Leseprobe The Lodge | Ein fesselnder Psychothriller mit Suchtpotenzial

Kapitel 1

Desiree Rogers

Einen Moment lang denke ich daran zu springen, während ich am Rande der Klippe stehe, hoch über der zerklüfteten Landschaft.

Wie lange würde ich fallen? Zehn Sekunden? Zwanzig? Würde ich sterben, bevor ich aufschlage? Bevor die zerklüfteten Felsen unten am Seeufer meinen Körper zerreißen, als wäre er aus Seidenpapier statt aus Fleisch und Knochen?

Würde mich jemand vermissen?

Ich kann mich dem Gedanken nicht erwehren, dass es einfacher wäre zu sterben, als mich umzudrehen und dem zu stellen, was mich in dem superluxuriösen Resort hinter mir erwartet. Oder meinem Schicksal entgegenzutreten, wenn ich ins echte Leben zurückkehre. In beiden Fällen habe ich Angst. Eigentlich habe ich schon seit ich mich erinnern kann Angst vor der einen oder anderen bevorstehenden Katastrophe.

Ich bin es so leid.

Also mache ich einen weiteren kleinen Schritt auf den Abgrund zu. Eisiger Wind umweht mich, ich zittere und ziehe meinen Kaschmirmantel enger um mich. Der Oktober ist wie immer kühl im Bundesstaat Washington, aber hier oben in den Bergen ist es eisig. Viel kälter, als ich erwartet hatte. Obwohl ich seit Beginn meiner Highschool-Zeit in Washington lebe, war ich noch nie in den North Cascades.

Ich muss zugeben, dass es noch atemberaubender ist, als man mir gesagt hat.

Die Fotos von Diablo Lake sind unglaublich, doch sie werden der Realität einfach nicht gerecht. Das helle Blaugrün der Wasseroberfläche am Fuße der Felsen wirkt surreal. Es ist, als hätte es jemand mit Photoshop bearbeitet und einen Filter aus einem Reisekatalog darübergelegt. Die zerklüfteten Berge, die sich hinter dem See erheben, sind tannenbewachsen und von aufgeplusterten, weißen Wolken umhüllt, die wie Wattebäusche aussehen.

Ich habe das Resort, das fast so schön ist wie dessen Umgebung, kaum eines zweiten Blickes gewürdigt, obwohl der zentrale Turm samt der Glasfronten und die zwei langen Seitenflügel viel Eindruck schinden. Die Zimmer der Gäste liegen im Turm und alle anderen Annehmlichkeiten befinden sich in den Flügeln. Vor meiner Ankunft habe ich mich über alles informiert, was es über diese Anlage zu wissen gibt, was verschiedene Gründe hat. Dennoch bringe ich es noch nicht über mich, hineinzugehen.

Also ziehe ich den zerknitterten Umschlag aus einer Manteltasche, nehme die Einladungskarte heraus und lese sie erneut.

 

Einladung zum Westgate-Eight-Wiedersehen

An: Ms. Desiree Rogers

Wir freuen uns, Ihnen mitteilen zu können, dass das Crystal Mesa Resort unter neuer Leitung steht und einen neuen Eigentümer hat!

Als besonderes Dankeschön an die Westgate Eight möchten wir Ihnen einen einwöchigen, rundum vergüteten, entspannten Aufenthalt in unserem jüngst renovierten Luxusresort in der wunderschönen North Cascades-Region anbieten. Wir feiern das zehnjährige Jubiläum des W8-Retreats sowie das fünfzehnjährige Jubiläum Ihres Highschool-Abschlusses.

Bitte beachten Sie, dass diese Einladung personengebunden ist und keine Begleitpersonen zulässt.

Verbringen Sie eine Woche voller Entspannung, Feierlichkeiten und Erinnerungen mit uns und genießen Sie die zahlreichen Annehmlichkeiten unseres neuen und verbesserten Resorts. Enthalten sind drei Mahlzeiten pro Tag sowie der unbegrenzte Zugang zu unserer Bar.

Dies wird ein einmaliges Ereignis, das Sie nie vergessen werden.

Wir hoffen, Sie bald bei uns willkommen heißen zu dürfen!

 

Ich wäre fast nicht gekommen, trotz der Zusicherung, dass alle Kosten übernommen werden und die Gäste unbegrenzten Zugang zur Bar haben. Aber angesichts meiner aktuellen familiären Situation musste ich mir eingestehen, dass ich eine Auszeit gebrauchen könnte. Ganz zu schweigen davon, dass ich hier hoffentlich sicherer bin.

Immerhin ist es ein exklusives Resort weitab der Zivilisation, und niemand ohne eine Reservierung oder Einladung kann einfach so hineinspazieren und mich umbringen.

Genau genommen kann man das Resortgelände überhaupt nicht selbstständig betreten. Er ist wirklich die Definition von ‚abgelegen‘.

Soweit das Auge reicht, sieht man Natur, ohne ein Anzeichen von Menschenleben. Keine Städte, keine Strände, keine Boote oder Ferienhäuser. Keine Wolkenkratzer oder gelegentlich vorbeifahrende Autos. Das Gebäude hinter mir ist der einzige Zugangspunkt zur Zivilisation weit und breit.

Ich habe nicht einmal Zugriff auf mein Auto. Der Parkplatz des Crystal Mesa Resorts befindet sich am Fuße des Berges, am Ende einer acht Kilometer langen Zufahrtsstraße. Ich wurde samt meinem Gepäck in einem großen grünen, gepanzerten Fahrzeug mit dem Logo des Resorts auf der Seite hierher ‚gefahren‘, das laut dem Fahrer ein Sno-Cat war. Obwohl hier oben derzeit kaum Schnee liegt.

Der Shuttle-Fahrer – ein Mann in meinem Alter, der mir bekannt vorkam, obwohl ich mir nicht vorstellen kann, dass ich jemanden kenne, der hier oben arbeitet –, schien überrascht, als ich ihm sagte, dass ich nicht direkt ins Hotel gehen wolle. Aber er ließ mich gehen und versprach, dass mein Gepäck in meinem Zimmer auf mich warten würde.

Ich kann die Hotels, in denen ich in meinem Leben übernachtet habe, an einer Hand abzählen. Nicht ein einziges Mal hat ein Mitarbeiter mein Gepäck auf mein Zimmer getragen.

Vielleicht kann ich wenigstens den Service genießen, wenn schon nicht die Gesellschaft.

Annalise Daugherty, die die Mini-Klassentreffen organisiert, lädt mich jedes Jahr ohne Unterlass ein. Ich bin nirgendwo auf den sozialen Medien vertreten und habe keine Ahnung, wie sie meine Adresse gefunden hat oder warum sie mich überhaupt hier haben will. Warum sollte das irgendjemand aus meinem alten Leben wollen?

Ja, ich war eine der Westgate Eight, aber ich war das arme Mädchen, das alle bemitleideten. Diejenige, die den reichen Kids in ihrer Schule erlaubte zu behaupten, sie seien keine Snobs, denn schaut mal, Desiree trägt Secondhand-Kleidung und bringt sich ihr Lunchpaket von zu Hause mit, und wir hängen trotzdem mit ihr ab. Die einzige Person, die den wahren Grund kannte, warum ich Teil ihrer Clique sein musste, war Modesty.

Sie ist jetzt weg. Zumindest muss ich mir keine Sorgen mehr machen, dass meine Geheimnisse ans Licht kommen.

Ich gehe davon aus, dass abgesehen von unserer furchtlosen Anführerin alle anderen kommen werden. Und obwohl ich nicht mehr die graue, unscheinbare Desiree bin, die sie in der Highschool kannten, war ich versucht, den alten Koffer mitzubringen, den ich früher auf unsere Drillteam-Reisen mitgenommen habe, der mit Klamotten und Accessoires von Walmart und Target gefüllt war – und ja, auch mit Secondhandsachen –, die noch bis vor etwa drei Monaten meine Garderobe ausgemacht haben. Entgegen dem Rat meiner neuen Stylistin habe ich die immer noch nicht weggeworfen.

Meine Kindheit war zu hart, um etwas, das noch tragbar ist, einfach wegzuwerfen.

Aber ich versuche, meine Ängste zu überwinden. Zumindest die, die ich mehr oder weniger kontrollieren kann. Meine Therapeutin, zu der ich neuerdings gehe, sagt, dass es bei diesem Wiedersehen nicht darum geht, meinen neuen Reichtum zur Schau zu stellen. „Ein glückliches Leben ist die beste Rache“ ist nicht immer das nützlichste Motto. Ich muss das Impostor-Syndrom konfrontieren, mein Unterbewusstsein davon überzeugen, dass meine teuren Klamotten und das schicke neue Haus nicht nur Augenwischerei sind.

Verdammt, ich bediene gerade alle Klischees.

Natürlich weiß meine Therapeutin nicht, warum ich mich diesmal entschlossen habe, die Einladung anzunehmen, oder wie ich über Nacht reich geworden bin. Niemand weiß das, und niemand wird es jemals herausfinden. Vor allem nicht meine ‚alten Freunde‘ aus der Highschool.

Es sei denn, ich springe jetzt von dieser Klippe. Dann wäre alles egal.

Ich schaue wieder an der fast senkrecht abfallenden Felswand hinunter, die diese Seite des Berges entlang des Sees säumt und sich von diesem zentralen Felsvorsprung aus in beide Richtungen so weit erstreckt, wie das Auge reicht. Hier und da sprießt ein karger Baum aus dem Stein – Leben, das sich in dem rauen Gefilde einen Platz erkämpft. Ich kann das nachempfinden. Immer wieder gegen undurchdringliche Barrieren ankämpfen zu müssen, denen man niemals hätte gegenüberstehen sollen, ist keine Art zu leben.

Plötzlich trifft mich ein scharfer Windstoß in den Rücken. Ich schrecke zusammen und als ich instinktiv mit den Armen wedle, um mich abzustützen, rutscht mein Fuß über den Rand der Klippe.

Ein stechender Schmerz durchzuckt mich, als mein rechtes Knie auf dem Boden aufschlägt. Mein linkes Bein baumelt in der Luft, und für einen Moment werde ich von gleißender Panik überwältigt. Ich zwinge mich zu atmen, lasse mich auf meinen Hintern fallen und krieche vorsichtig rückwärts.

Anscheinend bin ich noch nicht bereit zu sterben.

Als alle meine Gliedmaßen auf festen Boden stehen, lehne ich mich keuchend auf meine Handflächen zurück. Mein Herz schwingt wie eine Basssaite, mein Knie schmerzt und mein sorgfältig zusammengestelltes Outfit ist dahin. So viel zu meiner Eindruck schindenden Rückkehr zu den Westgate Eight. Na ja, jetzt sind es nur noch sieben.

Ich seufze und versuche vergeblich, den Dreck von meinem Mantel zu wischen, dann stehe ich auf.

Da bemerke ich die Gestalt.

Ein Angstschrei entfährt meiner Kehle und ich halte mir die Hand vor den Mund, während ich kurz vergesse zu atmen. Da ist eine … eine Person dort unten, halb ausgestreckt am Ufer des Sees, und das wogende Wasser bewegt sie hin und her.

Das sieht einem Menschen wirklich, wirklich ähnlich.

Ich bin zu weit weg, um sicher zu sein, aber ich könnte wetten, dass es eine Leiche ist. Dunkle Haut, fast nackt, ein Arm in einem unnatürlichen Winkel im Nacken geknickt, der andere in der Brandung gefangen. Und mit jeder rhythmischen Woge des Wassers surft sie eine träge, grausame Welle. Dunkle Haare, wahrscheinlich weiblich.

Definitiv tot.

Meine Lungen bemerken plötzlich, dass ihnen der Sauerstoff fehlt. Ich hole tief, stockend Luft, drehe mich ungeschickt zum Resort um und renne los – meine eigenen paranoiden Gedanken treiben mich viel schneller voran, als es der Anblick einer möglichen Leiche jemals könnte.

Das ist sein Werk. Er hat es getan. Er hat mich gefunden.

Er ist hier.

***

Ich erinnere mich kaum noch daran, was ich getan oder gesagt habe, als ich mich auf den ‚perfekten Killer-Heels für sensible Füße‘, wie meine Stylistin sie nannte, durch die Drehtüren in die Lobby drängte. Sie waren alles andere als bequem, als ich versuchte, über Stock und Stein zum Resorteingang zu rennen. Mal im Ernst, welche halbwegs vernünftige Person trägt in den Bergen schon High Heels?

Das Nächste, woran ich mich erinnere, ist der weiche Sessel in dem kleinen, aber geschmackvoll eingerichteten Büro, in den ich verfrachtet werde, die Tür ist geschlossen und ich bin allein. Man hat mir meinen Mantel abgenommen und an einen Vintage Kleiderständer aus Echtholz neben der Tür gehängt. Meine Füße ruhen auf einem bequemen Schemel und um meine Schultern ist eine Decke drapiert. Auf einem kleinen runden Tisch zu meiner Rechten steht eine Tasse, aus der es dampft – vielleicht heiße Schokolade oder Cappuccino?

Wer auch immer in der Lobby war, als ich wie eine Verrückte hineingestürmt bin, muss gedacht haben, ich stünde am Rande des Wahnsinns … oder zumindest unter Schock.

Als ich wieder zu mir komme, fängt mein Herz erneut an zu rasen. Habe ich da draußen wirklich eine Leiche gesehen? Seit die Nachricht vor zwei Wochen durchgesickert ist, bin ich total nervös, schrecke bei jedem Geräusch zusammen und treffe notgedrungen zusätzliche Vorsichtsmaßnahmen.

Aber das kann nicht das sein, was ich denke. Das kann es einfach nicht.

Und wenn es durch irgendeinen wahnsinnigen Zufall doch so ist … wie könnte ich jemals jemandem davon erzählen?

Wie immer bin ich die Einzige, die mich beschützen kann. Selbst ist die Frau.

Ich schüttle den Gedanken ab und nehme meine Füße vom Schemel. Der erste Schritt ist, mein Versteck zu verlassen und einen Eindruck der Lage zu bekommen. Dann muss ich den Behörden berichten, was ich draußen gesehen habe, falls ich es noch nicht getan habe. Ohne irgendwelche Verschwörungstheorien zu erwähnen, die meine Geheimnisse preisgeben würden.

Gerade als ich aufstehe, öffnet sich die Tür zu dem kleinen Büro. Und der Anblick der Person, die langsam eintritt, verschlägt mir den Atem.

Ausnahmsweise einmal im positiven Sinne.

„Heilige Scheiße“, entfährt es mir. „Maura-Mac.“

Die hübsche Brünette in Business-Casual mit einer goldenen Anstecknadel mit der Aufschrift Direktorin für Gästezufriedenheit am Revers erstarrt und sieht mich an. „Desi?“, haucht sie.

Ich lächle zurück und plötzlich umarmen wir uns.

Ich kann nicht glauben, dass ich sie fast vergessen hätte. Obwohl es sich anfühlte, als hätte sich in der Highschool alles nur um Westgate Eight gedreht, gab es doch ein paar Dinge, auf die ich mich freuen konnte. Das Drillteam war eines davon. Das Drillteam, in dem Schüler mit Gewehren militärische Manöver wie auf einem Exerzierplatz aufführten, war die prominenteste außerschulische Aktivität in Westgate. Und Maura McKenna war ein wichtiger Grund, warum mir das so viel Spaß machte.

Meine Partnerin im Drillteam war ein weiterer Grund. Zumindest bis zum Ende des letzten Schuljahres, als das alles passierte. Aber ich versuche, nicht an sie zu denken oder daran, dass sie hier sein wird.

Die anderen werde ich wahrscheinlich ertragen können. Ihre Anwesenheit wird meine Nerven strapazieren.

„Oh mein Gott. Ich kann nicht glauben, dass du hier bist!“, ruft Maura aufgeregt. Sie tritt einen Schritt zurück und runzelt gespielt die Stirn. „Also, erzählst du mir jetzt freiwillig, warum du alle versetzt hast, nachdem du nicht einmal zur Abschlussfeier gekommen bist, oder muss ich warten, bis alle hier sind, um die große Enthüllung zu erfahren?“

„Whoa. Du redest nicht um den heißen Brei herum, was?“, sage ich so gespielt lässig wie nur möglich. Mein Herz pocht mir bis zur Kehle und ich hoffe inständig, dass ich nicht so geschockt dreinblicke, wie ich mich fühle. Ich kann unmöglich auf das Desaster eingehen, das unser letztes Schuljahr gekrönt hat. Nicht heute, vielleicht nie. „Ich bin so überrascht, dass du hier arbeitest!“, bringe ich mit einem Lächeln zustande.

Bitte versteh den Wink mit dem Zaunpfahl …

Ich atme erst wieder, als Maura lacht und mir eine Hand auf den Arm legt. „Nun, ich muss ja irgendwie meinen Lebensunterhalt verdienen“, meint sie. „Eigentlich wollte ich nach dem Abschluss nur einen Sommer hier arbeiten, um dann aufs College zu gehen und Karriere zu machen, aber ehrlich gesagt habe ich mich in die North Cascades verliebt. Seitdem bin ich hier.“

Das überrascht mich nicht. Seit ich sie kenne, liebt Maura die Natur und alles, was mit Bergen zu tun hat. Und nach allem, was ich online über das Crystal Mesa Resort gesehen und gelesen habe, ist es das beste Reiseziel in den Cascades. Wahrscheinlich kann sie alle Annehmlichkeiten kostenlos nutzen, wann immer sie will. Innen- und Außenpools, natürliche Thermalquellen, ein Spa mit umfassendem Service, Kletterausrüstung, einfach alles.

„Und du?“, strahlt Maura mich an. „Komm schon, raus mit der Sprache. Was hast du seither gemacht?“

„Ähm … Ich habe eine Leiche im See gesehen.“

Sobald mir die Worte über die Lippen kommen, komme ich mir dumm und wie eine Idiotin vor, vor allem, als Maura rot anläuft und ihre Schultern sacken lässt. „Oh mein Gott, es tut mir so leid“, stammelt sie. „Ich hätte das zuerst erwähnen sollen. Ich habe mich nur so gefreut, dich wiederzusehen. Als sie sagten, ein Gast wolle eine Meldung machen, hatte ich keine Ahnung, dass …“

„Nein, es ist meine Schuld“, unterbreche ich sie entschlossen und lächle diesmal aufrichtig. „Das war unhöflich von mir, es so herauszuposaunen. Ich freue mich wirklich sehr, dich zu sehen, und ich verspreche dir, dass wir bald quatschen können, okay?“

„Auf jeden Fall.“ Sie lächelt mich an, dann schlüpft sie wieder in die Rolle der Direktorin für Gästezufriedenheit. „Lass uns den Vorfall melden, damit du auf dein Zimmer gehen und es dir bequem machen kannst“, sagt sie und geht um den polierten Kirschholzschreibtisch gegenüber dem Stuhl, auf dem ich gesessen habe, herum. „Möchtest du dich setzen?“

Sofort kommt mir die Idee, den ‚Vorfall zu melden‘, viel zu offiziell vor. Mich aus der Öffentlichkeit herauszuhalten, ist für mich seit Jahren eine Selbstverständlichkeit. „Ähm, müssen wir dafür offiziellen Papierkram ausfüllen?“, frage ich.

Sie bleibt auf halbem Weg um den Schreibtisch herum stehen, die Stirn leicht gerunzelt. „Nein, ich meine, nicht unbedingt. Wir haben bereits die Polizei gerufen. Die wird vorbeikommen und sich darum kümmern.“

Ein unangenehmes Kribbeln durchzuckt mich und versucht, sich zu neuer Panik aufzuschaukeln, aber ich schaffe es, sie zu unterdrücken. „Also, es ist definitiv … eine Leiche?“

„Nun, von hier oben ist das schwer zu beurteilen. Wie du sicher weißt.“ Maura sieht sich im Büro um, als wolle sie sicherstellen, dass niemand mithört. „Das klingt jetzt makaber, aber du würdest dich wundern, wie viele Menschen im Diablo Lake ums Leben kommen“, sagt sie. „Ich meine, er sieht wunderschön aus, aber das Wasser ist das ganze Jahr über eiskalt. Es gibt zu viele Idioten, die sich bis auf die Unterwäsche ausziehen und reinspringen, weil sie denken, sie könnten das verkraften. Dann setzt der Kälteschock ein und sie ertrinken.“ Sie schüttelt den Kopf und presst die Lippen aufeinander. „Die Natur verzeiht nichts – nicht, wenn man sie missachtet, wenn du verstehst, was ich meine?“

Maura hatte recht. Es ist makaber. Aber es ist auch eine Erleichterung, denn das bedeutet, dass die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass die Person, die ich gesehen habe, ertrunken ist. Das klingt nach einem schrecklichen Tod, aber zumindest wurden sie nicht ermordet, was meine erste Vermutung war.

Ich war noch nie so froh, dass ich mich geirrt habe.

„Sie ist gnadenlos, nicht wahr?“, antworte ich erleichtert und füge dann schnell hinzu: „Ich hoffe trotzdem, dass es keine echte Leiche ist.“

„Ich auch. Es ist so traurig, wenn Menschen sich mit solchen dummen Stunts im Grunde selbst umbringen.“

Ich erinnere mich an den Moment, als ich auf dem Felsvorsprung stand, die Distanz bis zum Boden beurteilte, den ultimativen Express-Check-out ohne Rückkehr, und unterdrücke ein Schaudern.

„Okay!“ Maura klatscht wie eine Animateurin auf einem Kreuzfahrtschiff in die Hände. „Dann bringen wir dich erst einmal unter. Das ist sicher nicht der erste Eindruck, den du dir von uns erhofft hattest.“ Sie greift nach dem Telefon auf ihrem Schreibtisch, hält inne und lächelt erneut. „Es ist einfach so schön, dich wiederzusehen“, sagt sie.

„Gleichfalls“, antworte ich. „Ich kann immer noch nicht glauben, dass du hier arbeitest.“

„Maura-Mac ist am Start, woop woop!“ Sie streckt mir ihre Faust entgegen, ich grinse und stoße mit meiner Faust dagegen. „Ich schicke jemanden mit deiner Schlüsselkarte zum Fahrstuhl, damit du nicht noch einmal zur Rezeption gehen musst.“ Sie hat bereits den Hörer in die Hand genommen und tippt schnell ein paar Tasten, bevor sie das Telefon an ihr Ohr hält.

„Vielen Dank.“ Ich brauche definitiv etwas Zeit, um mich zu entspannen, bevor ich mich dem Rest dessen stellen kann, was bereits – noch bevor ich überhaupt eingecheckt habe – zum stressigsten Urlaub der Welt geworden ist. „Sind die anderen …?“

Sie schüttelt den Kopf. „Du bist tatsächlich die Erste, die eingetroffen ist. Das Einzige, was heute auf dem Programm steht, ist das Abendessen um zwanzig Uhr im Ballsaal.“

Geplant?

Mein Magen schlägt einen Salto. In der Einladung war von einem Programm nicht die Rede. Muss ich wirklich eine Woche lang geplante Gruppenaktivitäten über mich ergehen lassen? Ich hatte mich gerade erst daran gewöhnt, mit diesen Leuten minimalen Smalltalk zu betreiben. Ich bin mir nicht sicher, ob ich sieben Tage lang meine Highschool-Zeit noch einmal durchleben kann.

Bevor ich sie danach fragen kann, hebt sie einen Finger und dreht sich leicht ab. „Everett, hier ist Maura“, sagt sie ins Telefon. „Kannst du jemanden vom Housekeeping mit dem Schlüssel für Desiree Rogers' Zimmer zum Fahrstuhl schicken?“ Sie runzelt die Stirn, sieht mich an und blinzelt. „Doch“, sagt sie langsam ins Telefon, zuckt dann mit den Schultern und wendet den Blick wieder weg. „Okay, super. Danke.“

Was war das denn? Habe ich keine Reservierung oder so? Laut Einladung sollte doch alles geregelt sein.

Als Maura auflegt, strahlt sie über das ganze Gesicht. „Komm mit, ich begleite dich zum Fahrstuhl“, sagt sie. „Du bist in Zimmer 322. Die beste Aussicht im ganzen Hotel!“

Anscheinend ist mit meiner Reservierung doch alles in Ordnung. Trotzdem frage ich mich, was diese unangenehme Pause in ihrem Gespräch mit dem Rezeptionisten zu bedeuten hatte. Ich bin geneigt sie zu fragen, beschließe aber, es vorerst auf sich beruhen zu lassen. Ich habe Wichtigeres zu tun.

Zum Beispiel das Abendessen mit sechs Leuten, die ich am liebsten nie wieder sehen würde, zu überstehen.

Kapitel 2

Desiree – damals

Einen Monat vor dem Abschlussball

Daytona, Florida

… und die Gewinner der diesjährigen National Highschool Drill Team Championship sind … Westgate High!

Die Worte hallen in meinem Kopf wider, während ich im Vorbereitungsraum des Ocean Centers sitze. Ich bin umgeben von fröhlichem Geplapper und der aufgeregten Nachglühphase des Wettbewerbs, und das Lächeln auf meinem Gesicht will nicht verschwinden.

All die Arbeit. Vier Jahre Drill-Training, jeden Tag, stundenlang, vor und nach der Schule. Endlose körperliche Kraftanstrengungen. Reisen zu Show-Wettkämpfen. Lernen, korrigieren, sich bei jedem Wettkampf mehr anstrengen. Es ist nicht einmal wichtig, dass ich unter falschen Vorwänden dem Team beigetreten bin.

Wir haben es geschafft. Wir haben gewonnen.

Wir sind nationale Meister.

Ich muss immer daran denken, wie ich zu Beginn meines ersten Schuljahres an der Highschool mit dem JROTC-Programm angefangen habe. Modesty hatte sich eingeschrieben, also musste ich natürlich auch dabei sein, obwohl ich nicht wirklich wusste, was das war. Ich nahm nach der Schule an einer Informationsveranstaltung teil und ging dann nach Hause und musste meiner Mutter alles erklären.

Sie ist ein bisschen ausgeflippt – na ja, vielleicht ein bisschen viel –, als ich das Wort „Marines“ erwähnte.

Dieses Wort erwähnen wir in unserem Haus nicht.

Ich versicherte ihr, dass ich nicht wirklich zum Militär gehen würde. Dass es darum ginge, Kompetenzen wie Charakterstärke, Teamarbeit, Integrität und Führungsqualitäten zu lernen. Wir würden nicht für den Krieg trainieren. Wir würden synchronisierte militärische Bewegungen einstudieren, allein, zu zweit – beim Drillteam nannte man das „Duell“ – und in Gruppenformationen, bewaffnet und unbewaffnet, für Vorführkämpfe. Wir würden Uniformen tragen und marschieren, salutieren und kehrt machen und mit Waffen hantieren.

An diesem Punkt musste ich ihr versichern, dass es keine echten Waffen waren.

Ich erzählte ihr von der coolen Fachsprache, die ich zum Teil schon gelernt hatte, nachdem ich nur ein paar Stunden mit den älteren Kids abgehangen hatte, die schon seit Jahren dabei waren. Wir nannten das Programm nicht J-R-O-T-C, sondern sprachen es Jay-Rot-Cee oder einfach Rot-Cee aus. Oder eben, wie die meisten Leute es nannten: Drillteam. Man konnte im ROTC sein, ohne zum Drillteam zu gehören, aber nicht umgekehrt.

Schon von Anfang an wollte ich zum Drillteam. Ich wollte mit den Waffen hantieren, wollte das Knallen, Poppen, die dumpfen Stöße, und das Klicken der Slide-Mechaniken, die Uniformen, die Abfolge von Manövern, die im perfekten Gleichschritt wie ein wunderschöner Tanz ausgeführt wurden. Und obwohl ich unbewaffnet besser klarkam, weil die Gewehre so schwer waren, schaffte ich es ins Team. Weil Modesty es auch geschafft hatte.

Schließlich erzählte ich meiner Mutter, dass Modesty auch mitmachen würde. Wonach sie natürlich einverstanden war.

Wir haben es geschafft, Mom.

Meine Partnerin im waffenlosen Zweikampf, Leona, sitzt neben mir auf der Bank. Wir haben uns noch nicht umgezogen. Wir werden in unseren Uniformen mit dem Mannschaftsbus zurück zum Hotel fahren, dann gleich unsere Badeanzüge anziehen und ins Schwimmbad gehen. Leona steht ihr tailliertes Trägertop überraschend gut. Natürlich sieht sie in allem umwerfend aus, aber die Uniform raubt mir den Atem.

Das ist wahrscheinlich einer der Gründe, warum wir so oft den unbewaffneten Zweikampf gewinnen. Die Menschen lieben es, hübschen Mädchen Sachen zu schenken. Geld, Geschenke, Medaillen und Trophäen. Sie hat das Aussehen, und ich habe die … nun ja, die Fähigkeit, genau das zu spiegeln, was Leona tut. Wir sind perfekte Gegensätze.

Auf jede erdenkliche Weise.

Im Moment warten wir darauf, dass der Oberstleutnant mit Modesty zurückkommt, nachdem er sie um ein Gespräch unter vier Augen auf den Korridor gebeten hat. Als CO – das bedeutet kommandierender Offizier – ist es Modestys Aufgabe, dafür zu sorgen, dass wir anderen beim Training und während der Wettkämpfe alles geben. Dieses Mal hätten wir nicht mehr geben oder es besser machen können.

Die Nummer eins in den gesamten Vereinigten Staaten. Ein höheres Lob kann ein Drillteam nicht erreichen.

Wir haben einen fulminanten Abschluss hingelegt.

Als ich den Oberstleutnant und Modesty langsam auf die offene Tür zukommen sehe – er in seiner pixilierten Tarnuniform mit den Armen in Paradehaltung und Modesty in ihrer blauen Uniform, ihre Mütze unter dem Arm, die Teil der Drilluniform ist – stupse ich Leona in die Seite und nicke in ihre Richtung. „Was glaubst du, sagt er zu ihr?“

An seinem Gesichtsausdruck ist nicht abzulesen, in welcher Stimmung er ist. Der Oberstleutnant trägt stets ein selbstgefälliges Lächeln, egal ob er einen lobt oder tadelt.

Der Sergeant Major, unser anderer Ausbilder, ist da viel ausdrucksstärker.

Als ich meiner Mutter von dem Oberstleutnant und dem Sergeant Major erzählte, fragte sie mich, wie sie heißen. Ich sagte ihr, dass ich das nicht wisse. Natürlich müssen sie Namen haben. Sie sind Menschen. Aber niemand nennt sie beim Namen, ich kenne sie nur als Oberstleutnant und Sergeant Major. Vollständiger Titel, keine Abkürzungen. In all den Jahren hat es nie jemand gewagt, sie beim Namen zu nennen.

Das ist wohl etwas seltsam, wenn man nicht beim ROTC ist.

Leona kneift die Augen zusammen und tut so, als würde sie langsam die Lippen des Oberstleutnants lesen. „Ihr seid das schlechteste Drillteam aller Zeiten. Macht fünfzig Liegestütze mit den Knöcheln auf dem Boden.“

Wir kichern los.

„Was ist denn so witzig, Mädels?“

Oscar Cordova, den alle nur Cord nennen, stützt eine Hand auf die Rückenlehne unserer Bank und grinst.

„Leona liest dem Oberstleutnant von den Lippen ab“, sage ich ihm.

„Hat er gesagt: ‚Strengt euch mehr an, ihr Loser‘?“

„So etwas in der Art.“

Cord schnaubt. „Schaut euch die beiden Arschlöcher an“, sagt er und deutet auf Heath Sinclair und Keaton Hughes. Die Golden Boys der bewaffneten Duels verbeugen sich abwechselnd voreinander und hängen sich gegenseitig Medaillen um den Hals. Heath ist der stellvertretende kommandierende Offizier des Drillteams und damit Modestys Stellvertreter. Außerdem ist er seit der neunten Klasse ihr Freund.

Keaton, Heaths bester Freund, übernimmt keinerlei Führungsaufgaben, obwohl der Sergeant Major ihm ständig sagt, er solle „sein Potenzial ausschöpfen“.

Und der Oberstleutnant wünscht sich, Keaton würde sich unter einen Stein verkriechen und die Klappe halten.

Die Golden Boys belegen in dieser Kategorie fast immer den ersten Platz, und heute war keine Ausnahme. Aber das gilt nur für den bewaffneten Zweikampf.

Im bewaffneten Solo-Kampf ist Modesty allen weit voraus.

„Weißt du, ich könnte Erster werden, wenn ich nicht mit Flynn the Chin zusammenarbeiten müsste“, sagt Cord. „Er ist so verdammt nachlässig.“

„Äh, Cord?“, sage ich.

„Was? Du hast ihn doch gesehen. Er hat den Doppelschlag vermasselt. Ich kann Doppelschläge im Schlaf machen.“ Er beugt sich vor und flüstert übertrieben: „Außerdem stinkt er irgendwie. Vor allem sein Atem.“

Leona lacht. „Wem sagst du das? Ich musste heute Morgen im Bus gegenüber von ihm sitzen.“

Ich versuche es erneut. „Leute …“

Plötzlich läuft Flynn Bartell an uns vorbei, der nicht einmal einen Meter entfernt gestanden und jedes Wort mitgehört hat. Sein Gesicht ist rot wie eine Tomate, seine Arme zittern und seine Hände sind zu Fäusten geballt.

„Ups“, murmelt Cord mit ernster Miene und schnaubt dann leise. „Ich muss was trinken. Bis dann, Mädels.“

Ich seufze. „Das war ziemlich gemein.“

„Was? Das war lustig. Und wahr“, sagt Leona.

Ich zucke mit den Schultern. Ich gehöre seit der Highschool zu den Westgate Eight und kenne die Regeln. Jeder, der nicht zu den Westgate Eight gehört, ist Freiwild. Es sei denn, er ist mit einem der Westgate Eight zusammen. Wie Jack Elden, Leonas Freund, der sich gerade Heaths Kappe vom Schreibtisch geschnappt hat und vor Keaton wegläuft.

Jungs. Ich verdrehe die Augen.

Leona schaut zurück zur Tür. Modesty ist schon halb durch und versucht sich dem Gespräch zu entziehen, aber der Oberstleutnant redet noch. „Ich hoffe wirklich, dass er ihr nicht wegen irgendwas im Nacken sitzt“, sagt Leona. „Wir haben gerade die verdammten National Championships gewonnen. Wenn er nicht endlich den Mund hält, wird sie schlechte Laune bekommen.“

Ich kann zwar nicht einschätzen, wie der Oberstleutnant gelaunt ist, aber ich kann Modestys Gesichtsausdruck lesen. Und sie ist weit mehr als schlecht gelaunt, sie nähert sich einer kalten Wut. Ihr Gesicht verrät das allerdings nicht. Es zeigt sich nur in ihren Augen.

„Er lässt es nicht auf sich beruhen“, sage ich zu Leona.

In diesem Moment dreht sich der Oberstleutnant um und geht, und Modesty tritt ganz durch die Tür, lässt ihren Blick durch den Raum schweifen.

„Oh oh“, murmelt Leona. „Gleich knallts.“

Modesty erblickt die letzten beiden Mitglieder der Westgate Eight, Annalise und Cheri, auf einer Bank in unserer Nähe. Sie kneift die Augen zusammen und stakst durch den Raum auf sie zu.

Als sie vor ihrer Bank stehen bleibt, schaut Annalise auf und strahlt sie an. „Mods! Wir haben es geschafft!“

„Nicht dank dir“, erwidert Modesty. „Was hast du da draußen gemacht? Du hattest Fäden, Annalise. Deinetwegen sind wir während der Inspektion auf dem zweiten Platz gelandet!“

Ich zucke mitfühlend zusammen. Modesty ist sehr leidenschaftlich, was den Sport angeht. Und das Gewinnen.

„Ich hatte einen Faden. Der war nicht da, als wir angefangen haben“, antwortet Annalise knapp. „Und wir haben den ersten Platz insgesamt gewonnen, falls du das nicht bemerkt hast.“

Ihr habt den zweiten Platz gewonnen.“

Annalise zuckt zusammen und ihre Lippen zittern leicht. „Im Ernst? Ich war Erste im unbewaffneten Solo.“

„Lass gut sein, Modesty“, mischt sich Cheri ein. „Wir sind heute alle Gewinner, oder nicht?“

Modesty schnaubt. „Einige mehr als andere.“ Damit dreht sie sich um und geht weg.

Leona sieht ihr etwas enttäuscht nach. „Ich gehe besser zu Cheri“, sagt sie. „Du weißt ja, wie Annalise ist.“

„Klar.“

Allein gelassen lehne ich mich zurück und lasse den Glanz des Sieges auf mich wirken. Das war unser letzter Wettbewerb dieses Jahr, unser letzter Teamausflug. Bald ist Abschlussball, dann der Schulabschluss. Danach geht es hinaus in die Welt.

Bis vor Kurzem war meine Zukunft nach der Highschool ziemlich ungewiss. Aber jetzt fühle ich mich auch in diesem Sinne gut vorbereitet. Licht am anderen Ende des Tunnels.

Ich bin in Gedanken versunken, als Modesty sich mit einem strahlenden Lächeln neben mich setzt. „Hey, Desi“, sagt sie. „Glückwunsch zu deinem Sieg im Duell.“

„Dir auch. Toller Soloauftritt.“

„Selbstverständlich.“ Sie legt den Kopf schief. „Gut, dass Leona da war, um dir den Arsch zu retten, oder?“

Ich runzele kurz die Stirn, so unmerklich, dass es kaum jemand bemerken würde. Habe ich während der Darbietung einen Fehler gemacht? Ich glaube nicht, aber Modesty scheint das zu denken. „Stimmt“, lenke ich ein und setze mein Lächeln wieder auf. „Leona ist makellos.“

„Ich habe gehört, Mr. Windward hat dir gesagt, dass du das Bright-Futures-Stipendium bekommst. Das war doch am Tag, bevor wir gegangen sind, oder?“ Sie sieht mich erwartungsvoll an. „Du hast mir nichts davon gesagt.“

„Oh! Ja, das hat er. Sie geben es diesen Freitag erst offiziell bekannt.“

„Das ist toll. Ich weiß, dass du dir Sorgen um die Studiengebühren gemacht hast.“

Breites Lächeln, Desi. „Das stimmt, aber jetzt muss ich mir keine Sorgen mehr machen!“

„Herzlichen Glückwunsch, noch mal.“ Sie lehnt sich zurück und legt einen Arm um mich. „Wie geht es deiner Mom?“

„Gut. Ich muss sie anrufen, wenn wir zurück im Hotel sind, und ihr die gute Nachricht überbringen. Sie wird sich so für uns freuen.“

„Es ist schön, wie stolz sie immer ist.“ Modestys runzelt gespielt besorgt die Stirn „Und dein Vater? Ich wette, er wollte unbedingt zum Wettkampf kommen, aber hat es nicht geschafft, oder?“

Ich zuckte nur leicht zusammen, während ich tapfer weiter lächle. „Nein, diesmal nicht.“

„Schade“, sagt sie. „Ich verstehe, wie du dich fühlst. Meine Eltern sind noch nie zu einem einzigen Wettkampf gekommen, um mich anzufeuern.“

„Oh mein Gott, du hast recht. Ich habe sie nie gesehen.“

Ein Schatten fällt über uns und eine tiefe Stimme sagt: „Hey, Schatz. Willst du meine Eltern begrüßen? Sie haben Blumen für dich mitgebracht.“

Modesty jubelt und springt auf, bevor sie sich Heath um den Hals wirft. „Rosen?“

„Na klar.“

Sie nimmt seine Hand und wirft mir einen Blick über die Schulter zu. „Bis später, Desi!“

„Viel Spaß“, rufe ich zurück.

Ich lächle noch immer, auch nachdem sie außer Sichtweite ist.

Es ist sehr wichtig zu lächeln.

Kapitel 3

Leona Elden – heute

Der Sno-Cat-Fahrer ist nicht Darren.

Ich weiß nicht, warum mich das so irritiert. Ich bin schließlich nicht regelmäßig hier im Resort. Außer zu unseren kleinen jährlichen Wiedersehen komme ich nie hierher. Es sind ohnehin nur wir fünf, die sich die Mühe machen zu kommen. Aber seit wir seit neun Jahren hier feiern, ist der fröhliche, muskelbepackte Darren unser Fahrer und Butler. Er ist der erste und letzte Mensch, den ich hier sehe.

Was es noch seltsamer macht, ist, dass ich das Gefühl habe, diesen neuen Typen zu kennen. Diesen Fremden, der meine Verbindung zur Außenwelt ersetzt hat.

Okay, das klingt dramatisch. Aber je mehr ich darüber nachdenke, desto zutreffender scheint es.

Hinzu kommt, dass der Fahrer mir nicht hilft, mein offensichtlich schweres Gepäck aus dem Kofferraum zu holen, sondern an der offenen Heckklappe des Sno-Cat steht und mich durch die dicken Schneeflocken anstarrt, die gerade träge zu fallen begonnen haben.

Ich hasse es wirklich, unhöflich zu sein – ich bin nicht der Typ dafür –, aber wenn er nicht bald etwas anderes tut, als dazustehen und mich anzustarren, als könne er nicht glauben, dass ich wirklich echt bin, muss ich ein oder zwei spitze Bemerkungen machen.

Als ich endlich einen meiner sperrigsten Rollkoffer heraushebe, regt sich der Mann und kommt mit einem verlegenen Lächeln und einer Hand im Nacken auf mich zu. „Sorry“, sagt er. „Du erinnerst dich nicht an mich, oder?“

Ich trete einen Schritt zurück und runzele die Stirn, während er den Koffer aus dem Kofferraum hievt. Dieses Kribbeln, ihn zu kennen, überkommt mich erneut, aber ich kann ihn nicht zuordnen. Er ist einfach nur ein weißer Typ um die 30. „Ich glaube nicht“, weiche ich seiner Frage aus und versuche, es fragend klingen zu lassen, um nicht unhöflich zu sein. Leider gibt es keine nette Art zu sagen, dass er sich vielleicht an dich erinnert, aber du dich nicht an ihn.

Ein verletzter Ausdruck huscht über seine blassblauen Augen, so kurz, dass ich mir nicht einmal sicher bin, ob ich es richtig gesehen habe. Er setzt ein amüsiertes Lächeln auf, um es zu verbergen. „Ich bin Geoff“, sagt er. „Geoff Caldwell? Von der …“

„Highschool. Stimmt.“ Ich mache Anstalten zu lächeln, kann mich aber nicht der Frage entziehen, welcher Zufall einen Highschool-Mitschüler – noch dazu aus unserer Abschlussklasse – ausgerechnet jetzt hierher in dieses Resort verschlagen hat.

Diesmal ist seine Enttäuschung deutlicher zu spüren. „Wir waren zusammen auf dem Abschlussball“, sagt er anklagend.

Oh mein Gott. Das hatte ich völlig vergessen. Um ehrlich zu sein, war ich die meiste Zeit des Abends wütend auf Jack gewesen, der mich eigentlich hätte begleiten sollen. Ich bin ihm ehrlich gesagt immer noch ziemlich böse deswegen.

Außerdem ist in dieser Nacht noch mehr passiert.

Eine Leiche zu finden, überschattet in der Regel alles, was davor passiert.

„Das waren wir, nicht wahr?“, platze ich so fröhlich heraus, dass ich wie ein Chipmunk auf Crack klinge. Ich räuspere mich und senke meine Stimme. „Wow. Geoff Caldwell“, wiederhole ich. „Ich habe dich seit dem Abschluss nicht mehr gesehen. Wie geht es dir?“

Er schnaubt, hievt den Koffer ungeschickt aus dem Kofferraum und zuckt mit den Schultern. „Gut, denke ich“, antwortet er. „Wir sollten die Koffer einladen und uns auf den Weg zum Resort machen. Es wird langsam kalt hier draußen.“

„Klar. Danke.“

Verdammt, das ist peinlich. Ich versuche verzweifelt, ein Gesprächsthema zu finden, aber was sollte ich zu dem Typen sagen, mit dem ich zum Abschlussball gegangen bin, weil er im Grunde der letzte war, den ich im Drillteam kannte, der kein Date hatte, und ich jemanden brauchte, um Jack eifersüchtig so machen, so wie er es mit mir gemacht hatte? Außerdem hatte ich Geoff vor der Afterparty sitzen lassen.

Ich hatte einen verdammt guten Grund dafür gehabt, aber das wusste er nicht. Und auch sonst niemand. Niemals. Niemand durfte erfahren, was ich in der Abschlussballnacht getan hatte, sonst wäre mein Leben vorbei.

Zum Glück scheint Geoff seine Verärgerung abzuschütteln und wieder in den Mitarbeiter-Modus zu schlüpfen. Die Stille zwischen uns ist weniger angespannt, als wir meine Koffer ins Sno-Cat einladen, und ich schließe den Range Rover ab und werfe den Schlüssel in meine Handtasche.

„Bereit?“, fragt Geoff, als ich zu dem großen, grünen Monster samt Panzerketten zurückkehre.

Ich nicke. „Ja, danke.“

Er klappt die hintere Trittstufe für mich herunter und plötzlich fühle ich mich wie die größte Idiotin. Ich hätte nicht mit ihm zum Abschlussball gehen sollen, da ich nicht die Absicht hatte, etwas mit ihm anzufangen, geschweige denn mit ihm befreundet zu sein.

Hätte ich ihn hier nicht getroffen, hätten wir vielleicht nach dem gemeinsamen Abschlussfoto nie wieder ein Wort gewechselt. Er hatte mich gefragt, ob ich mit ein paar anderen zweitklassigen Drillteam-Paaren zu Denny's gehen wolle. Ich hatte so etwas gesagt wie „Danke, aber ich muss los, mein Taxi wartet auf mich“.

Dafür sollte ich mich wahrscheinlich entschuldigen.

Aber in diesem Moment knistert das CB-Funkgerät an Geoffs Gürtel und eine kratzige Stimme sanft: „Basis an Cat One, over.“ Er hält einen Finger hoch, geht um das Fahrzeug herum, um zu antworten, und der Moment ist vorbei.

Mit einem Seufzer und einem Blick auf den nun noch dichter fallenden Schnee steige ich in den Sno-Cat und setze mich auf einen Platz auf der linken Seite am Fenster. Laut Wettervorhersage sollen fünfzehn Zentimeter Neuschnee über Nacht fallen, das bedeutet hier oben wahrscheinlich etwa dreißig Zentimeter. Nicht, dass das eine große Rolle spielt. Crystal Mesa bietet aus gutem Grund nichts als Schneefahrzeuge und ein paar Jeeps für den Nahverkehr an.

Tatsächlich erlebten wir im dritten Jahr unserer kleinen Wiedervereinigung einen zweitägigen Schneesturm. Aber wir kamen gut zurecht, trotz der zwei Meter Schnee, die auf uns niedergingen.

Geoff kommt zurück, schaut, ob es mir gut geht und beginnt dann, alles zu schließen, ohne zu erwähnen, worum es bei dem Funkspruch aus dem Resort ging. Ich nehme an, es hatte nichts mit mir zu tun. Also zucke ich mit den Schultern und mache mich bereit für die zwanzigminütige Fahrt den Berg hinauf.

Wie immer bin ich wahrscheinlich die Letzte, die ankommt. Ich habe mir alle bekannten Fahrzeuge auf dem Parkplatz eingeprägt – Cords Batmobil-ähnlicher Camaro, Keatons neongrüner RAM mit den Monsterrädern, Annalises Jaguar mit Anhänger für ihr Gepäck. Cheri war zweifellos mit Annalise mitgefahren. Von uns allen waren die beiden nach der Highschool am engsten befreundet geblieben.

Doch bisher ist nichts an diesem Wiedersehen wie früher, angefangen bei meinem vergessenen Abschlussball-Date, das mich auf dem Parkplatz abholt, bis hin zu den Einladungen, die wir alle aus unerklärlichen Gründen erhalten hatten, bevor wir unsere üblichen Reservierungen vorgenommen hatten.

Niemand hatte etwas davon gewusst, dass das Resort den Besitzer gewechselt hatte, oder wer die Einladungen verschickt hatte, in denen alle Kosten, einschließlich Mahlzeiten und Barzugang, für das ganz besondere Wiedersehen, das wir nie vergessen würden, übernommen wurden. Cheri hatte sogar ihren Mann, einen Immobilienanwalt, gebeten, nach weiteren Informationen zu suchen, aber es gab keine Aufzeichnungen darüber, dass das Resort verkauft worden war.

Natürlich wollte niemand das Angebot eines kostenlosen Urlaubs ausschlagen, auch wenn wir uns das alle leisten konnten.

Der Motor des Cat erwacht zum Leben, brummt und vibriert. Als Geoff das Fahrzeug in Gang setzt und den Bergpfad hinauffährt, zücke ich mein Handy, um zu sehen, ob mir jemand etwas über diesen mysteriösen neuen Besitzer geschrieben hat. Ich habe eine Nachricht, aber sie ist nicht von einem meiner Freunde.

Sie ist von Jack. Natürlich ist sie das.

Ich verdrehe die Augen und beschließe fast, sie nicht zu lesen. Er ist der Grund, warum ich immer zu spät komme, zum Retreat und zu praktisch allem anderen. Für einen sonst so klugen Kerl ist Jack in bestimmten Situationen ziemlich naiv. In letzter Zeit verbringe ich etwa die Hälfte meiner Zeit damit, mich über ihn zu ärgern.

Niemand kann mich so in den Wahnsinn treiben wie mein Mann.

Und ich kann ihn nicht verlassen, ohne mein Leben zu ruinieren.

Während ich die Zähne zusammenbeiße und mit dem Daumen über das Textfeld fahre, vibriert mein Handy und blinkt mit einem eingehenden Anruf. Ich schreie fast auf, als Jacks Name auf dem Display aufleuchtet. Diesmal hat er es nicht einmal vier Stunden geschafft, ohne mich zu nerven.

Ich drücke auf den grünen Hörer, halte das Handy ans Ohr und stecke einen Finger in das andere, damit ich ihn wenigstens verstehen kann, auch wenn ich eigentlich nicht hören will, was er zu sagen hat. „Was ist los?“, frage ich.

Jack schnaubt. „Muss etwas nicht in Ordnung sein, damit ich meine Frau anrufe?“

Ja, weil du mich sonst nicht anrufen würdest. Aus irgendeinem Grund nervt es mich gerade besonders, dass er mich seine Frau nennt. „Egal“, erwidere ich. „Hi, Jack. Was gibt's?“

„Warum ist es bei dir so laut?“

„Weil ich in einem Panzer sitze.“

„Moment, im Ernst?“

„Sozusagen. Es ist ein Sno-Cat.“ Wenigstens weiß er, was das ist. Seine Eltern haben einen kleineren, den er allerdings noch nie gefahren ist. Er hat ein kirschrotes Schneemobil, das er seit dem Kauf vielleicht dreimal benutzt hat.

Er würde die Abläufe vom Retreat kennen, wenn er jemals mit mir zu einem gekommen wäre. Ich habe ihn eingeladen, als wir fünf angefangen haben, uns zu treffen. Er gehörte nicht zu den Westgate Eight, aber er war einer der Stars unseres Drillteams. Die anderen bringen oft ihre Ehepartner oder Lebensgefährten mit, wenn sie welche haben, aber Jack hat immer abgelehnt … und sich dann beschwert, weil ich ihn alleine gelassen habe.

Nach einer Weile habe ich aufgehört, ihn einzuladen. Und laut Einladung hätte er diesmal ohnehin nicht kommen können. Keine Begleitpersonen erlaubt.

„Oh, okay“, sagt Jack. „Sno-Cat. Das ist cool.“

Ich seufze genervt. „Was willst du, Jack?“

Er räuspert sich. „Du bist noch nicht angekommen, oder? Im Resort?“

„Äh, nein.“ Die Frage kommt so unerwartet, dass ich ehrlich antworte. Anfängerfehler. Sobald die Antwort aus meinem Mund ist, werde ich misstrauisch. „Warum?“

Er ist so lange ruhig, dass es mich beunruhigt.

Schließlich sagt er: „Die Sache ist die: Zenaida hat die Grippe oder so.“

Sofort bekomme ich Kopfschmerzen und mein Augenlid zuckt. Zenaida ist unsere Teilzeit-Nanny. Ich ahne, worauf er hinauswill, aber ich kann nicht glauben, dass er das wirklich tun würde. Ich knurre deutlich: „Das ist ja blöd. Hoffentlich geht es ihr bald besser.“

„Ja, aber meine Eltern sind noch bis Donnerstag auf Hawaii“, schmollt er.

Ich beiße die Zähne so fest zusammen, dass sich eine Füllung verschiebt. „Und?“, knurre ich.

„Na ja, ich meine … kannst du nach Hause kommen?“

„Willst du mich verarschen?“ Die Worte explodieren aus meinem Mund, bevor ich darüber nachdenken kann, aber ich würde sie nicht zurücknehmen, selbst wenn ich könnte. Das ist lächerlich. „Nein. Ich komme vor Sonntag nicht nach Hause. Das habe ich dir schon hundert Mal gesagt.“

„Aber was soll ich denn machen?“

Der weinerliche Ton in seiner Stimme bringt mich zum Ausrasten. „Verdammt, Jack, ich weiß nicht! Wie wär's, wenn du dich um deine eigenen Kinder kümmerst?“, schreie ich fast.

„Leona, komm schon. Du weißt, dass ich arbeiten muss …“

„Du bist der Geschäftsführer der Firma deines Vaters! Du kannst freinehmen, wann immer du willst. Also musst du die Kinder zwei Tage lang zur Schule fahren und früher von der Arbeit kommen, um sie abzuholen, vielleicht sogar drei Tage. Oh nein! Wie sollst du das nur schaffen?“

Ich kann nicht glauben, dass er immer noch so unsicher in seiner Vaterrolle ist. Unsere Kinder sind sechs und neun Jahre alt. Es ist ja nicht so, als müsste er sie füttern, wickeln oder den ganzen Tag unterhalten – selbst als sie klein waren, hat er das nie gemacht. Das ist doch kein Kunststück.

Er holt zittrig Luft und als er wieder spricht, ist seine Stimme belegter. Als würde er gleich weinen. Was mich nur noch wütender macht. „Ich hasse es einfach, wenn du weg bist, Lee“, murmelt er.

„Nun, ich nicht!“, fahre ich ihn an. „Herrgott, Jack. Ich brauche manchmal eine Auszeit, und das ist die einzige, die ich das ganze Jahr über habe. Vielleicht komme ich dieses Mal gar nicht zurück!“

Ich lege auf und drücke so fest auf das rote Telefonsymbol, dass mein Finger scharf nach hinten knickt und mein Fingernagel halb abreißt.

„Verdammt!“, schreie ich über das dröhnende Motorengeräusch hinweg.

Fast sofort wird der Cat langsamer und die Tür zwischen Kabine und Cockpit gleitet auf. „Alles in Ordnung da hinten?“, ruft Geoff von vorne.

Nein. Nein, es ist nicht alles in Ordnung.

„Alles okay“, sage ich laut. „Ich habe mir einen Fingernagel abgebrochen.“

Er grunzt etwas Unverständliches. Die Trenntür wird geschlossen und das Fahrzeug nimmt wieder Fahrt auf.

Ich atme zittrig aus, halte mein Handy mit beiden Händen fest und starre aus dem Fenster, während der Schnee an der Scheibe vorbeizieht. Ich bin überrascht, dass mein Mann mich gerade nicht mit Anrufen bombardiert. Normalerweise schickt er mir nach solchen Auseinandersetzungen erst einmal eine Entschuldigung, dann mehrere Nachrichten, die immer passiv-aggressiver werden, bis plötzlich alles meine Schuld ist.

Aber diesmal nicht, Jack. Diesmal bleibe ich standhaft. Denn ich bin nicht im Unrecht.

Gott, ich wünschte, ich könnte ihn verlassen.

Tränen brennen in meinen Augen, und ich neige meinen Kopf nach hinten, damit sie nicht herunterlaufen.

Ich weigere mich, wegen Jack Elden eine weitere Träne zu vergießen.

***

Die Lobby des Crystal Mesa hat sich seit meinem letzten Besuch nicht verändert. Geschwungene Fensterfronten bilden das Erdgeschoss des zentralen Turms des Resorts. Im Inneren erstreckt sich schwarzer Marmorboden mit Quarzeinschlüssen, so weit das Auge reicht. Ein paar Sofas, Sessel und Beistelltische laden zum Verweilen ein. Links fließt ein Wasserfallfeature an der Wand hinunter, die geschmackvoll den Blick auf die Toiletten versperrt. Ganz hinten befindet sich die Rezeption, der Tresen aus Ebenholz. Und natürlich darf der spektakuläre Kronleuchter im Zentrum der Lobby nicht fehlen – ein glänzendes Cluster aus hängenden Kristallen, in denen Lichter eingeschlossen sind.

Die Person hinter der Rezeption ist jedoch nicht dieselbe.

Daphne war in den letzten vier Jahren im Tagdienst gewesen, wenn ich angekommen bin, und eine andere Frau, deren Name mir gerade entfallen ist, hatte die Stelle vor ihr inne. Jetzt begrüßt mich ein Mann mit einem professionellen Lächeln. Er ruft meine Reservierung auf, bevor ich den Tresen erreiche, denn er fragt nicht nach meinem Namen, weil er ihn bereits kennt.

Und ich kenne seinen. Everett York. Er war auch in unserem Abschlussjahrgang, allerdings nicht im Drillteam.

Er war Desiree Rogers' Date zum Abschlussball.

Das wird jetzt langsam seltsam. Hat der neue Besitzer des Resorts vielleicht auf der Facebook-Seite unserer Abschlussklasse eine Stellenanzeige geschaltet oder sowas?

Everett – ich bin mir hundertprozentig sicher, dass er es ist, als ich näherkomme, um die Plakette auf dem Check-in-Schalter neben dem Computer zu lesen – überreicht mir mit einer schwungvollen Geste einen Umschlag mit einer Schlüsselkarte. „Leona. Willkommen zurück“, sagt er. „Wir haben dich diese Woche in Zimmer 320 einquartiert. Dieses Zimmer hat die beste Aussicht im ganzen Haus.“

Ich runzele die Stirn, als ich die Karte nehme. Wenigstens versucht er nicht, Smalltalk zu machen, wie Geoff. Andererseits … der versuchte auch nicht, Smalltalk zu machen. Was eigentlich die normale Reaktion wäre, wenn man eine Bekannte trifft, die man seit der Highschool nicht mehr gesehen hat.

Vielleicht ist das gar nicht Everett York. Vielleicht heißt er nur Everett und sieht zufällig aus wie Desirees Date vom Abschlussball.

Vielleicht sollte ich ihn einfach fragen.

„Hey … Everett“, sage ich und tue so, als würde ich das Namensschild lesen, was komisch ist, weil er mich bereits geduzt hat. „Du warst auf der Westgate Highschool, oder?“

Er grinst. „Klar. Ich war mir nicht sicher, ob du dich noch an mich erinnerst.“

Immerhin reagiert er besser als Geoff Caldwell. Aber ich bleibe misstrauisch, weil sowohl mein als auch Desirees Abschlussballdates hier arbeiten. Ist das einer dieser seltsamen Zufälle? Und wenn nicht, wie und warum sollte das Absicht sein?

„Ja, ich erinnere mich“, erwidere ich und hoffe, dass ich höflich klinge und nicht leicht geschockt. „Du hast Desiree zum Abschlussball begleitet. Und du warst mit uns auf der Afterparty bei Modesty.“

Seine Miene verändert sich. Nur für eine Sekunde, aber er sieht fast … verängstigt aus. Weil ich Desiree erwähnt habe? Oder wegen Modesty?

Obwohl Modesty Phelps der Grund war, warum wir angefangen haben, unsere kleinen Trips zu machen, ist ihre Erinnerung im Laufe der Jahre irgendwie in den Hintergrund getreten, wenn ich ehrlich bin. Letztes Jahr haben wir außer unserem traditionellen Toast am ersten Abend kaum über sie gesprochen. Es ist ein bisschen traurig, aber sie ist jetzt schon seit fünfzehn Jahren tot. Der Abschlussball war das letzte Mal, dass wir sie gesehen haben. Und nach allem, was passiert ist, nachdem die Polizei gerufen wurde, haben wir stundenlang nicht einmal bemerkt, dass sie verschwunden war.

Niemand spricht es aus, aber wir alle wissen, dass sie tot ist. Was wir nicht wissen, ist, wann und wie es passiert ist, denn die Polizei hat keine Spur von ihr gefunden. Aber sie wäre niemals weggelaufen und nicht zurückgekommen. Weil ihre Eltern tot waren und ihre Tante als Vormund mit vorübergehender Verfügungsgewalt über den Nachlass fungierte, hätte Modesty nach ihrem College-Abschluss das Vermögen ihrer Familie geerbt. Und sie war bereits auf der Whitman angenommen worden.

Everett fasst sich wieder und lächelt erneut. „Das stimmt. Das ist schon so lange her“, meint er. „Nun, es war schön, dich wiederzusehen, Leona. Bitte sag Bescheid, falls du etwas brauchst.“

Oh mein Gott. Will er mich etwa abwimmeln?

Ich hatte versucht, ihn mit unserem zwanglosen Gespräch aus der Reserve zu locken, aber ich werde wohl direkt sein und ihm die wichtigste Frage stellen müssen. „Hey, wie lange arbeitest du eigentlich schon hier?“

Sein Blick schweift ab, als er überlegt. „Ich glaube, seit etwa drei Monaten“, antwortet er.

„Okay. Cool.“ Dann war er also schon hier, bevor die Einladungen verschickt wurden. Aber sagt mir das wirklich etwas? Ich meine, wer weiß, wann der neue Besitzer den Laden übernommen hat, aber es kann nicht länger als ein Jahr her sein.

Die Kopfschmerzen, die Jack mir bereitet hat, werden schlimmer. Ich glaube, ich gehe auf mein Zimmer, nehme eine Tablette und mache ein Nickerchen, bevor ich zum Meet and Greet gehe.

Ich bin ein wenig verärgert, dass Everett mich abzuwimmeln versucht hat, also verabschiede ich mich wortlos, tippe mit dem Schlüsselkartenumschlag auf den Tresen und nicke, bevor ich gehe. Ich bin mir sicher, dass ich den neuen Besitzer bald treffen werde, wer auch immer er ist, dann kann ich ihn fragen, was es mit den seltsam spezifischen Einstellungsverfahren auf sich hat.

Als ich zum Fahrstuhl gehe, ruft Everett mir jedoch hinterher: „Oh, fast hätte ich vergessen zu sagen, dass Maura mich gebeten hat, dir mitzuteilen, dass das Abendessen um zwanzig Uhr im Ballsaal serviert wird.“

Moment mal, was? Unser Abendessen am ersten Abend findet immer im Blue Grove statt, dem Fünf-Sterne-Restaurant des Resorts im Ostflügel. Warum sollten wir im Ballsaal essen? Die servieren nie etwas Besseres als aufgewärmtes Buffetessen. Neues Konzept? Es hat sich zwar einiges verändert, aber ich sehe bisher wirklich nichts, das sich bahnbrechend verbessert hätte.

Wenigstens ist Maura noch hier. Nachdem ich mich ein wenig ausgeruht habe, werde ich sie kontaktieren und fragen, was das alles soll.

Eines weiß ich jedoch mit Sicherheit: Ich gehe nicht früher nach Hause, egal, wie sehr der neue Besitzer das diesjährige Retreat vermasselt hat.

Denn wenn ich das täte, würde ich Jack wahrscheinlich direkt in sein dummes, trauriges Gesicht schießen.

Kapitel 4

Leona – damals

Einen Monat vor dem Abschlussball

Daytona, Florida

„Kannst du glauben, dass die beiden echt gekommen sind?“, flüstert Modesty mir zu, ohne auch nur den Versuch zu unternehmen, diskret zu sein, während sie sie anstarrt.

Wir sitzen am Rand des Hotel-Innenpools und lassen unsere Beine im flachen Wasser baumeln. Im tiefen Teil des Beckens findet gerade ein Kräftemessen statt, alles gespielt, natürlich. Annalise und Cheri, die auf den Schultern von Keaton beziehungsweise Heath sitzen, stemmten sich an den Händen gegeneinander und versuchen, einander herunterzustoßen. Cord und Maura McKenna, seine nicht-wirkliche Freundin, warten darauf, es mit dem Gewinnerteam aufzunehmen.

Doch Modesty schaut nicht zu ihnen hin. Sie schaut zu Flynn Bartell und seiner besten Freundin Bea Driscoll. Sie stehen gegenüber von uns in der Nähe der Trennlinie, die Ellbogen auf den Rand des Pools gestützt, und unterhalten sich flüsternd.

Flynn ist ein nerviges Baby und Bea ist einfach nur seltsam.

Schade, dass wir niemanden aus dem Drillteam ausschließen dürfen, sonst wären die beiden schon im ersten Jahr rausgeflogen.

Flynn bemerkt Modestys Blick und seine dumme Visage hellt sich auf. Er beginnt, sich vom Rand abzustoßen, als wolle er herüberkommen und etwas sagen.

Ein Blick von Modesty und schon macht er kehrt.

„Unser letztes Drillevent, für immer.“ Modesty seufzt und legt ihren Kopf auf meine Schulter. „Was soll ich mit dem Rest meines Lebens anfangen?“

Ich grinse. „Sex haben?“

„Ha.“ Sie stößt mich mit dem Ellbogen in die Seite. „Glaub mir, ich zähle die Tage bis zu meinem achtzehnten Geburtstag. Heath schläft in der Nacht davor bei mir, und wir legen genau um 0:01 Uhr los.“

„Viel Spaß dabei.“

„Was? Magst du Sex nicht?“ Sie hebt den Kopf und sieht sich um. „Apropos Sex, wo ist Jack?“

Ich verziehe das Gesicht. „Er ist spät dran.“

„Der Typ braucht eine Uhr, die man ihm ans Handgelenk anschrauben kann oder so.“

„Ich glaube nicht, dass das helfen würde. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er einfach Uhrzeitlegastheniker ist.“

Modesty wirft einen finsteren Blick ans andere Ende des Pools. „Wenn dieser Widerling nicht aufhört zu starren, ramme ich ihm versehentlich mit voller Absicht einen Drill-Gewehrlauf ins Auge.“

Ich beschließe, nicht zu erwähnen, dass sie diejenige war, die zuerst rüber gesehen hat. „Wo ist Desi? Sie hat sich so auf das Schwimmen heute Abend gefreut.“

„Oben in unserem Zimmer“, antwortet Modesty. „Sie sagte, sie sei erschöpft und wolle früh schlafen gehen, weil wir morgen früh aufstehen müssen.“

„Verstehe.“ Wir müssen morgen früh um sechs Uhr gepackt im Shuttle sitzen, um unseren Flug um neun Uhr zurück nach Washington zu bekommen. Wir hätten wahrscheinlich alle schon im Bett sein sollen, aber niemand wollte die letzte Nacht unseres allerletzten Drill-Wettkampfes mit Schlafen verbringen.

Außer Desiree, wie es scheint.

Ich versuche, die Eifersucht zu unterdrücken, aber das klappt nicht immer. Modesty war meine beste Freundin, bis Desiree Rogers aus dem Nichts auftauchte. Modesty hat sie nahtlos in unsere Gruppe integriert, und seitdem sind die beiden unzertrennlich. Sie tauschen Make-up aus. Sie melden sich gemeinsam für außerschulische Aktivitäten an. Teilen sich ein Zimmer auf Drill-Reisen.

In den vier Jahren an der Highschool habe ich nicht ein einziges Mal mit Modesty ein Zimmer geteilt.

„Apropos Desiree“, sagt Modesty. „Hast du gehört, dass sie das Bright Futures-Stipendium bekommt?“

Mein Augenlid zuckt und ich merke, dass sich eine Migräne anbahnt. Erst nimmt sie mir meine beste Freundin weg und jetzt auch noch mein Stipendium.

Ich verdränge den aufkeimenden Unmut. „Wirklich? Nein, davon habe ich nichts gehört.“

„Anscheinend. Hey, wolltest du das nicht auch haben?“

„Ja, eigentlich schon.“ Ich zucke lässig mit den Schultern.

„Hm.“ Modesty sieht mich an und überlegt offenbar etwas. „Nun, die offizielle Bekanntgabe erfolgt erst am Freitag“, sagt sie. „Du könntest vorher noch mit Mr. Windward sprechen. Vielleicht kannst du ihn umstimmen. Ich meine, Desiree braucht die Unterstützung für die Studiengebühren, aber sie würde schon zurechtkommen. Mit Studienbeihilfe und Studienkrediten.“

Ich nicke langsam. „Gute Idee. Ich werde darüber nachdenken.“

Ich werde auf jeden Fall mit unserem Beratungslehrer sprechen. Das Bright Futures-Stipendium gehört mir. Es ist das renommierteste Stipendium, das unsere Schule vergibt, und meiner Meinung nach hat Desiree es nicht verdient.

„Oh, hey!“ Modesty stößt mich an und nickt in Richtung des Eingangs zum Pool. „Dein Freund hat es auch endlich geschafft.“

Ich grinse. „Hurra.“

Obwohl ich langsam die Beine aus dem Pool nehme und träge aufstehe, um ihn zu begrüßen, hüpfe ich innerlich wie eine aufgeregte Cheerleaderin. Wir sind jetzt seit zwei Jahren zusammen und ich kann immer noch nicht glauben, dass Jack Elden mein ist.

Er tritt hinter mich, legt seine Arme um meine Taille und küsst mich zwischen den Schulterblättern, wodurch Glücksgefühle wellenartig durch meinen Körper schwappen. „Hey, Sexy“, flüstert er, sein Gesicht in meinem Haar vergraben. „Du siehst unglaublich aus.“

Ich drehe mich um und lege meine Arme um seinen Hals, strahle über das ganze Gesicht und stelle mich auf die Zehenspitzen, um ihn zu küssen. „Du auch.“

Aus Richtung des Pools ertönt ein bewundernder Pfiff, und Keaton ruft: „Zeigt uns ein bisschen Zunge!“

Ich sehe in seine Richtung und strecke ihm die Zunge heraus.

„Oh, Baby!“, ruft er mit einem anzüglichen Grinsen.

Jack nickt ihm zu. „Glotz nicht so, du Höhlenmensch.“

„Jack, du weißt doch, wie sehr ihr es liebe, wenn du mit großen Worten um dich schmeißt. Da werden mir die Knie ganz schwach.“ Keaton macht eine obszöne Geste, und Heath und Cord brechen in Gelächter aus.

Jack schnaubt und legt einen Arm um meine Taille, und ich tue dasselbe bei ihm. Ich genieße das Gefühl seiner nackten Haut unter meinen Fingern. Wir schlendern zum tiefen Ende, und Heath winkt uns mit einem Arm herbei. „Komm schon, Elden. Wir setzten uns in den Whirlpool.“

„Lass mal. Ich habe jemandem, der viel hübscher ist als du, eine Runde im Whirlpool versprochen.“ Er beugt sich zu mir herunter, um mich zu küssen, und diesmal hält der Kuss etwas länger an.

Keaton formt mit den Händen unter seinem Kinn ein schiefes Herz und klimpert mit den Wimpern. „Seht euch die beiden an. So süß. Ich glaube, ihr solltet dieses Jahr Ballkönigin und Ballkönig werden.“

„Auf keinen Fall“, meint Cord. „Die Kronen gehören Heath und Modesty. Unser hauseigenes Vorzeigepaar.“

Modesty, die sich bis zum tiefen Ende vorgearbeitet hat, jubelt und springt vom Rand in Richtung Heath. Er fängt sie mit Leichtigkeit auf und sie tauchen unter die Oberfläche.

„Keat!“, ruft Annalise begeistert und klettert aus dem Pool. „Fang mich!“

„Was glaubst du, was das hier ist, Dirty Dancing?“ Aber er kommt ihrer Bitte nach und streckt die Arme aus, damit sie sich in sie hineinwerfen kann.

Jack lacht. „Komm schon, Lee. Allein vom Zuschauen wird mir schon langweilig.“

Der Whirlpool liegt gegenüber vom Pool, auf einer erhöhten Plattform mit betonierter Treppe. Die raue Oberfläche fühlt sich kalt unter meinen Füßen an, als wir hinaufsteigen. Eine Minute später sinke ich mit einem glücklichen Seufzer in das 40° Grad warme Wasser.

Jack macht es sich auf einem der vorgeformten Plastiksitze in der Ecke bequem. Er greift nach mir und ich quieke, als er mich auf seinen Schoß zieht.

„Apropos Abschlussball“, sagt er und beugt sich vor, um mich in meiner Halsbeuge zu küssen. „Lee, ich wünschte wirklich, du würdest mich dich bei dir zu Hause abholen lassen. Das ist Tradition, okay?“

Instinktiv versteife ich mich, aber kämpfe dagegen an. „Seit wann legen wir Wert auf Traditionen?“, frage ich unschuldig.

„Komm schon, Schatz. Du weißt, dass es nicht nur darum geht.“ Er fährt mit seinen Fingern meinen Arm hinunter. „Wir sind seit zwei Jahren zusammen. Findest du nicht, es wird Zeit, dass ich deine Eltern kennenlerne?“

„Nein. Nicht wirklich.“

„Warum nicht? Mögen sie keine weißen Jungs?“

Ich sehe ihn entsetzt an. „Jack! Das hast du nicht gerade zu mir gesagt.“

„Sorry.“ Er hebt kapitulierend die Hände. „Du hast recht. Das war scheiße von mir.“

„Verdammt richtig.“

Er verspannt sich merklich, hebt mich von seinem Schoß und rutscht auf den Platz neben mir.

„Okay, warum hast du das gesagt?“

Sein Blick wird ernst. „Ich habe das Gefühl, du nimmst das nicht ernst“, sagt er. „Ich meine das hier. Uns.“ Er deutet zwischen uns, um seine Worte zu unterstreichen.

„Wovon redest du bitte? Was waren dann die letzten zwei Jahre?“

„Ich habe ein Problem damit, dass du mich deinen Eltern nicht vorstellen willst“, sagt er. „Du hast meine doch schon tausendmal getroffen. Was ist los? Schämst du dich für mich?“

„Natürlich nicht!“, rufe ich mit einem verspielten Lächeln. „Ich will dich einfach ganz für mich allein haben.“

„Das ist nicht der wahre Grund“, sagt er. „Sei ehrlich.“

„Jack, es ist keine große Sache.“

Er sieht mir in die Augen. „Für mich ist es das. Wenn wir weiter zusammen sein wollen, uns wirklich aufeinander einlassen wollen, muss ich deine Eltern kennenlernen“, sagt er. „Sonst ist es aus.“

Keine Panik. Keine Panik. Keine Panik.

„Na gut. Ich verspreche dir, dass du sie kennenlernen wirst“, lüge ich. „Nur nicht am Abend des Abschlussballs, okay?“

„Gut. Dann vor dem Abschlussball.“

„Du bist so übereifrig.“ Ich mache Anstalten auf seinen Schoß zu klettern, um ihn abzulenken. „Glaub mir, meine Eltern werden dich enttäuschen.“

Er legt eine Hand auf meine Brust und schiebt mich zurück. Nicht fest. Nur gerade so, dass ich zurückweiche. „Leona. Ich muss sie kennenlernen“, wiederholt er. „Wenn du mich ihnen nicht vorstellst, ist es aus zwischen uns.“

Die Angst in mir verwandelt sich in Wut. „Das kannst du nicht ernst meinen!“

„Es ist mein voller Ernst.“

„Und ich werde dich ernsthaft nicht meinen Eltern vorstellen.“

„Na gut.“ Er steht auf, und Wasser rinnt an seinem Körper hinunter. „Dann begleite ich dich nicht zum Abschlussball. Und auch nirgendwo anders hin.“

„Was zur Hölle! Du weigerst dich wirklich, mit mir zum Abschlussball zu gehen, nur weil du nicht zu mir nach Hause kommen kannst?“

Sein Kiefer spannt sich an. „Nein, ich gehe zum Abschlussball. Mit jemand anderem. Ich mache Schluss mit dir, weil ich nicht zu dir nach Hause kommen kann.“

„Jack! Bist du verrückt geworden?“

Er starrt mich mit einer Mischung aus Wut und Mitleid an, steigt dann aus dem Whirlpool und geht davon.

Meine Wut hält mich davon ab, ihm hinterherzulaufen, auf die Tränendrüsen zu drücken und ihn anzuflehen, es sich noch einmal zu überlegen. Er hat keine Ahnung, was es mich gekostet hat, alles für den Abschlussball zu besorgen. Und er wird es auch nie erfahren, denn er kommt nicht zu mir nach Hause. Er wird meine Eltern nicht kennenlernen.

Wenn er mich nicht genug liebt, um meine Entscheidung zu respektieren, wenn er nicht einmal eine einfache Bitte erfüllen kann, dann soll er zur Hölle fahren. Ich brauche ihn nicht.

Ich starre ihm hinterher, bis er aus der Tür gegangen ist, dann sinke ich in den Whirlpool zurück, bis mir das Wasser bis zu den Augen reicht.

Bis keiner meiner Freunde mich weinen sehen kann.

Kapitel 5

Desiree – heute

Ich musste an der Rezeption anrufen, um extra Handtücher zu erbitten und kam mir dabei wie eine absolute Idiotin vor. Wie eine dieser arroganten Tussis, die frivole Forderungen stellen und all ihren Freunden erzählen, dass sie „den Angestellten etwas zu tun gegeben haben“, damit sie „ihr Gehalt verdienen“. Ich war die meiste Zeit meines bisherigen Erwachsenenlebens eine dieser niederen, Gehalt verdienenden Angestellten. Meistens im Gastronomiebereich. Jetzt, da ich richtig Geld auf dem Konto habe, bin ich fest entschlossen, mich niemals so zu verhalten wie diese Snobs.

Trotzdem kann ich mir diese eine Bitte nicht verkneifen. Nicht, weil ich anderen mehr Arbeit bereiten will, sondern weil ich fest plane, jedes einzelne der superweichen Handtücher, die derzeit im Badezimmer hängen, zu benutzen, und ich nach dem Abendessen frische brauchen werde.

Mein Zimmer hat einen echten Jacuzzi.

Na ja, es ist nicht wirklich ein normales Hotelzimmer. Mehr eine Suite auf unterschiedlichen Ebenen. Der Wohnbereich auf tieferem Niveau ist mit einem Fernseher ausgestattet, der mindestens 80 Zoll groß sein muss und die Fronten der Miniküche, die ich wahrscheinlich nie benutzen werde, sind auf Hochglanz poliert. Auf dem Balkon stehen luxuriöse Gartenmöbel, die zum Verweilen einladen, sowie eine eingemauerte Feuerstelle und ein ausziehbarer Sichtschutz. Links ab vom Wohnbereich befindet sich mein absolutes Traumschlafzimmer und auf der gegenüberliegenden Seite ist die Suite mit einem Badezimmer ausgestattet, in dem ich Baseball spielen könnte. Ich fühle mich wie ein Rockstar.

Ich kann nicht glauben, dass ich eine ganze Woche lang einen eigenen Jacuzzi haben werde.

Und dann wird mir etwas klar: Wenn der Jacuzzi so toll ist, wie ich es mir vorstelle, kann ich mir zu Hause einfach einen kaufen. Ohne darüber nachzudenken, wie viel das kostet. Ohne mir Gedanken darüber zu machen, wie ich ihn nach Hause transportieren und installieren soll, denn das übernehmen andere ab jetzt für mich.

Ich hätte nie im Leben gedacht, dass ich einmal reich sein würde. Ich komme immer wieder auf Gedanken, die früher schwierig bis unmöglich umzusetzen gewesen wären, aber jetzt kann ich einfach Geld dafür ausgeben und schon ist alles erledigt. Das ist unglaublich. Ich kann alles haben, was ich will.

Nun ja, fast alles. Ich kann meine Ängste nicht einfach verwerfen oder sie weghexen. Aber zumindest kann ich mich jetzt besser vor ihnen verstecken.

Während ich auf die Handtücher warte, schlendere ich durch das Wohnzimmer zu den Glasschiebetüren, die auf den Balkon führen. Draußen schneit es ziemlich stark. So viel zum besten Ausblick des ganzen Resorts, aber ich habe die Aussicht noch nie als besonders wichtig empfunden.

Werden wir eingeschneit werden? Das wäre nicht so schlimm, schon allein deshalb, weil es bedeuten würde, dass der Rest der Welt uns nicht behelligen kann.

Jemand klopft an die Tür und eine gedämpfte Stimme ruft: „Zimmerservice.“

Mein breites Lächeln verblasst, als mein Gehirn anfängt, paranoide Gedanken auszukochen, während ich durch den Wohnbereich gehe. Was, wenn er es ist? Das könnte jeder sein. Er hat sich eingeschleust, hat dich gefunden, er wird …

„Halt die Klappe“, rüge ich, genervt von mir selbst. Ich habe alles überprüft, bevor ich hierhergekommen bin. Er kann mich unmöglich gefunden haben. Ich bin nur wegen des Toten aufgewühlt, wenn es überhaupt eine Leiche war.

Als ich die Tür erreiche, lächle ich wieder.

„Ihre Handtücher, Ma'am“, sagt die Frau im Flur, die hinter dem hohen Stapel Handtücher kaum zu erkennen ist. Sie ist größer als ich, hat braune Augen und dunkelbraunes Haar, das zu einem straffen Zopf zusammengebunden ist, und trägt eine grau-schwarze Uniform, die fast wie Krankenhauskleidung aussieht, aber einen Schmetterlingskragen hat. Ihre Anstecknadel ist silbern statt golden. Wie bei Maura steht darauf einfach Etagenservice statt ihres Namens.

Ich muss sagen, dass ich das System des Resorts sehr schätze. Es ist besser als Namensschilder. Ich musste so etwas bei einigen meiner Jobs im Gastronomiebereich tragen, und es war schrecklich, wenn mich völlig Fremde mit meinem Namen ansprachen, als würden sie mich kennen.

„Perfekt. Danke“, sage ich und trete beiseite, um sie hereinzulassen.

„Kein Problem, Ma'am.“ Sie lächelt und geht zum Badezimmer, und ich eile zu der kleinen Küchenzeile, wo ich meine Handtasche abgestellt habe.

Als ich plötzlich reich war, beschloss ich als Erstes, großzügig Trinkgeld zu geben.

Die Frau vom Etagenservice kommt mit leeren Händen zurück und nickt mir zu. „Alles erledigt“, sagt sie. „Kann ich Ihnen weiter behilflich sein, Ma'am?“

„Nein, danke. Und bitte nenn mich Desiree“, sage ich zu ihr. In den letzten Monaten haben mich immer mehr Leute mit Ma'am angesprochen, und es fühlt sich einfach falsch an. „Freut mich, dich kennenzulernen …?“

„Elizabeth, Ma'am.“

„Elizabeth.“ Ich wiederhole ihren Namen, damit ich ihn mir einpräge, und begleite sie zur Tür. Als ich ihr die Tür öffne, strecke ich ihr den Zwanziger entgegen, den ich aus meiner Handtasche geholt habe. „Vielen Dank. Das ist wirklich sehr nett von dir.“

Sie schaut unsicher von dem Geldschein zu mir auf. „Ähm. Es sind nur Handtücher.“

„Ich weiß, aber ich bin dir dankbar.“

Nach einer schwangeren Pause nimmt sie das Geld und lächelt. „Danke, Ma'am. Ich meine, Desiree.“

„Natürlich. Ich wünsche dir einen schönen Abend.“

Elizabeth scheint überrascht. „Gleichfalls!“, antwortet sie, winkt mir zum Abschied zu, schnappt sich ihren Servicewagen, den sie vor der Tür stehen gelassen hat, und schiebt ihn den Flur hinunter.

Ich will gerade wieder ins Zimmer treten, als ich ein leises Läuten in der entgegengesetzten Richtung auf dem Flur höre, in die Elizabeth gegangen ist. Automatisch schaue ich in die Richtung, aus der das Geräusch kommt. Die Fahrstuhltüren gleiten auf und eine umwerfend schöne schwarze Frau mit langen, bronzefarbenen Locken, die hochgesteckt frisiert sind, tritt heraus. Sie ist elegant gekleidet und hat souveräne Ausstrahlung, und selbst von hier aus kann ich erkennen, dass alles, was sie trägt, teuer ist.

Obwohl ich sie seit fünfzehn Jahren nicht mehr gesehen habe, erkenne ich sie sofort.

Sie ist es.

Leona Kent wirft einen kurzen Blick auf den Etagenplan, dreht sich dann um und kommt selbstbewussten Schrittes auf mich zu. Sie schaut auf ihr Handy und hat mich noch nicht bemerkt. Ein Teil von mir möchte sie sofort zur Rede stellen und es hinter mich bringen. Andererseits möchte ich zurück in meine Suite flüchten, die Tür abschließen und mich bis zum Ende der Woche verkriechen.

Ich bin so hin- und hergerissen, dass ich mich nicht von der Stelle rühre. Ich stehe einfach da und starre sie an, bis sie langsamer wird und vor einer Zimmertür stehen bleibt.

Direkt nebenan.

Bevor ich mich aus meiner Lähmung lösen kann, steckt Leona ihr Handy in ihre Dior-Tasche und schaut fast beiläufig auf. Ihr Blick ist überrascht und sie muss zweimal hinschauen. Unsere Blicke treffen sich und ihre Augen weiten sich.

Ich öffne unwillkürlich den Mund, aber es kommt nichts heraus.

Leona schnaubt und rollt mit den Augen. Sie schüttelt die Schlüsselkarte aus einem kleinen Umschlag, zieht sie durch das elektronische Schloss, stößt die Tür auf und verschwindet wortlos in ihrer Suite.

Na toll. Das ist ja gut gelaufen.

Ich ziehe mich zurück und schließe meine eigene Tür. Das laute Krachen der Türen und Stampfen aus der Suite nebenan bestätigen, dass Leona sauer ist. Das war typisch für sie in der Highschool, obwohl sie zu mir normalerweise freundlich war. Zumindest bis zu diesem letzten Monat, als alles auseinanderzufallen begann.

Die alte Wut steigt in mir auf, aber ich unterdrücke sie. Ich habe kein Recht auf dieses Gefühl.

Ich seufze und lehne mich gegen die Tür, um den überwältigenden Drang zu unterdrücken zu schreien. Ich war darauf vorbereitet, wie schwer dieses Wiedersehen mir fallen würde, und doch ist es viel schlimmer. Wie soll ich mich heute Abend dazu zwingen, zum Abendessen zu gehen, geschweige denn zu den anderen Events, die offenbar für diese Woche geplant sind?

Um mich auf andere Gedanken zu bringen, steuere ich den Jacuzzi an.