Kapitel eins
Mit lautem Scheppern krachte der Flatscreen-TV, den Benny, der Chef der Handwerker, gerade über dem Kamin installieren wollte, auf den Boden und zersprang in tausend Stücke. Ich zuckte heftig zusammen, sodass mein Kaffee über den Tassenrand auf meine Bluse und meine Sandalen schwappte.
„Hoppla! Tut mir leid“, rief Benny von seiner Leiter.
Tante Thelma winkte ab. „Uns geht’s gut!“, säuselte sie, ehe sie sich mit unschuldigem Blick zu mir herumdrehte.
Eine Mischung aus Glas und schwarzem Plastik bedeckte den Boden. Ich schloss die Augen und atmete tief durch. Die Renovierung des Hotels war ein Albtraum, und ich konnte nicht mal Percy den Poltergeist, der sich hier eingenistet hatte, dafür verantwortlich machen.
Zuerst hatte der Fliesenkleber versagt – ich spürte genau, wie sich die Fliesen unter meinen Füßen bewegten und nur darauf warteten, erneut herausgerissen und ersetzt zu werden. Danach waren die bestellten Möbel irgendwo in Biloxi, Mississippi verloren gegangen – wenn man der Sendungsverfolgung trauen wollte. Und nun funktionierte in den Zimmern im ersten Stock nicht mal eines der Badezimmer. Bennys Handwerker hatten die Duschkabinen und die Toiletten herausgerissen, nur um dann festzustellen, dass sich die neuen Teile im Lieferrückstand befanden.
„Ist er okay da oben?“ Ich warf dem älteren Herren, der auf der obersten Sprosse seiner klapprigen Leiter balancierte, einen Blick zu und betrachtete sein Werk – oder eher Nicht-Werk –, während ich an dem Kaffeefleck auf meiner Bluse herumtupfte. Es war hoffnungslos. Ich musste mich umziehen und den Fleck behandeln, bevor es zu spät wäre. Ein weiterer Punkt auf meiner To-do-Liste. Mein Stresslevel stieg in besorgniserregende Höhen, und wenn ich nicht aufpasste, würde Tante Thelma mich zwingen, einen ihrer Zaubertränke zu mir zu nehmen oder – schlimmer noch – ihren Zauberstab benutzen, um mich zu „heilen“. Ich konnte mir zwar eingestehen, dass ich jetzt eine Hexe war, aber das hieß nicht, dass ich ständig verzaubert werden wollte. Ich erinnerte mich noch zu gut, was mit dem letzten Typen passiert war, den Tante Thelma hatte „heilen“ wollen.
„Oh, ich glaube schon.“ Tante Thelmas Stimme klang viel zu gleichgültig, und sie schaute über die Schulter zum Handwerker.
Ich warf ihm einen skeptischen Blick zu. Das Letzte, was wir brauchten, war, dass sich jemand in unserem Hotel verletzte. Um uns herum wuselten weitere Handwerker, die Regalbretter zurechtsägten und die LEDs der Deckenbeleuchtung einbauten.
Mit gesenkter Stimme sagte ich: „Glaubst du, wir sollten jemand anderen beauftragen?“ Es war nicht das erste Mal, dass ich meine Zweifel äußerte. Ich wusste, dass Benny ein alter Freund meiner Tante war, doch seine Fähigkeiten für Projekt-Management waren quasi nicht vorhanden und das hier war ein großer Auftrag.
„Wie kannst du das sagen? Es ist nicht seine Schuld, dass der Fliesenkleber nicht angesetzt hat. Und ich war schließlich diejenige, die die Möbel bestellte.“
„Und der Fernseher?“ Ich beobachtete, wie einer der Handwerker mit einem großen Besen das TV-Chaos beseitigte.
„Nun, das war ein Unfall. Das findet sich alles, du wirst schon sehen.“
Ich war nicht ansatzweise so optimistisch wie Tante Thelma. Das Herbstfest war Ende der Woche und das Hotel während des Events komplett ausgebucht, doch die Renovierung stand noch weit davon entfernt, abgeschlossen zu sein. Ich nahm erneut die Kaffeetasse in die Hand und warf einen Blick zu meinem Klemmbrett, das auf dem Empfangstresen lag. Den Zeitplan für die Renovierung hatte ich gleich zweimal überarbeiten müssen. Lieferdaten waren mit roter Tinte durchgestrichen, daneben hatte ich mehrere neue Daten notiert.
Für heute stand auf meiner chaotischen Planung eigentlich, dass wir die Lobby dekorieren sollten – mit frischen Blumen, Kunstbildern an der Wand und dem neuen Willkommens-Schild an der Tür. Jetzt könnten wir von Glück sprechen, wenn die Gästezimmer bis zum Wochenende fließendes Wasser hätten.
„Hallo?“, rief die fröhliche Stimme einer Frau in die kahle Lobby.
Ich hob ruckartig den Kopf und mir klappte die Kinnlade herab. Es fiel mir schwer, zu glauben, wer gerade hereingekommen war. Wenn ich mich je wie ein Reh im Scheinwerferlicht gefühlt hatte, dann jetzt. Ich stöhnte innerlich bei meinem miesen Karma, denn nichts anderes konnte das hier sein. Entweder das oder wir waren verflucht worden. Was ich auch nicht ausschließen könnte.
„Sophia? Du liebe Güte, bist du das?“ Tante Thelma stürmte um den Empfangstresen herum, um ihre langjährige Freundin und Silverlakes berühmteste Einwohnerin fest zu umarmen.
Eiskaltes Grauen fuhr in jede Faser meines Körpers. Hätte ich mir den Gast wünschen können, der zu früh eincheckte, wäre es jeder andere gewesen. Sophia Emerson war die perfekte Hausfrau der Hexenwelt. Sie hatte ein ganzes Markenimperium um das Motto ‚Das kann jede Hexe!‘ errichtet, ein Verweis auf jedes ihrer Kochbücher und jede ihrer Heimwerker-Shows. Sophia glaubte, wenn man eine Hexe war, brauchte man nur den richtigen Zauber und eine gesunde Dosis Selbstbewusstsein, um die Welt zu seinem eigenen Spielplatz zu machen. Nun war sie hier und schlenderte durch diese Katastrophe von einem Hotel.
Mein Gesicht wurde vor Scham ganz heiß. Ich überschlug gedanklich, in was für Schwierigkeiten ich mich bringen würde, wenn ich Sophia sofort einfror und mit einem Erinnerungszauber die letzte Minute aus ihrem Gedächtnis löschte, bis ich wusste, was ich mit ihr machen sollte.
Ich verzog das Gesicht, als ich mir vorstellte, wie Deputy Amber Reynolds mich in Handschellen abführte – natürlich mit einem Lächeln auf den Lippen. Ich sah an mir herab, erblickte den Kaffeefleck auf meiner Bluse und mein Gesicht wurde noch heißer, wenn das überhaupt möglich war.
„Was in aller Welt tust du hier?“, fragte Tante Thelma und hielt ihre Freundin eine Armlänge von sich entfernt an den Schultern. „Du bist ein paar Tage zu früh!“ Anders als mein glühendes Gesicht strahlte Tante Thelma vor freudiger Überraschung.
„Es hat sich in letzter Minute eine Lücke in meinem Terminplan ergeben, deshalb bin ich jetzt schon hier. Ich hoffe, das ist okay?“
„Natürlich! Es ist nur so: Das Hotel ist noch nicht so ganz bereit für Besucher. Aber ich bin sicher, dass Angelica eine Lösung hat. Du erinnerst dich an meine Nichte?“
„Hi, Sophia, freut mich, dich wiederzusehen.“ Ich reichte ihr die Hand.
Sophia ergriff sie fest und schüttelte sie heftig. „Ich hätte anrufen sollen“, sagte sie entschuldigend, „doch Arthur hat darauf bestanden, dass wir euch überraschen.“
„Arthur ist hier?“ Tante Thelma schaute an Sophia vorbei und hielt nach deren Ehemann Ausschau.
„Na ja, gerade noch nicht. Er spielt Golf mit Mike. Aber er wird zum Abendessen zu uns stoßen.“ Sophia zögerte und sah sich in der Lobby um. „Ich meine … wenn das in Ordnung ist.“ Zum ersten Mal, seit sie ins Hotel getreten war, schien sie daran zu zweifeln. Nun, eine Katastrophe dieses Ausmaßes mit eigenen Augen zu sehen, konnte einen schon sehr verwirren.
„Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht“, erwiderte Tante Thelma pikiert. Ich widersprach meiner Tante mit einem scharfen Blick. „Die Terrasse ist so einladend wie immer und wir können etwas vom Simmering Spoon bestellen“, fuhr Tante Thelma fort und ignorierte meine offensichtlichen Bedenken. Das tat sie in letzter Zeit sehr häufig.
Sophias Augen glitzerten begeistert. „Haben sie noch immer diese Muscheln auf ihrer Karte? Du weißt, wovon ich spreche.“
„Die in der Weinsauce mit dem knusprigen Brot?“, ergänzte Tante Thelma.
„Genau die!“ Sophia klatschte in die Hände.
„Sie haben das Rezept nicht geändert, seit du es vor dreißig Jahren geschrieben hast“, bemerkte Tante Thelma.
„Ach, sei still! Ist es wirklich schon so lange her?“ Sophia schien im Kopf die Jahre zu überschlagen. „Oh, du hast tatsächlich noch abgerundet“, sagte sie dann lachend.
Das Kreischen einer Kreissäge zerriss die Luft und ich dankte den Sternen, dass ich meine Kaffeetasse abgestellt hatte, sonst hätte ich wohl auch noch den restlichen Inhalt über meine Bluse gekippt.
„Pass auf, wo du schneidest!“, rief Benny dem Handwerker zu. „Ich habe gesagt, achtunddreißig Zentimeter, nicht dreißig! Also pass auf!“
Sophia verzog das Gesicht. „Ich kann woanders unterkommen“, sagte sie, sobald die Säge wieder stillstand. „Wirklich, das ist kein Problem.“
„Ach, Unsinn. Wir überlegen uns was. Richtig, Angelica?“
Jetzt war ich es also, die sich den Kopf zerbrechen musste. „Wir haben keine Suiten, aber zwei Zimmer nebeneinander den Flur hinunter. Wäre das in Ordnung? Sie haben Blick auf den See, eine kleine Terrasse davor, und sind von außen begehbar.“ Ich konnte die Skepsis in meiner Stimme nicht verbergen. Sophia war das Beste vom Besten gewöhnt. Penthouse-Suiten mit persönlichem Butler, keine Gästezimmer, die zu Lagerräumen umfunktioniert worden waren. Ich wünschte, das wäre übertrieben, doch es war leider Tatsache. In den meisten Räumen im Erdgeschoss stapelten sich Kartons voller neuer Tagesdecken, Gardinen und Handtücher, die darauf warteten, ausgepackt zu werden, sobald die Zimmer bereit waren.
„Das ist schon in Ordnung, wirklich.“ Sophias Stimme klang irgendwie hohl. Vielleicht war es die Tatsache, dass ihr Leinen-Kostüm trotz Flug quer durchs Land nicht eine Falte hatte. Vielleicht lag es auch an ihren Designer-Schuhen, aber ich kaufte ihr die Aussage nicht ab.
Dennoch spielte ich mit. „Ich werde ein bisschen Zeit brauchen, um die Zimmer fertigzumachen.“ Und ein bisschen Hilfe. Ich fragte mich, wie schwierig es wäre, die Kartons nach oben in mein Apartment zu beschwören – und wo ich sie da verstauen würde.
„Keine Sorge, ich kenne genau den richtigen Spruch“, sagte Tante Thelma leise, als Sophia von den Handwerkern abgelenkt war.
„Der Raum hat eine gute Bausubstanz. Mit den hohen Decken und dem Kamin kann ich mir gut vorstellen, warum ihr den Fernseher dorthin hängen wolltet.“ Sophia schaute sich in der Lobby um, während Benny erneut die TV-Halterung anbrachte.
„Danke“, sagte ich, „das habe ich mir auch gedacht.“ Vorher hatte der alte Röhrenfernseher vor den beiden Sofas der Lobby gestanden, doch durch die neuen Fliesen rund um den Kamin und den breiten Kaminsims, hatte ich mir gedacht, dass den Fernseher so aufzuhängen den Raum größer wirken ließ.
„Doch wenn ich mich nicht irre, ist das Kalkstein.“ Sophia deutete auf die Steinwand über dem Kamin. „Viel Glück dabei, den Fernseher dort festzumachen. Das wird wohl nicht funktionieren. Auf jeden Fall nicht ohne ein bisschen Magie und die richtigen Dübel.“
„Ist das so?“, fragte Tante Thelma mit gehobenen Augenbrauen.
„Ich werde mit Benny sprechen.“ Ich entschuldigte mich, um zu ihm hinüberzugehen und den beiden Frauen die Möglichkeit zu geben, sich ungestört gegenseitig auf den neuesten Stand zu bringen. Ich verwettete meine rechte Hand darauf, dass Benny weder die richtigen Dübel noch Magie verwendet hatte, und wollte weiteren Missgeschicken vorbeugen – wenn das überhaupt möglich war.
„Wenn du Hilfe möchtest, bin ich gern für dich da. Wir könnten es sogar filmen!“, rief Sophia mir nach.
Ich drehte mich zu ihr um.
Tante Thelmas Augen leuchteten auf.
Sophia rieb wie geistesabwesend Daumen und Zeigefinger gegeneinander – die Geste für Geld –, während sie den Raum in ihrem Kopf schon neu zu gestalten schien.
„Ich denke, wir werden passen müssen“, erwiderte ich behutsam.
„Was? Warum?“ Tante Thelma schnaubte. „Ich halte das für eine großartige Idee.“
„Ich weiß nicht. Wir haben nicht viel Zeit und das Letzte, was wir brauchen, sind noch mehr Leute hier. Es ist auch so schon chaotisch genug.“ Ich sprang zurück, als Percy direkt vor mir entlangschwebte, und rutschte prompt auf einer losen Fliese aus. Glücklicherweise gelang es mir im letzten Moment, das Gleichgewicht wiederzuerlangen.
„Wäre das nicht eine wunderbare Werbemaßnahme?“, fragte Tante Thelma und zog das letzte Wort in die Länge. „Du liegst mir immer damit in den Ohren, dass wir die Werbetrommel rühren sollen.“
„Das wäre es, wenn wir es vernünftig geplant hätten, aber das haben wir nicht. Vielleicht das nächste Mal?“
Ich konnte sehen, dass Tante Thelma weiter diskutieren wollte, aber das hier war nicht der richtige Moment dafür. Nicht vor Sophia.
„Können wir später darüber reden? Ich will mit Benny über die Befestigung des Fernsehers sprechen.“ Ich wandte mich ab, noch bevor meine Tante antworten konnte.
„Ach, hör nicht auf Angelica. Sie hat wegen dieser Renovierung einen Knoten im Zauberstab. Wir überreden sie heute Abend“, sagte Tante Thelma. Sie versuchte nicht mal, zu verbergen, dass sie sich mit Sophia gegen mich verschwor.
Ich schloss die Augen und atmete tief durch. Später, wenn wir unter uns waren, würde ich ihr erklären, warum ich dachte, dass Sophias Vorschlag eine schlechte Idee war. Du öffnest dein Geschäft nicht einfach für eine TV-Produktionsfirma. So, wie das Mystic Inn gerade aussah, würden sie uns als die inkompetentesten Hexen darstellen, die außerhalb von Salem zu finden waren – und es genau so im Fernsehen ausstrahlen. Der Gedanke an die Demütigung ließ mich erschauern.
Als ich die Augen wieder öffnete, fiel mein Blick auf den Handwerker. Richtig, die Dübel. Ich straffte die Schultern, setzte einen entschlossenen Blick auf und ging zu ihm hinüber.
Ich kam genau zwei Schritte weit, als etwas von der Decke fiel und nur knapp meinen Kopf verfehlte. Instinktiv sprang ich zurück. Dieses Mal hatte ich jedoch nicht so viel Glück: Meine Hände schossen nach oben, um meinen Kopf zu bedecken, als plötzlich eine Fliese unter meinem Fuß wegrutschte und ich schmerzhaft auf dem Hintern landete. Zur gleichen Zeit zersprang Glas, direkt vor mir.
„Was zum Teufel?“, rief Sophia aus.
Ich schaute zur vertieften Einfassung an der Decke, in der noch sich eben noch eine LED-Leuchte befunden hatte, deren Reste jetzt direkt vor mir lagen.
Tante Thelma eilte an meine Seite und half mir auf. „Bist du in Ordnung, Liebes?“
Ich zuckte zusammen. Das würde ein hübscher blauer Fleck auf meinem Hintern werden, aber das war auch alles.
„Und du hattest gedacht, ich richte Chaos an“, sagte Percy und schwebte kichernd durch die Lobby. Er hatte recht. Ich würde einen Poltergeist jederzeit diesem Durcheinander vorziehen.
„Wer hat die LED-Leuchten nicht festgeschraubt?“, brüllte Benny von seiner Leiter.
„Ich sehe schon, ihr seid sehr beschäftigt hier. Wie wäre es, wenn ich in die Stadt gehe, um einigen Leuten Hallo zu sagen, und dann in ein paar Stunden wiederkomme?“ Sophia zog sich langsam zurück, sowohl aus dem Hotel als auch von ihrem Angebot, uns zu helfen.
„Das wäre wunderbar“, sagte Tante Thelma strahlend, als wäre bis dahin alles in Ordnung. Da war ich mir nicht so sicher.
„Bis später dann!“ Sophia verschwand aus der Tür, so schnell sie mit ihren hohen Hacken laufen konnte.
„Was machen wir jetzt?“, fragte ich und stöhnte, sobald ich sicher sein konnte, dass Sophia außer Hörweite war.
„Keine Panik. Ich habe alles unter Kontrolle.“
Ich warf meiner Tante einen Seitenblick zu. Ihre Vorstellung von ‚unter Kontrolle‘ unterschied sich erheblich von meiner.
„Jetzt schau mich nicht so an. Das steht dir nicht. Nun, zu allererst müssen wir diese Kisten schrumpfen. Dann können wir sie in Nullkommanichts nach oben bringen.“ Tante Thelma unterstrich ihre Worte mit einem Fingerschnippen. „Anschließend aktiviere ich ein paar Zauber und – schwupps, fertig! Das wird so leicht, wie einem Kind den Lolli zu mopsen.“
„Wenn das Kind ein dreihundert Pfund schwerer Stressdämon ist, der auf deiner Brust hockt, sicher nicht.“ Ich seufzte. Irgendwie hatte ich ein schlechtes Gefühl bei der Sache.
Tante Thelma ignorierte mich – erneut. „So, wo ist jetzt mein Zauberstab?“
„Hast du in der Keksdose nachgesehen?“
Tante Thelma schaute mich an, als wäre allein der Gedanke absurd. „Er ist bestimmt nicht in der Keksdose.“
„Es würde mich nicht wundern.“ Mehr als einmal hatte ich den Zauberstab schon an eigenartigen Orten gefunden – im Kühlschrank, in der Teekanne und sogar in der Mikrowelle.
„Obwohl …“, sagte Tante Thelma dann langsam. „Du könntest vielleicht recht haben. Und wenn nicht, kann ich mir einen Keks schnappen, während ich nachsehe. Hast du Dianes Doppelschokokekse schon probiert? Die sind zum Niederknien!“
Diane gehörte die Bäckerei La Luna und ihre Leckereien waren himmlisch. Zum ersten Mal an diesem Morgen waren meine Tante und ich einer Meinung.
Kapitel zwei
Ich musste mir eingestehen, die Kartons zu schrumpfen, war eine geniale Idee. Wir brauchten nur zwei Einkaufstüten, um die Schachteln hoch in mein Zimmer zu tragen – um das Zehnfache verkleinert waren sie nun kaum größer als meine Faust. Ich stellte die Tüten auf meinem Bett ab. Dabei fiel mein Blick auf mein Spiegelbild. Stressfalten zerfurchten meine Stirn und unter meinen Augen waren dunkle Ringe. Tante Thelma hatte recht, das war wirklich nicht attraktiv. Mit den Fingerspitzen versuchte ich die Falten glattzustreichen, und nahm mir vor, heute Abend früh ins Bett zu gehen.
Da klingelte das Handy in meiner Hosentasche und riss mich aus meiner Selbstbetrachtung.
Wo bist du?
Die Nachricht war von Diane, die genau wie ich ein Mitglied des Herbstfest-Planungskomitees war.
„Ah! Das Planungstreffen!“ Ich hatte es komplett vergessen. So viel zum Ausruhen. Die Stressfalten türmten sich prompt wieder auf. Ich machte auf dem Absatz kehrt, eilte die Treppe hinab zu Tante Thelma und deren Bibbidi-Bobbidi-Boo in den Gästezimmern.
„Mit welchem Zauber könnte ich das nur richten?“, fragte Tante Thelma sich gerade, während sie die Blumentapete mit den riesigen Blüten anstarrte. In der einen Hand hielt sie einen Zauberstab, in der anderen einen Keks.
„Tante Thelma …“
„Dein Treffen. Ja, ist mir auch gerade eingefallen. Geh nur. Keine Sorge, ich habe alles unter Kontrolle.“
„Sicher?“
Tante Thelma warf mir einen scharfen Blick zu. „Liebling, ich bitte dich!“
„Wie du meinst.“ Was Zaubereien anging, war sie die fähigere Hexe. Ich drückte liebevoll ihren Arm, als ich an ihr vorbeiging.
Normalerweise hätte ich den Enchanted Trail rund um den See genommen, um zu meinem Treffen am Village Square zu gelangen – das kleine Einkaufsviertel war damit nur einen etwa fünfzehnminütigen Fußweg entfernt. Doch heute hatte ich keine Zeit dafür.
Ich schnappte mir Tante Thelmas Autoschlüssel aus dem Büro, rief ihr über den Lärm der Handwerker hinweg zu, dass ich mir ihren Wagen leihen würde, und ging hinaus. Die Klänge der Natur waren eine willkommene Abwechslung und der Unterschied der Lautstärke enorm. Für einen Moment dachte ich, dass das Sirren der Kreissäge noch immer in meinen Ohren nachhallte, ehe ich begriff, dass es die Melodie der Insekten war, die das Naturorchester ergänzten. Das zog ich dem Desaster im Mystic Inn eindeutig vor. Ich beschloss, dass es eine gute Idee war, etwas rauszukommen, wenn auch nur für ein kurzes Treffen.
Es war ein kurzer Weg um die Kurve und über den Fluss zum Parkplatz des Village Squares. Gepflasterte Wege verbanden die märchenhaften Lädchen. Wenn man Glück hatte, fand man einen Parkplatz direkt bei der Ladenfront. Wenn nicht, musste man seinen Wagen auf einer der Parkflächen seitlich des Squares abstellen und zu Fuß zu den Läden laufen.
Ich hatte natürlich kein Glück, aber heute überraschte mich sowieso nichts mehr. Während ich kreisend nach einem freien Parkplatz suchte, schaute ich zum Wishing Well Park hinüber, um zu sehen, wie weit die Vorbereitungen für das Herbstfest waren. Die weite, satte Grünfläche mit dem in der Mitte aufragenden Brunnen war der perfekte Ort für das Fest. Die Besitzer der örtlichen Läden hatten ordentlich mitgeholfen, um es auf die Beine zu stellen, und einiges für die Bühne gespendet, die Mr. McCormick, Stadtratsmitglied und Besitzer des Gewächshauses, gerade aufbaute. Die Verkaufsstände befanden sich in unterschiedlichen Stadien des Aufbaus, ihre Markisen leuchteten als rot-weiß gestreifte Farbklekse im Grün des Parks. Sobald sich die Nachricht verbreitet hatte, dass hier ein Fest stattfinden sollte, waren Dutzende Hexen und Hexer nach Silverlake geströmt, um ebenfalls teilzunehmen. Weiteren Verkäufern Plätze zuzuweisen, hatte sich als kluge Entscheidung herausgestellt, denn es steigerte die Umsätze, die die Stadt dringend benötigte. Das war schließlich überhaupt erst die Inspiration für die Veranstaltung des Herbstfestes gewesen.
Ich winkte Connie zu, der Besitzerin des Trankladens Mix it Up!. Sie schob gerade eine Sackkarre voller transparenter Einkaufstaschen mit Glasfläschchen über den Village Square. Die Flüssigkeiten in den Fläschchen erstrahlten in schillerndem Blau, glitzerndem Grün und lebhaftem Rot. Ich vermutete, dass auch sie in den Park wollte, um ihren Stand aufzubauen.
Es war Connies Idee gewesen, einen zentralen Marktplatz einzurichten, auf dem man kleinere Pröbchen der Waren aus den Läden rund um den Wishing Well Park kaufen konnte. Wenn die Leute dann Gefallen an den Waren fanden, konnten sie im Einkaufsviertel mehr davon kaufen. Dann hatten sich auch Verkäufer von außerhalb gemeldet und angefragt, ob sie ebenfalls Stände aufstellen dürften, und der Stadtrat – oder zumindest die Mehrheit davon – hatte zugestimmt. Und hier waren wir nun in einem prall füllten Park, der auf neugierige Touristen wartete.
Schlussendlich dauerte es genau so lange, einen Parkplatz zu finden und zum Café zu laufen, wie zu Fuß den Enchanted Trail runterzutrotten. Okay, das würde ich mir fürs nächste Mal merken.
„Tut mir leid, dass ich spät dran bin“, sagte ich, sobald ich mich zu den anderen Komitee-Mitgliedern an den Tisch im Café setzte. Der Profi in mir hasste es, nicht pünktlich zu sein.
Wie auf ein geheimes Zeichen erschien Heather, meine ehemalige Schwiegermutter in spe und Besitzerin des Cafés. Sie stellte ein großes Glas und eine Karaffe Pfirsich-Eistee vor mir ab.
„Keine Sorge“, sagte Diane, „wir haben noch gar nicht angefangen.“
„Haben gerade erst Mittagessen bestellt“, fügte Roger hinzu. Ihm gehörte der Blumenladen und er war Dianes Freund.
„Das Übliche?“, fragte Heather und goss mir ein.
„Ich schätze, ich könnte wirklich etwas vertragen.“ Es war unmöglich, Heathers Monte Cristo zu widerstehen. Ich hatte keine Ahnung, was ihr Geheimnis war, aber irgendetwas an dem Sandwich – eine Kombination aus geröstetem Brot, geschmolzenem Käse, Honigschinken und Puderzucker, serviert mit Himbeermarmelade – sprach direkt zu meiner Seele. Und zu meinen Hüften. Vielleicht hatte ich in letzter Zeit etwas zu viel der fettigen, frittierten Herrlichkeit vernascht. Ich müsste mal wieder etwas Zeit für meine Sportroutine einplanen, der ich in Chicago fast schon religiös gehuldigt hatte. Wenn ich auf einer langweiligen Tretmühle in meinem Apartment laufen konnte, könnte ich mit Sicherheit auch hin und wieder über den Enchanted Trail huschen. Sowohl für meine körperliche als auch meine geistige Gesundheit musste ich wieder fit werden.
„Wie geht es mit dem Hotel voran?“, fragte Clemmie. Sie war die beste Freundin meiner Tante und ebenfalls ein Mitglied des Komitees. Ihr gehörte die Teestube um die Ecke und in Kombination mit meiner Tante war sie das reinste Chaos.
„Frag bloß nicht“, erwiderte ich und trank einen großen Schluck. „Sophia Emerson hat gerade eingecheckt.“
„Das ist furchtbares Pech“, kommentierte Roger.
Ich nickte. „Das kannst du laut sagen.“
„Ich hab sie nie gemocht“, gestand Clemmie. „Sie ist furchtbar verlogen.“
„Das sehe ich genauso“, stimmte Diane zu.
„Lasst das bloß nicht Tante Thelma hören.“ Ich nahm einen Strohhalm und befreite ihn von seiner Papierverpackung. „Sie hat noch nie schlecht über Sophia gesprochen. Sie verehrt sie viel zu sehr.“
„Thelma ist dem Bann dieser Frau schon vor Jahrzehnten erlegen“, sagte Clemmie kopfschüttelnd. „Schon in der Highschool. Ich war echt froh, als Sophia dann weggezogen ist, aber Thelma hat tagelang geschmollt. Du glaubst, das ist ein Scherz? Ist es nicht. Ich bin immer noch überzeugt, dass Sophia sie ein paarmal verzaubert hat.“
„Das bezweifle ich keine Sekunde“, stimmte Diane zu. „Als Sophia mein Kürbiskuchenrezept gestohlen hat, wollte Thelma kein Wort davon hören. Sie sagte, es müsste wohl Zufall sein, doch es war Wort für Wort mein Rezept. Mitsamt der geheimen Zutat!“ Allein dieser Gedanke schien zu reichen, dass Diane vor Empörung puterrot anlief.
„Sie hat dein Rezept gestohlen?“, fragte ich.
Diane trommelte mit ihrem Fingernagel auf die Tischplatte. „Band eins der ,Küchenhexe‘, Seite sechs.“
„Das ist ja furchtbar. Es tut mir so leid!“ Ich konnte nicht glauben, dass Sophia so hartherzig war.
„Ist ja nicht deine Schuld. Aber apropos Entschuldigung, ich habe noch nie eine dafür bekommen“, grummelte Diane.
Clemmie wechselte schnell das Thema. „Sag Thelma, sobald ich den Laden zumache, bin ich innerhalb von zwei Besenschwüngen bei ihr. Mögen die Sterne uns davor bewahren, dass Sophia irgendetwas tun will, um ihr zu helfen.“
Ich überlegte einen Moment, den anderen von Sophias Angebot zu erzählen, eine Episode ihrer Show in unserem Hotel zu drehen, entschied mich dann aber dagegen. Unsere Unterhaltung war schon viel zu weit abgedriftet, ganz zu schweigen davon, dass das Treffen sowieso zu spät begonnen hatte. Mit vollgestopften Terminplänen und den Geschäften, die wir führen mussten, sollten wir wohl langsam mit der Arbeit anfangen. Dennoch erzählte ich Clemmie, dass sie das mit dem Besuch vielleicht überdenken sollte, weil Sophia und Arthur zum Abendessen da wären.
„Nun, sag ihr trotzdem, dass sie mich anrufen soll“, beharrte Clemmie. „Ich komme vorbei, wenn sie mich braucht.“
„Mache ich.“
Doch sich der Arbeit zu widmen, war einfacher gesagt als getan. Clemmie und Diane beschwerten sich immer noch über Sophia, als Vance, mein Exfreund, ins Café kam. Er blieb kurz bei seiner Mutter stehen, um sie auf die Wange zu küssen, winkte unserem kleinen Grüppchen zu und setzte sich dann an den Tresen, um Mittagessen zu bestellen.
„Du bist knallrot.“ Ich drehte mich zu meiner Freundin Misty um, die gerade hereingekommen war und sich zu uns an den Tisch setzte. Offensichtlich war nicht nur ich zu spät.
„Bin ich gar nicht“, schoss ich kindisch zurück, auch wenn ich die Hitze spürte, die in meine Wangen gestiegen war. Vance und ich hatten eine gemeinsame Geschichte – und was für eine! Doch ich war entschlossen, im Hier und Jetzt zu bleiben. Wir waren Freunde. Nicht mehr, nicht weniger. Und dabei würde es bleiben.
„Jetzt, wo wir alle hier sind, wollen wir anfangen?“, fragte Diane.
„Ja, gerne“, erwiderte ich. „Wie sieht es mit den Genehmigungen aus? Roger, ist da alles in trockenen Tüchern?“
„Schon, aber Bürgermeisterin Miesepetra ist überhaupt nicht glücklich darüber“, entgegnete er schmunzelnd.
Clemmie schnaubte. „Bürgermeisterin Parrish kann sich ihre Miesepetrigkeit sonst wohin schieben. Sie und der Rest des Stadtrats haben in den letzten Jahren keinen Finger krumm gemacht, um uns zu helfen.“
„Predige es, Schwester“, sagte Misty, nahm sich eine Sesamstange aus dem Korb mitten auf dem Tisch und brach sie durch.
„Wenn man vom Teufel spricht“, murmelte Diane und schaute über meine Schulter. Ich drehte mich gerade um, als Bürgermeisterin Parrish ins Café kam. Sie trug ein marineblaues Etuikleid mit passenden Pumps und ausreichend Goldschmuck, dass sie strahlte wie ein Weihnachtsbaum. Sie hatte Glück, dass sie so durch Silverlake marschierte und nicht durch die Straßen Chicagos. Dieser Versuchung könnte kein Räuber widerstehen.
„Wenn das nicht die Muppet-Show ist. Was für einen Unsinn braut ihr heute zusammen? Ein Schweinerennen für eure Scheunenparty?“ Die Bürgermeisterin kicherte über ihren eigenen Witz.
„Gar keine schlechte Idee“, schoss Roger zurück.
Sie schnaubte und fauchte dann: „Wagt es ja nicht! Das ist genau das, was die in Harrisville tun würden.“ Harrisville war eine nahegelegene Stadt, deren Tourismus nicht ansatzweise so gelitten hatte wie unserer. Auch wenn die Stadt nicht verzaubert war, so wusste deren Bürgermeister, ein Hexer, genau, wie er seine Magie einsetzen musste. „Ihr mögt den Stadtrat davon überzeugt haben, eurem kleinen Fest zuzustimmen, aber ich bin immer noch die Bürgermeisterin“, sagte sie und tippte sich mit einem Finger aufs Brustbein.
„Wie könnten wir das je vergessen?“ Mistys Tonfall war ein klein wenig zu süßlich. Sie und Bürgermeisterin Parrish lieferten sich ein Blickduell und keine von beiden gab nach.
„Ihr Latte, Madame Bürgermeisterin“, unterbrach Heather das Duell und überreichte den To-go-Becher. Es war offensichtlich, dass Heather die Bürgermeisterin schleunigst aus ihrem Café haben wollte.
„Oh, wie lieb von Ihnen, danke.“ Bürgermeisterin Parrish nahm den Kaffee von Heather entgegen. „Ich hoffe, er ist genau so, wie ich ihn mag?“
„Ein großer, gekühlter, zuckerfreier Vanille-Latte mit Mandelmilch“, ratterte Heather herunter.
„Stimmt.“ Mit einem recht süffisanten Gesichtsausdruck drehte die Bürgermeisterin sich um und verließ das Café.
„Die Frau ist eine Nervensäge“, sagte ich und blickte ihr nach.
„Sie ist noch ganz was anderes“, erwiderte Clemmie.
Diane neigte den Kopf. „Ehrlich, man könnte meinen, sie wäre froh, dass wir einen Plan ausgearbeitet haben, um die Stadt zu retten.“
„Oh, das wäre sie, wenn es ihre Idee gewesen wäre“, sagte Roger.
„Und wenn der Plan etwas luxuriöser wäre“, fügte Diane hinzu. Es war ein offenes Geheimnis, dass Bürgermeisterin Parrish die schönen Dinge des Lebens bevorzugte.
Am Ende des Treffens war unsere To-do-Liste beträchtlich länger geworden. Roger musste noch Verkäufer anrufen, die sich in letzter Minute gemeldet hatten, um ihnen zu sagen, dass sie teilnehmen könnten und nur noch die Papiere unterschreiben müssten.
Diane war für den Backwettbewerb verantwortlich. Bäcker konnten alle möglichen Herbstrezepte einreichen, was für großen Andrang sorgte. Ich hatte Diane, Sophia und Bürgermeisterin Parrish als Jury aufgestellt, in der Hoffnung, das könnte Letztere für die Idee begeistern, doch offensichtlich hatte ich mich da geirrt.
Clemmie und Misty waren das offizielle Empfangskomitee – sie hakten die eintreffenden Händler von der Liste ab, sorgten dafür, dass sie ihre Stände an der richtigen Stelle aufbauten, und standen für sämtliche Rückfragen bereit.
Roger hatte mir den Spitznamen ‚Fire Chief‘ verpasst. Nicht, dass Silverlake nicht schon einen Fire Chief hätte. Nein, mein Job war es, herumzulaufen und auf dem Herbstfest die metaphorischen Brände zu löschen – wie beispielsweise einen Ersatz-Traktor für die Heuwagenfahrt zu organisieren, nachdem der von Mr. McCormick den Geist aufgegeben hatte. Außerdem musste ich Aushilfen für die Gesichtsbemalung finden, nachdem die Cheerleader-Pyramide zusammengebrochen war und mehr als ein Teammitglied nun verstauchte Handgelenke hatte.
„Ich glaube, wir müssen uns morgen einen anderen Treffpunkt suchen“, sagte ich, als ich mich nach dem Essen zurücklehnte. Meine Hose spannte unangenehm über dem Bauch.
„Meinetwegen“, erwiderte Misty, die offensichtlich keine Figurprobleme hatte. Um ehrlich zu sein, war meine Freundin beeindruckend muskulös. Garantiert trainierte das Mädchen fleißig.
„Wie wäre es mit meinem Laden?“, schlug Clemmie vor. „Ich probiere schon viel zu lange an diesem Kürbis-Tee-Rezept herum. Ich brauche mal eine andere Meinung.“ Sie schüttelte den Kopf, als könnte sie nicht glauben, dass ausgerechnet Tee ihr solche Probleme bereitete. So wie ich Clemmie kannte, war die Mischung wahrscheinlich jetzt schon perfekt.
„Zur gleichen Zeit?“, fragte Roger über den Rand seiner Lesebrille hinweg. Er trug sie nur selten. Nämlich dann, wenn er sie brauchte, um wie jetzt die Rechnung zu studieren.
„Wenn alle anderen damit einverstanden sind?“ Ich schaute in die Runde und die drei Damen nickten. „Prima, dann sehen wir uns morgen.“
Kapitel drei
Nach dem Essen und Ende des Treffens machten wir uns bereit, das Café zu verlassen. Unsere Stühle scharrten beim Aufstehen über den Hartholzboden. Diane beugte sich vor, stapelte die Teller und sammelte das Besteck zusammen, um Heather zur Hand zu gehen und den Job des Abräumers etwas zu erleichtern. Ich folgte ihrem Beispiel und sammelte Servietten und Strohhalmhüllen ein. Wie immer war das Café zur Mittagszeit rappelvoll, und Heather konnte jede Hilfe gebrauchen.
„Danke euch!“, rief sie uns von hinter dem Tresen zu, als wir das Café verließen.
„Bist du in Ordnung?“, fragte Misty, als nur noch wir beide vor dem Café standen. „Du siehst schlimm aus.“ Immerhin hatte sie mit der unverblümten Wahrheit gewartet, bis die anderen weg waren.
Ich winkte Diane und Roger noch einmal zu, die schon halb die Straße hinab zu Rogers Blumenladen gegangen waren, und drehte mich dann zu Misty um.
Sie musterte eindringlich mein Gesicht. „Was ist los?“
„Es ist gar nichts.“
„Dann heiße ich nicht Merryweather mit zweitem Vornamen.“
„Du heißt Merryweather mit zweitem Vornamen?“
„Nach meiner Patentante. Das wusstest du aber. Mein Punkt ist, dass du total gestresst bist. Was ist los?“
„Das Gleiche, was die ganze Woche schon los ist. Im Hotel herrscht das reinste Chaos und ich glaube wirklich nicht, dass wir bis Freitag fertig werden.“
„So schlimm kann es doch gar nicht sein“, sagte Misty, wohl um meine Sorgenfalten zu glätten. Doch sie war schon einige Wochen nicht mehr da gewesen und seitdem hatten wir alles auseinandergenommen.
Ich warf ihr einen bedeutungsvollen Blick zu. „Der einzige Zweck dieses Herbstfestes ist, das Geschäft in Silverlake anzukurbeln und wieder in aller Munde zu sein, doch jetzt steht alles auf der Kippe. Ich hätte mich nicht auf den Zeitplan meiner Tante einlassen sollen, der ist viel zu knapp.“
„Wenn ich mich recht entsinne, hattest du nicht viel Mitspracherecht.“
Ich erinnerte mich an jene schicksalsträchtige Ratssitzung vor nicht allzu langer Zeit, als nicht nur der Stadtrat dem Fest zugestimmt, sondern am Ende Lyle Peters tot am Boden gelegen hatte. Ein eiskalter Schauer lief meinen Rücken hinab.
Misty hatte dennoch recht. Die Ladenbesitzer wollten nicht warten, sie brauchten Touristen in der Stadt, und das schnell.
„Ich weiß, du hast ja recht. Trotzdem.“
„Du fühlst dich verantwortlich.“
„Tue ich.“ Sowohl das Fest als auch die Renovierung waren meine Ideen gewesen. Der Zeitplan hingegen nicht.
„Was sagt Thelma dazu?“
„Du kennst sie doch.“ Ich verstellte meine Stimme für meine beste Thelma-Nightingale-Imitation: „Alles ist super! Es wird großartig.“
„Vielleicht wird es das ja.“
„Vielleicht auch nicht. Wir sprechen hier von der Frau, wegen der das Hotel überhaupt erst in diesem Zustand ist.“
„Gutes Argument. Was machst du jetzt?“
„Keine Ahnung. Ich bin mittlerweile bei Plan J.“ In meinem alten Job hätte ich niemals einer so ausgiebigen Renovierung direkt vor einem großen Event zugestimmt. Mehr als alles andere war ich genervt von mir selbst, weil ich zugelassen hatte, dass Tante Thelma mich beschwatzte. Sie mochte die Hotelbesitzerin sein, doch ich war für das Management verantwortlich. Ich hätte es besser wissen sollen.
„Weißt du, was du jetzt brauchst?“, fragte Misty.
„Einen neuen Handwerker?“ Meine Stimme klang hoffnungsvoll.
„Wahrscheinlich schon, aber das wollte ich nicht sagen.“
„Du meinst jetzt nicht ein Date.“
„Auch wahr, aber nein – habe ich dir eigentlich erzählt, dass Peter mich auf ein Date eingeladen hat?“
„Hat er? Das freut mich für dich!“ Peter gehörte Sticks, der Zauberstabladen, und Misty himmelte ihn schon eine Weile lang von Weitem an.
„Jap, ist mir zuvorgekommen. Ich habe ihn gestern beim Joggen auf dem Wanderweg getroffen. Er hat mich eingeladen, mit ihm zum Herbstfest zu gehen.“ Misty biss sich auf die Unterlippe, offensichtlich sehr zufrieden.
„Wirst du etwa rot?“, scherzte ich, ein wenig Rache für vorhin.
Misty schlug mir gegen den Arm. „Nein. Aber es ist nett, zu wissen, dass er auf mich steht. Aber auch das wollte ich nicht sagen. Ich wollte sagen, dass du unbedingt mit mir joggen gehen solltest.“
Ich atmete erleichtert aus. Das war etwas, dem ich zustimmen konnte. Hatte ich nicht selbst schon darüber nachgedacht, dass ich wieder trainieren musste? Und wie muskulös Misty aussah? „Ich wollte dir sagen, dass du wirklich toll aussiehst. Das ist mir beim Mittag schon aufgefallen.“
„O ja?“ Misty stellte sich seitlich, stemmte die Hände in die Hüfte, rollte die Schultern nach hinten und präsentierte belustigt ihre schlanke Figur.
„Du bist albern.“
„Ich weiß. Aber darum magst du mich ja so. Also, was sagst du? Morgen früh um acht?“ Wir hatten mittlerweile ihren Buchladen erreicht. „Dann joggen wir über den Enchanted Trail.“
„Klingt gut. Wir sehen uns dann morgen.“
„Super.“ Misty drehte sich um, ging zum Buchladen und rief über die Schulter: „Bis dann!“
Ich wollte mich ebenfalls gerade verabschieden, als mir etwas einfiel. „Hey, warte, hast du eigentlich irgendwelche Heimwerker-Bücher da?“
„Natürlich. Ich habe sogar alle von Sophia auf Lager.“
„Oh, welch Ironie des Schicksals.“ Ich schüttelte den Kopf. So gern ich die Renovierung auch auf althergebrachte Weise erledigt hätte, war ich nicht naiv genug, zu glauben, dass wir es ohne Magie noch schaffen könnten. Ich wusste nur nicht, wo ich anfangen sollte.
Misty hielt mir die Tür auf. „Komm schon rein.“
Es gibt ein paar Orte, an denen man sich einfach wohlfühlt. Ein Ort, der dich zum Lächeln bringt, sobald du ihn betrittst, egal wie mies es dir vorher geht. Genau so ein Laden war Spellbinding Books für mich. Als ich noch ein Kind war, hatte mich Tante Thelma samstagmorgens für Kekse und die Vorlesestunde hergebracht. Jetzt kam ich samstagsmorgens mit einem Latte, um mit Misty zu schwatzen.
Der Buchladen war geformt wie ein Kuchenstück – vorn schmal und hinten breit und geschwungen –, und natürlich hatte ich eine Lieblings-Leseecke: Es war der Sessel direkt unter einem der beiden großen Fabrikfenster, die die Hintertür flankierten. Wenn ich nicht so viel zu tun gehabt hätte, wäre ich sofort mit einem Buch in den weichen Polstern versunken. Vielleicht nächstes Wochenende, dachte ich sehnsüchtig.
„Connie soll ihre Sachen oben aufbauen, richtig?“, fragte Vicki Love, Mistys Mitarbeiterin, als wir eintraten. Neben ihr stand Connie, die den Trankladen führte, mit der Sackkarre mit ihren Fläschchen. Offensichtlich hatte ich mich geirrt – Connie baute ihren Stand nicht im Park auf, sondern hier.
„Ja, ich bin in einer Minute bei euch. Lasst mich nur schnell noch Angelica etwas zeigen.“ Misty ging an ihnen vorbei und ich folgte ihr nach hinten in den Laden. „Connie demonstriert heute Nachmittag, wie man Tränke braut. Quasi wie eine Lesung, bevor am kommenden Wochenende ihre große Buchveröffentlichung ist.“
„Tolle Idee!“ Connie hatte an einem Buch über Tränke geschrieben, das sie ursprünglich zu Halloween hatte veröffentlichen wollen, doch jetzt hatte sie den Termin zum Herbstfest vorverlegt. Ich durfte schon einmal durchblättern, aber die Rezepte ließen meine Braufähigkeiten wirklich alt aussehen. Connies Tränke können dich schlafen lassen wie ein Baby – oder wie einen Toten, wenn du es übertreibst –, jemanden dazu bringen, sich Hals über Kopf in dich zu verlieben, deine Jugend wiederherstellen oder alltäglichere Aufgaben erledigen wie das Entfernen von Eingebranntem in deinem Ofen oder von hartnäckigen Flecken in der Wäsche. Sophia Emerson sollte sich in Acht nehmen. Connie könnte in der Szene ganz groß rauskommen.
Um ehrlich zu sein, hatte ich nie ein gutes Händchen für das Brauen von Tränken gehabt. Wenn, dann für Gestaltwandlung. Gedankenverloren griff ich nach dem Tigerauge, das an der Kette um meinen Hals hing. Die Kette bot mir mehr als nur Schutz. Sie ermöglichte es mir – und nur mir –, mich in eine Katze zu verwandeln. Ein Geschenk, das in meiner Familie mütterlicherseits von einer erstgeborenen Tochter an die nächste vererbt wurde. Aber ansonsten war ich beklagenswert unfähig.
Connie hatte gesagt, sie hätte für jeden Tag des Herbstfestes eine Vorführung geplant. Eine Win-Win-Situation: Die Vorführungen würden Leute in den Laden ziehen, was die Verkäufe für Misty erhöhen und Connie mehr Bekanntheit verschaffen würde. Und ich könnte dabei vielleicht noch das ein oder andere lernen.
Misty führte mich in die hintere linke Ecke des Ladens, blieb jedoch so abrupt stehen, dass ich die Hand an ihre Schulter legen musste, um nicht in sie rein zu laufen.
Die Stimmen zweier lautstark streitender Leute drangen an mein Ohr.
„Du bist eine Blenderin, und das wissen wir alle. Wenn du nicht willst, dass ich dem Rest der Welt davon erzähle, weißt du, was du zu tun hast!“ Ich hielt mich an Mistys Schulter fest und wir spähten gemeinsam um das Buchregal herum.
Ein großer Mann mit breiten Schultern und dunklem Haar, das sich in seinem Nacken kräuselte, hatte sich bedrohlich vor Sophia aufgebaut. Sein T-Shirt war mit Flecken einer teerartigen Substanz überzogen, genau wie seine Hose und die Stahlkappenstiefel.
Sophia schien jedoch kein Stück eingeschüchtert. Sie hatte die Schultern gestrafft, die Hände in die Hüfte gestemmt und einen geringschätzigen Ausdruck auf dem Gesicht. „Du hast wirklich Nerven.“ Ihre Stimme klang belustigt und unnatürlich süßlich. Sie lächelte, während sie das sagte, als hätte der Mann keine Ahnung, wer sie war und wozu sie fähig war.
Der lachte düster. „Ich habe mehr als nur Nerven. Du wurdest gewarnt.“
Sophia verengte die Augen, erwiderte jedoch nichts.
Misty und ich zogen schnell unsere Köpfe zurück, als der Mann sich umdrehte, noch einen letzten, finsteren Blick über die Schulter warf und dann den Buchladen durch den Hintereingang verließ.
Sophias Gesicht wurde sofort wieder zu der sorgsam kontrollierten Maske. Sie drehte sich zurück zum Regal und stöberte durch die Bücher. Dabei strich sie mit dem Finger über die Buchrücken.
Misty und ich zogen uns hinter das Regal zurück.
„Wer war das?“, fragte ich mit leiser Stimme, als wären wir in einer Bibliothek und keinem Buchladen. Ich kannte die meisten dauerhaften Einwohner der Stadt, aber nicht alle. Viele Leute hatten Silverlake verlassen oder waren neu hinzugezogen, während ich dreizehn Jahre lang in Chicago gelebt hatte.
„Rick Kelly.“
„Woher kennt er Sophia?“
„Ich bin nicht sicher.“ Misty hob nachdenklich die Augenbrauen.
„Sie sehen nicht unbedingt aus, als bewegten sie sich in den gleichen Kreisen.“ Sophias Business-Markenklamotten waren das Erste, was mir dabei einfiel.
„Oder im gleichen Universum“, ergänzte Misty.
„Genau.“ Ich dachte kurz nach. „Eine Sache steht auf jeden Fall fest.“
„Und welche wäre das?“
„Es scheint, als wären Diane und Clemmie nicht die Einzigen, die Sophias Geheimnis kennen.“ Ich erzählte, was die beiden beim Mittagessen gesagt hatten, bevor Misty dazugestoßen war.
„Sophia, hast du etwas gefunden, was dir gefällt?“, fragte Misty mit einem Mal etwas lauter als nötig und bedeutete mir damit, still zu sein.
„Ich mag deine Auswahl“, sagte Sophia grinsend und wedelte mit einem Buch. „Ich dachte mir, ich könnte ein paar signieren und wieder ins Regal stellen. Wäre das in Ordnung für dich?“
„Absolut. Lass mich einen Stift für dich holen.“ Misty wandte sich in Richtung Tresen.
„Ach, nicht nötig, ich habe immer meinen eigenen dabei.“ Sophia zog einen Stift mit schwarzer Kappe aus ihrer Handtasche und hielt ihn demonstrativ hoch. „Es ist wichtig, jederzeit vorbereitet zu sein. Fans lauern überall.“ Sie lächelte, doch es erreichte ihre Augen nicht.
Misty und ich erwiderten das Lächeln höflich, bevor ich meiner Freundin einen wissenden Blick zuwarf. Silverlakes berühmteste Einwohnerin konnte es scheinbar gar nicht erwarten, nach Kalifornien zurückzufahren.