Leseprobe Verhexte Reservierungen | Ein Paranormal Cosy Crime

Kapitel eins

„Erste Sahne!“, rief Lacey, als nur noch wir beide im Konferenzraum übrig waren. „Ich weiß echt nicht, wie du das machst. Niemand schließt mehr Deals ab als du. Ich schwöre, das ist Magie“, scherzte meine Freundin und Kollegin.

„Magie?“ Ich schnaubte. „Eher harte Arbeit und Entschlossenheit.“

„Wie du meinst. Aber die Dower Corporation wollte für ihre Tagung schon das Westin buchen, ehe du sie überzeugt hast, sich vorher noch mal mit uns an den Tisch zu setzen. Und dann, boom! Ein Vertrag über eine halbe Million Dollar für uns. Erst das Eckbüro und bald die Chefetage! Du wirst noch Geschäftsführerin!“

Das Lob meiner Kollegin ließ mich strahlen. „Aber lass es uns nicht verschreien. Sie haben noch nicht unterschrieben.“

„Werden sie schon, das weißt du“, sagte Lacey.

Ich würde es nicht laut zugeben, doch es sollte mich schon sehr überraschen, wenn sie es nicht taten. Allerdings hatte ich keine Zeit, mir darüber Sorgen zu machen, denn in zwanzig Minuten war ich mit dem nächsten potenziellen Kunden zum Mittagessen verabredet. Und bei dem Verkehr in Chicago wäre es reines Glück, wenn ich es noch rechtzeitig schaffen würde.

„Wo ist die Akte von United?“, fragte ich Lacey, als ich meinen Schreibtisch erreichte. Ich hob meine lederne Schreibmappe an, um darunter nach der Akte zu suchen, doch da war nichts. Mit etwas Glück würde die Fluggesellschaft ihre Premiummitglieder für ein Luxuswochenende in unserem Hotel einquartieren, ehe sie die Top-Vielflieger an exotische Orte ausflogen. Wenn ich es denn rechtzeitig zum Meeting schaffte.

„Oh, das tut mir leid. Die ist auf meinem Schreibtisch, glaube ich. Ich hole sie schnell.“ Lacey eilte aus meinem Büro.

Kurz darauf klopfte es und Kevin, mein Assistent, steckte den Kopf herein. „Wie ist es gelaufen?“, fragte er.

„Super, denke ich. Sie haben noch nicht unterschrieben, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass wir sie an der Angel haben.“ Ich lächelte, während ich hektisch alles für das nächste Meeting zusammenklaubte. „Sie sagen, dass sie das bald mit ihren Entscheidungsträgern absprechen werden. Leite das Telefon hier also auf keinen Fall auf den Anrufbeantworter um!“ Ich deutete auf das Konferenztelefon auf meinem Schreibtisch. Zwei rote Lämpchen machten mich blinkend auf eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter und einen Anrufer in der Warteschleife aufmerksam.

„Was das angeht, da ist eine Frau in der Leitung, die mit einer gewissen Angelica sprechen will?“

Ich erstarrte beim Klang meines vollen Namens und spürte, wie das Blut aus meinen Wangen wich. Nach Halt suchend legte ich die Hände auf die Schreibtischplatte.

„Sie meinte, es ist eine Art Notfall. Etwas wegen deiner Tante?“

„Okay, danke. Ich übernehme das.“

Kevin nickte und verdrückte sich. Ich setzte ihm nach, um die Tür hinter ihm zu schließen, ehe ich wieder zum Telefon hechtete, um den Anruf entgegenzunehmen, bevor jemand anderes das tat.

„Ja, bitte?“ Ich sprach schnell und meine Stimme klang heiser.

„Angelica, bist du das?“, fragte die Anruferin. „Liebes Kind, ich kann dich kaum verstehen. Hallo?“

„Ich bin es, Clemmie“, sagte ich, als ich die Stimme der besten Freundin meiner Tante erkannte. Ich hatte seit fast zehn Jahren nicht mehr mit ihr gesprochen, obwohl ich sie schon fast mein ganzes Leben lang kannte. „Was ist passiert?“

„Nun, ich muss dir leider sagen, dass es wohl bald Zeit für deine Tante ist, zu gehen. Sie hat mich gebeten, dich anzurufen, damit du nach Hause kommst und ihr euch verabschieden könnt.“

Ich schloss die Augen und schüttelte den Kopf. „Wovon redest du? Tante Thelma ist kerngesund.“ Das musste sie sein. Ihr würde nie etwas Schlimmes zustoßen. Sie war eine mächtige Hexe und ich war überzeugt, dass sie ewig leben würde.

„Es tut mir so leid, Liebling. Du musst nach Hause kommen.“

„Was? Das macht überhaupt keinen Sinn!“ Ich senkte die Stimme. „Was ist mit Constance? Die ist doch auch noch da, oder?“

„Es gibt Dinge, die nicht einmal Magie zu heilen vermag. Kann ich ihr sagen, dass du unterwegs bist?“

Ich nickte, ehe ich meine Stimme wiederfand. „Klar. Ich mache mich gleich auf den Weg.“

„Oh, und Angelica?“

„Ja?“

„Hokuspokus.“

„Was?“

„Die neue Losung, um in die Stadt zu kommen.“

Ach ja. „Verstanden.“ Ich machte mir nicht die Mühe, die Losung zu notieren.

Das Gute daran, in der Nähe eines der verkehrsreichsten Flughäfen zu wohnen, war die nahezu hundertprozentige Chance, noch am gleichen Tag einen Flug zu jedem beliebigen Ort auf dem Festland der Vereinigten Staaten zu bekommen. Statt mich mit United zu treffen, nahm ich einen ihrer Flüge von Chicago nach Atlanta.

Sobald ich Südstaatenboden unter den Füßen und einen Leihwagenschlüssel in der Hand hatte, klemmte ich mich hinter das Steuer eines weißen Mercedes und fuhr in den Südwesten, nach Silverlake. Es war dreizehn Jahre her, seit ich das letzte Mal hier gewesen war. Der letzte Wunsch meiner Tante war das Einzige, das die Macht hatte, mich zurückzubringen.

Nicht, dass sie wirklich sterben würde.

Ich liebte meine Tante. Als ich aufwuchs, war sie alles, was ich hatte, und ich würde nicht glauben, dass sie auf dem Sterbebett lag, bis ich es mit eigenen Augen gesehen hatte. Wir Nightingale-Frauen waren ein zäher Haufen.

Doch das könnte ich wohl bald selbst sehen. In etwas mehr als einer Stunde würde ich zurück in meiner Heimatstadt sein. Mir drehte sich der Magen um, während ich das Wort im Geiste immer wiederholte: Heimatstadt.

Silverlake war verzaubert. Also wirklich verzaubert. Man konnte es nicht auf einer Karte oder irgendeiner Touristen-Website finden. Außer natürlich, man war eine Hexe. Jede Hexe hatte garantiert schon mal davon gehört, doch die guten alten, normalen Menschen – Sterbliche – würden den Ort dank der Zauber, die darauf lagen, nicht einmal dann sehen, wenn sie genau davor stünden. Ganz zu schweigen davon, dass sie die Losung nicht kannten, und die änderte sich in jeder Jahreszeit. Nein, Silverlake war ein sicherer übernatürlicher Rückzugsort, an dem Besucher und Einwohner den Einschränkungen der realen Welt entkommen und das sein konnten, was sie wirklich waren: Hexen.

Als ich die Ausfahrt des Highways I-75 nahm und in die schmale Straße einbog, die direkt zu der verzauberten Stadt führte, klingelte mein Handy und auf dem Display erschien Allens Name. Er war mein Irgendwie-Freund – wir hatten der Sache keinen Namen gegeben und das war völlig in Ordnung für mich. Unsere Beziehung war noch recht neu, und überhaupt, waren wir etwa Teenager? Sprachen die Leute eigentlich noch als Freund und Freundin voneinander? Nun, wie auch immer ich ihn nannte, ich musste seinen Anruf entgegennehmen.

„Hallo“, sagte ich, während ich die Augen aufmerksam auf die Straße gerichtet hielt.

„Angela? Ist alles in Ordnung? Dein Assistent hat mir gesagt, dass du wegen eines Familiennotfalls die Stadt verlassen musstest.“

Ich verfluchte Kevin insgeheim, dass er überhaupt so viel preisgegeben hatte. Es war schon schwer genug, die Vergangenheit von der Gegenwart zu trennen, und ich würde nicht zulassen, dass sich die beiden Dinge in naher Zukunft überschnitten. Oder jemals.

„Ja, musste ich. Es ist okay, ich werde nur übers Wochenende bleiben. Willst du Sonntagabend essen gehen?“ Einen Moment lang herrschte Stille am anderen Ende der Leitung. „Allen? Bist du noch da?“

„Es ist nur, dass Paulina’s sonntagabends nicht offen hat.“

„Oh, stimmt.“ Das Paulina’s war Allens Lieblingsrestaurant – und überhaupt das einzige, in dem wir essen gingen. Was sollte ich sagen? Der Mann hatte hohe Standards und einen feinen Gaumen für die italienische Küche, dem nur das Paulina’s gerecht werden konnte. „Dann vielleicht nächsten Freitag?“, schlug ich vor.

„Dann nächsten Freitag. Hab einen angenehmen Besuch bei deiner Familie und ich freue mich darauf, mich wieder mit dir in Verbindung zu setzen, wenn du zurückkehrst.“

„Ich ebenso. Ein schönes Wochenende!“ Ich legte auf und warf das Telefon auf den Beifahrersitz, wo es mit einem dumpfen Klang aufs Polster fiel, ehe ich es wieder aufhob. „Siri“, aktivierte ich den Handy-Assistenten, „erinnere mich in einer Stunde daran, Kevin eine E-Mail zu schicken.“

„Ich trage es in deinen Kalender ein“, antwortete die Computerstimme.

„Danke.“ Es war an der Zeit, meinen Assistenten daran zu erinnern, nicht so viel auszuplaudern, besonders nicht gegenüber Männern, mit denen ich ausging.

Kapitel zwei

Ehe ich mich versah, stand ich mit dem Auto im Leerlauf vor der baufälligen, einspurigen überdachten Brücke, die nach Silverlake führte. Das klapprige Gestell sah aus, als könnte es nicht einmal das Gewicht eines Fußgängers verkraften, ganz zu schweigen von einem Auto. Doch das war beabsichtigt. Jeder Mensch bei Verstand, der diese Brücke sah, würde sich umdrehen und nach einer alternativen Route suchen.

Durch die Brücke hindurch erblickte ich das kahle Feld, das sich dahinter erstreckte. Für normale Augen sah es so aus wie ein altes Baumwollfeld. Man konnte noch die Reihen erkennen, in denen die Pflanzen einst angebaut worden waren, doch alles, was davon übrig war, schienen festgetretene Erdhügel und vertrocknete Stängel zu sein.

In der Ferne stand eine verwitterte graue Scheune. Es fehlte ein beträchtlicher Teil des Daches, genau wie einige der Bretter der Außenwände. Der Bauer und seine Familie waren schon vor langer Zeit zu grüneren Wiesen weitergezogen. Oder zumindest zu fruchtbareren.

Ich ließ die Fensterscheiben herunterfahren und ein Schwall dicker, feuchter Luft kam mir entgegen. Ich spürte, wie mein Nacken sofort klebrig wurde und mein Haar sich kräuselte. Ich fing es mit einer Hand ein und strich es über meine Schulter.

„Hallo?“, rief ich aus dem Fenster. „Hier ist Angelica Nightingale.“ Mein voller Name fühlte sich fremd auf meiner Zunge an. „Ist da jemand?“

Ein leises Ploppen erklang, ehe plötzlich Mr. McCormick erschien. So, wie er aus dem Nichts auftauchte, war er wohl jetzt Teil der Stadtwache. Das war ein Zauber, den nicht jede alte Hexe wirken durfte, selbst wenn sie fähig genug schien, und ich war es definitiv nicht. Die Gesetzgebung regulierte sehr streng, wer mit einem Fingerschnippen verschwinden und wieder auftauchen durfte.

Der Besitzer des Gewächshauses klopfte etwas Erde von seinem Overall. „Entschuldige bitte, ich habe gerade die Petunien gegossen“, sagte er. „Du liebe Güte, Angelica, bist du es wirklich? Wie viele Monde sind vergangen, seit du das letzte Mal hier warst? Ich muss Molly sagen, dass du in der Stadt bist.“ Molly war seine Tochter und in meinem Alter. Wir waren von der Grundschule bis zur Highschool immer in derselben Klasse gewesen – genau wie alle anderen siebzehn Kinder meines Jahrgangs –, allerdings hieß das nicht, dass ich unbedingt Lust auf ein Wiedersehen hatte.

„Oh, nicht doch. Ich bin nur für einen kurzen Besuch da. Ähm, Hokuspokus?“

Mr. McCormick winkte ab. „Du brauchst kein Passwort, du bist doch von hier. Die Brücke wird sich an dich erinnern, fahr einfach drüber.“

„Danke.“

„Oh, und Angelica? Beste Wünsche für deine Tante. Wir denken an sie.“

Ich nickte, weil ich nicht die richtigen Worte fand. „Es geht ihr gut“, wiederholte ich leise, doch der Kloß in meinem Hals ließ sich nicht länger ignorieren.

Ich drückte sanft auf das Gaspedal und hoffte, dass Mr. McCormick recht hatte und die Brücke sich an mich erinnern würde. Das hölzerne Knarzen unter den Vorderreifen war unangenehm und ich konnte nicht anders, als mich zu ducken, während ich das Auto unter das Dach der Brücke lenkte. Vor mir war nichts als Erde und Gebüsch, doch sobald die Hinterreifen vom Asphalt auf das Holz rollten, änderte sich die Szenerie. Auch wenn es Hochsommer in Georgia war, strahlte alles in einem frischen, üppigen Grün. Dort, wo die Brücke endete, begann nun eine breite Straße, die sich durch das dicke, grüne Gras und die sanften Hügel der Landschaft zog. Überall standen ausgewachsene Pekannussbäume voller Früchte und der Peach Creek, mehr Fluss als Bach, plätscherte auf der Fahrerseite parallel zur Straße.

Nachdem ich um die dritte Kurve gefahren war, konnte ich die Stadt sehen. Ein gewölbtes eisernes Schild über der Straße begrüßte die Besucher in Silverlake. Es glitzerte in der Sonne wie Feenstaub. Der Fluss bog nach links ab, floss entlang der Stadt und unter der alten hölzernen Brücke hindurch. Er wand sich durch die Landschaft bis in die Ferne. Es schien, als wäre er unendlich lang. Doch ich wusste es besser.

Geradeaus lag der Village Square, der Einkaufsbezirk. Zwischen den Läden, die jedem Märchenbuch der Sterblichen entsprungen sein könnten, befand sich die üppige Grünfläche des Wishing Well Parks. Dessen Zentrum bildete ein weißer gusseiserner Springbrunnen mit zwei Ebenen, auf dem die Statue einer Frau in langer Robe stand, die einen Zauberstab hielt. Die beeindruckende Schönheit des Brunnens veranlasste Besucher dazu, stehen zu bleiben, ein Geldstück hineinzuwerfen und sich etwas zu wünschen. Jeden Monat wurden die Münzen gesammelt und für einen guten Zweck gespendet.

Am Rande des Parks führte ein Fußweg an hölzernen Bänken vorbei, welche die Leute dazu einluden, sich einen Moment zu setzen. Der Rest der Grünfläche bot ausreichend Platz für ein nachmittägliches Picknick oder ein Nickerchen unter einem der mächtigen Pekannussbäume.

Der Verkehr wurde im Uhrzeigersinn um den Park herumgeführt. Ich bog links ab und umfuhr die grüne Oase. Als die Straße vor den Geschäften endete, bog ich erneut links ab und überquerte den Peach Creek über eine weitere Brücke.

Nicht mal, wenn ich wollte, könnte ich zählen, wie oft ich als Kind am Fluss gespielt hatte. Oder wie viele Male ich als Katze mit den Pfoten im kühlen Wasser geplanscht hatte – ein Zauber, von dem ich nicht wusste, ob ich ihn noch hinkriegen würde. Instinktiv hob ich die Hand, um nach dem Tigeraugen-Anhänger zu greifen. Natürlich hing der nicht um meinen Hals. Es lag viel zu lange zurück, dass ich einen Verwandlungszauber gewirkt hatte. Irgendwann mal war ich wirklich gut darin gewesen, aber das war Teil eines anderen Lebens. Eines, das ich dreizehn Jahre lang zu vergessen versucht hatte.

Zu meiner Rechten sah ich aus dem Fenster den zur Brücke passenden Fußgängerüberweg. Ich war als Kind häufig hinübergelaufen, um hausgemachten Fudge oder eine Praline vor dem Abendessen zu naschen. Man durfte sich nur nicht von Martha, der Köchin des Hotels, erwischen lassen. Nichts ärgerte die mehr als ein Kind, das sich den Appetit verdarb.

Hinter mir lag das Ladenviertel. Das war eine eigene kleine Nachbarschaft: Die Fassaden der miteinander verbundenen Geschäfte waren bunt angestrichen – ein buttriges Gelb, cremiges Beige und pudriges Türkis. Keine glich der anderen, doch die Farben waren alle gleich kräftig, was sie wiederum miteinander verband, genau wie die Steinplatten, die die Straßen der kleinen Stadt säumten. Die Einkaufsmeile war eine Fußgängerzone. Mit etwas Glück konnten Besucher einen der Parkplätze direkt bei der Ladenfront ergattern. Diese waren bei Ortsansässigen wie Ortsfremden heiß begehrt, denn die Alternative war, in den Parkboxen rechts des Village Squares zu parken und ein Stück zu den Geschäften zu laufen.

Die Straße wand sich über die Brücke nach rechts und führte entlang der Stadt, durch die sich der Quellfluss wand. Und nach nur einer weiteren Kurve kam das Hotel meiner Tante in Sicht – das Mystic Inn.

Das dreistöckige Gebäude mutete bayrisch an. Das Fachwerkhaus war in einem pudrigen Weiß gestrichen, durch das sich die dunklen Balken und Verzierungen zogen. Wie die Fenster war auch der Türrahmen leicht abgerundet. Die fleckigen Walnussblumentöpfe unter den Fenstern im Obergeschoss quollen nur so über vor Efeu und Blumen, die in verschiedenen Violetttönen blühten. Zwischen dem Hotel und der Hauptstraße lag ein kleiner Hügel, der von Gras überzogen war und den Verkehrslärm dämpfte – nicht, dass es jemals viel Lärm gab.

Ich fuhr auf den Parkplatz, während mein Herz plötzlich in meiner Brust zu rasen begann, als wollte es herausspringen. Tante Thelma musste es einfach gut gehen. Ich war mental nicht auf die Situation vorbereitet, in die ich mich jetzt begeben würde. Aber um ehrlich zu sein, wäre ich wohl nicht aufgetaucht, wenn ich zu sehr darüber nachgedacht hätte. O ja, ich war auf jeden Fall jemand, der lieber vor seinen Gefühlen davonlief, als sich ihnen zu stellen. Ein Charakterzug, auf den ich nicht stolz, doch dessen ich mir sehr bewusst war.

Ich schaute zum Gebäude und schluckte. Ich hatte Clemmie nicht einmal gefragt, wo sich Tante Thelma befand, sondern war zum Hotel gefahren, als wäre ich auf Autopilot eingestellt. Aber jetzt wusste ich nicht, wohin ich gehen sollte. Sollte ich hineingehen oder weiterfahren, um den kleinen See herum zum Gemeindekrankenhaus?

Ich entschied mich, erst einmal reinzugehen. Ich parkte in einer Parkbox für Gäste. Sicherlich würde mir jemand im Haus sagen können, wohin ich musste, wenn ich den Mut aufbrachte, zu fragen. Tief durchatmend schnallte ich mich ab und kreischte, als plötzlich Tante Thelma die Autotür aufriss und mich in eine ungestüme Umarmung zog.

„Tante Thelma?“, fragte ich, löste mich aus der Umklammerung meiner Tante und nahm die Person vor mir in Augenschein. „Ich dachte, du liegst im Sterben?“ Die Frau sah alles andere als todkrank aus. Tatsächlich sah sie zwanzig Jahre jünger aus als ich sie in Erinnerung hatte.

„Oh, das?“ Mit ihrem Zeigefinger malte Tante Thelma einen imaginären Kreis um ihr Gesicht. „Das ist nur ein Entalterungstrank, nichts Weltbewegendes. Warte nur, bis du Clemmie siehst!“

„Ich spreche nicht von deinem Gesicht. Darüber können wir später reden. Ich spreche von Clemmies Anruf, dass ich so schnell wie möglich nach Hause kommen muss.“

„Ach papperlapapp, wie hätte ich dich denn sonst nach Hause kriegen sollen? Du ghostest mich ja.“

„Ich ghoste dich?“

„Siehst du, ich kann auch so hippes Zeug sagen. Nennt ihr Kids das heute nicht so, wenn man nicht zurückruft?“

Ich stieg aus dem Auto und zupfte meine Bluse zurecht. „Tante Thelma, ich habe mir wirklich Sorgen um dich gemacht.“

„Gut. Das heißt, dass ich dir nicht egal bin. Jetzt komm mit und hilf mir mal.“

Meine Füße folgten der Aufforderung, während meine Gefühle noch hinterherhingen. „Ich wusste, dass dir nichts fehlt. Warte nur, bis ich Clemmie in die Finger kriege“, sagte ich mehr zu mir als sonst jemandem, während wir zur Eingangstür gingen.

„Wie war das, Liebes?“

„Ach nichts.“ Aber dann fiel mir etwas ein. „Warum sagt Mr. McCormick, dass er an dich denkt? Und übermittelt beste Wünsche?“

Tante Thelma winkte ab. „Ich habe ihm erzählt, dass ich eine Lebensmittelvergiftung hätte, um die List bis zum Schluss aufrechtzuhalten. Nur für den Fall.“

„Du bist unglaublich“, sagte ich.

„Was? Hat doch funktioniert.“ Tante Thelma war wirklich schamlos.

Wir betraten das Hotel und ich erstarrte mitten in der Lobby. Die sah noch genauso aus, wie ich sie in Erinnerung hatte – und das war nichts Gutes. Zuerst fielen mir die weißen Fliesen auf dem Boden auf, dann die rissigen grauen Furnierholztheken. Direkt danach erblickte ich die dicke Silber-und-Satin-Tapete, die sich hinter dem Empfangstresen zu meiner Rechten von der Wand abschälte. Auf einem Beistelltisch lagen unzählige Broschüren verstreut, die lokale Angebote wie den Kanuverleih, Ladenrabatte und Essensgutscheine bewarben. Der sich langsam drehende Tischventilator brachte auch nicht gerade Ordnung in das Chaos, denn bei jeder Rotation drohte er, die Zettelsammlung über den Boden zu verteilen. Tatsächlich waren schon ein paar von ihnen hinabgesegelt, und niemand hatte sich die Mühe gemacht, sie aufzusammeln.

Auch in der Lobby war es nicht viel kühler als draußen. Mein Versuch, mich dadurch abzukühlen, dass ich über mein Gesicht in Richtung Stirn pustete, scheiterte kläglich. Ich wollte gerade fragen, ob die Klimaanlage nicht funktionierte, als ein lautes Klappern, das stark nach Schrauben auf einem Metallblech klang, mich davon abhielt.

„Ist das die Eiswürfelmaschine?“, fragte ich und runzelte die Stirn. Die Maschine pfiff seit Jahren aus dem letzten Loch. Wie sie es schaffte, etwas auszuspucken, das auch nur im Entferntesten nach gewürfeltem Eis aussah, war mir schleierhaft. Tante Thelma hob ihre Augenbrauen und nickte.

Geradeaus gelangte man durch ein Paar gläserne Türen auf die Sitzterrasse und dahinter zum Strand am See. Immerhin war diese Aussicht zeitlos, was man nicht über die Einrichtung der Lobby sagen konnte. Die Sitzecke war wie ein Wohnzimmer eingerichtet, mit einem großen Kastenfernseher im Zentrum. Der Sechzig-Zoll-TV war von der Sorte, die in den Neunzigern beliebt und teuer gewesen war, jetzt jedoch nur noch aus der Zeit gefallen wirkte.

„Siehst du jetzt, warum ich deine Hilfe brauche?“, wollte meine Tante wissen.

„Du hättest auch einfach fragen können.“

„Klar, aber hättest du mich zurückgerufen?“

Ich biss auf meine Unterlippe. Tante Thelma hatte recht, ich hatte sie wirklich geghostet, um ihre Wortwahl zu nutzen. „Tut mir leid. Es war in letzter Zeit wirklich wahnsinnig stressig bei der Arbeit und ich habe diesen neuen Freund …“

„Ein Mann? Es gibt einen Mann in deinem Leben?“ Tante Thelmas Augen glitzerten schelmisch.

„Es ist noch ganz frisch. Ich hätte nichts sagen sollen.“

„Ist er auch ein Gestaltwandler?“, fragte sie.

„Nein!“, erwiderte ich barsch, als wäre allein die Vorstellung absurd.

„Hexer? Ich weiß, dass du ein Faible für Hexer hast. Erinnerst du dich an Vance?“

Ich würde nicht mit ihr über meinen Ex aus der Highschool sprechen. Den Sternen sei Dank wohnte er nicht mehr in Silverlake. „Nein. Allen ist ganz normal.“

„Normal? Wie kann das Spaß machen?“, fragte Tante Thelma und hob zweifelnd die Hände.

„Er ist Buchhalter in dem Hotel, in dem ich arbeite.“

Tante Thelma rümpfte die Nase. „Es steht schlimmer um dich, als ich gedacht habe.“

„Gar nicht wahr!“, erwiderte ich schärfer als beabsichtigt.

„Wohl wahr.“

Okay, vielleicht arbeitete ich ja fünfzig Stunden für wenig Anerkennung, und Allen mochte seine Routinen. Es war nichts falsch daran, jeden Freitag im gleichen Restaurant das gleiche Essen zu bestellen. Wenn man wusste, was man mochte, warum sollte man etwas ändern?

„Hallo? Erde an Angelica.“ Tante Thelma wedelte mit der Hand vor meinem Gesicht herum.

Ich blinzelte ein paar Mal. „Wie bitte?“

„Ob wir ins Büro rübergehen wollen.“

„Sicher.“ Vielleicht war es besser, privat zu reden. Ich wurde mir plötzlich der neugierigen Blicke bewusst, die die Gäste in der Lobby uns zuwarfen.

Ich folgte Tante Thelma hinter den Empfangstresen, wo sich das Büro befand. Sie hielt mir die Tür auf, und als ich eintrat, konnte ich meinen Augen kaum glauben.

Schockiert starrte ich das Chaos an. Briefe stapelten sich auf dem Schreibtisch und waren teilweise schon auf den Boden gefallen. Ein alter Röhrenmonitor nahm den Rest des Tisches ein. Der mit der Zeit leicht vergilbte Apparat war von der Sorte, die wahrscheinlich noch mit Linux-Software lief und nichts anzeigte als orangene Blockbuchstaben auf schwarzem Hintergrund. Ich konnte mir lebhaft vorstellen, wie die Anzeige mich aufforderte, ich solle Y DRÜCKEN FÜR AUSDRUCK, SONST ANDERE FAKTOREN EINGEBEN. In der Ecke stand ein Telefon mit Wählscheibe. Überdimensionierte, bestimmt fünf Zoll dicke Ordner, Töpfe mit eingetrocknetem Beamtengras und Wollmäuse konkurrierten um den wenigen Platz auf den Ablagen.

„Wann hast du diese Tür das letzte Mal aufgemacht?“, fragte ich. Es sah aus, als hätte jemand aufgegeben und die Post einfach nur noch unter der Tür durchgeschoben.

„In welchem Jahr bist du weggegangen?“, fragte Tante Thelma.

„Du willst mich auf den Arm nehmen.“

„Ich habe dir gesagt, dass dieser ganze Geschäftskram nicht mein Ding ist, bevor du weg bist.“

„Und ich habe dir gesagt, dass es nicht schwer zu lernen ist oder – noch besser – du jemanden dafür einstellen sollst.“

„Ich schätze, ich habe gedacht, dass du wiederkommst. Also habe ich einfach die Tür zugemacht.“ Tante Thelma wandte das Gesicht ab, wohl damit ich nicht sah, dass sie sich eine Träne aus dem Auge wischte. „Ich lasse die Rechnungen alle verschwinden, aber sie kommen einfach immer wieder.“ Sie schüttelte den Kopf.

„Tante Thelma, hat das Hotel Probleme?“

„O nein, nein. Na ja, … vielleicht ein klein wenig.“ Tante Thelma hielt Daumen und Zeigefinger ein Stück auseinander.

„Wie schlimm ist es?“

„Das kann ich dir wirklich nicht sagen. Wie du sehen kannst, habe ich seit Jahren keine Abrechnung gemacht.“

„Seit Jahren?“ Es war noch schlimmer, als ich gedacht hatte.

„Ich komme da einfach nicht mehr mit“, gestand Tante Thelma. „Ich weiß nicht mal, wo ich anfangen soll.“

In dem Moment klingelte mein Handy. „Da muss ich drangehen“, sagte ich, als ich Laceys Nummer erkannte. Ich nahm den Anruf entgegen, verließ das Büro und trat durch die Glastüren in die pralle Sonne.

„Wie ist es zu Hause? Geht’s deiner Tante gut?“, fragte Lacey.

Ich warf einen Blick über die Schulter zum Hotel. „Wie es sich herausstellt, geht es ihr blendend.“

„Wirklich? Das ist großartig!“

Ich schwieg.

„Das ist nicht großartig?“, fragte Lacey, die mein Zögern richtig gedeutet haben musste.

Ich stieß die Luft aus und spürte einen Spannungskopfschmerz meinen Nacken hinaufkriechen. „Doch, schon. Es gibt hier nur eine Menge Arbeit zu erledigen.“

„Na dann will ich dich nicht davon abhalten. Ich wollte dir nur erzählen, dass wir die Tagung bekommen haben! Was soll ich sagen, du schnappst sie dir immer.“

„Das sind tolle Neuigkeiten.“

„Ehe du dich versiehst, wirst du zum VIP.“

„Dein Wort in Gottes Ohr. Hör mal, ich muss jetzt auflegen, aber schick mir den finalen Vertrag zur Durchsicht. Dann können wir die Lieferantenverträge ausstellen. Block die Räume in dem Zeitraum und lass dir eine geschätzte Teilnehmerzahl fürs Catering geben.“

„Wird erledigt. Check deine E-Mails.“

Ich hörte den Benachrichtigungston an meinem Ohr. „Was würde ich nur ohne dich machen?“

„Vergiss das nur nicht, wenn du die Chefin bist.“

„Würde ich nie!“

Ich legte auf und starrte das Hotel an. Tante Thelma hatte recht, wo sollte ich nur anfangen?

Kapitel drei

Vier Stunden später kam ich gähnend aus dem Büro und streckte mich. Ich hatte aufgeräumt, geputzt und den kleinen Raum, so gut es ging, neu strukturiert. Der Computer brauchte ganz dringend ein Update. Beim Kaufhaus in der Nachbarstadt, das auch Selbstabholung anbot, hatte ich einen neuen Rechner und einen Schreibtischstuhl bestellt. Denn der, auf dem ich den ganzen Tag gesessen hatte, hatte eindeutig schon bessere Tage gesehen. Die Rollen rollten kaum noch, die Höhe konnte nicht verstellt werden und durch den abgewetzten Bezug des Sitzpolsters kam schon die gelbe Schaumstofffüllung zum Vorschein. Ich muss wohl nicht erwähnen, dass mein Steißbein mich gerade umbrachte, oder?

„Du arbeitest immer noch?“ Tante Thelma hatte den Fernseher in der Lobby eingeschaltet, auf dem der Abendfilm des Witch Networks lief. Auf ihrem Schoß stand eine Schale Popcorn. Ihre Beine hatte sie auf zwei Stühlen ausgestreckt.

„Ich glaube, ich könnte eine Woche durcharbeiten und wäre immer noch nicht fertig.“ Die Zahlen verschwammen langsam vor meinen Augen und ich konnte wirklich Hilfe gebrauchen.

„Warum rufst du nicht deinen Buchhalter-Freund an?“

„Was? Nein. Äh, also …“, stammelte ich.

„Wir werden ihn schon nicht verfluchen, versprochen. Mach schon. Wir können für ein paar Tage die Besen in der Kammer lassen, nicht wahr?“ Irgendwo in der Ferne, wo ihn keiner sehen konnte, hörte ich den Hotelgeist kichern.

„Du vielleicht, aber was ist mit Percy?“ Percy, ein Poltergeist, war … schwierig. „Ganz zu schweigen davon, dass, wenn die Leute auch nicht in seiner Gegenwart zaubern, die Geschäfte hier immer noch magische Namen haben.“

„Wer sagt denn, dass du ihn mit in die Stadt nehmen musst? Ihr könnt hier im Hotel bleiben. Nehmt ein Kanu und macht einen romantischen Ausflug auf den See. Macht ein Picknick unter den Sternen. Stell dir nur vor, wie entspannend und romantisch das wäre!“ Tante Thelma wackelte mit den Augenbrauen.

Ich schüttelte den Kopf. „Nur über meine Leiche.“ Ich würde Allen nicht einmal in die Nähe von Silverlake bringen.

„Nun, das ist ja wirklich schade, vor allem, weil ich ihn schon eingeladen habe.“

„Du … was?“ Das war doch ein schlechter Scherz. „Das hast du nicht!“ Ich stolperte beinahe über meine eigenen Füße, weil ein Teil von mir zu meinem Handy stürzen und Allen anrufen wollte. Gleichzeitig wollte ich auch zu meiner Tante rübergehen und ihr den Hals umdrehen.

„Das habe ich.“ Tante Thelma schien sehr stolz auf sich zu sein.

„Wie?“, fragte ich. „Du kennst nicht einmal seinen Nachnamen!“

„Magie“, antwortete meine Tante lachend.

„Das ist nicht witzig!“

„Das soll es ja auch nicht sein. Du hast gesagt, dass dein Allen ein Buchhalter ist, also habe ich ihn angerufen. Wie sich herausstellte, ist er mehr als bereit, herzukommen. Du hast recht, er ist wirklich ein reizender junger Mann.“ Ich machte einige Male den Mund auf, nur um ihn wieder zu schließen, weil keine Worte herauskommen wollten. „Es ist schon alles in die Wege geleitet. Percy hat angeboten, ihn Samstagmorgen vom Flughafen abzuholen.“

„Percy? Percy der Poltergeist hat seine Hilfe angeboten?“ Meine Stimme troff nur so vor Skepsis.

„Komm schon, er hat seit fünf Jahren keinen Wutanfall mehr gehabt.“

„Er ist unausstehlich!“

„Nicht mehr so sehr. Heute ist er eher Percy, der Hausmeister. Oder Percy, der Chauffeur. Einmal in der Woche, wenn nicht sogar öfter, fährt er mich in die Stadt.“

„Oh, das ist ja sehr beruhigend“, erwiderte ich sarkastisch.

„Er ist ein wunderbarer Fahrer und dein Freund wird gar nichts bemerken. Für ihn wird Percy wie ein normaler, netter älterer Herr wirken, der ihn vom Flughafen abholt. Percy?“, brüllte meine Tante und stellte ihre Popcornschale weg.

„O bitte nicht.“ Ich hielt mir die Augen zu.

„Komm her, Percy!“ Tante Thelma pfiff, als riefe sie nach einem Hund.

Ich spürte das Ziehen an meinen Haaren, ehe Percy sich materialisierte und durch mich durchschwebte, was mir das Blut in den Adern gefrieren ließ.

Ich erschauerte. „Musst du das immer machen?“

Percy mochte als alter Mann verstorben sein, doch im Inneren würde er immer ein Scherzbold bleiben. „Kann das wahr sein? Ist Jelly nach Hause gekommen, um zu spielen? Ich dachte, du würdest sterben, ehe ich dich wiedersehe.“

„Mein Name ist Angelica, und ich bin nicht hier, um zu spielen“, erwiderte ich trocken.

„Das wird sich zeigen!“ Percy warf mir eine Kusshand zu, schwebte durch die Lobby und warf im Vorbeigehen alle Broschüren zu Boden.

„O ja, ich sehe, er ist echt erwachsen geworden“, sagte ich zu meiner Tante.

„Gib ihm einfach eine Chance.“

„Ich kann nicht glauben, dass das wirklich passiert.“ Ich schüttelte den Kopf.

„Sieh es einfach so: Ich tue dir einen Gefallen.“

„Wie kann es hilfreich sein, Allen herzubringen und einen Poltergeist zu rekrutieren?“

„Was sagst du denn? Natürlich ist es hilfreich. Wie viel Urlaub hast du dir genommen?“

„Donnerstag und Freitag. Ich wollte Sonntag nach Hause fliegen.“ Ich wollte eigentlich nicht noch mehr Urlaubstage nehmen, aber Himmel, ich hatte einen Haufen davon angesammelt.

„Klar, und glaubst du, du kannst in ein paar Tagen die Bücher auf Stand und alles andere in Ordnung bringen?“

„Nein“, antwortete ich ehrlich.

„Aber mit ein bisschen Hilfe schaffst du es vielleicht.“

Ich öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, klappte ihn jedoch wieder zu. Das war die falsche Person, mit der ich diskutierte. Ich musste mit Allen sprechen. Also drehte ich mich um, ließ meine Tante bei ihrem Film und kehrte ins Büro zurück, um ihn anzurufen.

„Komm schon, geh ran“, murmelte ich ins Telefon, während das Freizeichen in mein Ohr dröhnte. Ich trommelte mit den Fingern auf mein Bein, während ich nervös darauf wartete, dass ich mit ihm verbunden wurde, doch es ging nur seine Mailbox ran, die mir mitteilte, dass sie voll war. Also schickte ich ihm nur eine Nachricht, dass die Reise abgesagt wäre und er mich so bald wie möglich anrufen sollte. Hoffentlich reichte das aus, damit er in Chicago blieb. Ich würde morgen früh noch einmal versuchen, ihn im Büro zu erreichen. So wie ich Allen kannte, würde er dort vor dem Wochenende definitiv noch einmal nach dem Rechten sehen. Und wenn er nur hinging, um seine Lieblings-Rechenmaschine zu holen.

***

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war ich noch immer im Büro und lag mit dem Gesicht auf dem Scheckbuch. Die Sonne fiel durch die Jalousie herein und ich musste ein paar Mal blinzeln, um mich zu orientieren. Dann stürzten die letzten achtzehn Stunden auf mich ein. Seufzend schloss ich die Augen. Was war das gestern bitte für eine Achterbahn der Gefühle gewesen? Ich bräuchte mindestens zwei Tassen Kaffee, bevor ich das verarbeitet hätte. Um ehrlich zu sein, hoffte ich, dass das Schicksal heute etwas gnädiger mit mir war.

Ich stakste aus dem Büro und fand Tante Thelma hinter dem Empfangstresen vor, frisch wie der junge Frühling.

„Guten Morgen, Schlafmütze“, sagte sie lächelnd.

Ich rieb mir die Augen, dann die Stirn, auf der ich unter meinen Fingern das Muster der Ringbindung des Scheckbuchs spürte. „Warum hast du mich da drin schlafen lassen?“

„Nun, ich habe versucht, dich aufzuwecken, doch du hast mich nur weggescheucht. Ich dachte mir, dass du wüsstest, wo dein Zimmer ist, wenn du hochgehen wolltest.“

Ich gähnte.

„Wir haben frischen Kaffee, wenn du möchtest.“ Tante Thelma deutete auf die Kanne auf dem Tresen, wo sie immer schon gestanden hatte. Daneben befand sich meine Lieblingstasse, die Schwarze mit der Katze drauf. Deren leuchtende grüne Augen und der verschmitzte Gesichtsausdruck brachten mich zum Lächeln. Ich goss mir eine Tasse des dampfenden Gebräus ein und ließ einen Löffel Zucker hineinrieseln. Starker Kaffee war genau das, was ich jetzt brauchte. Ich blies über den Tassenrand, nahm einen Schluck … und würgte. Igitt!

„Was ist los?“ Tante Thelma wirkte beunruhigt.

Ich streckte die Zunge heraus. „Was ist das?“

Und dann hörten wir Percys Gackern, während er unsichtbar durch die Lobby schwebte. „Sag mir bitte, dass das kein Gift ist.“

Tante Thelma nahm meine Tasse und probierte selbst. „Das ist nur Salz“, stellte sie fest.

„Wie macht er das?“

„Du hast deine Lieblingstasse genommen, nicht?“

Ich atmete durch die Nase ein, sodass die Nasenflügel bebten.

„Du hast dich nicht so sehr verändert, wie du glaubst“, sagte Tante Thelma.

Das ließ mich die Stirn runzeln. Natürlich hatte ich mich verändert. Ich war nicht mehr dasselbe naive Mädchen, das vor all den Jahren diese Stadt verlassen hatte. Ich war jetzt jemand und auf dem besten Wege, das unter Beweis zu stellen.

„Weißt du, was dein Problem ist?“

„Ein respektloser Geist?“, erwiderte ich sarkastisch.

„Du solltest dich entspannen. Du nimmst das Leben viel zu ernst.“

„Das Leben ist ernst.“

„Nur wenn du das zulässt.“

Ich ignorierte meine Tante und schaute in meinen ruinierten Kaffee. „Irgendwann werde ich es diesem Geist heimzahlen.“ Schmollend ging ich zur kleinen Küche im Erdgeschoss, goss meinen Kaffee in den Abfluss und spülte die Tasse aus. Beim zweiten Mal würde ich verpackten Zucker nutzen, um auf Nummer sicher zu gehen.

Während ich mir einen neuen Kaffee machte, nahm Tante Thelma einen Anruf entgegen. Unbeabsichtigt belauschte ich sie. Es war Clemmie, und so wie es klang, war diese besorgt, wie schlecht ihr Geschäft lief. Ich hatte gestern nicht großartig darüber nachgedacht, während ich durch die Stadt gefahren war – wahrscheinlich, weil meine Gedanken sich mit etwas anderem beschäftigt hatten –, doch die Stadt hatte irgendwie verschlafen gewirkt. Ich hätte direkt an der Ladenfront des Village Squares parken können. Viele der Parkplätze waren leer gewesen, und das verhieß nichts Gutes für die Geschäfte hier.

„Nicht nur du, meine Liebe“, sagte Tante Thelma zu ihrer Freundin. „Diane ist auch besorgt.“

Ich schlürfte meinen Kaffee, während ich lauschte, und hatte eine Idee. Während Tante Thelma und Clemmie brainstormten, wie man Silverlake zukunftstauglich machen könnte, dachte ich mir, dass die Stadt vielleicht in der Vergangenheit bleiben sollte. Als die Ladys ihr Gespräch beendeten, hatte ich einen Plan.

„Was, wenn ihr nicht versuchen würdet, Silverlake zu verändern?“, fragte ich.

„Was meinst du?“

„Silverlake hat diesen altertümlichen Charme und man kann hier immer noch diese klassischen Familienurlaube machen, die die Leute so geliebt haben, aber halt mit den Annehmlichkeiten unserer modernen Welt. Statt also zu versuchen, zu etwas zu werden, was ihr nicht seid, könntet ihr probieren, das meiste aus dem herauszuholen, was schon da ist. Füllt die Leere, die die Menschen in ihrem Leben haben. Glaub mir, da draußen rast das Leben nur so an den Leuten vorbei.“ Ich hielt wie zur Bestätigung mein Handy hoch. Selbst mit dem spärlichen Empfang hier draußen hatte ich einen Haufen E-Mails, Textnachrichten und Social-Media-Benachrichtigungen bekommen, die alle um meine Aufmerksamkeit buhlten. „Die Leute brauchen eine Pause von dem ganzen Lärm, auch das magische Volk.“

„Und was ist mit dir?“ Tante Thelma warf mir ein wissendes Lächeln zu.

„Nein, ich nicht. Nur alle anderen.“ Und dann lachte ich. Selbst ich musste einsehen, wie lächerlich das klang. „Wie dem auch sei, wir müssen die Dinge hier ein bisschen auf Vordermann bringen und dann ein Event veranstalten, das richtig viele Touristen in die Stadt zieht.“

„Am besten gestern schon“, scherzte Tante Thelma.

„Bevor Silverlake zur Geisterstadt wird“, stimmte ich meiner Tante zu.

„Hey!“, beschwerte sich Percy aus dem Off.

„Als wenn du wirklich beleidigt wärst“, schoss ich zurück.

„Und an was hast du gedacht?“, fragte meine Tante.

Ich schaute durch die Glastür auf den See hinaus. Wenn ich dieses Hotel führen würde, was würde ich machen? Wovon wären Hexen begeistert? Ich erinnerte mich daran, wie viel Spaß ich als Kind hatte, während ich durch Silverlake gelaufen war. Wie magisch sich alles angefühlt hatte, selbst als die Tage kürzer und das Wetter kühler geworden war, was wohl sehr bald schon der Fall sein würde. Ich blickte auf den Kalender auf dem Schreibtisch. „Wie wäre es, wenn wir ein Herbstfest veranstalten? Da wäre eine Menge zu tun und alle Geschäfte müssten zusammenarbeiten, aber das könnte super werden.“ Ich ließ die Ideen einfach fließen. „Wir könnten auf dem Village Square Fahrten auf einem Heuwagen anbieten, einen Wettbewerb im Kürbis-Schnitzen veranstalten, Cider und Donuts verkaufen, vielleicht sogar gegrillte Maiskolben, oder andere Essensbuden aufstellen. Oh! Wir könnten das Ganze in einem Erntemondtanz gipfeln lassen. Eine Bühne im Wishing Well Park aufstellen und Lichterketten in die Bäume hängen. Kannst du dir das vorstellen? Das wäre wunderschön! Wären wir in Chicago, wüsste ich die perfekte Band, die ich anrufen könnte.“

Aufregung blubberte in meiner Brust. Ich fühlte das gleiche Kribbeln wie immer, wenn ich ein neues Event plante. Ich konnte mir die Dekorationen in der Stadt schon vorstellen sowie die Halloweenkürbisse, die die Zufahrt zur Stadt beleuchten würden. „Und für Hexen ist der Herbst ja sowieso schon magisch. Davon könnten wir profitieren.“

„Das stimmt. Ich werde gleich beim Stadtrat anrufen. Mal schauen, ob wir heute Nachmittag schon eine Sitzung einberufen können.“

„Gute Idee. Ich schnapp mir ein Notizbuch und schreib mir schon mal ein paar Sachen auf.“

Während Tante Thelma telefonierte, verschwand ich im zweiten Stock, wo sich unser privates Apartment befand.

Ich hatte gestern genau zwei Sekunden in meinem Zimmer verbracht, um mein Gepäck dort abzulegen. Als ich mich jetzt umsah, stellte ich fest, dass es genau so war, wie ich es zurückgelassen hatte. Selbst mein Schmuckkästchen stand noch an der gleichen Stelle. Ich schluckte schwer, doch ich war nicht bereit, es zu öffnen und in Erinnerungen zu versinken. Der Schrank war ebenso unberührt – und voller Klamotten, die längst außer Mode waren.

„Ich kann nicht glauben, dass sie das alles so lange aufgehoben hat“, murmelte ich ins leere Zimmer. Ich hatte gedacht, dass Tante Thelma schon vor Jahren alles zusammengepackt und der Wohlfahrt gespendet hätte. Das sollte ich tun, bevor ich ging.

Geduscht und erfrischt – nun, so erfrischt man eben sein kann, wenn man die Nacht mit dem Kopf auf einem Scheckbuch verbracht hatte –, ging ich wieder hinunter und suchte mir Frühstück. Die wenigen Gäste, die derzeit im Hotel wohnten, aßen draußen auf der Terrasse, von der man einen tollen Blick auf den See hatte. Gerade schwammen ein paar Schwäne vorbei. Ich überlegte, ob ich ebenfalls draußen frühstücken und die letzten Momente des Sonnenaufgangs genießen sollte, doch dann erinnerte ich mich daran, dass ich nicht im Urlaub war. Ich hatte eine ganze Menge Arbeit vor mir – und noch mehr, wenn sich der Stadtrat entschied, meine Herbstfest-Idee umzusetzen.

„Wo ist Martha?“, fragte ich meine Tante, die in der Küche Teller mit Früchten und Plunderteilchen für die Gäste herrichtete. Das machte sonst die Köchin des Mystic Inn.

„Martha? O Liebling, die ist schon vor Jahren verstorben.“

„Was? Das wusste ich gar nicht.“

„Ich habe angerufen. Du bist nicht rangegangen.“ Meine Tante schenkte mir ein mitfühlendes Lächeln und verließ mit einem Teller in jeder Hand die Küche.

Ich nickte und schluckte schwer, doch die Schuldgefühle setzten sich in meinem Hals fest. Weil ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte, nahm ich mir eine Schüssel mit Früchten und einen zweiten Kaffee und ging wieder ins Büro. Ich stellte beides auf dem Schreibtisch ab und zog die Jalousien hoch – zumindest versuchte ich das. In den letzten Jahren hatte meine Tante die Fenster wohl genau so wenig geöffnet wie die Tür.

„Oh, lass mich das für dich machen.“ Tante Thelma zog ihren Zauberstab aus der Tasche und zeigte damit auf das Fenster. „Anoxie“, sagte sie, und das Fenster schob sich von selbst nach oben. Eine leichte Brise wehte herein und der Raum fühlte sich sofort weniger stickig an.

„Wo ist dein Zauberstab?“, fragte sie.

„Mein Zauberstab?“

„Sicherlich trägst du immer noch einen Zauberstab bei dir.“

Ich zuckte mit den Schultern und schüttelte den Kopf.

„Nun, dein alter Stab ist noch oben in deinem Zimmer. In der Schublade des Nachttisches, glaube ich.“ Tante Thelma drehte sich um, hielt dann inne und sagte über die Schulter: „Eine Hexe sollte nie ohne Zauberstab aus dem Haus gehen, Angelica. Das weißt du.“

Das würde zutreffen, wenn ich denn immer noch eine Hexe wäre. Doch ich brachte es nicht über mich, Tante Thelma zu erzählen, dass ich keine mehr sein wollte.