundlichkeit.

„Nein, Ma’am. Ich komme von Clarksville herauf. Will in Chicago Familie besuchen.“

„Tennessee?“

Er nickt. In seinen Augen leuchtet Stolz, wie bei einem echten Bürger von Tennessee. „Ja, Ma’am.“

„Nun, dann gute Reise.“ Ich gehe einen weiteren Schritt, doch wieder hält mich seine Stimme auf.

„Ich möchte Sie nicht belästigen, aber gibt es in dieser Stadt ein Hotel oder so? Das GPS auf meinem Handy benimmt sich schon den ganzen Tag sehr merkwürdig.“

„Ich fürchte, nein. Ihre beste Chance ist es, etwa eine Stunde nach Norden zu fahren, bis Sie nach Hillside kommen. Dort gibt es ein paar. Aber Chicago ist auch nur noch anderthalb Stunden entfernt. Sie sind fast da.“

Er neigt seinen Kopf, als würde er sich an den Hut tippen wollen. „Ich dachte, ich könnte durchfahren, aber ich fürchte, ich schlafe am Steuer ein, wenn ich das versuche. Danke für Ihre Zeit.“

Es gibt in der Stadt ein kleines Bed-and-Breakfast. Dort habe ich übernachtet, als ich hier ankam. Doch ich mag keine Fremden und würde viel leichter atmen, wenn ich wüsste, dass dieser hier die Stadt verlassen hat. Dass er nach gefrorenem Gemüse fragt, wenn er unterwegs ist, ist seltsam. Und es bedeutet, dass ich ein Auge auf ihn haben und dafür sorgen muss, dass er seine Reise fortsetzt.

„Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Miss Scarlett“, sagt Rick. Er zieht den Inhalt meines Korbes über den Scanner, während er das Geburtstagslied singt.

Ich bedecke mein Gesicht. Hitze breitet sich darauf aus, doch ich lächle und lache gut gelaunt. „Danke, Rick. Richte Tammy meine Grüße aus, ja?“ Ich nehme die Plastiktüte aus seiner ausgestreckten Hand und eile zu meinem Wagen.

Ich hoffe, der Fremde aus Tennessee vertraut mir und fragt nicht den freundlichen Kassierer, ob man in der Stadt übernachten konnte. Ich fahre zum Rand des Parkplatzes und drehe meine Rückspiegel so, dass ich den Eingang des Geschäfts sehen kann. Der Mann kommt heraus und ich beobachte ihn, während er sich in seinen Truck setzt. Er verharrt dort ein paar Minuten. Schaut er auf seinem Handy nach einem Ort zum Übernachten?

Schließlich setzt sich der Truck in Bewegung in Richtung Hauptstraße. Ich folge ihm auf dem Weg zum Highway. Erleichtert atme ich auf und spüre, wie die Spannung in meinen Schultern nachlässt, als er die Auffahrt nimmt und Richtung Norden verschwindet. Mein Handy vibriert. Auf dem Display sehe ich eine Nachricht von Marin.

Wo bist du?

Marin wartet an einem Tisch im hinteren Bereich des Diners auf mich, als ich hereinkomme. Mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen tippt sie auf ihrem Handy herum. Als ich näherkomme, schaut sie auf. Sie grinst, als sie mich sieht, legt ihr Handy aber mit dem Display nach unten auf den Tisch.

„Alles Gute zum Geburtstag, Süße!“

„Danke.“

Sie schiebt einen von zwei Mimosas über den Tisch.

„Kommst du heute Abend mit zum Essen?“, frage ich, bevor ich einen Schluck nehme.

Marin verdreht die Augen. „Schätze, schon. Du hast Glück, dass ich dich so mag, denn ich hasse es, das fünfte Rad am Wagen zu sein.“

„Der war gut.“

„Danke. Hässliche Wörter mag ich am liebsten.“

Vor etwa zwei Monaten ist Marin bei einem Treffen in der Stadt mit Tina Davis aneinandergeraten. Danach hat Tina jedem, der es hören wollte, erzählt, dass Marin den Wortschatz einer Zweitklässlerin hat. Seitdem Marin davon erfahren hat, lernt sie neue Wörter und fügte sie in ihren täglichen Sprachgebrauch ein. Ich habe ihr gesagt, sie solle einfach Tinas Reifen aufschlitzen. Ihre Antwort: „Oh, das habe ich. Aber sie hat nicht unrecht. Lass nie zu, dass dein Stolz dich daran hindert, dich zu verbessern.“

Mae, die Inhaberin des Diners, kommt und nimmt unsere Bestellung auf. Lächelnd lässt sie uns wieder allein. Ich weiß, dass sie uns sagen wird, dass das Essen wegen meines Geburtstages aufs Haus geht, wenn sie das Dessert herausbringt. Das hat sie in den letzten sechs Jahren immer getan. Ich hoffe, es sind ihre Karamell-Fudge-Ecken.

„Warum bringst du niemanden mit?“, frage ich.

Marin schüttelt den Kopf. „Nee. Ist schon gut.“

Ich mustere sie. Es stört sie nicht so sehr wie sonst, bei einem Treffen die einzige Singlefrau zu sein. Irgendetwas verschweigt sie mir.

„Wer ist es?“, frage ich.

Sie macht große Augen und öffnet den Mund, als hätte sie keine Ahnung, wovon ich spreche. Doch dann biegen sich ihre Mundwinkel nach oben, bevor sie endgültig nachgibt. „Verdammt. Wie machst du das immer?“

Ich zucke die Achseln. „Du bist leicht zu lesen. Erzähl.“

„Ich habe ihn online kennengelernt.“ Sie wirft abwehrend ihre Hände hoch, als sie meinen Blick sieht. „Ich weiß! Erzähl mir nichts! Wir haben nur geredet. Ganz langsam. Ich habe Nachforschungen über ihn angestellt und wenn wir uns persönlich treffen, dann wird es in einem öffentlichen Raum sein. Ich verspreche es.“

Ich seufze laut. „Du machst mich fertig.“

„Du bist so risikoscheu. Lebe mal ein bisschen.“

„Du gehst genug Risiken für uns beide ein“, sage ich.

Nach dem Essen bringt Mae uns Erdbeertörtchen. Sie sind göttlich. Ich sage ihr, dass ich am nächsten Tag, wenn sie eine Bezahlung von mir annehmen würde, wiederkommen und eine ganze Schachtel davon nehmen würde.

„Meinst du, heute Abend ist es so weit?“, fragt Marin und kratzt mit ihrer Gabel auf der Suche nach Krümeln über ihren leeren Teller.

„Was? Meine Jungfräulichkeit habe ich bereits verloren, Marin.“

Sie verdreht die Augen. „Dass Dan dir einen Antrag macht, du Esel.“

„Hoffen wir es nicht“, sage ich.

Sie wirft ihre zusammengeknüllte Serviette nach mir. „Warum bist du so?“

Ich zucke die Achseln. „Frag meinen Therapeuten.“

„Du hast keinen. Entgegen meinen besten Empfehlungen.“

Ich werfe die Serviette zurück. „Ich möchte einfach nicht heiraten. Dan weiß das. Er wird mir keinen Antrag machen. Wir sind glücklich, so wie es ist.“

„Du bist eine Nervensäge“, sagt sie und ich werfe ihr einen Luftkuss zu.

„Wir sehen uns heute Abend“, sagt Marin und steht auf.

„Mach bitte keine Dummheiten mit diesem neuen Typen. Das Internet ist gefährlich. Er könnte alles Mögliche sein.“

„Ja, Mom. Ich verspreche, im Internet Vorsichtsmaßnahmen zu befolgen.“

Ich schaue zu, wie sie zu ihrem Auto geht, während ich mich auf den Weg zu meinem mache. Ihr Wagemut ist grenzwertig und ich fühle mich, als müsste ich in ihrer Gegenwart extra vorsichtig sein. Allerdings kenne ich mich selbst gut genug, um zu begreifen, dass es genau ihr Wagemut ist, der mich zu ihr hinzieht. Chaos hat mich schon immer angezogen.

Auf dem Heimweg nagt etwas wie Furcht an mir. Es hat eine Zeit gegeben, in der ich meinem Bauchgefühl vertraut habe. Doch ich habe gelernt, dass es nicht immer verlässlich ist. Sieben Jahre lang habe ich über meine Schulter geschaut und nie war das Gefühl der Angst begründet gewesen. Ich schiebe die Paranoia beiseite. Ich bin heute einfach vorsichtiger. Das ist alles.

Doch dann sehe ich es. Panik trifft mich wie eine Kugel in die Brust. Zitternd hole ich Luft und parke in der Auffahrt. Auf wackligen Beinen gehe ich zur Haustür. Davor steht eine rote Schachtel mit einer roten Schleife darauf. Ich muss nicht hineinschauen, um zu wissen, von wem sie ist.

Er hat mich gefunden.

Kapitel 2

Scarlett

heute

Ich fahre herum und betrachte die Straße. Ist er hier? Beobachtet er mich gerade? Gegenüber sitzt Darlene mit ihren Kindern im Garten. Sie winkt, als sie mich sieht. „Herzlichen Glückwunsch!“, ruft sie.

„Danke“, rufe ich zurück und hoffe, dass es laut genug war und sie es gehört hat. Hat sie gesehen, wie er die Schachtel vor meine Tür gestellt hat? Sicher würde ein fremder Mann, der eine Schachtel vor meine Tür stellte, Aufmerksamkeit erregen.

Ich tue, was ich immer mache. Ich bin paranoid. Heute ist mein Geburtstag. Jemand hat ein Geschenk für mich vor die Tür gestellt. Es ist purer Zufall, dass die Schachtel rot ist. Jeder weiß, dass das meine Lieblingsfarbe ist. Das ist alles.

Ich hebe die Schachtel auf und trage sie nach drinnen. Ich muss sie einfach nur öffnen und mir beweisen, dass sie nur ein Geschenk von einem Nachbarn enthält. Zum ersten Mal bereue ich es, meine Kameras ausgeschaltet zu haben. Behutsam stelle ich die Schachtel auf die Küchenzeile, als könnte sie explodieren. Und wenn sie genau das tut? Was, wenn eine Bombe gerade die letzten Sekunden meines Lebens herunterzählt? Was, wenn ein Kopf darin ist?

Nein! Hör auf!

Ich muss damit aufhören. Ich bin die Erste, die zugibt, dass ich paranoid bin. Das muss ich tun. Doch heute ist es zehnmal schlimmer. Ich frage mich, ob ich je einen Geburtstag haben werde, an dem ich nicht bei jedem Geräusch zusammenschrecke und jedes Geschenk misstrauisch beäuge.

Mein Handy vibriert und ich zucke zusammen. „Ach! Jetzt hör auf, Scarlett!“, schreie ich mich selbst an und ziehe mein Handy aus meiner Gesäßtasche. Beinahe erwarte ich, dass er es ist. Doch er ist es nicht. Es ist Marin, die fragt, was ich heute Abend anziehe, damit wir nicht das Gleiche tragen. Es kommt eine weitere Nachricht.

Egal. Du trägst etwas Rotes. Habe ich recht?

Mit zitternden Händen schicke ich ihr ein Daumen-hoch-Emoji zurück. Sie kennt mich gut. So gut, wie ich es gestatte. Ich lege mein Handy hin, schüttle meine Hände aus und zwinge mich, laut und beruhigend zu atmen. Alles an mir möchte das Essen heute Abend ausfallen lassen und sich stattdessen für die gesamte Woche, in der ich nicht arbeiten muss, mit Dan drinnen verkriechen.

Doch Dan gibt sich so viel Mühe, um meinen Geburtstag besonders und schön zu machen. Und ich mag auch meine Geburtstagstradition, mit all meinen Lieben in die Hoover Eatery zu gehen. Ich darf nicht zulassen, dass meine Paranoia mir und Dan das verhagelt. Er hat mich nicht gefunden. Wenn er das hätte, wäre ich bereits tot. Aber die rote Schachtel ist so merkwürdig. Denen aus meiner Vergangenheit zu ähnlich. Denen, die ich verstecke.

Ich nehme die Schachtel und stopfe sie in meinen Kleiderschrank. Ich werde sie nicht öffnen. Nicht jetzt. Aus den Augen, aus dem Sinn, oder?

Ich nehme mein Handy und schalte das Alarmsystem ein. Nur für den Fall. Ein metallisches Klicken ist zu hören, als sich das Haus verschließt. Ein lauter Alarm wird ausgelöst, sobald auch nur ein Vogel zu nah ans Fenster fliegt.

Ich brauche eine Dusche, doch ich kann nicht aufhören, an jede Frau zu denken, die je in einem Horrorfilm unter der Dusche gestorben ist. So möchte ich nicht enden. Ich nehme meine Neunmillimeter aus meiner Handtasche und streife meine Sandalen ab. Ich steigere mich einfach hinein. Ich weiß, dass sich niemand in meinem Haus versteckt und darauf wartet, mich in einem verletzlichen Moment zu erwischen. Ich benehme mich töricht. Dennoch wandere ich durch das Haus, schaue hinter Möbel, in Schränke und unter Betten. Als ich absolut sicher bin, dass ich allein im Haus bin, hole ich die rote Schachtel aus dem Kleiderschrank und trage sie ins Bad, wo ich die Tür hinter mir verschließe.

Über der Toilette befindet sich ein Deckenpaneel, das man anheben kann. Ich habe es gebaut, nachdem ich das Haus gekauft habe. Darin befinden sich eine Reihe ähnlicher roter Schachteln. Drei, um genau zu sein. Ich schiebe die neue Schachtel in den Raum und mache vier daraus. Nachdem ich mich darum gekümmert habe, gehe ich unter die Dusche.

Ich verbringe nur wenige Minuten unter dem dampfend heißen Wasser und schließe dabei nicht meine Augen. Als ich sauber bin, drehe ich den Knopf ganz nach rechts. Ich schnappe nach Luft, als das eiskalte Wasser auf meine Haut trifft. Alle meine Muskeln ziehen sich zusammen und ich muss mich zwingen, mich zu entspannen und zu atmen.

Ich zähle. Eins, zwei, drei … Bis zu hundertachtzig.

Als ich aus der Dusche komme, fühle ich mich besser. Wachsamer. Konzentriert.

Ich habe Dan zweimal geschrieben. Bei allem, was darüber hinausging, würde er Verdacht schöpfen, dass etwas nicht stimmte, und ich darf nicht zulassen, dass meine Ängste ihn belasten. Ich spähe durch den Vorhang, auf der Suche nach einem Gesicht, das sich im Gebüsch verbirgt oder hinter einem Auto hervorschaut. Unser Haus ist von anderen Häusern umgeben. Hier kann er sich nirgendwo verstecken. Deswegen habe ich es mir ausgesucht. Deswegen und wegen Dan.

Mein Handy vibriert in meiner Hand. Ich seufze vor Erleichterung, als ich Dans Namen auf dem Display lese.

„Hey. Ich bin auf dem Weg nach Hause. Alles in Ordnung?“

„Ja. Klar. Ich wollte nur deine Stimme hören.“ Ich lache. Ich benehme mich seltsam. „Fahr vorsichtig. Bis gleich.“

„Ich liebe dich.“

Mein Herz zieht sich zusammen. „Ich liebe dich auch.“

Wir beenden das Gespräch und ich zwinge mich stehen zu bleiben. Ich werde nicht in einem neuen Anfall von Panik durchs Haus tigern. Mir kommt der Gedanke zu fliehen, doch ich schiebe ihn genauso schnell beiseite, wie er gekommen ist. Ich liebe mein Leben hier. Ich liebe Dan und meine Freunde. Ich habe alles, was ich nie geglaubt habe, je haben zu können. Nichts davon verdiene ich. Doch das heißt nicht, dass ich es aufgeben würde. Vor allem nicht wegen meiner eigenen Paranoia.

Ich höre ein Auto vorm Haus und ziehe den Vorhang beiseite. Dan. Gott sei Dank. Seine Anwesenheit wird mich beruhigen. Mich erden. Er steigt aus seinem Truck, greift aber noch einmal hinein und hantiert mit etwas herum. Schließlich zieht er einen großen Strauß schwarzäugige Susannes heraus, meine Lieblingsblumen. Ich lächle.

Ich jogge zur Haustür, öffne sie und ziehe ihn herein. Er riecht nach Butter und Rauch, als er mich in die Arme schließt. „Wie war die Arbeit?“, frage ich an seiner Schulter, während ich hinter ihm die Tür schließe.

„Gut. Wir hatten viel Betrieb am Mittag.“ Er lässt mich los und schiebt den Blumenstrauß zwischen uns. „Die sind für dich.“

Mit einem breiten Grinsen nehme ich sie entgegen. „Danke. Die liebe ich so sehr. Wie dich.“ Ich stelle mich auf die Zehenspitzen und küsse ihn. „Holst du mir eine Vase aus dem Schrank und füllst sie mit Wasser?“

„Klar“, sagt er. Ich folge ihm in die Küche, um die Blumen vorzubereiten. Mit der Küchenschere kürze ich die Stiele, als mir ein weiterer wilder Gedanke in den Kopf kommt: Würde sich Dan mit mir ins Auto setzen und fortfahren, wenn ich ihn darum bäte? Nein. Ich glaube nicht, dass er das täte. Nicht, weil er mich nicht liebt, sondern weil er einfach nicht der Typ ist, der keine Fragen stellt. Er würde wissen wollen, warum. Und wenn er den Grund kannte, würde er ihn nicht verstehen. Sein gesamtes Leben ist hier. Seine Familie und Freunde. Sein Lebenstraum vom eigenen Restaurant. Er würde mich nicht lieben, wenn er alles wüsste, was ich vor ihm verborgen hielt. Er würde mir niemals vergeben.

„Ich springe schnell unter die Dusche. In einer Stunde fahren wir los, ja?“

Ich nicke mit einem knappen Lächeln und hoffe, dass er die Panik nicht sieht, die wieder in mir aufsteigt. Er zögert und zieht die Brauen zusammen. Ich versuche ein überzeugenderes Lächeln und schürze die Lippen als Aufforderung zu einem Kuss. Er beugt sich vor und drückt seine Lippen auf meine. „Beeil dich. Ich möchte sichergehen, dass wir meinen Lieblingstisch bekommen“, sage ich und scheuche ihn fort.

Ich bin noch nie ein entscheidungsfreudiger Mensch gewesen. Das habe ich immer den anderen überlassen. Stets habe ich mir starke Persönlichkeiten gesucht, hinter denen ich mich verstecken konnte, damit ich nur ja nie allein dastand. Fortzulaufen und ein neues Leben zu beginnen, war die größte und unabhängigste Entscheidung, die ich je getroffen habe. Die ersten Monate auf mich allein gestellt waren quälend. Ich habe mich wie eine Qualle gefühlt, die an Land gespült worden ist.

Doch ich tat, was ich tun musste. Und entgegen allen Erwartungen habe ich überlebt. Vor ihm habe ich schon meinen Vater überlebt und jetzt habe ich endlich ein Leben ohne Schmerzen. Bin ein Mensch, der nicht seinen Willen, in dieser Welt zu leben, infrage stellt.

Schritte im Obergeschoss verraten mir, dass Dan mit duschen fertig ist. Die Schublade vom Kleiderschrank geht auf und wieder zu, dann ist er auch schon auf der Treppe.

„Das Bad gehört dir“, sagt er. Ich schaue zu, wie er durch die Küche geht und sich am Wasserhahn ein Glas füllt. Als wir uns begegnet sind, war ich so am Boden. Nachdem wir uns zwei Minuten unterhalten hatten, brachte er mich zum Lachen. Obwohl ich weit davon entfernt war, in einer Beziehung sein zu wollen, konnte ich nicht fortgehen. Immer schwach.

Wie würde mein Leben jetzt aussehen, wenn ich vor sechs Jahren einfach gegangen wäre? Ich möchte es mir gar nicht vorstellen. Meine Brust wird eng, wenn ich mir vorstelle, die Menschen, die ich heute in meinem Leben habe, nicht zu kennen. Vor allem Dan und Marin.

Ich gehe nach oben und mache mich für mein Geburtstagsessen fertig. Diesen Tag habe ich so lange gehasst, bis Dan daraus einen Feiertag gemacht hat. Es ist nichts Gutes daran, dass ich auf die Welt gekommen bin. Wie ich bereits sagte, wurde ich aus dem Bösen heraus geboren. Meine Existenz ist dem Schlimmsten zu verdanken, was die Menschheit zu bieten hat, und diese Dunkelheit legte sich unter meine Haut, während die sich im Leib meiner Mutter bildete.

Ich war also noch nie ein großer Fan von Geburtstagen gewesen.

Und doch ist das nur die Hälfte dessen, was diesen Tag zu einem schweren macht.

Den Abend werde ich mit Menschen verbringen, die ich liebe. Ich werde essen und trinken und versuchen, mit meinen Freunden zu lachen. Am Ende werde ich mich verabschieden. Ich werde sie umarmen und ihnen sagen, dass ich sie liebe. Und am nächsten Morgen wird all diese unterdrückte Angst wieder da sein und ich werde zu meinem normalen Level der Paranoia zurückkehren.

Während der Fahrt zum Restaurant schiebe ich meine Finger in Dans und er hebt meine Hand zu seinen Lippen. Ich muss mich daran erinnern, im Hier und Jetzt zu bleiben. Denn jedes Mal, wenn ich meine Gedanken wandern lasse, kehren sie sofort zu der roten Schachtel vor meiner Haustür zurück. Der Schachtel, die nun in meiner Decke versteckt ist. Heute Abend, nach dem Essen mit meinen Freunden, werde ich sie öffnen.

„Heute wirkst du noch trauriger als sonst“, sagte Dan. Seine Stimme durchbricht die Stille im Truck.

Ich drücke seine Hand. „Nein. Ich bin nicht traurig. Du weißt, dass ich meinen Geburtstag nicht mag.“

Er nickt. „Ich weiß. Aber es ist, als wäre da noch mehr.“

„So ist es nicht. Es geht mir gut. Ich versprech’s.“ Ich kann die Lüge nicht hinunterschlucken, die wie ein Steinbrocken in meiner Brust liegt. Wie viele Lügen habe ich ihm über die Jahre erzählt? Er hat keine davon verdient, doch das ändert nichts an der Tatsache, dass ich ihm die Wahrheit nicht sagen kann.

Dan hilft mir aus dem Truck. Mein langes rotes Kleid streift über den Kies, als wir gehen. Das Gefühl von Stahl an meinem Bein verleiht mir Sicherheit. Meine Waffe steckt bequem in ihrem Holster an meinem Oberschenkel. Ich trage immer eine Waffe bei mir. Normalerweise auch ein Messer. Mir gefällt der Gedanke, mich beschützen zu können. Wir bekommen den Tisch in der Ecke. Er ist rund und ich wähle einen Platz, von dem aus ich die Tür sehen kann. Eine weitere Angewohnheit, die ich mir in den letzten Jahren zu eigen gemacht habe.

Marin kommt als Erste. Sie trägt ein marineblaues Kleid mit tiefem Ausschnitt, der ihr Dekolleté betont. Sie hat die Figur eines Laufstegmodels und kann so etwas tragen, ohne billig zu wirken. Marin steht nicht auf Umarmungen, doch ich ziehe sie zu mir heran und drücke sie, trotz ihrer anfänglichen Steifheit. Ich bin heute sentimentaler als üblich.

Isaac und Crystal kommen zehn Minuten zu spät. Crystal ist fix und fertig und Isaac kommt hereingeschneit, begrüßt alle und nimmt Platz. Er kommt immer zu spät und Crystal nimmt es mit der Pünktlichkeit sehr genau.

„Entspann dich“, flüstere ich, als ich sie umarme. „Wir haben uns alle gerade erst gesetzt. Ist schon in Ordnung.“

Sie stößt ihren Atem durch die Zähne aus, die sie im Versuch eines Lächelns entblößt hat. „Ich werde es hinbekommen, dass er pünktlich ist, und wenn es das Letzte ist, was ich tue.“

Ich lache und gebe Isaac eine halbe Umarmung. Der feste Stoff seines Hemds kratzt an meiner Wange. Ich spüre, wie sich seine Muskeln anspannen und wieder lösen, als er sich streckt, um mich zu umarmen. „Ich werde wohl anfangen, ihr immer ein bisschen Valium ins Wasser zu tun“, scherzt er.

„Passt deine Mom auf die Mädchen auf?“, frage ich Crystal.

„Nun, Isaacs Mutter jedenfalls nicht“, antwortet sie, was ihr einen Blick ihres Ehemannes einbringt.

„Okay, Leute. Hört auf, euch zu umarmen, und setzt euch. Ich habe Hunger.“ Marin schnappt sich ihre Speisekarte und schlägt sie auf.

Ich nehme meine eigene Karte zur Hand und gehe die Optionen durch, obwohl ich bereits weiß, was ich nehme. Wir kommen jedes Jahr zu meinem Geburtstag hierher, und jedes Jahr nehme ich der Reihe nach ein anderes Hauptgericht. Dieses Jahr sind es Shrimps und Krabben-Fettuccine. Ich lese die Beschreibungen der Gerichte, die ich zukünftig essen werde. Gebratene Garnelen. Zitronen-Pfeffer-Hähnchen. Filet in Rosmarin-Parmesan-Kruste.

Die Härchen auf meinen Unterarmen richten sich auf und ich schaue zur Tür. Dort ist niemand, aber ich kann das Gefühl von Eis in meinem Nacken nicht abschütteln. Werde ich beobachtet? Oder bilde ich mir das Gefühl nur ein, weil ich denke, dass mich jemand beobachtet?

Ich schaue mich im Restaurant um, suche an den anderen Tischen nach einem Gesicht, das nicht hierhergehört. Durch die Fenster kann ich niemanden sehen. Draußen ist es zu dunkel. Doch ich wäre von dort gut zu erkennen.

„Hey, Erde an Scarlett. Hast du mich gehört?“ Marin schnippt mit den Fingern und ich schiebe meine Gedanken beiseite.

„Sorry, nein. Was hast du gesagt?“

„Ich sagte, mein Date wird sich nach dem Essen zu uns gesellen, wenn das in Ordnung ist.“

„Was? Echt? Ist das das erste Mal, dass du ihn triffst?“

Sie zieht eine Grimasse. Ein schlechtes Gewissen. Aber nicht wirklich. Eines, das man zu haben vorgibt, wenn man etwas enthüllen möchte.

„Ich weiß, ich habe gesagt, dass wir uns noch nicht getroffen haben, aber nur, weil ich nicht wusste, ob er es rechtzeitig hierherschafft. Wir haben uns vor ein paar Monaten getroffen und uns seitdem alle paar Wochen gesehen. Ich möchte, dass ihr ihn kennenlernt. Er wollte, dass wir Freunde unter uns essen, möchte sich aber nach dem Essen auf einen Drink zu uns gesellen.“

„Ich kann nicht glauben, dass du mich angelogen hast.“ Ich gebe ihr einen Klaps auf den Arm, lächle aber, weil ich mich ehrlich für sie freue. Sie verdient jemanden, den sie liebt. Und ich freue mich, dass ich ihn kennenlernen werde. Ich freue mich darauf, die beste Freundin zu sein und zu prüfen, dass er ein anständiger Kerl ist, der auf sie achtgeben wird. Nicht, dass Marin das nötig hätte.

Der Abend vergeht viel zu schnell. Marin steht auf, um eine zu rauchen, und ich lege meinen Kopf an Dans Schulter. Das Essen war perfekt. Genau das, was ich an einem Tag, der mir so viel Stress bereitet hat, gebraucht habe.

Katie, die Kellnerin, räumt unsere Teller ab, und wir alle bestellen eine weitere Runde Getränke. Für Marin bestelle ich ihren üblichen Martini. Katie geht gerade wieder zur Bar, als Marin hereinkommt. „Ach, Katie. Mach bitte noch einen Manhattan.“

Automatisch rümpfe ich die Nase. Diesen Drink habe ich noch nie gemocht. Und nun bringe ich ihn nur noch mit ihm in Verbindung.

Es ist, als hätte der bloße Gedanke an ihn heraufbeschworen. Er steht direkt hinter Marin in der Tür. Blinzelnd öffne ich den Mund. Ich flehe, dass die Realität zurückkehren möge und seine Gestalt sich vor meinen Augen in Luft auflöst.

„Leute, ich möchte euch meinen Freund Evan vorstellen. Evan, das sind meine Freunde.“

Kapitel 3

Scarlett

früher

Ich erbreche mich auf den Gehweg, der zu dem großen blauen Haus hinaufführt. Die Frau … Susan? Sarah? … Die Sozialarbeiterin … tätschelt meinen Rücken und versucht, mir meine braunen Haare aus dem Gesicht zu halten.

„Es wird alles wieder gut, Scarlett.“

Ich richte mich auf und weiche ihrer Hand aus, während ich auf meine Füße starre.

Sie seufzt. Leise, aber ich höre es dennoch. „Miss Pamela wartet drinnen auf uns. Komm schon.“

Dramatisch reiße ich meinen Rucksack hoch und werfe ihn mir mit solcher Wucht über die Schulter, dass ich aus dem Gleichgewicht gerate. Ich korrigiere meine Schritte und folge ihr die breite Treppe zum blauen Haus hinauf.

Im Foyer erwartet uns eine massige Frau. Sie ist genauso breit wie hoch. Nicht fett. Nur … massig. Ihr Gesicht erinnert mich an den Hund meiner besten Freundin. Sammy. Er ist ein Bernhardiner und Miss Pamelas Wangen hängen genauso. Sie lächelt und ihre Augen leuchten auf. Sie sieht freundlich aus und ich fühle mich schlecht, weil ich sie mit einem Hund verglichen habe.

„Du musst Scarlett sein. Ich bin Miss Pamela. Lass mich das nehmen.“ Sie zieht den Rucksack von meiner Schulter. Ich lasse sie. „Komm mit, dann regeln wir alles.“

Wir folgen ihr einen Flur entlang in ein Zimmer. Ein Büro. Miss Pamela dreht sich zur Seite und macht sich hinter ihrem Schreibtisch zu schaffen. Die Sozialarbeiterin und ich setzen uns auf die beiden Stühle auf der anderen Seite. Das Zimmer ist klein. Zu klein für drei Leute. An jeder Wand, außer an der mit der Tür, steht ein Bücherregal. Ich konzentriere mich auf die Buchrücken der Enzyklopädie, die mir am nächsten steht.

Mit einem erschöpften Seufzen, als wäre es eine Last, ihren Körper herumzutragen, setzt sich Miss Pamela. „Ich habe hier deine Akte.“ Ich reiße meinen Blick von den Buchrücken los und schaue sie an. Sie zeigt auf einen braunen Ordner auf ihrem Tisch. „Was ich nicht aus diesen Papieren erfahren habe, kannst du mir erzählen, während du hier bist. Wir haben hier einen Haufen Regeln und normalerweise mögen die Kinder, die hierherkommen, keine Regeln, doch du wirst sie befolgen. Verstanden?“ Sie neigt ihr Kinn und schaut mir in die Augen.

Ich schweige.

Sie nickt. „Die meisten meiner Kinder müssen ihre Lektion auf die harte Tour lernen. Das ist okay, wenn du es so möchtest. Das hier ist nicht mein erstes Rodeo. Aber es ist leichter für dich, wenn du einfach die Regeln befolgst.“

„Die wie lauten?“, frage ich. Es ist das erste Mal seit Tagen, dass ich spreche. Meine Stimme klingt heiser. Ich spüre, wie die Sozialarbeiterin mich anschaut. Miss Pamela nimmt ein Bonbon aus einer Schüssel und wirft es sich in den Mund. Sie bietet mir die Schüssel an, doch ich schüttle den Kopf.

„Nicht ohne Einverständnis und Aufsicht das Grundstück verlassen. Um sieben im Haus sein und um zehn auf deinem Zimmer. Auf dem Zimmer bleiben bis um sechs Uhr am nächsten Morgen, außer du musst auf Toilette. Keine Auseinandersetzungen. Weder körperlich noch verbal. Keine Waffen irgendeiner Art. Jegliches Material zum Lesen oder Anschauen muss geprüft werden. Und jegliche Kommunikation außerhalb des Hauses wird überwacht. Behandle mich mit Respekt und ich erweise dir ebenfalls welchen. Tu es nicht und lebe mit den Konsequenzen.“

Tränen treten mir in die Augen, doch ich sage nichts. Sie hätten mich genauso gut ins Gefängnis stecken können. Das Waisenhaus war schon schlimm, aber das hier ist ein Gefängnis für Kinder.

„Weine, wenn du musst, aber das hier ist kein Ort für Selbstmitleid. Du bist nicht hier gelandet, weil du ein gutes Kind bist. Hier wirst du lernen, die Konsequenzen für dein Handeln zu tragen. Du wirst es schaffen“, sagt sie. „Wir machen eine kleine Tour und dann zeige ich dir dein Zimmer. Du bist elf Jahre alt, richtig? Wir haben hier viele Kinder in deinem Alter. Versuch, ein paar Freunde zu finden. Es kann eine gute Erfahrung sein, wenn du es zulässt.“

Ich verdrehe meine Augen nicht, obwohl ich es möchte. Nichts hiervon ist eine gute Erfahrung. Ich folge der riesigen Frau durchs Haus. Es ein Haus zu nennen, trifft es nicht ganz. Es ist ein Haus, aber es ist unglaublich groß. Es fühlt sich mehr wie ein Hotel an, oder eine Schule. Ich schätze, es ist beides. Eine Art Internat für schlechte, beschädigte und unerwünschte Kinder.

Man kann sagen, dass das Haus alt ist. Die dunklen Holzböden sind zerkratzt. Die Treppe, die dieselbe Farbe hat wie der Boden, ist breit und das Geländer schlicht. Die Wände sind in einem grünlichen Blau gestrichen und auch sie sind irgendwie abgenutzt.

Zuerst gehen wir in den Speisesaal. Es ist der größte Speisesaal, den ich je gesehen habe. Sechs lange Tische füllen den Raum. Zwei Dreierreihen. An ein paar Tischen sitzen Gruppen von Kindern. Die meisten von ihnen scheinen in meinem Alter zu sein, ein paar sind älter. Sie alle schauen mich an, als wir den Raum betreten.

„Hier wirst du essen. Du kannst dich auch am Tag hier aufhalten.“ Miss Pamela stellt mich nicht vor, wofür ich ihr dankbar bin. Sie dreht sich um und geht weiter. Ein Kind rennt an uns vorbei und sie greift es hinten an seinem T-Shirt. „Was habe ich dir über das Rennen auf den Fluren gesagt, Todd? Das hier ist ein Haus und keine Scheune.“ Sie lässt ihn los und wir gehen weiter, als sei nichts gewesen.

Die Bäder sind große Gemeinschaftsräume wie in einer Schule. Reihen von Kabinen und Waschbecken. „Die Duschen befinden sich am Westende des Hauses. Ich zeige sie dir später. Sie sind einzeln und verschließbar. Ich besitze Schlüssel zu jedem Raum, also komm nicht auf dumme Ideen.“

Von was für dummen Ideen spricht sie? Was sollte ich denn in einer abgeschlossenen Dusche anstellen?

„Wie du vielleicht bemerkt hast, ist das hier eine Einrichtung für Jungen und Mädchen.“ Sie schaut mich mit hochgezogenen Brauen an, bis ich begreife, worauf sie hinauswill. Mein Gesicht brennt und ich verziehe den Mund. Eklig.

Miss Pamela lacht. „Zu früh für Jungs, was? Das ist gut. Die Hormone kommen heutzutage immer früher.“

Ich starre auf den Boden.

Als die Tour vorbei ist, führt sie mich auf einen langen Flur, von dem viele Türen abgehen. Es sieht aus wie aus einem Gruselfilm und ich weiß, dass ich hier Albträume haben werde. Auf meine Zimmertür ist eine Vier gemalt. Es ist meine Lieblingszahl. Drinnen stehen zwei Betten. Keines davon mit Laken oder Decken. Weiterhin gibt es zwei Schreibtische und zwei Kleiderschränke, doch davon abgesehen ist das Zimmer leer.

„Ich versuche immer, den Neuankömmlingen ein Zimmer für sich allein zu geben. Manchmal haben wir mehr Kinder und müssen doppelt belegen, aber im Moment teilen sich nur wenige Kinder ein Zimmer.“

Eine weitere Erleichterung. Ich glaube nicht, dass ich in einem merkwürdigen Zimmer mit einer Fremden schlafen könnte.

„Scarlett, warum packst du nicht schon einmal aus? Entscheide dich für die Seite deiner Wahl. Ich werde auf dem Flur noch etwas mit Lauren besprechen.“

Lauren. So heißt sie. Ich war nicht einmal nahe daran. Ich drehe mich um und öffne meinen Rucksack. Alles, was ich noch besitze, ist dort drinnen. Es ist alles, was sie mir gestattet haben, aus dem Haus mitzunehmen. Und nach dem, was ich getan habe, kann ich von Glück reden, dass ich ihn aus dem Waisenhaus herausbekommen habe.

Ich kann die Frauen auf dem Flur flüstern hören. Sie sind lauter als sie glauben. Das alte Haus ist hellhörig. Ich höre auf, Sachen aus meinem Rucksack zu ziehen, als ich den Namen meines Vaters höre.

„Luther Wright … Chicago … Serienmörder.“

„… in ihrer Akte. Sie weiß …“

„Tendenz zur Gewalt?“

Meine Brust schnürt sich zu. Ich bin es leid, dass die Leute über mich reden. Noch mehr habe ich es satt, wenn sie über meinen Vater reden. Ich lasse ein Buch zu Boden fallen. Nach dem lauten Knall hören sie auf zu tuscheln und Miss Pamela schaut zur Tür herein. Sie sieht das Buch auf dem Boden. „Ich muss überprüfen, ob es sich dabei um angemessenes Lesematerial handelt, Scarlett.“

Nachdem ich ausgepackt habe, verabschiedet sich die Sozialarbeiterin, und Miss Pamela zeigt mir, wo ich jede Woche frisches Bettzeug bekomme. Sie sagt mir, ich solle in die Küche gehen, mir etwas zum Essen holen und mich zu den anderen Kindern im Speisesaal gesellen.

Ich gehe zur Küche und zupfe an der Haut neben meinen Nägeln, die ich in den Taschen meines Hoodies vergraben habe. Ich habe keinen Hunger. Mit jedem Schritt, der mich näher zu den lauten Stimmen am Ende des Flurs bringt, wird mir übler. An der Rückwand der Küche stehen umgekehrt ein paar große silberne Schüsseln.

Ich schaue mich um und weiß nicht genau, was ich tun soll, als ein Mädchen hereinkommt. Sie geht zu den Schüsseln und hebt eine hoch. Dann nimmt sie sich etwas und verlässt den Raum. Sie schaut mich an, als sie an mir vorübergeht, sagt aber nichts. Ich tue es ihr gleich und hebe eine der Schüsseln an. Darunter ist ein Hamburger. Am Ende des Tisches steht ein Stapel blauweißer Pappteller. Ich nehme mir einen und gehe in den Speisesaal.

Das Mädchen, das ich gerade gesehen habe, sitzt mit zwei weiteren an einem Tisch. Sie hören auf zu reden, als ich an ihnen vorbeigehe. Ich glaube, ich muss mich noch einmal erbrechen, doch ich atme in langen Zügen durch meine Nase ein und setze mich an einen leeren Tisch. Am Nebentisch sitzen zwei Jungen, doch sie schenken mir keine Aufmerksamkeit.

Ich bin nicht hungrig, nehme aber trotzdem einen Bissen von meinem Hamburger, weil ich sonst nicht weiß, was ich mit meinen Händen tun soll, und nicht merkwürdig aussehen möchte, wie ich hier sitze. Eines der Mädchen flüstert einem anderen etwas zu. Dann schauen sie alle zu mir herüber und brechen in Gelächter aus.

Mein Magen rutscht mir in die Kniekehlen und ich glaube wirklich, mich noch einmal übergeben zu müssen. Warum musste ich so dumm sein, dass ich aus dem Miller’s House geflogen bin? Ich möchte nicht hier sein. Ich möchte hier nicht leben. Ich bin so dumm. So stumpfsinnig.

„Wie heißt du?“

Ich fahre herum und sehe, dass die beiden Jungen vom Nebentisch sich neben mich gesetzt haben. Der mit dem hellbraunen Haar schaut mich an. Er ist wohl derjenige, der die Frage gestellt hat.

„Scarlett.“ Mein Herz schlägt so fest, dass ich meine eigene Stimme über dem Rauschen in meinen Ohren kaum hören kann.

„Ich bin Evan“, sagt der Junge. „Das hier ist Darcel. Bist du heute hier angekommen?“

Ich nicke. Ich bin froh, eine Ablenkung von den Mädchen am anderen Tisch zu haben, kann das Gefühl aber nicht abschütteln, dass ich vielleicht immer noch veräppelt werde. Was, wenn sie nur so tun, als wären sie nett, um mir einen Streich zu spielen?

„Kümmer dich nicht um sie.“ Evan nickt in Richtung der Mädchen, die zu uns herüberschauen und hässliche Gesichter ziehen, als würden sie etwas Ekliges riechen. Evan steht auf und ich spanne mich an. Er wird gehen und ich bin wieder allein. „Izzy hat zwei Wochen lang jede Nacht ins Bett gepinkelt, als sie hier ankam“, sagt er laut. Mit großen Augen schaue ich zu ihm auf. „Und Megan und Hattie können noch nicht einmal lesen, also sollten sie auf keinen Fall über irgendwen lachen.“

Die drei Mädchen schauen Evan böse an. Er lächelt leicht, als würde er sie herausfordern, sich ihm entgegenzustellen. Das Mädchen mit den blonden Locken, Izzy, glaube ich, sieht aus, als würde es gleich weinen. Dann stürmt sie aus dem Raum.

Darcel lacht und stößt seine Faust gegen Evans.

„Wir gehen nach draußen und spielen Frisbee. Kommst du mit?“

Ich nicke, stehe auf und folge ihnen zur Tür hinaus.

***

Die Nächte sind am schlimmsten. Ich habe gelernt, lautlos zu weinen, und es hilft, das Zimmer nicht teilen zu müssen. Doch nachts vermisse ich meinen Dad am meisten. Ich weiß, dass er ein schlechter Mensch ist. Aber er war kein schlechter Vater, doch davon wollen die Menschen oft nichts wissen. Dass ein Mann wie er ein kleines Mädchen aufzieht.

Er sagte mir, ich solle tapfer sein, als sie ihn abholten. Ich gebe mein Bestes, aber ich bin kein mutiger Mensch. Mein Wecker piept und ich schlage darauf, damit er aufhört. Wie lange kann man ununterbrochen wach bleiben, bevor man verrückt wird? Vielleicht ist es das, was Daddy passiert ist. Er war nachts immer wach.

Mit meiner Zahnbürste in der Hand schlurfe ich ins Bad. Im hellen Licht muss ich blinzeln. Am Waschbecken liegen ein paar Tuben Zahnpasta. Ich nehme eine und drücke ein bisschen davon auf die pinkfarbenen Borsten. Meine Augen sehen müde aus. Dunkle Schatten lassen sie eingesunken wirken. Ich wünschte, ich könnte schlafen.

Izzy tritt hinter mich und bevor ich reagieren kann, zieht sie mich an den Haaren. Plötzlich schaue ich die Decke an. Ihr Gesicht erscheint Zentimeter vor meinem. Sie hat ihre Zähne noch nicht geputzt.

„Wenn du es Miss Pamela sagst, ersticke ich dich im Schlaf.“ Sie steht auf und räuspert sich. Ein dicker Klumpen Spucke schießt aus ihrem Mund und landet auf meiner Wange. Sofort krampft sich mein Magen zusammen. Ich drehe mich auf Hände und Knie und krabbele zu einer Toilette, bevor sich mein Magen explosionsartig entleert.

Panisch und gedemütigt greife ich nach dem Toilettenpapier, um es abzuwischen. Ich muss es abwischen! Weitere Schritte verraten mir, dass noch mehr Mädchen ins Bad gekommen sind, und ich bin dankbar für all die Übung im lautlosen Weinen.

Als ich keine Tränen mehr habe, warte ich weitere zehn Minuten, damit meine Augen vielleicht nicht mehr rot sind, wenn ich hinausgehe. Die meisten Mädchen waren nur kurz hier. Ein paar Kabinen weiter höre ich eine Toilettenspülung. Ich warte darauf zu hören, wie Papierhandtücher in den Müll geworfen werden, und verlasse dann meine Kabine. Meine Zahnbürste liegt auf dem Boden. Ich nehme sie und spüle sie unter möglichst heißem Wasser ab.

Als ich es in den Speisesaal schaffe, essen die anderen schon. Neben Evan und Darcel ist ein Platz frei und ich gehe mit gesenktem Kopf zu ihnen hinüber.

„Was ist passiert?“, fragt Evan, sobald mein Hintern den Stuhl berührt.

Ich vermeide es, ihn anzuschauen. „Wovon sprichst du? Nichts ist passiert.“ Ich stochere mit meiner Gabel in meinem French Toast herum.

„Du bist keine gute Lügnerin. Ich zeige es dir, wenn du willst. Aber erzähl mir, was passiert ist.“

Er reagiert nicht, als ich ihm erzähle, wie Izzy mich an den Haaren gezogen und mir ins Gesicht gespuckt hat. Als ich fertig bin, sagt er einfach: „Ich kümmere mich darum.“

Dann beißt er in sein French Toast. Evan sieht aus, als wäre er in meinem Alter. Aber gerade erscheint er älter. Unheimlich.

Nach dem Frühstück hat Darcel Therapie und Evan fragt mich, ob ich draußen mit ihm spazieren gehen möchte. Ich sage ja, obwohl ich keine richtige Lust habe. Ich wünschte, es gäbe ein anderes Mädchen, mit dem ich reden und herumhängen könnte, doch alle Mädchen sind mit Izzy befreundet, die mich hasst. Und ich möchte nicht allein sein, also gehe ich mit Evan.

„Du hast nicht geschlafen“, sagte Evan. Er sieht aus, als würde er die dunklen Schatten unter meinen Augen mustern, um mich zu prüfen.

„Nein“, gestehe ich.

„Wieso bist du hier gelandet?“, fragt er, wechselt ohne Vorwarnung das Thema und führt mich dabei über den großen Hof.

„Die Polizei hat meinen Vater festgenommen.“ Ich will ihm nicht sagen, warum. Ich will nicht, dass noch jemand schlecht über meinen Vater denkt. Oder über mich.

„Sie stecken Kinder nicht einfach hierher, weil ihre Eltern fort sind. Dafür gibt es Waisenhäuser. Warum bist du hier?“

Ich kaue auf meiner Lippe. Das möchte ich ihm auch nicht sagen.

Kapitel 4

Evan

heute

Ich dachte, ich würde mich in diesem Augenblick siegreich fühlen. Selbstzufrieden. Ich wollte die Angst und die Ungläubigkeit auf ihrem Gesicht sehen, doch nun möchte ich sie einfach nur in die Arme schließen. Ihre rot geschminkten Lippen küssen. Ich habe diesen Moment monatelang geplant und einen Haufen Arbeit hineingesteckt. Ich frage mich, ob sie das überhaupt zu schätzen weiß.

Sie zu finden war schwer genug. Einen Weg in ihr Leben zu finden, vor allem, weil sie sich in eine so kleine Gesellschaft integriert hat … beinahe unmöglich. Doch hier bin ich. Genieße ein paar Drinks mit ihr und ihren neuen Freunden.

Marin schiebt ihren Arm unter meinen und ich verspüre den Drang, ihn abzuhacken. Stattdessen setze ich mein bezauberndstes Lächeln auf und strecke dem ersten Mann meine Hand hin.

„Schön, Sie kennenzulernen.“

„Ebenfalls. Ich bin Isaac. Das hier ist meine Frau Crystal.“

Ich schüttle auch der Frau die Hand. Ich habe Frauen nie die Hand geschüttelt, bis Scarlett mich darauf hinwies, dass sich die meisten Männer nicht den Frauen in einer Gruppe vorstellen, sondern nur den Männern. Es störte sie. Also achte ich jetzt darauf, denn ich bin vieles, aber sicher kein Chauvinist.

Ich gehe zu dem Mann, der mit meiner Frau schläft, und beweise unglaubliche Selbstbeherrschung, indem ich ihm nicht die Hand breche oder ihm mein Messer ins Auge ramme.

„Dan“, sagt er. Dan. Bescheuerter Name.

Ich halte den Atem an. Zum ersten Mal seit sieben Jahren schauen Scarlett und ich einander in die Augen. Ich strecke meine Hand aus. Wird sie sie nehmen? Mitspielen? Welche Wahl hat sie schon?

Sie streckt ihre Hand aus und ich würde am liebsten weinen, als sie meine berührt. Sieben Jahre. Das ist eine Ewigkeit der Trennung von seinem Seelenpartner. Ich möchte sie in die Arme schließen, sie herumwirbeln und ihre Lippen küssen. Ich möchte meine Daumen an ihren schönen schlanken Hals drücken, bis sie mir sagt, warum sie mich verlassen hat.

Ich lasse ihre Hand los und bemerke eine kleine Tätowierung am Handgelenk. Ich kann nicht erkennen, was es ist, aber statt darauf zu starren, nehme ich neben Marin Platz.

Marin hat ihr nicht viel über uns erzählt. Zumindest hat sie mir das gesagt und ich bin beinahe sicher, dass sie nicht lügt. Sie ist keine gute Lügnerin. Die meisten Menschen sind das nicht.

Scarlett wird die Informationen, die sie hat, mit dem zusammenfügen, was sie jetzt weiß. Sie wird versuchen, die Lücken zu füllen. Ihre Gesichtszüge sind ihr entglitten, als sie mich gesehen hat, aber sie hat sich schnell gefangen. Alle haben mich angeschaut, also hat es niemand gesehen. Nun lächelt sie und täuscht Aufregung vor, weil sie den neuen Freund ihrer besten Freundin kennenlernt.

Weiß sie überhaupt zu schätzen, was ich durchgemacht habe, um das hier Wirklichkeit werden zu lassen? Wie viele schrecklich langweilige Unterhaltungen ich mit dieser blöden Frau führen musste? Sie ist laut, anstößig und ätzend, und wenn ich sie nicht bräuchte, hätte ich ihr beim ersten Date schon nach zehn Minuten das Herz herausgeschnitten.

„Evan“, sagt Dan. „Erzähl uns von dir. Marin hat dich uns allen verschwiegen.“

„Ich war schon immer dafür bekannt, sehr geheimnistuerisch zu sein“, sagt Marin.

Scarlett verdreht lachend die Augen. „Nein. Nein, sicher nicht. Niemand, den ich kenne, kommt einem offenen Buch näher.“

Ich schenke Marin ein liebenswertes Lächeln, weil sie sich so um „große Worte“ bemüht. Macht sie Scarlett eifersüchtig? Entflammt das in ihr diese mörderische Wut, die ich empfinde, wenn ich sie mit Dan sehe?

„Ich bin in der Pharmabranche“, sage ich. „Nie lange am selben Ort, was es schwer macht, sich mit mir zu verabreden. Marin zu treffen hat einiges für mich verändert.“

Ich werfe Scarlett einen verstohlenen Blick zu und lächle noch immer höflich. Ich lege meinen Arm auf die Rückenlehne von Marins Stuhl und beobachte, wie Scarletts Lippen zucken, doch sie sagt nichts. Endlich bekomme ich einen besseren Blick auf ihre Tätowierung und kann erkennen, dass es ein kleiner Vogel ist. Ein Phönix, glaube ich. Sieht sie sich so? Ein Vogel, der aus seiner eigenen Asche aufgestiegen ist?

„Sie reisen also viel? Muss spaßig sein. Aufregend“, sagte Isaac. Seine Frau schaut ihn an.

Oooh, Spaß!

Ich bin versucht, einen Streit zwischen dem Paar zu provozieren. Es ist offensichtlich, dass er sich eingeengt fühlt. Vielleicht denkt er, er hat sich damit abgefunden. Vielleicht weiß seine Frau, dass er es getan hat.

„Ja, sehr spaßig. Neue Leute, neue Orte. Ein Haufen neuer Erfahrungen. Eine gute Zeit“, sage ich und Isaac beugt sich vor. „Aber nur eine Zeit lang. Ich denke, es liegt in unserer Natur, sich schließlich irgendwo niederzulassen.“ Ich bin nicht hier, um mit langweiligen Kleinstadtpaaren Spielchen zu spielen. Ich küsse Marin auf den Kopf und riskiere dabei, vor den anderen Männern der Gruppe wie ein Platzhirsch dazustehen, möchte aber nur Scarlett treffen. Ich möchte einen Beweis dafür, dass sie mich immer noch liebt.

Ihre Augen glänzen, werden glasig. Aber ist das Eifersucht? Zorn? Angst? Ich weiß es nicht.