Kapitel 1
Als Sven Schubert zu sich kam, überfiel ihn ein schmerzhaftes Pochen in seinem Hinterkopf. Zugleich beschleunigte sein Herzschlag. Es fühlte sich so an wie nach einer ausufernden Nacht, in der er zur Steigerung des Lustschmerzes zu viel von diesem Teufelszeug inhaliert hatte. In Kombination mit Alkohol verursachte die Inhalation von Amylnitrit bei ihm am nächsten Tag just das Gefühl, extrem verkatert zu sein. Der dumpfe Kopfschmerz wurde wie üblich nach zwei tiefen Atemzügen erträglicher, obwohl die Luft stickig war und sicherlich wenig sauerstoffhaltig. Er bekam nur durch die Nase Luft, weil ein Knebel in seinem Mund steckte und ein Klebeband ihn versiegelte. Ein zweiter Schmerz gesellte sich nun mit hinzu. Auch der war ihm nicht unbekannt. Fest verzurrte Seile schnitten in seine Arm- und Fußgelenke. Er lag auf dem Rücken. Seine Hände waren über dem Gesäß verschnürt und fühlten sich taub an. Der Boden war kalt wie Eis und sorgte dafür, dass das Taubheitsgefühl an diesen Stellen trotz kleiner Bewegungen nicht verschwinden wollte. Nackt hier zu liegen, erregte ihn. Erst jetzt nahm er wahr, dass sich ein Seil um seine Beine bis zu den Oberschenkeln und um seine Genitalien schlang, die von der festen Bindung nun ebenfalls zu schmerzen begannen. Das war etwas, was während eines Spiels besonders seine Begierden erweckte, genau wie der Umstand sich kaum bewegen zu können. Beißende Kälte kroch immer tiefer in ihn hinein. Die fest anliegende Augenbinde ermöglichte es, nur an einer Stelle durch einen schmalen Schlitz hindurchsehen. Nichts als Holzdielen um ihn herum. Und mittendrin sein gefesseltes Fleisch. Wie lange lag er schon hier? Ein Spiel? Aber gleich so heftig? Er stieß einen Brummton aus, in der Hoffnung, dass er eine irgendwie geartete Antwort bekam. Eine Demütigung mit schneidender Stimme, was ihn während eines Spiels besonders erregte. Irgendeine Reaktion. Nichts! Beobachtete ihn jemand, wie er dalag? Sven nahm es an. Fieberhaft überlegte er, wie er in diese Lage gekommen war. Gestern noch im Klub. Diesmal allein. Die Rothaarige. Sie hatte ihn auch gefesselt, auf den Rücken gelegt und sich dann von ihm just in diesem Zustand nehmen lassen. Geritten hatte sie ihn. Danach noch ein Drink an der Bar. Er kannte nicht einmal ihren Namen, oder hatte er ihn nur vergessen? Wie war er heimgekommen? Sven konnte sich nur bruchstückhaft erinnern. An die Kälte vor der Tür des Klubs. Ein paar Schritte draußen. Filmriss.
Ein erneuter Versuch, sich brummelnd zu äußern, führte ebenfalls zu keinem Ergebnis. Sich zur Seite zu bewegen, scheiterte.
Plötzlich vernahm er das Geräusch eines Streichholzes, das an einer Schachtel entzündet wurde. Kurz danach das Fauchen einer Flamme. Es hörte sich an, als würde er seinen Gasgrill anwerfen. Jemand wollte anscheinend nicht, dass er so fror. Endlich. Sven glaubte, die Wärme bereits von den Fußsohlen aufwärts zu spüren. Er versuchte, sich unter größter Anstrengung etwas aufzurichten, zumindest den Kopf, und sah einen Flammenkranz von unten an den Boden eines Quaders aus Metall züngeln. Eine Art Ofen? Daneben stand jemand. Dunkel gekleidet. Schwarze Hose, ein Mantel in der gleichen Farbe. Mehr konnte er aus diesem Blickwinkel nicht sehen. Von der Statur her ein Mann. Er trug helle Gummihandschuhe. Warum reagierte er oder berührte ihn nicht? Eine gewisse Unruhe wusch den anfänglichen Glauben, sich hier in einer inszenierten sexuellen Fantasie vorzufinden, weg. Sie schlug in Angst um. Keine Kommunikation. Sven sah nun nur zwei unbewegte Beine vor sich. Weiter konnte er den Kopf nicht heben. Dann griffen zwei kräftige Hände nach seinen Füßen. Sein Rücken schmerzte, als der Fremde ihn in Richtung des Metallbehälters zog und seine Beine etwas anhob. Nun spürte er die Wärme, die von diesem Flammenkranz ausging, auch an den Waden. Der untere Rand des Metallquaders hatte sich bereits erwärmt. Seine Kante war sogar heiß. Dort legte der Mann Sven mit den Füßen voran ab. Das beinahe sengende Metall schnitt in die Haut der Fersen. Svens Puls beschleunigte. Er brummelte in Protest, doch das half nichts, denn mit einem weiteren Ruck steckten seine Beine bereits bis zum Po in diesem Gefäß. Die Eisenkante war noch heißer als zuvor.
Er vernahm Schritte um sich herum. Die Schuhsohlen des Fremden scheuerten auf dem Boden. Zwei kräftige Hände umschlossen seine Hüfte und hievten sie nach oben. Sein Gesäß verschwand nun gänzlich in der Öffnung, aus der Wärme strömte. Nun spürte er die Finger des Fremden an seinen Armen. Sie krallten sich um die Stricke, die ihn gefesselt hielten. Der Fremde stöhnte vor Anstrengung. Er war kräftig genug, um einen Teil von Svens Oberkörpers in das Gefäß zu schieben. Seine Beine stießen gegen die Metallwand, die sich ebenfalls bereits erhitzt hatte. Der Fremde kippte Svens Körper zu Seite, um seinen restlichen Oberkörper durch diese Öffnung nach drinnen zu bugsieren. Panik stieg in ihm auf, weil er sich nicht aus seinem festen Griff winden konnte. Das war kein Spiel mehr. Sven versuchte, zu schreien. Der Knebel ließ aber nur gedämpfte, erstickte Laute zu. Sie endeten in unverständlichem, kehligem Brummen, schließlich in kläglichem Wimmern. Sven sah nur noch schwarze Schuhe, die auf dunklen Holzbrettern tänzelten, danach die Kante des Gefäßes. Es war groß genug, um ihn gänzlich aufzunehmen. Lediglich sein Kopf ragte weiterhin nach draußen. Dann spürte er die Hand des Fremden an seinem Gesicht. Er riss ihm den Klebestreifen von den Wangen und zog den Stoffknebel aus seinem Mund, bevor er ihm einen letzten Stoß gab und Svens Kopf gegen den Boden des Metallgefäßes fiel, wobei eine erneute Schmerzwelle ihn fast besinnungslos machte. Eine Tür schloss sich. Metall schlug auf Metall.
„Was wollen Sie? Wer sind Sie?“, keuchte er. Darauf bekam Sven keine Antwort.
„Lassen Sie mich raus. Ich will das nicht“, schrie er, so laut er nur konnte.
Die Wärme aus dem vorderen Teil des Metallgefäßes ließ nun Leben in seine Schultern fahren. Sven drehte sich zur Seite. Die eingeschnürten Handgelenke schmerzten. Noch schlimmer an den Füßen, denn im hinteren Bereich des Gefäßes, den sie berührten, wurde es heiß – unerträglich heiß. Sven versuchte, sie vom Boden abzuheben, was kurz gelang, weil seine Bauchmuskulatur trainiert war, doch die Hitze erreichte sein Gesäß und schien es zu verschmoren.
„Lass mich raus!“, brüllte er.
Nun wurde auch der vordere Teil des ihn umschließenden Metallgefäßes immer heißer. Er hatte das Gefühl, dass die Haut seiner Oberarme, auf die er seitlich gestützt lag, zu verbrennen drohte. Den Oberkörper anzuheben, erforderte es, die Beine wieder abzulegen – auf siedend heißes Metall. So fühlte es sich an, wenn man sich mit kochendem Wasser verbrühte. Es roch nach verbranntem Fleisch.
„Ich will raus!“ Noch gab seine Kehle Laute von sich. Er musste ihn hören, denn oben waren zwei Öffnungen, durch die etwas Licht fiel. Ihm schien, als würde seine Stimme merkwürdige Geräusche erzeugen, als ob jemand in ein Horn blies.
„Ich verbrenne. Raus. Aufmachen!“ Wieder dieses Röhren, das seine Stimme erzeugte. Und es wurde immer heißer. Entkräftet fiel sein Oberkörper auf den Boden. Noch mehr verbranntes Fleisch. Er schrie und versuchte, an die Seite des Quaders zu rutschen. Nun befiel der Verbrennungsschmerz den Rücken. Er brüllte den Schmerz aus sich heraus. Es roch verschmort, und wohin er seinen Körper auch bewegte, verbrannte er sich. Eine schier unerträgliche Qual. Die Luft erwärmte sich rasant, drang heiß in die Lunge. Seine Schreie klangen nicht mehr menschlich. Es waren spitze Töne, die draußen wie ein Trompetenton nachhallten. Immer schriller, bis sie in einem Krächzen erstarben und die Luft kaum noch Sauerstoff in seine Lungen fahren ließ. Sein Herzschlag beschleunigte und überschlug sich. Der ganze Körper – ein einziger Brandherd. Überall sengende Hitze. Er versuchte erneut, die unerträglichen Schmerzen aus sich herauszuschreien, doch seine Stimme versagte. Er röchelte nur noch. Kein Sauerstoff mehr. Ein letzter Atemzug. Die Luft versengte die Atemwege und schnitt wie ein Messer in die Lunge, bis sein Herz krampfte, er sich aufbäumte und ihn die erlösende Schwärze empfing.
***
Emelie ließ sich wie jeden Morgen von sanftem Geplätscher eines Gebirgsbaches aus dem Lautsprecher ihres Ambilight-Weckers aus dem Schlummer kitzeln, einer Leuchte mit integrierter Soundbibliothek, die ihr Schlafzimmer peu à peu in warmes Licht tauchte. Nichts war für sie schlimmer, als wie früher während ihrer Schul- und Studienzeit brutal von einem aufdringlichen Summton aus dem Schlaf gerissen zu werden. Die Möbel um sie herum nahmen nun Kontur an. Ein Wohlfühlraum mit dunklen Holzmöbeln vor einer in sanften Olivtönen gestrichenen Wand. Ein Buddha zierte das Eck neben dem Fenster. Er sah dort besser aus als auf der anderen Seite zwischen der Tür und dem Schränkchen, auf dem ein riesiger Fernseher stand, der jede Nacht für einschläfernde Dokus oder Videoclips sorgte. Emelie hatte ihn erst letzte Woche auf Ebay erstanden. Ihr Vater behielt bezüglich der Eingewöhnungszeit in eine neu bezogene Wohnung recht. Es dauerte eine Weile, bis dort alles seinen Platz fand. Auch noch nach gut einem viertel Jahr, nachdem sie dieses Dreizimmer-Penthouseappartement in der Offenburger Innenstadt bekommen hatte. Angesichts des angespannten Wohnungsmarktes vermutlich nur deshalb, weil die Presse sie im letzten Sommer anlässlich der Aufklärung der mysteriösen Serienmorde überschwänglich gelobt hatte und die Vermieterin in ihr eine Art Heldin sah, die ihrer Meinung nach für Sicherheit im Haus sorgte.
Emelie streckte sich und richtete sich im Bett auf. Der Sprachassistent ihrer unter dem Fernseher platzierten Soundbar fuhr nach Anweisung die Rollos hoch. Letztlich eine gänzlich sinnlose Aktion, weil es im November um halb sieben morgens stockdunkel war. Die am Vorabend in den Luftwäscher geträufelten ätherischen Öle verströmten noch immer ihren Duft. Ein paar Tropfen Jasmin, Ylang-Ylang und Sandelholz – ihre Lieblingsmischung, um sich zu entspannen. Angeblich hatten diese Aromaöle auch eine aphrodisierende Wirkung, doch um das zu testen, bedurfte es eines ebenso aphrodisierenden Mannes. Mangels Zeit und Gelegenheit blieb es bei gelegentlichen süßen Träumen.
Auf dem Weg in die Küche am anderen Ende des Gangs dachte Emelie, dass sie im Grunde genommen genauso gut im Haus ihres Vaters hätte wohnen bleiben können. „Space for a Date“, mehr Freiräume und Privatleben hatte sie sich erhofft. Pures Wunschdenken. Wenigstens hatte sie vor ihrem Auszug nicht allein zu Abend essen müssen. Aber das hinnehmen, um sich seinen Frust über die Fehlgriffe von Justitia anzuhören? Emelie fragte sich, was wohl besser war. Apropos Date. Yans Nachricht auf dem Sprachassistenten mit Bildschirm, der neben der Kaffeemaschine ihrer De-luxe-Einbauküche stand, sprang ihr gleich ins Auge.
Heut beim Hirschen? Schmorbraten? Hast du Lust? Und Zeit?
Emelie musste unwillkürlich schmunzeln. Ein Franzose schlug ihr doch glatt vor, in einer gut bürgerlichen badischen Gaststätte zu speisen. Zeit? Das wusste Emelie noch nicht. Es hing vom Dienst und dem Tagesgeschehen in ihrer Schicht ab. Lust? Emelie drückte erst einmal den Knopf der Kaffeemaschine und kam, während sie vor sich hinratterte, zu dem Schluss, durchaus Lust darauf zu haben. Wobei bei Yan selbst nach Monaten, seit sie sich anlässlich ihres ersten großen Falls kennengelernt hatten, immer noch nicht klar war, ob aus einer soliden Freundschaft mehr werden würde. Wer sich zwei Mal in den Falschen verliebt hatte, der zog die Friends with Benefits-Variante einer festen Beziehung vor. Aber Freundschaft mit Bettgeflüster? Mit dem Adonis? Zwar schon oft vorgestellt, doch mit Kollegen fing man nichts an, auch wenn sie auf der anderen Seite der Grenze im benachbarten Frankreich arbeiteten. Bis die Kaffeetasse gefüllt war, kam sie zu dem Schluss, dass es noch einen anderen Grund dafür gab, weshalb sie vor einem Abenteuer mit Yan zurückschreckte. Am Ende wäre ihre Freundschaft dann früher oder später im Eimer. Er ließ nichts anbrennen. Typ Womanizer. Noch viel beängstigender war, dass möglicherweise mehr daraus werden könnte, lebensverändernd, und genau diese Möglichkeit machte ihr die Entscheidung schwer.
Emelie beschloss, ihm nach der Dusche eine Textnachricht zu schicken, dass sie sich später bei ihm meldete, wenn sie wusste, was heute im Dienst auf sie wartete.
„Spiel aktuelle Klubmusik“, befahl sie dem Sprachassistenten des Geräts vor ihr, damit sie den Sound auch noch im Badezimmer hörte. Die Beats machten wach. Mal wieder in einem Klub die Nacht durchmachen? Mit Yan? Dann doch lieber beim Hirschen reichhaltig schlemmen.
***
Emelie verließ das Haus, überquerte den Innenhof der Wohnanlage und steuerte auf die Fahrradständer neben dem betonierten Müllhäuschen zu. Sie überlegte angesichts der ihr entgegenschlagenden Kälte für einen Moment, doch in die Tiefgarage zu gehen, um mit dem Wagen zum Dienst zu fahren. Wenigstens regnete es nicht. Nichts da! Da saß sie wahrscheinlich wieder den ganzen Tag am Schreibtisch, wie in den letzten Wochen, in denen sich mangels schwerer Delikte, die ihre spezielle Profilerausbildung auch nur ansatzweise forderten, kaum Gelegenheiten für einen Außeneinsatz ergeben hatten. Ob Stehle, ihr Chef, bereits bereute, sie nach der Probezeit fest angestellt zu haben? Emelie fragte sich das, während sie ihr Fahrrad von der Kette nahm und es vom Ständer schob. Ein Ehrenmord vor drei Wochen – innerhalb von wenigen Stunden aufgeklärt. Eine Schießerei zwischen zwei Gangs – banale Ermittlerarbeit. Ein Mord aus Eifersucht. Schnell geklärt. All dies war eine eher magere Beschäftigungsgrundlage für jemanden wie sie. Und dennoch hatte Stehle bereits zwei Anfragen vom LKA und BKA mit der Begründung abgewürgt, dass sie in seinem Team gebraucht wurde. Immerhin war ihr Name diesen Behörden mittlerweile ein Begriff und mal sehen, was die Zukunft brachte. Emelie trat beflügelt von der sich in Erinnerung gerufenen Erkenntnis in die Pedale. Stehle schätzte sie und das aktuelle Team funktionierte. Hauptsache, sie wurde angefragt. Weitere Sprossen auf der Karriereleiter warteten nur darauf, erklommen zu werden. Wenn nicht heute, dann eben morgen. Der Gedanke war erfrischender als der kalte Fahrtwind, der ihr entgegenblies. Damit einher kam aber auch die Ernüchterung, dass es ihr im Grund genommen gar nicht um die große Karriere ging, sondern mehr um die Möglichkeit, sich zu beweisen, was im Raum Offenburg mangels entsprechender Straftaten eher unwahrscheinlich war.
Obwohl ihr neues Zuhause in einem anderen Viertel lag, blieb ihr jene Kreuzung, an der sie ihre zweite große und nicht minder verhängnisvolle Liebe vor einem halben Jahr getroffen hatte, nicht erspart, um Umwege zu vermeiden. Mittlerweile brachte sie es sogar fertig, sich in der dort befindlichen Bäckerei, wo sie sich das erste Mal näher kennengelernt hatten, belegte Brötchen zu kaufen – aber erst seit wenigen Wochen. An dem Ort klebten schmerzhafte Erinnerungen. Manchmal, wenn sie zu spät dran war, achtete sie lediglich auf den Verkehr – in Gedanken woanders. Nur die berühmt-berüchtigten Rotphasen dieser Ampel kamen ihr dabei in die Quere. Und ausgerechnet heute stand dort jemand, der von hinten genauso aussah wie Roman. Die Schubladen ihrer Erinnerung sprangen auf. Der daran geknüpfte Schmerz blieb aus, obwohl ihr der Mann vor der Haltelinie genau wie Roman ein einnehmendes Lächeln schenkte. Die Ampel sprang auf Grün. Sie trat so kräftig, wie sie nur konnte, in die Pedale, um der Erinnerung davonzufahren. Romans Tod wieder als Episode ihres Lebens betrachten zu können, genau wie den ihrer Mutter oder ihre Zeit mit Jürgen, was nicht minder schmerzhaft war, und dagegen all die glücklichen Lebensabschnitte zu stellen, schuf ein inneres, wenngleich nicht immer stabiles Gleichgewicht, was für die Ausübung ihres Berufs unabdinglich war. Erinnerungen konnten emotionslos sein. Sie hatte sich diesbezüglich im Griff. Dennoch war Emelie froh, sich heute in der Bäckerei nichts für den Dienst gekauft zu haben.
***
Wenn Emelies Kollege Kurt, der Dienstälteste mit Wohlstandsbäuchlein und ihr Mann für alles, was sich mittels modernster Computersoftware und Zugang zu Datenbanken schnell herausfinden ließ, zu Dienstbeginn nicht bereits eine Riesenstulle in der Hand hielt, sondern eifrig auf die Tastatur des Rechners einhackte, mussten besondere Umstände vorliegen. Immerhin bemerkte er, dass sie eintrat und sich die von der Fahrradtour steif gefrorenen Finger rieb. Weil das nicht viel brachte, ebenso wenig, sie anzuhauchen, presste sie sie kurzerhand gegen den nächstbesten Heizkörper, um wieder Leben in sie fahren zu lassen.
„Morje“. Das Badische „guten Morgen“ kam ihr mittlerweile ganz automatisch über die Lippen.
Kurt erwiderte es sofort. Auch Heiner, ihr Kollege, mit dem sie bei Außeneinsätzen zusammenarbeitete. Er schien ebenfalls den Bildschirm zu küssen. Woran er arbeitete, konnte Emelie aufgrund seines stämmigen Körperbaus nicht sehen. Seine Frau nannte ihn zu Recht „Bärchen“. Er war aber eher ein Mitte Dreißigjähriger und somit ausgewachsener Bär, der bei Einsätzen zuzupacken wusste. Es war schön, sich mit den beiden das Büro zu teilen. Ihr Chef gehörte auch dazu, doch eine mit Jalousien versehene Glaswand trennte die zwei Räume voneinander ab.
„Trink erst mal einen heißen Kaffee. Vor zehn Minuten aufgebrüht“, schlug Kurt vor.
„Gibts irgendwas Besonderes?“ Emelie sprach ihn am besten gleich direkt darauf an.
„Stehle telefoniert noch immer mit dem LKA.“
Emelie ging zur Kaffeemaschine auf der Anrichte hinter Kurts Schreibtischinsel. Die Brühe schmeckte nicht wesentlich besser als vom Automaten auf dem Gang, aber sie wärmte von innen. Es war noch genug Kaffee in der Kanne. Emelie schenkte sich gleich welchen in einen Becher.
„Leichenfund in einer Ferienhütte in Frankreich. Und ein richtig übler“, klärte Heiner sie auf.
Emelie näherte sich Kurts Schreibtisch und äugte nun doch auf seinen Bildschirm. Er hatte sich offenbar einen älteren Artikel herausgefischt, von dem sie nun immerhin einen Teil der Überschrift lesen konnte.
„Verbrannt? Brandstiftung?“
„Ich suche nach ähnlichen Fällen, aber so etwas hatten wir noch nie.“ Kurt schüttelte entgeistert den Kopf.
„Wieso sind wir zuständig und nicht die Franzosen?“ Emelie nippte am Kaffee.
„Die Hütte gehört einer Familie in Offenburg“, erklärte Kurt.
Emelie erreichte ihren Schreibtisch, der dem von Heiner gegenüberstand, legte erst einmal ihre Winterjacke ab und nahm dann Platz, um sich die Hände am noch heißen Becher zu wärmen.
„Nach Angaben der Kollegen ist jemand in einem Behälter lebendig gegrillt worden.“ Heiner verzog das Gesicht.
„Was?“ Emelie hatte während ihrer Ausbildung in den USA schon mehrere kuriose und brutale Morde mitbekommen. So etwas jedoch noch nicht.
„Sieht ganz nach jeder Menge Arbeit für dich aus“, kommentierte Kurt.
„Yan hat dich angefragt.“ Heiner grinste.
Ihm war nicht entgangen, dass Yans Interesse über das berufliche hinausging. Sie verheimlichte es ihm gegenüber aber auch nicht. Nachdenklich nippte sie an ihrem Kaffee. Das alles musste sie erst einmal sacken lassen.
„Gutenberg!“ Stehle stand in der offenen Tür zu seinem Büro. Er winkte sie zu sich.
Emelie leerte den Becher, stellte ihn auf dem Schreibtisch ab und erhob sich, um der Aufforderung ihres Chefs Folge zu leisten. Er hasste es, wenn man ihn warten ließ.
Kurt und Heiner tauschten Blicke, aus denen Emelie las, dass sie das krude Verhalten ihres Chefs, ihr nicht einmal wenigstens einen Gutenmorgengruß zukommen zu lassen, ebenfalls missbilligten. Aber so war Stehle nun mal. Mit Stress konnte er nicht gut umgehen. Und dass er gestresst war, sah sie an seinen hektischen Flecken am Hals.
„Ein Toter in Frankreich. Verbrannt. Eigentümer sind Deutsche.“ Emelie ließ ihn auf dem Weg zu seiner gläsernen Parzelle gleich wissen, dass ihr Team sie eingeweiht hatte.
Stehle nickte, bat sie herein und bot ihr an, Platz zu nehmen, bevor er sich selbst auf den Sessel hinter dem Schreibtisch fallen ließ.
„Leblanc hat Sie offiziell angefragt.“
Emelie hatte damit gerechnet, mehr Informationen bezüglich des Leichenfunds zu bekommen. Dass Yan sie dabeihaben wollte, wunderte Emelie nicht – aus persönlichen und beruflichen Gründen.
„Was genau ist passiert?“
„Wir haben noch keine Details. Deswegen sollen Sie den Fall ja übernehmen. Da muss wieder irgendein Psycho am Werk gewesen sein.“
„Ein Unfall ist ausgeschlossen? Eine Selbstverbrennung?“ Auch von diesen Fällen hatte sie gehört.
„So viel ich bisher weiß, steckte die Leiche in einem Metallbehälter, der von außen abschließbar war. Darunter stand ein Gasbrenner. Anscheinend sollte da jemand lebendig gebraten werden.“
Emelie schluckte.
„Da denkt man, dass einen nichts mehr überraschen kann …“, sinnierte Stehle.
„Wie hat man die Leiche gefunden? Vielmehr wer?“
„Als die Polizei eintraf, stand der Behälter offen. Sonst wäre wohl so schnell niemand darauf aufmerksam geworden. Ein Spaziergänger hat den penetranten Geruch bemerkt.“
„Das LKA wollte den Fall. Mit mir?“
Stehle sah sie überrascht an. Er machte sich in dem Moment wohl klar, dass ihre Kollegen ihr sein Telefonat mit dem LKA gesteckt haben mussten.
„Die Ferienhütte gehört einer Familie aus Offenburg. Unser Zuständigkeitsbereich. Und Sie arbeiten für uns“, erklärte Stehle mit unschuldigem Blick.
So wie er sie ansah, kam ihr der ketzerische Gedanke, dass er sich wahrscheinlich wieder mit ihren Federn schmücken wollte – sofern sie den Fall aufklärte.
„Kurt gibt Ihnen die Geodaten. Ich bin gespannt auf Ihren Bericht.“
Mehr gab es zu diesem Fall anscheinend nicht zu sagen.
„Außerdem arbeiten Sie doch gut zusammen. Yan und Sie.“ Stehle sagte ihr das, nachdem sie bereits aufgestanden war.
„In der Tat.“ Auch dazu gab es nicht mehr zu sagen. Emelie verdrehte die Augen erst, als sie die Türklinke in der Hand hatte und nach draußen ging.
***
Normalerweise wäre Heiner bei Außeneinsätzen, die zu einem wie auch immer gearteten Tatort führten, an ihrer Seite. Meist fuhr er, wenn es mit Blaulicht schnell gehen musste. Eile war heute nicht geboten und da Yan auf sie warten würde, hatte Stehle ihn dazu verdonnert, gemeinsam mit Kurt herauszufinden, welchen Berufen die Eigentümer der Ferienhütte nachgingen und ob etwas gegen sie vorlag. Ferner die gesamte Gegend nach Vermisstenanzeigen und Fällen abzusuchen, bei denen es zu Streitigkeiten mit gegenseitigen Anzeigen oder Gewalttätigkeiten gekommen war. Es war schließlich nicht auszuschließen, dass jemand auf diese makabre Weise versucht hatte, eine Leiche verschwinden zu lassen. Emelie schloss das aus, denn dafür gab es andere Möglichkeiten, und wenn es nur ein Versenken im Rhein war. Während der Fahrt mit dem Dienstwagen auf der Landstraße, die in ein bewaldetes Gebiet führte, fiel ihr noch etwas ein, dem sie nachgehen sollten. Flink drückte sie die Schnellwahltaste für Heiners Nummer auf dem Display ihres Cockpits. Er ging auch gleich ran.
„Bist du schon dort?“ Heiner klang verwundert.
„Laut Navi noch um die zehn Minuten. Habt ihr mittlerweile Fotos vom Tatort?“
„Sind vorhin per Mail eingetroffen. Offen gestanden bin ich froh, nicht mit dabei zu sein. Richtig übel.“
Emelie atmete tief durch. Wenn Heiner, der sich jeden Splatterfilm im Kino ansah, das sagte, dann wartete etwas auf sie, was ihr bestimmt Albträume bescherte.
„Habt ihr auch Fotos von diesem Behälter?“
„Ein Quader aus Metall, vermute ich mal.“
„Klemm dich mit Kurt dahinter, herauszufinden, wo man so etwas kaufen kann.“
„Im Baumarkt sicher nicht. Sieht irgendwie aus wie der Flammkuchenofen meines Vaters, nur wesentlich größer.“
„Dann kontaktiere alle Schlosser in der Gegend. Irgendwoher muss das Teil ja schließlich kommen.“
„Geht klar. Und grüß mir Yan.“
Den komischen Lacher im Abgang hätte Heiner sich ersparen können, sie nahm es ihm aber nicht übel. „Mach ich.“ Sie sagte es trotzdem kurz angebunden und beendete das Gespräch. Anscheinend ging die gesamte Einheit bereits davon aus, dass etwas zwischen ihr und ihrem französischen Kollegen lief. Das tat es auch, allerdings anders, als sie es sich ausmalten.
Emelie versuchte, sich die Frage zu beantworten, ob er mittlerweile nicht doch schon mehr als nur ein Freund war. Definitiv. Freund und Therapeut, der ihr in endlosen Gesprächen über Roman Fitz’ Tod hinweggeholfen hatte. Mit Humor. Mit brachialer Ablenkung. Emelie musste in Gedanken daran schmunzeln, denn er hatte sie in so ziemlich jede Veranstaltung geschleppt, die für Zerstreuung sorgte. Vermutlich hatte sie an freien Tagen in den letzten Monaten jede Ausstellung und jedes Kultur-Event in der heimatlichen Gegend gesehen.
Als sie von der Hauptstraße in den Feldweg abbog, der mitten in einen Wald führte, fielen ihr ihre sonntäglichen Spaziergänge just durch die Wälder ein. Natur reinige die Seele. Yans Worte. Auch damit hatte er recht behalten. Was vor ihr in der Hütte, die am Ende des Weges auftauchte, auf sie wartete, würde die Seele allerdings wieder verschmutzen. Dessen war Emelie sich sicher.
Sein Auto stand neben zwei weiteren Einsatzfahrzeugen und einem Leichenwagen direkt vor der Hütte. Emelie hielt ihren Wagen daneben. Sie entdeckte Yan auf einer kleinen Lichtung in unmittelbarer Nähe – eine Zigarette in der Hand. Als er auf sie aufmerksam wurde, nahm er einen letzten kräftigen Zug und schnippte sie weg. Emelie stieg aus und ging zu ihm.
„Salut Emelie. Offen gestanden wäre ich lieber mit dir zum Essen gegangen.“ Er verzog das Gesicht, als er zur Hütte sah.
„Können wir doch trotzdem.“
„Die Lust auf einen Schmorbraten ist mir vergangen. Vermutlich für immer“, sagte er.
„So schlimm?“
„Du hast die Bilder noch nicht gesehen?“
Emelie schüttelte den Kopf und folgte Yan zur Hütte, vor der mittlerweile zwei uniformierte Polizisten und ein grau melierter Mann in Zivil standen. Vermutlich ein Bestatter, überlegte Emelie. Schon als sie die Stufen betrat, schlug ihr ein süßlich fauliger Geruch entgegen, der Übelkeit hervorrief.
Der mutmaßliche Bestatter zog aus seiner Jackentasche eine Atemmaske hervor und stellte sich erst danach vor. „Bergerac. Ich habe noch Mentholsalbe.“
Emelie überraschte nicht, dass er Deutsch sprach, wie so viele Einsatzkräfte der Polizei im deutsch-französischen Grenzgebiet.
„Geht schon.“ Sie legte sich nur die Maske an und folgte Yan, der gänzlich auf eine Maske verzichtete, hinein. Emelie hasste den beißenden Geruch dieser Salbe. Sie gedachte zudem nicht, ewig in der Hütte zu verweilen. Ihre Augen brauchten einen Moment, um sich an das diffuse Licht der an der Decke befestigten Glühbirne zu gewöhnen. Einer von Yans Kollegen reichte ihm eine Taschenlampe.
„Bereit?“, fragte Yan nach.
Emelie nickte. Dann ging das Licht der Taschenlampe an. Zunächst sah sie nur den Behälter, ein metallener Quader, unter dem ein ringförmiger Gasbrenner stand, der über dicke Schläuche mit einer Propangasflasche verbunden war. Emelie wurde auf grobe Lötstellen und Verschraubungen an den Kanten des Quaders aufmerksam. Das deutete darauf hin, dass sich Heiner die Recherche nach einem Hersteller von Behältern dieser Art sparen konnte. Warum aus dem oberen Teil zwei schmale Röhren ragten, erschloss sich ihr nicht. Der Lichtkegel wanderte dann zur aufgeklappten Öffnung. Yan leuchtete hinein. Emelie stockte der Atem, als sie darin die von Brandblasen übersäte Leiche sah. Die Haut war dunkel, an einigen Stellen gelöst. Zweifelsohne ein männlicher Körper. Am Kopf kräuselten sich nur noch wenige versengte Haare. Die Augen wirkten eingefallen, der halb offenstehende Mund erinnerte sie an den einer Mumie. Sie entdeckte Stricke am Körper des Toten, die sich lediglich verfärbt hatten, aber noch intakt waren.
„Hände nach hinten gefesselt, Beine und sogar die Genitalien“, kommentierte Yan.
Emelie hatte genug gesehen und wandte ihren Blick ab.
„Ich frag mich, wie die den in einem Stück rauskriegen“, fuhr Yan fort.
„Das schaffen wir schon“, sagte Bergerac.
„Stehle will, dass Sander die Leiche untersucht“, erklärte Yan.
„Du bist damit einverstanden?“ Emelie rechnete eher mit Kompetenzgerangel.
„Warum nicht? Unsere Leute reißen sich bestimmt nicht darum.“ Yan sah zum Bestatter. „Bringen Sie die Leiche zur Rechtsmedizin nach Offenburg.“
Er nickte, kurz und schmerzlos.
Emelie trat hinaus und zog sich die Maske erst herunter, als sie einige Meter von der Hütte trennten.
„Die Entsorgung eines Toten können wir bei der Tat ausschließen“, sagte Yan. „Den müsste man vorher nicht so verschnüren. Stehle hat mir gegenüber am Telefon diesen Verdacht geäußert.“
„Das Opfer war also noch am Leben, bevor …“ Emelie empfand diesen Gedanken als schier unerträglich.
„Sieht ganz danach aus.“ Yan war ebenfalls kreidebleich und inhalierte die frische Waldluft.
Emelie sah zurück zur Hütte. Der Bestatter und einer der Polizisten holten einen Leichensack und eine Bahre zum Abtransport des Toten aus dem davor geparkten Transporter.
„Ein Racheakt?“ Yan sah nun ebenfalls zum Eingang der Hütte.
„Können wir ausschließen. Wer immer das getan hat, er wollte, dass das Opfer leidet. Es war geplant. Der Behälter. Ich glaube nicht, dass der zur Ausstattung der Ferienhütte gehört. Der Gasbrenner darunter, um genug Hitze zu erzeugen. Der Mann war nackt. Die Fesselung …“
Yan nickte stumm.
„Hast du die Lötstellen gesehen?“
„Selbstgemacht das Teil.“ Yan kam zur gleichen Schlussfolgerung.
„Ich kann mir keinen anderen Zweck dafür denken. Und wozu diese Röhren?“, fragte Emelie.
„Damit Luft reinkommt oder die Hitze entweichen kann?“ Yan wirkte ratlos.
„Ich bin gespannt, was die Eigentümer dazu zu sagen haben“, sagte Emelie.
„Kennst du den Film Texas Chainsaw Massacre?“, fragte Yan.
„Du schaust auch so einen Mist?“
„Wer noch?“
„Heiner liebt Horrorfilme. Aber ich hab den vor Jahren tatsächlich auch gesehen. Du meinst also, wir treffen auf so eine abgefahrene Familie, eine Gruppe von Geisteskranken, die Leute wahllos überfällt und sie dann massakriert?“
„Nein. So etwas wohnt nicht in einem bürgerlichen Wohngebiet in Offenburg.“
Yan hatte also auch seine Hausaufgaben gemacht. Emelie war gespannt auf den Besuch bei Familie Gruber, der diese Hütte gehörte.
***
Emelie hatte sich mit Heiner darüber verständigt, dass niemand die Grubers vorab über einen Besuch der Kripo informierte. Kurts Recherchen, die er ihnen kurz vor Abfahrt nach Offenburg mitgeteilt hatte, sprachen die Grubers von jeder nur denkbaren Sünde frei. Er hatte herausgefunden, dass Herr Gruber in einer leitenden Stellung für die Stadtwerke tätig war, der Sohn studierte und Frau Gruber bis vor Kurzem halbtags in einer Steuerberatungskanzlei gearbeitet hatte. Noch nicht einmal einen Strafzettel hatten sich die Grubers eingehandelt. Das Flensburger Konto punktefrei. Emelie hoffte darauf, sie in ihrem Reiheneckhaus in Stadtrandnähe anzutreffen. Yan teilte infolge der Informationen Emelies Einschätzung, dass die Grubers nichts mit dem Mord zu tun haben konnten. Gänzlich auszuschließen war das allerdings nie, zumal Emelie nicht zuletzt aufgrund ihrer Ausbildung wusste, dass die grausamsten Täter durchaus auch just jene in der Gesellschaft unauffälligen Saubermänner waren.
Yan hatte sich während der Fahrt darauf versteift, das Motiv des Täters müsse sexuell motiviert gewesen sein. Einiges sprach dafür, in erster Linie aber die makabre Fesselung, die ihn an Spielchen dieser Art erinnerten.
„In dem Bereich kennst du dich demnach auch aus.“ Emelie traute es ihm zu. Dass er in sexueller Hinsicht sehr liberal eingestellt war, wusste sie bereits.
„Also mich würde das schon anturnen.“
„Gefesselt zu verschmoren?“
Yan, der neben ihr auf dem Beifahrersitz saß, weil er seinen Wagen auf dem Parkplatz des Präsidiums abgestellt hatte, lachte auf.
„Nein. Das Ausgeliefertsein. Mach ich doch jetzt auch. Du am Steuer.“ Er grinste vielsagend.
Emelie ließ das unkommentiert stehen und warf ihm nur einen amüsierten Seitenblick zu, zumal sie gerade in die Straße bog, in der sich das Haus der Grubers befand. Der Hausnummer nach mussten sie das Reiheneckhaus eines Dreispänners bewohnen. Emelie parkte den Wagen hinter einem Kombi, der unmittelbar vor dem seitlichen Gartentor des Hauses stand. Die Haustür lag direkt um die Ecke.
„Sie sind daheim“, stellte Yan fest, bevor er ausstieg.
Es brannte Licht im Erdgeschoss und im ersten Stock. Emelie stieg aus und verschloss ihren Wagen.
„Es gab keine Einbruchspuren an dieser Hütte“, sagte Yan, während sie auf die Haustür zugingen.
„Nein, aber so ein einfaches Vorhängeschloss kriegt jeder auf.“
„Oder es gibt eine Verbindung zwischen den Grubers und dem Täter. Kann ja jemand aus der Verwandtschaft gewesen sein, der von der Hütte wusste, oder jemand aus dem Freundeskreis.“
Yans Überlegungen waren schlüssig.
Emelie betätigte die Türklingel und es dauerte nur kurz, bis sie eine Stimme aus einer Videotürklingel empfing.
„Hallo. Wer sind Sie?“
Die Stimme klang nicht unfreundlich, aber doch sehr bestimmt.
„Kripo Offenburg. Wir möchten uns mit Ihnen über Ihre Hütte in Frankreich unterhalten“, erklärte Emelie. Sie hielt rein vorsorglich gleich ihren Dienstausweis vor die Kamera. Die Tür ging daraufhin schnell auf.
„Kripo Offenburg? Was ist denn passiert? Kommen Sie herein.“
Emelie schätzte Frau Gruber auf um die Mitte bis Ende vierzig. Eine sympathische und adrette Erscheinung, die zu Hause nicht in Leggings herumlief. Sie trug einen Rock und eine ordentlich gebügelte Bluse, so wie man vermutlich auch im Büro einer Steuerkanzlei tätig war. Ein Bügelbrett stand mitten im parkettbelegten Wohnzimmer, das an eine integrierte Küche mit Theke grenzte. Es roch nach frisch gebügelter Wäsche.
„Unsere Ferienhütte. Was ist damit? Ist sie etwa abgebrannt?“
Emelie und Yan tauschten Blicke. Warum fragte sie das? War diese merkwürdige Installation am Ende von ihnen?
„Ich hab Pascal, meinem Sohn, schon x-mal gesagt, dass er die alten Sicherungen austauschen muss. Ein Feuer?“
Frau Grubers Nachfrage fegte Emelies vorhin aufgekeimten Gedanken zur Seite.
„Ihr Sohn nutzt die Hütte?“
„Es gab also ein Feuer?“ Frau Gruber starrte sie fassungslos an.
„Nicht direkt“, erklärte Yan.
Frau Gruber deutete dann auf die Sitzgelegenheiten an einem Esstisch vor der Küchentheke. Sie war kreidebleich und nahm als Erste Platz.
„Ein Spaziergänger hat einen Toten in Ihrer Ferienhütte entdeckt.“ Emelie klärte sie auf.
„Eine Leiche? Und was hat das mit einem Feuer zu tun?“ Frau Gruber suchte mit den Händen Halt an der Tischkante.
Emelie sah Yan fragend an. Wie viele Details sollte sie dieser Frau schildern? Sie erweckte bei Emelie den Eindruck, als würde sie nicht viel davon vertragen.
„Hatten Sie in Ihrer Hütte einen etwa zwei mal zwei Meter großen Metallquader stehen? Oder eine Art großen Ofen?“ Emelie entschied sich dazu, zunächst weitere Fragen zu stellen.
„Nein. Warum? Mein Mann und ich nutzen sie überhaupt nicht mehr. Im Sommer vielleicht mal ein bis zwei Tage. Nur Pascal ist gelegentlich dort, mit Freunden.“
„Hat er erwähnt, was er da macht?“
„Abfeiern. Party. Was weiß ich. Ein Metallquader. Wozu soll der denn gut sein?“
„Darin lag der Tote.“
„Und was hat das mit einem Feuer zu tun?“ Frau Grubers Stimme war angeschlagen.
„Jemand hat einen ringförmigen Gasbrenner, der an eine Propangasflasche angeschlossen war, darunter installiert und ihn erhitzt, während jemand darin lag.“ Emelie ersparte sich die Fesselung, und dass der Mann keine Kleidung mehr getragen hatte.
Frau Gruber schlug eine Hand vors Gesicht und begann zu beben. „In unserer Hütte?“, fragte sie zögerlich. Dann stand sie auf und ging zur Küche. Sie griff nach einem Glas und befüllte es mit Wasser.
„Möchten Sie auch etwas trinken?“
Emelie verneinte und sah, dass Frau Gruber das Glas mit zitternden Händen leerte.
„Wissen Sie, wo sich Ihr Sohn gerade aufhält?“
„Er dreht einen Film. Einen Kurzfilm. In Ludwigsburg.“
„An der Filmakademie?“ Emelie wusste von Kurt, dass er dort studierte.
Frau Gruber nickte. Sie stand wie angewurzelt an der Theke und starrte ins Leere.
„Hat sonst noch jemand den Schlüssel zu dieser Hütte? Freunde oder Bekannte? Verwandte?“
„Nein.“
„Ich möchte Sie darum bitten, dass Sie Ihren Sohn nicht über unseren Besuch benachrichtigen.“
„Pascal bringt doch niemanden um. Der hat große Pläne im Leben. Ist ein begabter Junge.“ Frau Gruber wirkte verzweifelt.
„Eine unvoreingenommene Aussage Ihres Sohnes ist wertvoller und glaubwürdiger. Kann ich mich darauf verlassen, dass Sie ihm nicht Bescheid geben?“
Frau Gruber nickte. Emelie hoffte aufgrund des Gesprächsverlaufs, dass Frau Gruber es einhielt.
„Was wird nun aus der Hütte? Ist sie beschädigt? Von dem Feuer?“
„Nein.“
„Ich werde sie nie wieder betreten.“
Frau Gruber erweckte den Eindruck, als würde sie sich das gerade geschworen haben. Auch das nahm Emelie ihr sofort ab.
***
Obwohl Emelie ihren französischen Kollegen bereits seit einem halben Jahr kannte, und wenn man sie gefragt hätte, ob es noch Seiten an ihm gäbe, die sie überraschen würden, dies verneint hätte, belehrte er sie auf der Fahrt nach Ludwigsburg eines Besseren. Yan schien ein regelrechter Cineast zu sein. Allerdings einer, der sich eher für ältere Filme interessierte. Das Thema Nummer Eins während ihrer gut einstündigen Fahrt nach Ludwigsburg. Früher seien die Filme origineller, nicht unbedingt nach Schema X gestrickt gewesen. Heutzutage gebe es nur noch interessante Filme auf kleinen Filmfestivals. Was im Kino laufe, vor allem aus Hollywood, langweile ihn. Großproduktionen, Remakes, Marvel Comicheldenverfilmungen und Filme für pubertäres Publikum. Politisch korrekt müssten sie auch noch sein.
Der ging ja ganz schön mit den Filmemachern ins Gericht. Emelie konnte sich gar nicht mehr daran erinnern, welchen Film sie zuletzt im Kino gesehen hatte. Das musste wohl in ihrer Zeit in New York gewesen sein. Irgendein Thriller. Lieber las sie ein Buch, am liebsten eines, bei dem man sich in fremde Welten wegträumen konnte. Filme, die im Fernsehen liefen, dienten eher dem Zweck, schnell einzuschlafen.
„Hast du einen Lieblingsfilm?“ Emelies Interesse war nun dennoch geweckt. Sie rechnete damit, dass er mit Fifty Shades of Grey daherkäme oder irgendetwas in der Art.
„Mein absoluter Lieblingsfilm?“
Zugegebenermaßen eine schwierige Frage. Emelie blickte zu ihm hinüber und konnte ihm ansehen, dass es in ihm arbeitete, bis er seinen Mund aufmachte.
„Nocturne Indien von Alain Corneau. Auf Deutsch heißt der, glaube ich, Ein indisches Nachtstück.“
„Noch nie davon gehört.“
„Wundert mich nicht. Lief Ende der achtziger im Kino. Mit Jean-Hughes Anglade, dem aus Betty Blue 37 Grad am Morgen.“ Der Name des Schauspielers sagte Emelie was, jedoch hatte sie kein Gesicht vor Augen, geschweige denn den Film. Der Titel seines Lieblingsfilms schien ihre Einschätzung aber zu bestätigen. Vermutlich ein erotisches Meisterwerk. Darauf verstanden sich französische Filmemacher offenbar.
„Um was geht es darin?“
„Es ist eine Romanverfilmung. Das Buch hat ein italienischer Schriftsteller geschrieben, Antonio Tabucchi. Es geht um einen Mann, der seinen Freund sucht, Monsieur Rossignol, und daher reist er nach Indien. Dabei kommt es zu Begegnungen mit Fremden, die ihn sehr bewegen. Letztlich sucht er aber sich selbst.“
Emelie war platt. Mit allem hätte sie gerechnet, nur nicht mit so einem wahrscheinlich auch noch schwermütigen Selbstfindungsding. „Was gefällt dir daran so?“
„Er berührt mich. Das ist es doch, was das Leben so interessant macht, die Suche nach etwas. Sie lässt einen neue Perspektiven erkennen, Dinge, die einen verändern. Vorurteile überwinden. Neue Blickwinkel eröffnen. Vermutlich bin ich deshalb bei der Polizei gelandet.“
„Und das alles steckt in diesem Film?“
„Am meisten hat mich eine Szene beeindruckt, in der der Reisende in einem Hotel auf eine französische Fotografin trifft. Sie zeigt ihm die Aufnahme eines lachenden Farbigen.“
„Was ist daran so besonders?“
„Es war nur ein Teilausschnitt einer Fotografie. Jemand hat dem Mann in den Rücken geschossen. Er warf seinen Kopf nach hinten und auf dem Ausschnitt, auf dem man nur sein Gesicht sah, wirkte es so, als würde er lachen. Méfiez vous des morceaux choisis, verstehst du?“
Immer das Ganze zu sehen und keine falschen Rückschlüsse aufgrund eines kleinen Ausschnittes der Realität ziehen. Eine wichtige Lebenslektion und unabdinglich für ihren Job. „Ich sollte ihn mir mal ansehen.“
„Ich habe ihn in meiner Cloud. Wenn du magst, schicke ich dir den Link. Oder wir schauen ihn uns gemeinsam bei dir an.“
Sein Lächeln im Abgang riss Yan aus der bis eben noch dargelegten Ernsthaftigkeit, den ein gewisser Schleier der Melancholie begleitet hatte. Er grinste frech. Wahrscheinlich malte er sich gerade aus, mit ihr gemeinsam im Bett zu liegen, denn nur dort stand ihr Fernseher, wie er wusste.
„Mal sehen.“ Ein verlockender Gedanke, doch first things first. Laut Navi lag das „First“ nur noch drei Fahrminuten entfernt, viel mehr das Deutsche Hollywood. Emelie war gespannt, welche Art Filme dort gedreht wurden.
Kapitel 2
Hier ließ es sich bestimmt angenehm studieren. Emelie beeindruckte der Campus, ein Agglomerat aus mehrstöckigen modernen Gebäuden, das eine gepflegte und gefühlt fußballfeldgroße Rasenfläche umschloss. Vom Parkplatz war es nur ein kurzer Spaziergang hinüber zum Studiogebäude, wo nach Auskunft des Pförtners der Sohn von Frau Gruber gerade mit Dreharbeiten beschäftigt war. Emelie hatte bisher nur einmal in New York Filmaufnahmen beigewohnt, eher zufällig auf einer Shoppingtour ganz in der Nähe des Broadways. Sie erinnerte sich an eine Straßensperre, jede Menge Komparsen und eifrige Helfer, die Schaulustige fernhielten. Kleine Wichtigtuer mit Clipboard in der Hand und Headset am Ohr. Und genau diese Art von Spezies stellte sich ihnen in den Weg, als sie die Tür zum Studiobereich, in dem gerade gedreht wurde, erreichten.
„Sie dürfen hier nicht rein. Aufnahme.“
Reichlich unfreundlich diese Anfang Zwanzigjährige in Jeans und Schlabberpulli.
„Kripo Offenburg. Wir dürfen.“ Emelie verzichtete ebenfalls auf eine Grußformel.
„Kripo?“ Da machte sie große Augen. „Wen suchen Sie denn?“
„Pascal Gruber, den Regisseur.“ Das musste die junge Frau anscheinend erst einmal sacken lassen.
„Steffen. Hier ist die Kripo. Die wollen zu Pascal.“ Sie sprach dann doch in das Mikrofon ihres Headsets und lauschte andächtig, was zurückkam. Sie nickte. Ein gutes Zeichen. Sie öffnete daraufhin behutsam die Tür und versiegelte ihren Mund mit dem Zeigefinger.
Alles klar! Leise folgen, sollte das wohl heißen.
Im Raum hinter der Tür war es bis auf den Bereich, wo gedreht wurde, stockduster. Einige Teammitglieder standen anscheinend beschäftigungslos herum und starrten wie gebannt auf die beleuchtete Szene, die offenbar in einem Verlies spielte. Ketten hingen an einer Wand und davor stand eine riesige Holzpuppe, die Emelie an russische Matroschka-Puppen erinnerte. Aus denen floss aber normalerweise kein Blut. Ein junger Kerl wischte es mit dem Lappen weg.
„Alles auf Anfang. Der Ton war scheiße. Übersteuert“, brüllte der junge Mann, der auf einem Hocker vor einem Bildschirm saß.
Das musste Pascal, Frau Grubers Sohn, sein.
„Licht okay?“
Die Nachfrage kam offenbar vom Kameramann, den Emelie auf Mitte vierzig schätzte. Er sah in Richtung des Regisseurs.
„Passt. Aber Rüdiger … Weiter weg mit dem Mikro oder seitlich.“
„So?“ Ein junger Mann ließ den Stab, an dessen Ende ein Mikrofon befestigt war, etwas nach links sinken.
„Ist im Bild. Halt’s mal höher. Passt. Und jetzt gleich noch mal. Maske? Fertig? Jenny?“
„Alles klar.“
Interessant, all das zu beobachten. Yan sah genauso gebannt zu.
Aus dem Halbdunkel schälte sich eine junge Frau, deren Kleidung in Fetzen vom Leib hing. Die Haare waren verklebt, ihr Gesicht und die sichtbaren Teile des Körpers mit gut hingeschminkten Striemen übersät. Ein blauer Fleck unter einem Auge. Getrocknetes Blut, wohin man auch sah. Sie strahlte. Wie bizarr. Nach ihr betrat ein bulliger Mann im Outfit eines mittelalterlichen Henkers den angedeuteten Kerker. Gleich noch zwei Gesellen, die aus einem Ritterfilm entsprungen zu sein schienen, stießen hinzu.
„Mittelalter. Das ist eine eiserne Jungfrau“, kommentierte Yan im Flüsterton.
„Eine was?“
„Die wird aufgeklappt. An den Wänden sind Metallspieße angebracht. Jemand kommt rein und dann Klappe zu, Affe tot.“
Genau so war es. Der junge Mann, der eben noch das Kunstblut weggewischt hatte, klappte die böse Matroschka-Puppe auf. Links und rechts Spieße, die äußerst fies aussahen. Auch der hölzerne Kopf, das Abbild einer Frau, ließ sich aufklappen.
„Alle auf Position!“ Die Regie machte eine Ansage.
Die beiden Folterknechte packten daraufhin die Frau in Lumpen an den Armen. Noch grinste sie. Emelie sah gebannt zu, als Pascal „Action“ schrie.
Doch es bewegte sich erst etwas, als ein anderer junger Kerl mit einer Klappe vor der eiserneren Jungfrau erschien. „Fünfunddreißig die dritte“, blökte er.
Dann fing die junge Frau an, markerschütternd zu schreien. Sie versuchte, sich aus dem Klammergriff der Männer zu lösen. Vergeblich, aber der Schrei war gut. Sie drängten sie zur aufgeklappten Horror-Matroschka. Emelie stockte der Atem, weil es so echt aussah. Die Frau strampelte und wehrte sich, doch dann griff der bullige Dritte im Bunde der Folterknechte ein. Gemeinsam gelang es ihnen, sie hineinzubugsieren und mit aus der Rückwand ragenden Lederriemen darin festzuzurren. Sie schrie wie am Spieß. In ihrem Gesicht stand Todesangst. Emelie musste ihren Blick abwenden und griff unwillkürlich nach Yans Hand.
Die Männer klappten beide Seiten zu.
„Die Spieße sind bestimmt aus Gummi“, flüsterte Yan ihr ins Ohr.
Daraufhin wagte sie es, wieder hinzusehen. Die Frau schrie nun so laut, dass Emelie zusammenzuckte. Dann schluckte die eiserne Jungfrau ihre Schreie. Sie erstarben in einem gutturalen Gurgeln. Und schon floss Blut aus dem unteren Teil. Emelie bemerkte, dass der Kameramann darauf hielt. Man sah das Blut in einer Großaufnahme auf Pascals Kontrollbildschirm.
„Cut! Geil! Absolut geil!“
„Dem geht gleich einer ab.“
Emelie hatte auch den Eindruck, so begeistert wie sich der junge Regisseur gab. Unter Szenenapplaus stellte Emelie zu ihrer Erleichterung fest, dass die junge Frau unversehrt wieder herauskam. Zu Pascal gesellte sich die Dame mit dem Clipboard, die sie am Eingang abgefangen hatte. Er drehte sich zu ihnen um.
Zeit, sich vorzustellen und ihn näher unter die Lupe zu nehmen. Ein attraktiver junger Mann mit lockigem schwarzem Haar und blauen Augen. Dem war die Castingcouch mit Möchtegern-Sternchen sicher nicht fremd.
„Ich bin Emelie Gutenberg und das ist mein Kollege Yan Leblanc. Eine beeindruckende Szene.“
„Von der Kripo? Was wollen Sie?“
„Können wir uns hier irgendwo ungestört unterhalten?“
Pascal schien für einen Moment zu überlegen.
„Eine Viertelstunde Pause. Ich brauch noch Close-ups für die Zwischenschnitte. Bereitet das schon mal vor.“ Er stand auf und deutete in Richtung einer Tür, aus der Licht drang.
„In der Requisite sind wir ungestört“, erklärte er.
Emelie und Yan folgten ihm zu einem Raum, in dessen Mitte ein riesiger Spiegel mit allerlei Schminkutensilien stand. Daneben befanden sich kostümbehangene Kleiderstangen.
„Lässt du uns mal für ne Viertelstunde allein?“
Die Maskenbildnerin, ebenfalls im Studentenalter, nickte und schnappte sich ein Zigarettenpäckchen nebst Feuerzeug, mit dem sie nach draußen ging.
„Was wird das für ein Film?“
„Eine Special-Effect-Übung. Ein Kurzfilm. Eine Frau wird der Hexerei angeklagt und kehrt nach ihrer Hinrichtung als Geist zurück, um sich zu rächen.“
„Die Story klingt nach Déjà-vu“, sagte Yan.
Pascal verzog daraufhin das Gesicht. Kein Kompliment für einen Nachwuchsregisseur.
„Kennen Sie Saw? Der Typ, der fiese Zeitgenossen dazu zwingt, sich selbst zu massakrieren, um sie zu läutern? Spielte Millionen ein.“
Pascal versuchte offenbar, zu kontern.
„Deshalb die Übung? Wollen Sie in die Richtung? Splatter?“
Yan kannte sich wenig überraschend aus.
„Ich hab keinen Bock auf Pilcher und Tatort fürs Fernsehen. Gleich nach Hollywood, und wenn dann einer gut läuft. Man kriegt Jobs für andere Projekte. Außerdem fasziniert mich das. An die Grenzen gehen. Sich an so etwas heranwagen.“
„Sie fasziniert es, solche Folterszenen zu inszenieren?“
„Irgendwie schon.“
Emelie und Yan tauschten fragende Blicke.
„Haben Sie das kürzlich auch mal außerhalb des Filmstudios gemacht?“
Pascal brachte diese Frage offenkundig ins Wanken. Er musterte erst sie, dann Yan.
„In einer Hütte?“
Er wurde sichtlich nervös, was Emelie daran sah, dass er sich auf die Unterlippe biss.
„In der, die Ihrer Familie gehört?“ Emelie zog die Daumenschrauben an.
„Warum wollen Sie das wissen?“
„Weil wir dort heute Morgen eine Leiche vorgefunden haben. Lebendig gegrillt.“
Pascal schaute sie aus schreckensgeweiteten Augen an.
„Haben Sie diesen Metallquader in die Hütte gestellt? Für eine Filmaufnahme?“
Pascal ließ sich auf den Stuhl vor dem Schminktisch nieder und starrte Löcher in die Luft.
„Wollen Sie mit aufs Revier? Eine Antwort wäre schön.“ Emelie bemühte sich um einen freundlichen Ton.
Pascal nickte. Sie interpretierte es dahin gehend, dass er seinen Mund aufmachen würde.
„Für Filmaufnahmen? Eine Übung wie diese?“
Er schüttelte den Kopf.
„Wozu? Mit wem haben Sie gedreht?“
Emelie konnte ihm ansehen, wie schwer es ihm fiel, die Karten auf den Tisch zu legen.
„Ein Toter? Und wirklich da drin?“ Pascals Stimme drohte wegzukippen.
„Sah übel aus.“ Yan brachte es auf den Punkt.
Pascal schlug die Hände vors Gesicht. Seine Faszination für das Makabre hatte anscheinend Grenzen. Geil, wie die Szene vorhin, fand er das offenkundig nicht.
„Die waren für Alex“, sagte er.
„Wer ist Alex?“, fragte Emelie.
„Mein Kumpel. Er braucht die Videos für seine Doktorarbeit.“
„Also, der Reihe nach. Sie haben dieses Ding gebaut und dann in die Hütte Ihrer Eltern stellen lassen, um dort so was richtig Fieses zu inszenieren?“
Pascal nickte erneut.
„Was soll denn das für eine Doktorarbeit sein? Wie viel Schmerz erträgt der Mensch, oder was?“
Yan nahm Emelie die Worte aus dem Mund.
„Alex will herausfinden, wie pervers die Menschen sind, die sich so was anschauen. Wie die Leute abstumpfen, mit Videospielen und …“
„Filmen wie Ihren.“ Emelie musste das einfach loswerden.
Pascal zuckte nur die Schultern.
„Wer war noch dabei?“
„Svenja. Sie ist Friseurin und will Maskenbildnerin werden. Eine Freundin von Alex.“
„Wer wusste davon?“
„Nur wir. Das hängt man doch nicht an die große Glocke.“
Das glaubte Emelie ihm aufs Wort.
„Was war das für ein Mann? Der Tote?“, fragte Pascal.
„Wissen wir noch nicht.“
Pascal war mittlerweile bleich wie frisch gepudert.
„So eine Scheiße!“
Auch damit hatte Pascal zweifelsohne recht.
„Wo finden wir Ihren Freund? Alex? Sein Nachname?“
„Alex Haupt. Der wird um die Zeit noch an der Uni sein. Er studiert in Freiburg am Lehrstuhl für Psychologie.“
„Und schreibt wirklich eine Doktorarbeit auf der Basis solcher Videos? Zeigt er sie Probanden? Studenten vom Lehrstuhl?“
„Auf YouTube.“
„Die stellen so was ein?“ Emelies Stimme überschlug sich.
„Mit Altersfreigabe“, erklärte Pascal.
„Zensieren sonst alles Mögliche, aber die Leute können sich die Inszenierung eines Mords ansehen?“
„Saw läuft ja auch im Kino.“
„Ist Ihr Freund sauber in der Birne?“
Yans Nachfrage hielt Emelie für gewagt.
„Der kann keiner Fliege was zuleide tun. Deswegen schreibt er ja darüber.“
Das wiederum wertete Emelie als Alarmsignal, denn gerade dieser Typus war prädestiniert für Morde dieser Art. In dem Moment fiel ihr doch ein Film ein, bei dem sie nicht eingeschlafen war. Psycho von Alfred Hitchcock. Sie hatte die letzte Szene noch vor ihrem geistigen Auge. Norman Bates saß eingebuchtet in der Zelle einer geschlossenen psychiatrischen Anstalt. Eine Fliege tänzelte auf seiner Hand herum und er ließ sie mit der Begründung gewähren, dass alle sehen sollten, wie harmlos er sei, weil er nicht einmal einer Fliege etwas zuleide tun könne. Auf diesen Alex war Emelie gespannt.
***
Emelie überlegte sich auf dem Weg vom Parkplatz vor dem Polizeipräsidium zum Haupteingang, ob es nicht doch sinnvoller gewesen wäre, Yan beim Verhör mit dabeizuhaben. Aber die Zeit drängte. Erst von Ludwigsburg nach Freiburg zu fahren, um dann Alex zum Verhör nach Offenburg zu karren – worauf Stehle bestand – kostete zu viel Zeit. Yan nutzte sie, um in seiner Straßburger Dienststelle zu versuchen, die Identität des Opfers festzustellen und den Spaziergänger, der auf die Leiche gestoßen war, zu befragen, ob ihm nicht doch irgendetwas Verdächtiges, auch an den Tagen zuvor, aufgefallen war.
Kurt suchte ebenfalls die Datenbanken der Vermisstenanzeigen durch, aber sie spuckten noch nichts aus. Kurt führte das auf mangelnde Digitalisierung verschiedener Polizeireviere zurück. Insofern hielt sie Stehles Vorschlag, dass Heiner gemeinsam mit einem Kollegen Alex an der Uni einen Besuch abstattete und ihn mit zum Revier nahm, für sinnvoll. Der eindeutig kürzere Weg. Alex müsste bereits in Polizeigewahrsam sein und im Verhörzimmer auf sie warten. Und da täuschte sie sich nicht. Ein Häuflein Elend saß in sich zusammengesunken am Tisch und starrte ins Leere, als sie gemeinsam mit Heiner, der seinen Laptop mit dabeihatte, das Zimmer betrat. Ein hübscher Kerl wie Pascal. Der modische Kurzhaarschnitt mit vollem Deckhaar und rundherum kurz geschoren stand ihm. Er wirkte trainiert und gepflegt. Trugen Doktoranden an diesem Lehrstuhl gebügelte Hemden? Das machte ihn zu einer seriösen Erscheinung. Der Junge war bestimmt der Traum aller Schwiegermütter in spe – sofern sie nichts von seinen Videoeskapaden wussten.
„Mögen Sie noch einen Kaffee?“ Heiner gab sich gastfreundlich.
Alex schüttelte den Kopf. Er wirkte tief in Gedanken versunken.
Heiner hatte ihr bereits telefonisch mitgeteilt, dass der Junge fix und fertig gewesen war, als er erfahren hatte, jemand sei nach seiner eigenen Inszenierung ums Leben gekommen. Nachdem er ihm ein Foto vom Tatort gezeigt hatte – sogar eine der harmloseren Aufnahmen des französischen Polizeifotografen – sei ihm so schlecht geworden, dass er sich auf der Uni-Toilette habe übergeben müssen. Verständlich, denn letztlich hatte er mit seinem Video genau das Gegenteil von dem erreicht, was er vermutlich mit seiner Arbeit hatte bezwecken wollen.
Er sah erst zu ihnen her, als Heiner sie vorstellte.
„Meine Kollegin Emelie Gutenberg. Sie ermittelt in diesem Fall.“
Alex nickte und rang sich ein freundliches Lächeln ab.
„Ich habe Ihrem Kollegen doch schon alles erzählt.“
„Frau Gutenberg will sicher noch einiges wissen, woran ich nicht gedacht habe.“
Alex nickte erneut.
„Wirklich kein Kaffee? Sie sehen sehr müde aus.“
Alex blieb dabei.
„Unterbrechen Sie mich bitte, wenn ich etwas falsch verstanden habe. Sie schreiben eine Doktorarbeit, die sich mit der Rezeption von gewalttätigen Videos beziehungsweise Filmen beschäftigt, um herauszufinden, inwieweit die Menschen bereits abgestumpft sind. Und zu diesem Zweck haben Sie gemeinsam mit Ihrem Freund Pascal diese Installation in die Hütte seiner Eltern gestellt, um dann ein Video nach dem Vorbild einer antiken Foltermethode zu drehen. Ist das richtig?“
„Exakt. Es geht mir aber nicht nur darum, zu sehen, ob die Menschen abstumpfen, sondern generell um die Rezeption solcher Gewalt, um den Reiz der Perversion. Die Kommentare waren mir wichtig. Ich werte sie nach bestimmten Parametern aus. Herauszufinden, wie die Leute ticken. Um das geht es. Ablehnung, Unverständnis, Anklage, Freude daran, sogar Lust. Die Bandbreite ist riesig. Was bringt die Menschen dazu, sich so etwas überhaupt anzusehen? Wo liegt die Schwelle zwischen Neugier und Voyeurismus? Triggern diese Videos das Böse in uns? Gibt es das Böse wirklich?“
Alex taute auf, was sehr dafür sprach, dass er seine Arbeit ernst nahm.
„Überaus komplexe Fragestellungen. Damit habe ich mich in meinem Studium ausgiebig beschäftigt und noch immer keine Antwort gefunden, jedenfalls keine befriedigende“, räumte Emelie ein.
„Sie sind eine Profilerin?“
Emelie nickte.
„Was glauben Sie? Gibt es das Böse?“
Eigentlich war Emelie es, die das Verhör zu führen hatte, doch diese Frage schrie nach einer Antwort.
„Vermutlich ja. Aber ich glaube nicht, dass jemand böse zur Welt kommt. Es baut sich in einem Menschen langsam auf, meist geboren aus traumatischen Ereignissen, die in der Kindheit passiert sind. Aus Verzweiflung, Rache, dem Wunsch, etwas zu kompensieren, Macht auszuüben, Unterdrücktes in Exzess auszuleben. Es gibt eine Vielzahl von Gründen. Machtstreben und Habgier gehören dazu. Letztlich sind das alles Quellen des Bösen, die einen Menschen verseuchen und seine Seele zersetzen.“
Alex nickte beeindruckt. Er wirkte nun regelrecht gelöst, was vermutlich daran lag, dass er sich wieder in seiner akademischen Welt befand. Insofern erachtete Emelie es trotz des fragenden Seitenblicks von Heiner als ertragreich, sich auf diese Thematik eingelassen zu haben. Eine gelöste Zunge gab mehr preis.
„Mag sein, aber ich glaube schon, dass es das Böse gibt.“
„Doch hat der Mensch nicht den freien Willen sich zwischen Gut und Böse zu entscheiden? Darum geht es schließlich“, warf Heiner ein.
„Vermutlich leben wir alle in einer Grauzone und letztlich sind es Dinge, wie sie Frau Gutenberg erwähnt hat, die einen Menschen in die eine oder andere Richtung lenken.“
Emelie konnte sich Alex’ Ansicht uneingeschränkt anschließen. Es legitimierte ihre Ausbildung, ihre Tätigkeit und gerade im Hinblick auf Jürgen und Roman trafen seine Worte ins Schwarze.
„Zurück zum Fall.“
Heiners Einwand war berechtigt, um sich nicht gänzlich in einem philosophischen Diskurs zu verlieren. „Wie sind Sie auf just diese Inszenierungen gekommen? Sie sind ja sehr speziell.“ Emelie interessierte das momentan mehr als die transzendentale Ästhetik der Moral, von Gut und Böse.
„Ich habe nach etwas Furchtbarem gesucht, was unter die Haut geht. Ein Maximum an Grausamkeit. Und da wird man in der Historie schnell fündig. Von der Antike bis zum Mittelalter und darüber hinaus. Die Auswahl richtete sich nach dem möglichen potenziellen Interesse. Normale Mordfälle, Messerstechereien, Schießereien. Das bringt ja nicht einmal mehr die Mäuse hinter dem Ofen hervor.“
„Wie viele Videos haben Sie bereits eingestellt?“
„Drei. Die Garrotte und das Ausweiden sind noch nicht online.“
Alex’ Ansage kam nun überraschend kleinlaut.
Emelie schluckte. Was für eine makabre Forschungsarbeit.
„Vierteilung, Rädern, der Metallquader. Die waren online“, resümierte Heiner.
„Man nennt ihn den sizilianischer Stier“, sagte Alex.
Nun hatten sie auch noch einen Namen für das grausame Gefäß. Innerlich schüttelte Emelie sich.
„War dieser sizilianische Stier das erste Video? Stimmt die Reihenfolge bei YouTube?“ Heiner klappte sein Notebook auf.
Emelie sah eine Playlist neben dem Video, das den Titel „Sizilianischer Stier“ trug.
„Die Vierteilung. Schon ein paar Wochen her.“
Schämte sich der junge Mann nun etwa dafür? Seine bis eben an den Tag gelegte Souveränität verblasste.
Heiner drückte den Playknopf unter dem Video des sizilianischen Stiers.
„Sie haben es noch nicht gesehen?“, fragte Alex an Emelie gewandt.
Emelie schüttelte den Kopf und besah sich das kurze Video. Es zeigte einen nackten gefesselten Mann, dessen Nacktheit allerdings nur angedeutet war. Er wurde von einem in schwarz Gekleideten, der eine Maske trug, in die Öffnung geschoben. Filmisch verwackelt, hektisch geschnitten und dann diese furchtbaren Schreie, die in einem Brüllen mündeten, das aus den beiden Rohren am oberen Rand der Installation drang. Emelie schluckte, denn genau so könnte der Mord passiert sein. Unvorstellbar grausam.
„Offen gestanden hat das Ganze so einen SM-Touch. Der Typ auf dem Video, gut gebaut. So ein Hauch Erotik. War das beabsichtigt?“
Heiners Frage geisterte auch Emelie durch den Kopf. Daraus könnte sich ein Motiv ergeben.
„Das war damals meines Wissens so üblich. Die Leute wurden nackt in das Teil gesteckt und für mein Aussehen kann ich nix. Ich geh halt ins Gym“, erklärte Alex.
„Das sind Sie?“ Heiner stand der Mund offen.
Alex nickte.
„Und Pascal ist der in Schwarz?“
Er nickte erneut.
„Wer hat dann gefilmt?“
„Svenja.“
„Wer hat den Kessel gebaut?“
„Pascal und ich. Wir mussten diese Metallteile aus dem Baumarkt ja nur zusammenlöten und mit Querstreben stabilisieren. Die haben wir angeschraubt. Pascal ist sehr geschickt. Er bastelt einige Requisiten mangels Kohle selbst.“
Emelie wandte ihren Blick vom Bildschirm ab.
„Die anderen sind ähnlich übel“, sagte Heiner.
„Jetzt nicht“, forderte Emelie ihn auf. Noch ein Video dieser Art würde sie gerade nicht ertragen.
„Vielleicht gibt die Historie Aufschluss über das Motiv. Was wissen Sie über den sizilianischen Stier? Aus welchem Grund wurde diese Strafe verhängt?“
„Soviel ich weiß, stammt diese Art der Hinrichtung aus der Antike. Angeblich im Auftrag eines sizilianischen Herrschers von einem Griechen erstellt. Die Gründe? Hochverrat, Macht zu demonstrieren. Zur Abschreckung nehme ich mal an. Purer Sadismus? Die Quellen hierfür sind sehr vage. Angeblich hat der Sizilianer den Schöpfer dieses Hinrichtungsgeräts testweise reinstecken lassen. Dabei sei der Erbauer ironischerweise selbst umgekommen.“
Alles zu vage in Emelies Augen, um daraus ein konkretes Motiv abzuleiten.
„Weiß sonst noch jemand, wo und unter welchen Umständen diese Videos entstanden sind?“, fragte Heiner.
„Nur Pascal, Svenja und ich. Aber vielleicht hat Pascal zu Hause erzählt, was wir machen.“
Emelie glaubte, sich eine Befragung von Pascals Mutter in Anbetracht ihrer letzten Begegnung allerdings ersparen zu können. Sie wusste sicher nichts davon.
„Kann ich gehen? Ich bin todmüde und muss das alles erst einmal verarbeiten.“
Emelie nickte.
„Ich fahre Sie nach Freiburg. Da wohnen Sie doch, oder?“
„Gibt es hier ein Klo?“
„Wenn Sie rausgehen, nach rechts. Die letzte Tür am Ende des Gangs.“ Heiner deutete in diese Richtung.
Alex stand auf und ging hinaus. Emelie fragte sich unwillkürlich, ob sie sicher ausschließen konnte, dass Alex einen Sprung in der Schüssel hatte.
„Muss man nicht leicht irre sein, um so eine Studie in die Wege zu leiten?“
Heiner dachte sich offenbar das Gleiche.
„Vermutlich nicht.“
„Nach einem Alibi zu fragen, konnte ich mir sparen, denn noch haben wir keine Uhrzeit, wann genau der Mord passiert ist. Angeblich ist er so gut wie nie allein. Tagsüber an der Uni und abends hängt er mit Svenja, Pascal und Freunden ab.“
„Wer so was inszeniert, der bringt niemandem nach diesem Muster um“, stellte Emelie fest. Allerdings mahnte sie sich zugleich zur Vorsicht. Jürgen, Roman – die vermeintlich Netten. Sie hatte sich geschworen, nicht noch einmal darauf reinzufallen.
***
Fleißarbeit wie üblich stand auf dem Programm. Emelie dankte dem Herrn, dass Kurt ihr Internet-Spezialist war und sie es sich ersparen konnte, sämtliche Kommentare unter den Videos von Alex Haupt durchlesen zu müssen. Es reichte ihr schon, nur einen kurzen Blick darauf zu werfen. „Voll geil.“ Wer so etwas schrieb, hatte sie ihrer Meinung nach nicht mehr alle oder war so von Splatter- oder Videogame-Gewalt abgestumpft, dass die dargestellten Grausamkeiten spurlos an der Seele vorbeigingen.
„Ich hab mir sein Profil schon angesehen. Hat auch eines auf Facebook. Der Kerl ist neunzehn, und wenn du mich fragst, leicht unterbelichtet. Empfiehlt in seinem Freundeskreis jeden Horror-Streifen, jede Menge Sauffotos von irgendwelchen Partys, Gröhlvideos im Suff. Arbeitet in einer Gebäudereinigungsfirma. Hauptschulabschluss mit Ach und Krach.“
Mehr musste Kurt gar nicht ausführen.
„Der war es sicher nicht.“
Heiner, der sich genau wie sie zu Kurt an seinen Schreibtisch gesetzt hatte, sprach aus, was Emelie sich dachte.
Kurt las noch einen Kommentar vor, der von einer dem Profilbild nach jungen Frau kam: „Abartig. So etwas gehört verboten.“
„Es gibt noch Hoffnung in dieser Welt.“ Emelie teilte die Meinung der Kommentatorin, auch wenn sie um den Sinn des Ganzen zumindest aus akademischer Sicht wusste und nicht umhinkam, den potenziellen Wert zu würdigen.
„Die meisten werden sich den Text von Alex nicht bis zum Ende durchgelesen haben. Oben beschreibt er ja nur den historischen Hintergrund dieser Hinrichtungsmethoden. Sehr blumig, was sicher Teil seines Experiments ist. Erst ganz unten erwähnt er seine Studie, wobei den meisten vermutlich nicht klar wird, dass sie mit jedem Like oder Kommentar Teil dieser Studie sind“, sagte Heiner.
„Keine Ahnung, wo ich anfangen soll. Einhundertvierundzwanzigtausend Likes und knapp fünfzehnhundert Kommentare weltweit. An die deutschen User komme ich ran, an andere nur mit Rechtsgesuch. Krieg mal eine Antwort aus Russland oder dem Oman. Und dann noch die aus China. Bis dahin sind wir in Rente.“
„Wir sollten uns auf Deutschland und Frankreich konzentrieren.“ Emelies Vorschlag sorgte dafür, dass Kurt gequält aufstöhnte.
„Das sind immer noch Tausende. Bringt das denn überhaupt etwas? Ich meine, die meisten sind bestimmt nur neugierig. Die Videos sind professionell gemacht. Einige glauben vielleicht, dass für einen neuen Horror-Streifen geworben wird. Sie sehen ja voll nach großem Kino aus. Man bekommt auf diesem Portal außerdem immer ähnliche Videos, die man sich bereits angesehen hat, vorgeschlagen und einmal vor der Nase, klicken sicher nicht wenige darauf.“
„Also sehen es auch Leute, die sich generell für antike und mittelalterliche Folter- und Hinrichtungsmethoden interessieren?“ Emelie fragte sicherheitshalber nach, weil sie auf YouTube selten unterwegs war.
„Garantiert, aber so genau kenne ich den Algorithmus des Portals nicht. Da wird auch Publikum von Horrorstreifen mit dabei sein.“
„Wir müssen jedenfalls davon ausgehen, dass der Täter die Videos gesehen hat“, erklärte Heiner.
„Nicht notwendigerweise, sofern es eine andere Verbindung zu Alex und dieser Hütte gibt, von der wir noch nichts wissen“, stellte Kurt klar.
„Die muss es so oder so geben, andernfalls wäre der Mord nicht dort passiert.“ Emelie hielt es dennoch für wahrscheinlich, dass auch diese eingestellten Videos eine Rolle spielten.
„Zumindest erschließt sich mir jetzt der Sinn seiner Doktorarbeit. Jede Menge Futter, um die Abgründe der menschlichen Seele zu erkunden“, sagte Heiner.
„Ich werde mir mal die Kommentare raussuchen, die nicht nach pubertärem Geschwalle klingen, die herausragen, Fragen stellen, wie es gemacht wurde, oder die wissen wollen, wie genau das Opfer verstirbt, wie es leidet.“
Kurt ging das wie immer logisch fundiert an.
„Leute fragen das?“
Heiner erweckte den Eindruck, als ob er das kaum glauben konnte.
Kurt scrollte durch die Kommentarreihen und blieb an einem hängen. „Wie genau verstirbt das Opfer? An den Verbrennungen oder erstickt es, weil die Luft zu heiß zum Atmen wird?“, las Kurt vor.
„Eine gute Frage. Vielleicht sollten wir Sander animieren, was zu posten.“
Heiners Kommentar zauberte Kurt ein Lächeln in seine Leidensmiene.
„Auf den anderen beiden Videos, also bei der Räderung und der Vierteilung waren es weibliche Opfer.“ Kurt sah Emelie und Heiner fragend an.
„Das war diese Friseurin, Svenja, so viel ich von Alex weiß“, erklärte Heiner.
„Das meinte ich nicht. Vielleicht hat der Täter diese Videos auch schon auf seiner Liste.“
„Verschrei es nicht“, sagte Heiner.
„Warum tut jemand das? Kann ein solches Video jemanden dazu bringen, einen Mord genau so zu begehen? Müssen da nicht schon lange Fantasien dieser Art in der Person schwelen?“ Kurt sah Emelie an.
„Es gibt momentan keine andere Erklärung.“ Welche Art von Fantasie und warum sie sich anscheinend in die Richtung entwickelt hatte, dafür gab es Emelies Einschätzung nach aktuell zu wenig Anhaltspunkte.
„Wir sollten Svenja noch befragen. Sie arbeitet bis sechs. Wenn wir Glück haben, ist sie zu Hause.“
Heiners Vorschlag nickte Emelie ab in der vagen Hoffnung, das Gespräch brächte sie weiter. Wurde beim Friseur nicht immer viel geredet? Ratsch und Tratsch? Vielleicht hatte sie sich verplappert. Möglich wäre es.
***
Eigentlich hätte Emelie den Dienstwagen auf dem Parkplatz vor dem Präsidium stehen lassen können, denn Svenja wohnte nur drei Häuserblocks entfernt. Die Macht der Gewohnheit zwang sie dann doch dazu, mit dem Wagen zu fahren, auch die Kälte, zumal man sich im Dienst nie Sorgen um einen Parkplatz oder gar ein Knöllchen zu machen brauchte. Svenja wohnte erwartungsgemäß in einer kleinen Mietwohnung im Erdgeschoss eines Hauses, das den Mietern sicherlich keine allzu hohen Mieten abverlangte. Etwas anderes ließ sich vom Gehalt einer angestellten Friseurin bestimmt nicht finanzieren. Im Erdgeschoss brannte Licht. Heiner bemerkte es auch.
„Ich bin gespannt, ob sie allein ist oder mit Alex und Pascal abhängt. Die Lage besprechen.“ Emelie konnte sich das im Fall des letztgenannten vorstellen.
„Alex sicher nicht. So fertig wie der war, fährt er nicht von Ludwigsburg hierher.“
Emelie betätigte daraufhin die Türklingel.
„Informiert wird er sie haben.“
Davon ging Emelie auch fest aus.
Die Haustür schnappte mit einem Summton auf. Über eine kleine Treppe neben den an der Wand angebrachten Briefkästen ging es zum Treppenhaus und zu zwei Erdgeschosswohnungen. Svenja stand bereits in der geöffneten Wohnungstür. So wie sie aussah, wäre sie für eine Modelkarriere geeignet. Top Figur, wahrscheinlich noch für die Arbeit geschminkt in enger Jeans und einer frechen Bluse, die ihre Figur betonte. Nur das einnehmende Model-Lächeln fehlte.
„Kripo?“, fragte sie nur.
Natürlich hatten die Jungs sie in Kenntnis gesetzt.
„Kommen Sie rein. Sie müssen Frau Gutenberg sein.“
Emelie nickte und folgte ihr in ihre kleine Einzimmerwohnung, die recht geschmackvoll eingerichtet war. IKEA-Style mit Pep und gegenüber der sicher ausziehbaren Schlafcouch ein riesiger Fernseher, auf dem Musikvideos liefen. Svenja schnappte sich die Fernbedienung und schaltete das Gerät aus.
„Was möchten Sie von mir wissen?“
Emelie gefiel, dass Svenja nicht um den heißen Brei herumredete. „Wollen wir uns setzen?“
Svenja deutete auf den Esstisch vor ihrer Küchenzeile. Dort nahmen Emelie und Heiner Platz.
„Sie wissen Bescheid? Der Mord in der Hütte?“ Emelie fragte nur sicherheitshalber.
Svenjas Blick verfinsterte sich, als sie sich zu ihnen setzte. Emelie konnte ihr ansehen, wie sehr sie dieser Mord belastete.
„Hat Alex Sie darum gebeten, mitzumachen?“
„Nein. Pascal. Wir hätten das nicht tun dürfen. Es ist alles so furchtbar. Das hat doch bestimmt jemand nachgemacht.“
„Naheliegend, aber nicht sicher“, erklärte Emelie.
„Ich möchte Maskenbildnerin werden, hab zwei Kurse belegt und Pascal engagiert mich gelegentlich für seine Übungsfilme. Dafür gibt es keine Kohle, aber ich habe Referenzen, verstehen Sie?“
„Deshalb haben Sie mitgemacht? Keine Abscheu oder moralische Bedenken?“, fragte Heiner.
„Ich hielt das für abartig, aber es war doch für eine akademische Arbeit. Und dann hatten wir auch noch Spaß daran, alles so echt aussehen zu lassen. Konnte ja keiner ahnen, was daraus wird.“
„Und die Erotik, die man diesen Videos nicht absprechen kann. Wessen Idee war das?“, fragte Heiner.
„Es sollte halt nicht billig rüberkommen und alle Knöpfe drücken.“
„Wie meinen Sie das?“
„Alex glaubt, dass Gewalt und Sexualität von denselben inneren Trieben gesteuert werden, miteinander irgendwie zusammenhängen. Wahrscheinlich hat er damit sogar recht.“
„Wie lange kennen Sie Alex schon?“
„Seit unserer Kindheit. Wir waren bis zur vierten in einer Klasse, sind im gleichen Viertel aufgewachsen.“
„Wie war Alex so, als Kind?“, fragte Emelie.
„Wie meinen Sie das?“ Svenja sah sie verwundert an. „Wir haben zusammen gespielt. Pascal war auch dabei.“
„Das ist ungewöhnlich. Jungs in dem Alter bleiben doch meistens unter sich.“
„Mich hat es schon immer gelangweilt, mit Puppen zu spielen. Und nein, ich bin nicht lesbisch. Nach was suchen Sie? Alex hat erzählt, dass Sie eine Profilerin sind. Das ist doch so was wie ein Psychiater für Killer, oder?“
„Ich möchte mir nur ein Bild von ihm machen.“
„Alex war schon immer ein eher introvertierter Typ. Im Gegensatz zu Pascal. Der war für jeden Streich zu haben. Nein, Alex war ein ganz normaler Junge. Keine Auffälligkeiten, wenn Sie nach dem suchen.“
Emelie hatte damit gerechnet, das zu hören. Zumindest hatte sie nun die innere Gewissheit, dass Alex die Doktorarbeit nicht missbrauchte, um eine psychopathische Ader auszuleben. „Haben Sie jemandem in Ihrem Umkreis von diesem Projekt erzählt? Familie? Kundschaft?“
„Gott behüte. Meine Eltern? Die wären aus allen Wolken gefallen? Kundschaft? Da redet man über das Wetter, Mode oder man lästert mal über die Politik.“
Emelie nickte. Auch das erschien ihr glaubwürdig. Sackgasse.
„Ich hab total schiss, dass dieser Irre die anderen Videos auch noch umsetzt“, sagte Svenja unvermittelt.
„Das ist nicht auszuschließen.“
Heiners Äußerung sorgte dafür, dass Svenjas Blick ins Leere glitt. Falls dieser Fall eintrat, würde sie sich entsetzliche Vorwürfe machen, davon war Emelie überzeugt.
„Scheiß Doktorarbeit. Um zu wissen, dass es da draußen vor Psychos nur so wimmelt, braucht man keine.“
„Ihn interessiert das Warum.“
„Vielleicht ist der Preis dafür zu hoch.“ Svenja holte tief Luft.
„Das ist alles. Geben Sie auf sich acht. Wir kennen die Zusammenhänge noch nicht. Falls jemand weiß, dass Sie auf diesen Videos das Opfer waren, so wie Gott sie schuf …“
„Ich pass schon auf mich auf.“
Svenja erweckte bei Emelie den Eindruck, sich der Gefahr bewusst zu sein, was sie erleichterte.
***
Nach dem Dienst zu Hause angekommen überlegte Emelie, das allwöchentliche Abendessen bei ihrem Vater, wie immer mittwochs, angesichts der Ereignisse des heutigen Tages, die stärker als erwartet nachhallten, abzusagen. Andererseits würde es sie auf andere Gedanken bringen, sich teilweise interessante, erheiternde oder im schlimmsten Fall zornerweckende Episoden aus dem Gerichtssaal erzählen zu lassen. Auch dies hatte sich seit ihrem Auszug nicht geändert. Sie beschloss, zu ihm zu fahren, zumal er sonst enttäuscht wäre und sie wusste, wie wichtig ihm dieses Ritual war. Während sie duschte, dachte sie, dass er froh sein konnte, überhaupt noch bei Gericht tätig zu sein. Wer wie Vater aus purem Eigeninteresse auf den Vorschlag eines Konkursverwalters eingegangen war, einen Oldtimer, den er schon seit Jahren hatte haben wollen, aus einer Konkursmasse verschwinden zu lassen, verlor normalerweise das richterliche Amt. Nur seinem damaligen Unwissen über die Brisanz jenes Fahrzeugs, und weil ihn diese Betrügerei anschließend letzten Sommer fast selbst das Leben gekostet hätte, hatte er es zu verdanken, weiterhin Recht sprechen zu dürfen. Justitia war auf einem Auge blind. Das sagte er doch immer, wobei Emelie es eigentlich so ausdrücken würde, dass sie bei manchen Leuten eher ein Auge zudrückte, sofern sie über entsprechende Beziehungen verfügten oder Wissen um Leichen im Keller derjenigen, die ein Auge zuzudrücken hatten. Ob er wohl alle ihm zur Verfügung stehenden Register gezogen hätte, wenn sie nicht in der Lage gewesen wäre, ihm sein Verhalten zu verzeihen? Jene unglückliche Verstrickung, die Romans dramatische Veränderung letztlich herbeigeführt hatte? Ein Fehltritt in seiner beruflichen Laufbahn, aber kein Fehltritt als Vater, hatte sie sich klargemacht. Auch dass jeder Mensch in Versuchung kommen konnte, es nur eines bestimmten Knopfdrucks bedurfte, um ihn dazu zu veranlassen, aus Eigeninteresse Unrecht zu tun. Diese Gedanken kamen immer wieder hoch, bevor sie sich sahen – ein sicheres Indiz dafür, dass die Zeit noch nicht alle Wunden verheilt hatte, oder waren es nur Narben, die gelegentlich juckten? Nach vorne zu sehen, sich klarzumachen, dass sie ihm viel zu verdanken hatte, eine glückliche Kindheit, selbst nachdem ihre Mutter zu einem neuen Lebenspartner gezogen war. Vater hatte ihr auch Halt gegeben, als ihre Mutter verstorben war. Ihre Ausbildung in New York – eine kostspielige Angelegenheit. Die heiße Dusche schien all diese belastenden Gedanken fortgespült zu haben. Sie freute sich auf das Essen und einen gemütlichen Abend bei einem guten Roten, der ebenfalls dazu beitragen würde, den heutigen Tag hinter sich zu lassen. Und wenn es nicht bei einem Gläschen blieb, wäre das Bett ihres alten Jugendzimmers stets für sie frei.
***
Eigentlich unnötig, an der Haustür zu klingeln, weil Emelie für Notfälle einen Schlüssel hatte. Sie tat es trotzdem, um nicht einfach so ins Haus zu platzen. Oft stand Vater gegen halb acht schon an der Tür, um nach ihr zu sehen. Er wusste, dass sie in der Regel pünktlich war. So auch heute. Als Emelie eintrat, zog ihr bereits der Geruch von gebratenem Asia-Gemüse in die Nase. Noch in ihrer gemeinsamen Zeit im Elternhaus hatten sie sich meist mit Schnellgerichten zwangsernährt, sofern sie nicht die Zeit gehabt hatte, zu kochen. Die Küchenmaschine, die sie ihm zu seinem letzten Geburtstag im Oktober geschenkt hatte, machte sich bezahlt. Per Internet spuckte sie Rezepte aus – ein Kochkurs für Papa. Emelie lief das Wasser im Mund zusammen, noch bevor sie ihn vom Flur aus im Wohnzimmer am Esstisch zu Gesicht bekam. Er deckte den Tisch mit Bedacht. Auch zwei Kerzenständer durften nicht fehlen. Die Mühe, die er sich gab, zeigte Emelie, wie wichtig ihm das gemeinsame Essen war, und bestärkte sie in ihrer Entscheidung, gekommen zu sein. Etwas war jedoch anders als sonst. Normalerweise strahlte er über beide Ohren, wenn er sie sah.
„Hallo Emelie. Na, wie war dein Tag?“
Früher nur eine Floskel, eine kurze Antwort erhoffend, um sie dann mit seinem Tag zuzutexten, heute, seitdem sie sich nicht mehr täglich sahen, ehrliches Interesse. Noch ein Pluspunkt, dachte sie. Sah er ihr an, dass sie einen harten Tag hinter sich hatte? Sein besorgter Blick schien darauf hinzudeuten.
„Besser nach dem Essen.“ Emelie schlüpfte aus ihrer Jacke und hing sie an der Garderobe auf, bevor sie das Zimmer betrat.
„Ärger mit Stehle?“
„Ein eher unappetitlicher Mordfall.“
„Nun sag schon, die Tofubällchen brauchen sowieso noch zehn Minuten.“
„Sagt dir der sizilianische Stier etwas?“
„Jemand hat einen Stier umgebracht?“ Vater sah sie mit ungläubigem Blick an.
Emelie ließ sich auf den Lesesessel neben dem Esstisch fallen. Na gut, dann vor dem Essen. Wenigstens gab es keinen Braten.
„Eine der brutalsten Hinrichtungsmethoden aus der Antike. Ein Stier aus Metall, der erhitzt wird, während das Opfer darin bei lebendigem Leib verschmort.“
„Und das ist hier in der Gegend passiert?“ Vater, der gerade dabei war, mit einem Feuerzeug die Kerzen zu entzünden, hielt mitten in der Bewegung inne.
„In Frankreich, aber der Tatort ist eine Ferienhütte, die einer Familie aus Offenburg gehört. Der Mord war genau so im Internet zu sehen.“
„Jemand hat das gefilmt?“ Vater sah sie aus geweiteten Augen an.
„Vorher. Ein junger Student hat das für eine Studie inszeniert, just in dieser Hütte.“
„Dann muss Stehle sich wohl nicht mehr dafür rechtfertigen, dass er dich fest angestellt hat.“
„So gesehen …“
„Irgendwelche Verdächtige?“
Emelie schüttelte resigniert den Kopf.
„Verstehe. Also kein sonderlich ersprießlicher Tag. Ich fürchte, der Brief, der heute für dich ankam, wird ihn nicht besser machen. Soll ich den Wein gleich aufmachen?“
„Ein Brief? Vom Finanzamt?“ Emelie rechnete mit einer saftigen Nachzahlung.
Vater schüttelte nur den Kopf. Er ging zu seinem Sekretär, der am anderen Ende des Wohnzimmers stand, und holte einen weißen Umschlag.
„Von wem ist der?“ Emelie konnte sich niemanden denken, der ihr einen Brief schrieb. Privates von ehemaligen Studienkollegen oder sonstigen Bekannten erreichte sie per Mail. Wer schrieb denn heutzutage noch Briefe?
Vater ging wortlos zu ihr und überreichte ihr den Umschlag. Emelie fror förmlich ein, als sie den Absender las. Jürgen Brenner.
„Willst du ihn vielleicht doch besser nach dem Essen öffnen?“
Emelie bekam die Frage ihres Vaters nur mit halbem Ohr mit. Jürgen. Was um Himmels willen wollte er von ihr?
Sie schüttelte den Kopf. Der Appetit war ihr sowieso bereits vergangen. Sie öffnete das Schreiben mit zittrigen Händen. Ihr Herz pochte bis zum Hals, obwohl es nur ein paar Zeilen waren, die auf sie warteten. Doch die hatten es in sich.
„Was schreibt er? Was will er?“ Vaters Miene spiegelte tiefe Besorgnis wider.
Emelie las Jürgens Schreiben noch ein zweites Mal, weil sie die wenigen Zeilen vor Aufregung zunächst nur überflogen hatte. Sie konnte ihrem Vater erst nach einem tiefen Atemzug antworten.
„Er fragt, wie es mir geht, dass er aus der Maßregelvollzugsanstalt nach erfolgreicher Therapie entlassen wurde und nun versucht, ins Leben zurückzufinden. Er bittet um ein Treffen, um Vergangenes aufzuarbeiten, ihm aber auch mir zuliebe.“ Emelie versagte fast die Stimme. Sie reichte ihrem Vater den Brief. Er las ihn und gab ihn ihr gefaltet zurück. Emelie legte ihn auf den Beistelltisch neben der Couch und versuchte, sich zu fangen, gegen eine drohende Flut aus Erinnerungen anzukämpfen, an die furchtbarsten und zugleich schönsten Momente ihres Lebens.
„Ich hätte nicht gedacht, dass sie ihn jemals wieder rauslassen“, sagte ihr Vater.
Emelie war momentan unfähig, dies zu kommentieren, obwohl sie sich das Gleiche dachte.
„Wenn ich mir den Rat erlauben darf. Du solltest nicht darauf eingehen. Es ist nicht gut, wenn du ihn siehst.“
„Das weiß ich, aber …“ Emelie versuchte gerade, ihrem Innersten, das ihr soufflierte, ernsthaft und vor allem in Ruhe darüber nachzudenken, mit einer für ihren Vater nachvollziehbaren Begründung Ausdruck zu verleihen. Es misslang.
„Man kann solche Leute nicht heilen. Sie gehören lebenslang zum Schutz der Allgemeinheit weggesperrt. Man liest das doch nahezu wöchentlich in der Zeitung. Jemand wird entlassen und kurze Zeit später passiert das nächste Unglück.“
„Bei ihm ist das anders. Er war kein Serientäter“, sagte Emelie.
„Es wurde Schizophrenie bei ihm festgestellt. Und warum er seinen Bruder und Vater damals umgebracht hat, wissen wir bis heute noch nicht. Stimmen hören sie doch alle.“
„Irgendetwas hat ihn dazu getrieben.“
„Sonst hätte der Zwanziger StGB nicht gegriffen.“ Ihr Vater sah sie fest an. „Wobei man über Schuldfähigkeit immer diskutieren kann. Der Dreiundsechziger hingegen war angemessen. Es kommt anscheinend in Mode, dass man Leute, die Blut an den Händen haben, wieder entlässt.“
„Sie werden medikamentös eingestellt.“
„Du denkst doch jetzt nicht ernsthaft darüber nach, ihn zu sehen?“
Emelie zuckte ratlos mit den Schultern. „Ich wüsste dann, was ihn dazu gebracht hat.“
„Das quält dich noch immer?“
Emelie nickte. „Sie hätten ihn doch nicht entlassen, wenn …“
„Was wenn? Er keinen mehr umbringt? Was, wenn irgendein Ereignis wieder auf den berühmten Knopf drückt?“
„Du hättest dir damals die Akten unter der Hand geben lassen können.“ Emelie erinnerte sich genau daran, ihn seinerzeit darum gebeten zu haben.
„Das wollte ich nicht. Es hätte dich nur noch mehr belastet. Aber von der Staatsanwaltschaft weiß ich, und das habe ich dir auch gesagt, dass darin keine Begründung für die Ursachen seiner Schizophrenie stand. Ich kann verstehen, weil dich das schon allein aus rein beruflichem Interesse …“
„Nicht nur. Und das weißt du. Er will das Vergangene anscheinend aufarbeiten. Das deutet darauf hin, dass er im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte ist.“
„Emelie. Man steckt nicht drin in diesen Hirnen. Einmal Stimmen im Kopf, immer Stimmen im Kopf. Da nützt es nichts, im Vollbesitz irgendwelcher geistigen Kräfte zu sein. Den Schalter legt die Psyche um. Das muss ich dir doch nicht erklären. Einmal zu wenig von irgendeiner Pille eingenommen und sie melden sich wieder, die Stimmen.“
Emelie wusste, dass ihr Vater damit nicht ganz unrecht hatte. Es nagte trotzdem an ihr, herauszufinden, warum er erkrankt war, was ihn damals zu dieser schlimmen Tat bewogen hatte. Und noch eines kam hinzu. Jürgen war ihre erste große Liebe gewesen. War sie es ihm und sich selbst nicht schuldig, seiner Bitte nachzukommen?
„Versprich mir, dass du ihn keinesfalls triffst.“
„Das kann ich nicht. Ich denke, ich muss erst einmal eine Nacht darüber schlafen.“
„Und jetzt wird gegessen, damit du wieder Farbe ins Gesicht bekommst. Leichte Kost. Curry Tofubällchen mit Basmatireis und Gemüse. Das magst du doch so gerne.“
Diesbezüglich stimmte sie ihrem Vater zu. Eine verschmorte Leiche und Grüße aus der Vergangenheit. Viel würde sie von ihrem Lieblingsgericht wahrscheinlich nicht herunterkriegen.
Kapitel 3
Wenn nur die kleine blaue LED-Leuchte am Schalter des Weckers leuchtete, wusste Emelie, dass sie viel zu früh wach geworden war. Schweiß stand auf ihrer Stirn. Das Bettlaken war feucht. Sie saß aufgeschreckt von einer Schlafparalyse aufrecht im Bett und rang nach Atem. Ihre Gedanken kreisten noch immer um Jürgen. Sie hatte das Gefühl gehabt, er hätte auf ihr gelegen, mit dem vollen Gewicht auf ihrem Brustkorb, und hätte ihr die Luft zum Atmen abgeschnürt. Es tauchten weitere Traumfragmente auf. Schöne Momente. Wie alles anfangen hatte. Emelie beängstigte, mit welcher Wucht der süße Honig dieser Bilder in ihrem Kopf sie in die damalige Zeit zurückkatapultiert hatte. Nur ein Traum, sagte sie sich. Von seinen strahlenden Augen, seinen Grübchen, wenn er lächelte. Und dieses Kribbeln bei nur einem Blick, später bei den ersten Berührungen, dem ersten Kuss. Hatte es wirklich auf dem Schulhof angefangen? Emelies Traum suggerierte genau das, doch so verliebt wie darin hatte er sie in der Realität nicht angesehen. Wie war das damals gewesen? Mit jedem Atemzug zog sich der Schleier, den die Traumbilder über ihr Bewusstsein gelegt hatten, ein Stück weiter zur Seite. Die Erinnerung an die Geschehnisse an jenem Tag setzten ein, ungefärbt, nicht mehr versüßt mit nahezu authentischen Gefühlen von damals. Reine Rekonstruktion. Der Verstand gewann Oberhand, suchte nun gezielt in den Schubladen, die der Traum geöffnet hatte. Emelie legte sich wieder hin und ließ ihren Gedanken freien Lauf. Zurück in die elfte Klasse, zu jenen Tagen einige Wochen vor den Sommerferien, als alles begann.
Jürgen
Musterlösung, bis auf einen einzigen Leichtsinnsfehler. Nicht, dass Emelie das jetzt sonderlich ärgern würde, doch sie wunderte sich darüber, weil sie sich bei der Kurvendiskussion beim Einzeichnen eines Wendepunktes im Koordinatensystem um eine Einheit auf der x-Achse vertan hatte. Natürlich Klassenbeste in Mathe und das bei einem Klausurschnitt von 5,2 Punkten, der dafürsprach, dass die meisten ihrer Mitschüler keine besondere Affinität zu diesem Fach hatten. Dementsprechend hoch war die Nachfrage für Nachhilfe, aber auch blanker Neid, den Emelie erneut zu spüren bekam, als sie nach der Mathestunde im Pulk mit ihren Mitschülern den Schulhof erreichte. Moni, die im Klassenzimmer schräg hinter ihr saß, an ihrer Seite.
„Ich checke das einfach nicht mit der Projektion der Geraden auf eine Ebene.“
Emelie wunderte sich über Monis Genöle, weil sie es ihr noch vor zwei Tagen in der Pause erklärt hatte. Mit Vektorrechnung, dem Stoff der heutigen Mathestunde, stand Moni anscheinend auf Kriegsfuß.
„Da gibts nix zu checken. Du setzt die Zahlen einfach in die Formel ein. Auswendig lernen und machen. Ich check auch nicht alles“, erklärte Emelie.
Moni schmollte. Sabine, die hinter ihnen lief und sich mit zwei Punkten hatte abfinden müssen, bekam ihr Gespräch mit.
„Kann ja nicht jeder so geil auf Mathe sein. Streberin. Du musst doch Tag und Nacht lernen“, meckerte Sabine.
„Quatsch. Ich mach nur die Hausaufgaben und ein paar Übungen aus dem Buch.“ Emelie wollte sich eigentlich auf die noch freie Bank in der Sonne setzen und ihr Pausenbrot in Ruhe essen, anstatt sich rechtfertigen zu müssen.
„Sie hat halt mehr in der Birne als du.“
Emelie fuhr herum, denn diese männliche und dazu sehr angenehme Stimme war ihr unbekannt. Dementsprechend verwirrt sah nicht nur sie den Jungen an, der sie nun alle frech angrinste und Moni ein empörtes „Pah“ abrang. Wow, sah der gut aus. Brad Pitt in jung. Und diese funkelnden blauen Augen. Die waren auch noch eindeutig auf sie gerichtet. Die Grübchen, wenn er lächelte – unwiderstehlich. Trainiert, und eine Armmuskulatur, die sein gelbes Polo kaum zu bändigen wusste.
„Jürgen.“ Er stellte sich mit einem äußerst einnehmenden Lächeln vor.
Hatte er mitbekommen, dass sie ihn einem Ganzkörperscan unterzog? Wie peinlich. „Emelie.“ Sie reichte ihm ganz formell die Hand.
„Küsst euch doch.“ Moni gab ihren Senf dazu.
„Lern lieber Mathe.“
Jürgens Antwort erschien Emelie sehr passend.
„Selbst keine Leuchte in Mathe, wie man so hört, und spielt sich auf“, meckerte Moni.
„Hey, mal langsam. Ihr habt hier in Baden Württemberg nen anderen Lehrplan als in Berlin.“
Das brachte Moni zum Schweigen. Sie zog schmollend ab. Sabine ebenfalls.
„Du bist neu hier?“ Emelie nahm es an, weil sie ihn heute zum ersten Mal sah.
Er nickte. „Wir haben zuletzt nur Stochastik gelernt. Mit der Vektorrechnung komm ich nicht klar.“
„Du kommst aus Berlin?“
„Ja und du bist echt so gut? Checkst das alles?“, fragte er.
Emelie nickte bescheiden. „Ich könnte dir vor der nächsten Klausur helfen, wenn du magst.“ Emelie hätte es jedem angeboten, doch in seinem Fall besonders gerne.
„Echt jetzt?“
Sein Lächeln war so charmant, dass Emelie weiche Knie bekam. Warum sah er ihr dabei so tief in die Augen? Ihre klebten an seinen. Der starke Macker wirkte wie weichgespült, auch seine Stimme.
„Baggert schon die nächste an.“
Emelie vernahm diesen offenbar an Jürgen gerichteten Kommentar von einem Mitschüler des Parallelkurses. Jürgen fuhr herum.
„Was soll das?“ Jürgens Augen wurden zu schmalen Schlitzen.
„Bist wohl abgeblitzt bei der Eva?“
Emelie wurde hellhörig.
„Was geht dich das an?“ Jürgen fauchte ihn an.
„Drehst ja nächstens Jahr eh ne Ehrenrunde. Frischfleisch für den Stecher.“
Das kam aus dem Mund des Kerls, der neben dem Provokateur stand. Die liefen doch immer gemeinsam im Schulhof herum, erinnerte Emelie sich.
„Typisch Hete. Können ihn nicht schnell genug reinstecken.“
„Wenigstens stecke ich ihn nicht hinten rein, du Schwuchtel.“ Jürgen packte diesen unverschämten Kerl gleich am Schlafittchen.
Sein Begleiter ging auf Jürgen los, doch ein gezielter Schlag von Jürgens rechter Hand gegen den Brustkorb des Angreifers ließ ihn zu Boden gehen. Das flößte dem anderen Respekt ein.
„Hey, was ist da los?“ Doktor Meisner, ihr Deutsch- und Sportlehrer kam angerannt, während sich der Mitschüler mithilfe seines Freundes hochrappelte.
„Nichts. Nur eine kleine Meinungsverschiedenheit über die Thematik, ob man ihn vorne oder hinten reinsteckt.“
Jürgen sagte das mit einer Coolness, die Emelie und Caroline, eine weitere Mitschülerin aus Emelies Kurs, dazu brachten, laut loszuprusten.
„Solche Sprüche will ich nicht mehr hören. Verstanden?“
„Meine Lippen sind von nun an versiegelt Herr Doktor Meisner.“
Jürgens Theatralik, als er die Lippen zusammenpresste, war unbezahlbar.
„Und jetzt auseinander. Der Pausenhof ist groß genug.“
Der Meisner schien richtig sauer zu sein.
Jürgen nickte gespielt einsichtig. Er trollte sich aber erst, nachdem er Emelie ein freches Lächeln geschenkt hatte. Auch Caroline, die sich zu ihr gesellte, sah Jürgen auf dem Weg zum anderen Ende des Schulhofes nach.
„Geilteil, aber untragbar wie der drauf ist“, meinte Caroline.
„Hat er Eva wirklich angebaggert?“ Emelie wusste, dass Caroline mit Eva aus einem anderen Kurs befreundet war.
„Sie ihn.“
„Und?“
„Abgeblitzt. Aber auf dich scheint er ja scharf zu sein.“
Emelie gab einen pikierten Laut von sich. Natürlich sah er umwerfend aus. Er war bestimmt der hübscheste Kerl an der Schule. So unglaublich sexy, doch es war wohl besser, sich ihn aus dem Kopf zu schlagen.
***
Auf den Brief antworten? Jürgen gar aufsuchen? Ihm auf sein Handy, dessen Nummer er ganz oben auf dem Briefbogen notiert hatte, eine Nachricht schicken? Quälende Fragen, die Emelie von der Dusche bis zum Frühstückstisch und zurück zu ihrem begehbaren Kleiderschrank beschäftigt hatten. Die Antwort lautete „Nein.“ Was sollte das bringen, außer noch mehr Albträume und fast eine halbe Stunde morgens wie gelähmt im Bett zu liegen, um sich Erinnerungen hinzugeben? Das war nicht ihre Art. Es trübte die Sinne, was sie an diesem Morgen gleich an zwei Dingen bemerkt hatte. Die Tür zur Tiefgarage ging nun mal nicht mit dem Hausschlüssel auf und das Ausfahrtstor nicht mit der Fernbedienung, um ihren Wagen zu öffnen. Schluss damit! Die Entscheidung, nachdem sie losgefahren war, war getroffen. Ein Termin bei der Rechtsmedizinerin Doktor Sander stand an. Emelie wusste, dass sie für ihren Job den Kopf frei haben musste. Dennoch tauchte Jürgen erneut in ihrer Gedankenwelt auf, als sie mit dem Wagen auf den Parkplatz der Rechtsmedizin fuhr. Das lag an Yan, der vor dem Gebäude eine Zigarette paffte. Er war Jürgen ähnlich, hatte etwas Verwegenes an sich und den gleichen nahezu durchdringenden Blick, wenn er sich ernsthaft gab. Und den bekam sie zu sehen, nachdem sie aus dem Wagen gestiegen und zu ihm gegangen war.
„Hast du die Nacht durchgemacht?“ Yan wirkte besorgt.
Emelie hatte ihre Augenringe schon im Badspiegel bemerkt und darauf verzichtet, sie mit Make-up zu kaschieren. Wozu auch? Sie ging ja nicht auf einen Ball.
„Schlecht geschlafen“, erklärte Emelie.
„Verstehe. Ging mir auch so. Ich habe von diesem Kasten geträumt. Da denkt man, dass einen nichts mehr erschüttern kann …“
Emelie nickte. Yan war in Sachen Jürgen bestens im Bilde. Daher traute sie sich, ihm von dem Brief zu erzählen, auch um zu sehen, ob sie nun wieder Herr ihrer Sinne war und sie das Thema nicht mehr so aufwühlte wie noch zuvor zu Hause.
„Jürgen hat mich angeschrieben.“
„Der Jürgen?“ Yan fiel aus allen Wolken.
Emelie nickte.
Yan nahm einen letzten Zug von seiner Zigarette und schnippte sie in eine matschige Schneepfütze. Dann öffnete er die Tür und hielt sie ihr auf.
„Was will er?“
„Mich treffen.“
„Keine gute Idee, wenn du mich fragst.“
„Sagt mein Vater auch.“
„Recht hat er. Jetzt lasst uns erst mal reingehen. Mir frieren gleich die Eier ab.“
Emelie musste unwillkürlich schmunzeln und folgte ihm nach drinnen. Sanders Büro lag im Untergeschoss am Ende eines langen Ganges. Genug Zeit, um zu reden.
„Es würde mich zu sehr aufwühlen.“
„Verständlich.“
„Andererseits scheint er medikamentös eingestellt zu sein.“ Emelie hielt es für wichtig, ihm das zu sagen.
„Schizophrenie kann man nicht heilen. Das weißt du. Wieso lässt er dich nicht einfach in Ruhe?“
„Er will wohl die Vergangenheit aufarbeiten.“
„Soll zum Therapeuten gehen. Am Ende macht er dir noch schöne Augen.“
„Das wäre, glaube ich, meine geringste Sorge.“
„Weißt du, wie lange er schon draußen ist?“
„Wieso fragst du das?“
„Kam mir nur grad so in den Sinn. Der Verschmorte …“
Yans Gedankengang war rein logisch betrachtet fundiert, aber Emelie war anderer Meinung. „Blödsinn. Er hat damals seinen Bruder und Vater umgebracht.“
„Weil er Stimmen gehört hat. Und du weißt nicht, was die ihm gesagt haben.“
„Stimmen, die sich zu Wort melden, weil er zufällig auf YouTube diese Videos gesehen hat? Ich bitte dich …“
„Vielleicht will er Aufmerksamkeit erregen. Diesen Typus gibt es.“
Emelie wusste, dass Yan an sich recht hatte, doch in Sachen Jürgen täuschte er sich.
„Er hat einen Brief geschrieben. Das sorgt für genug Aufmerksamkeit.“ Auch aus dem Grund schloss Emelie diese Überlegung aus.
Yan ließ sich das auf den letzten Metern zu Sanders Büro anscheinend durch den Kopf gehen. Er ging schweigend neben ihr her.
„Aber falls du ihn doch triffst. Sag mir Bescheid. Sicher ist sicher.“
„Ich treffe ihn nicht.“
„Na dann bin ich ja beruhigt.“
Yan klopfte an Sanders Tür und trat ein, nachdem sie ein „Ja“ von drinnen vernommen hatten.
„Morgen Emelie. Yan.“ Sander erhob sich von ihrem Schreibtisch und reichte beiden die Hand.
„Kaffee? Ihre Finger sind kalt wie Eis“, bemerkte sie.
„Hatte schon einen. Konnten Sie die Identität des Toten feststellen?“ Emelie hoffte darauf.
Sander nickte und ging wieder zu ihrem Schreibtisch. Sie nahm Platz und klickte eine Datei auf.
„DNA-Analyse. Sven Schubert, sechsunddreißig. Also so was brauch ich nicht jeden Tag auf meinem Seziertisch. Verbrennungen kommen öfter vor, aber das …“
Emelie und Yan nickten nahezu synchron.
„Kurt hat die Daten von mir bekommen und mir vorhin eine Mail geschickt.“ Noch einmal klickte sie mit der Maus auf die Fensterleiste ihres Rechners. „Wenigstens kein Unschuldslamm, dieser Schubert.“
„Was hat er denn ausgefressen?“, fragte Emelie. Sander machte es wie üblich spannend.
„Zwei Vergewaltigungsversuche, eine, die angeblich einvernehmlich war. Daher auch die DNA-Daten in der Datenbank. Dann Alkohol am Steuer. Beamtenbeleidigung bei einer Razzia am Korker Baggersee. Der hat es am helllichten Tag nicht weit vom Familienstrand mit seiner Freundin getrieben. Erregung öffentlichen Ärgernisses.“
„Dafür kommt man anscheinend in die Hölle.“ Yan sah bedeutsam in die Runde.
„Ich glaube, der war schon in der Hölle.“ Sanders Miene blieb ernst. „Seine Frau hat bereits letzten Mittwoch eine Vermisstenanzeige aufgegeben.“
Emelie hatte den jüngsten Posteingang ihres dienstlichen Mail-Accounts noch nicht gelesen und vermutete, darin ebenfalls die Nachricht von Kurt vorzufinden. Sie überraschte es nicht, dass er beim Durchforsten der Datenbanken und sicherlich nach unzähligen Anrufen bei anderen Dienststellen doch noch fündig geworden war.
„Der ist verheiratet?“ Yan sah Sander verdutzt an.
Emelie fiel das ebenfalls schwer zu glauben.
„Weiß sie, dass ihr Mann tot ist?“ Emelie hoffte, Heiner hätte das bereits übernommen.
„Kurt meinte, Sie müssten sie sowieso befragen …“
Emelie schluckte. Heiner war normalerweise derjenige, der Angehörigen Grüße vom Sensenmann überbrachte. Das war eines der Dinge, um die sie sich nicht riss. Diesmal blieb ihr wohl keine andere Wahl. Wenigstens war Yan an ihrer Seite.
***
Nachdem sie mit beiden Autos zum Revier gefahren waren, fuhr Yan nun in ihrem mit. Sie parkte vor dem Haus. Emelies Magen war bereits flau, als Yan beherzt an der Türklingel des Mehrfamilienhauses einer Wohnanlage klingelte. Kurts telefonischer Auskunft nach sei Frau Schubert gegenwärtig Bürgergeldempfängerin, was es wahrscheinlich machte, sie zu Hause anzutreffen. Emelie hoffte, dass sie unterwegs war und Heiner später bei ihr vorbeischauen würde.
„Wir müssen ihr ja nicht jedes Detail …“
Yan war anscheinend ebenso wenig erpicht darauf, Frau Schubert vom Mord an ihrem Mann zu berichten.
„Es reicht schon, zu wissen, wie er umgekommen ist. Und danach wird sie fragen.“
Emelie vernahm das Geräusch eines sich öffnenden Fensters und nahm an, dass Frau Jenny Schubert nachsehen wollte, wer bei ihr klingelte. Der Kopf einer brünetten Frau, wahrscheinlich um die fünfunddreißig Jahre alt, mit Kurzhaarschnitt ragte prompt aus dem Fenster.
„Kripo Offenburg und mein Kollege von der französischen Polizei.“
„Geht es um meinen Mann?“
Angesichts seines Strafregisters war diese Frage wenig überraschend. Emelie nickte.
Frau Schubert stand für einen Augenblick wie angewurzelt am Fenster. Sie konnte sich wahrscheinlich denken, dass keine guten Nachrichten auf sie warteten.
„Ich mach auf. Moment“, sagte sie.
Das Fenster schloss sich hinter ihr. Wenig später schnappte die Haustür mit einem Summton auf. Emelie folgte Yan nach drinnen.
Frau Schubert erwartete sie in engen Jeans und buntem Sweater bereits an der geöffneten Wohnungstür. Sie suchte Halt am Türgriff und sah schon jetzt mitgenommen aus.
„Ist etwas mit meinem Mann? Ein Unfall? Ich erreiche ihn nicht mehr.“
„Dürfen wir reinkommen?“, fragte Emelie. Es war besser, wenn Frau Schubert in der Nähe einer Sitzgelegenheit war, wenn sie ihr die Nachricht überbrachten.
Sie winkte sie herein und führte sie ins Wohnzimmer, ein gemütlich eingerichteter Raum mit Möbeln, die so aussahen, als wären sie gebraucht erworben worden. Frau Schubert deutete auf die zwei Sessel.
„Was ist passiert? Ist ihm etwas zugestoßen?“
Emelie nickte, woraufhin Frau Schubert sich gottlob auf das kissengespickte blaue Sofa setzte. Sie schlug die Hände vor das Gesicht und sank in sich ein. Emelie gab ihr die Zeit, um das erst einmal einigermaßen zu verdauen. Sie nahm genau wie Yan ihr gegenüber auf einem der Sessel Platz.
„Ich hab ihm immer gesagt, er soll nicht zu schnell fahren und schon gar nicht, wenn er getrunken hat. Er hat ja bereits getrunken, bevor er aus dem Haus ging.“ Frau Schubert drohte die Stimme zu versagen.
„Es war kein Unfall.“
Frau Schubert starrte sie fassungslos an.
„Er wurde ermordet in einer Hütte aufgefunden. In Frankreich nahe der Grenze.“
Emelie war froh, dass Yan das Ruder übernahm.
„Wie? Ich …“, stammelte sie.
Emelie tauschte Blicke mit Yan.
„Ein Feuer war die Ursache. Jemand hat ihn gefesselt und wahrscheinlich betäubt.“
Frau Schubert brachte keinen Ton mehr heraus. Hoffentlich fragte sie nicht nach weiteren Details.
„Wohin ist er gegangen, als sie ihn das letzte Mal gesehen haben?“ Emelie fragte das erst, nachdem sie den Eindruck hatte, dass ihr Gegenüber wieder ansprechbar war.
„In den Klub“, krächzte Frau Schubert.
„Welche Art von Klub war das?“
„Ein Swingerklub. Wir waren dort Stammgäste. Er …“ Frau Schubert konnte nicht mehr weitersprechen. Tränen flossen über ihre Wangen. Sie wischte sich die Augen am Ärmel ihres Pullovers trocken.
„Sven und ich. Wir hatten dort Bekannte.“
„Gab es einen besonderen Grund, warum er allein dorthin ging?“
„Ich fühlte mich nicht wohl.“
„Gingen Sie davon aus, dass er sich mit anderen dort trifft, um …“
„Ja, er kann ja nichts dafür, wenn ich keine Lust habe.“
Nun war Emelie es, die das erst einmal verdauen musste.
„Hat er sich noch einmal in jener Nacht bei Ihnen gemeldet?“
Frau Schubert schüttelte den Kopf.
„Aber gegen Mittag am nächsten Tag, also letzten Mittwoch, haben Sie ihn als vermisst gemeldet“, sagte Emelie.
„Er kam ja immer nach Hause und ich konnte ihn nicht erreichen.“
„Hatte er Feinde?“
Frau Schubert schüttelte erneut den Kopf.
„Irgendwelche Eifersüchteleien? Im Klub? Wenn er mit anderen …?“ Yan sprach es nicht aus.
„Wer da hingeht, der … Nein … ausgeschlossen.“
Frau Schuberts Haupt sank erneut in ihre Handflächen. Yan deutete mit dem Kinn in Richtung des Schlafzimmers. Die Tür stand offen. Emelie erspähte ein Andreaskreuz, an dem Fesseln aus Leder baumelten.
„Hatte er Familie außer Ihnen?“
„Seine Eltern leben nicht mehr.“
„Geschwister?“
„Nein.“
„Wie heißt der Klub?“
„Moonshine Sally.“
Yan nickte wissend. Anscheinend kannte er ihn.
„Und Sie sind sich sicher, dass nicht eine der Frauen … Vielleicht ein Racheakt? Eifersucht?“
„Glauben Sie, dass eine Frau ihn umgebracht hat?“
Emelie schüttelte den Kopf.
„Hatte Ihr Mann auch sexuelle Kontakte zu Männern?“
„Zu dritt, und wenn ihm einer gefiel … Und selbst wenn … Die Leute in dem Klub. Das kann nicht sein.“ Erneut lösten sich bei ihr Tränen.
„Wir lassen Sie jetzt besser allein. Sie können mich jederzeit anrufen, wenn Sie Hilfe oder eine psychologische Betreuung brauchen.“ Emelie zog eine Visitenkarte aus dem Etui ihres Handys.
Frau Schubert griff mechanisch danach. „Wie geht es jetzt weiter? Wo ist er? Kann ich ihn sehen? Ein letztes Mal?“
„Er ist noch in der Rechtsmedizin. Wir geben Ihnen Bescheid.“ Emelie sagte sich in dem Moment, dass sie nicht in ihrer Haut stecken mochte.
Frau Schubert reagierte nicht einmal, als Emelie aufstand.
„Tut mir sehr leid“, sagte Yan.
Auch darauf gab es keine Regung.
Es war höchste Zeit, zu gehen. Unter diesen Umständen fanden sie allein hinaus.
***
Emelie hätte nicht im Traum damit gerechnet, eines Tages einen Swingerklub von innen zu sehen. Das war normalerweise eine Angelegenheit für die Kollegen von der Sitte. „Moonshine Sally“ klang sicher vor allem für männliches Publikum einladend. Gab es da nicht einen gleichnamigen Song? Einen Oldie auf der Siebzigerjahre-Playlist ihres Vaters? Moonshine hatte zugegebenermaßen etwas Geheimnisvolles und Romantisches zugleich. Sally hingegen erweckte bei Emelie den Eindruck, als ginge es um ein billiges Mädchen, wobei ein solches bei diesem Klub wohl eher nicht vorzufinden war, wie Yan wusste.
„Das ist kein Puff“, erklärte er ihr auf Nachfrage während der Fahrt.
„Im Puff warst du also auch schon?“
„Zwei Razzien.“
Es klang glaubhaft, denn bei seinem Aussehen und sprühendem Charme hatte er es sicher nicht nötig, in ein solches Etablissement zu gehen. In einen Swingerklub offenbar schon.
„Warst du oft bei Sally?“
„Zwei Mal. Vor Jahren. Ein Kollege hat mir einen Gutschein zum Geburtstag geschenkt.“
„Der muss dich aber gut kennen.“
„Na hör mal …“
Yan spielte den Pikierten, wovon sie sich während eines kurzen Seitenblicks zur Beifahrerseite überzeugen konnte. Er musste selbst darüber lachen.
„Was hat dich am meisten angemacht?“
Überraschenderweise brauchte Yan etwas Zeit, um sich die Antwort anscheinend gründlich zu überlegen.
„Die Ungezwungenheit. Die lockere Atmosphäre.“
„Die hat man auch in einem Nachtklub.“
„Ich meinte in Sachen Sex.“
„Verstehe.“ Emelie schluckte.
„Du findest eine Frau toll, die an der Bar sitzt. Du weißt, weshalb sie hier ist. Du ersparst dir den ganzen Small Talk, kommst schnell zum Punkt.“
„Also wer auf was steht.“
„Genau. Ohne Scham. Das war eine völlig neuartige Erfahrung für mich.“
„Und auf was stehst du?“ Darüber hatten sie sich noch nicht unterhalten.
„Ist typabhängig. Mit einer war ich im Himmel. Wobei. Ihr Mann kam dann hinzu. Hatte was.“
Emelie schluckte. An seiner Seite kam sie sich gerade wie eine verklemmte Klosterschülerin vor.
„Beim zweiten Mal war ich in der Hölle.“
„War wohl nicht so genial.“ Emelie konnte sich lebhaft vorstellen, dass man bei solchen Dates auch mal auf die Schnauze fiel. Yan lachte auf.
„Nein, ganz im Gegenteil. War extrem geil. Der Himmel ist der softe Bereich. Helle Möbel, romantische Separees und Kabinen. Die Hölle ist der Spielbereich. Dunkel eingerichtet, eigentlich fast schwarz. Kerzen, Spielsachen.“
„Aha. Also so die Shades of Grey-Nummer.“
„Du hast es erfasst.“
„Und du hast dann vermutlich die Peitsche geschwungen.“ Emelie wollte es nun genau wissen.
„Ich steh nicht auf Schmerzen. Ich hab mich mit Handschellen ans Bett fesseln lassen. Nähere Details?“
Und wie frech er jetzt auch noch grinste.
„Nein Danke.“ Das war natürlich glatt gelogen. In ihrem Kopfkino stellte sie sich gerade vor, wie er, so wie Gott ihn schuf, vor ihr auf dem Bett lag, die Hände in Handschellen an ein Eisenbett gefesselt. Ihr würde da so einiges einfallen. Emelie räusperte sich.
„Es ist grün.“
Wie peinlich. Jetzt wusste er auch noch, warum sie nicht auf die Ampel geachtet hatte.
„Die nächste rechts. Davor ist ein Parkplatz.“
Emelie setzte den Blinker und verstand nun, warum sich dieses Etablissement außerhalb befand. Himmel und Hölle. Wer wollte bei den Besuchen schon gesehen werden – sah man von Yan ab, der vermutlich auch dorthin gegangen wäre, wenn er in Begleitung eines Kamerateams gewesen wäre. Der Gedanke belustigte sie, führte ihr aber zugleich vor Augen, dass sie mit seinen reichhaltigen Gelüsten wahrscheinlich gar nicht mithalten konnte, was insofern wieder sehr für eine „Nur-Freundschaft“ sprach. Andererseits, am Ende würde er noch Abgründe der Leidenschaft aus ihr herauskitzeln. Auch dieser Gedanke sorgte dafür, dass sie unwillkürlich schmunzeln musste.
***
Emelie wunderte sich darüber, dass um die Zeit so viele Autos auf dem Parkplatz standen. Es war zwar um halb sechs bereits dunkel, doch Nachtleben dieser Art assoziierte sie, wie der Name schon sagte, mit einer späteren Uhrzeit. Das Gebäude, auf das sie zufuhr, wirkte auf den ersten Blick wie eines jener Bauten, die man auf Industriegeländen vorfand. Schmuckloser Beton mit Flachdach. Es könnte genauso gut auch das Lager eines Baumarkts sein. Letzterer befand sich keine hundert Meter weiter am Ende der Straße.
„Ganz schön viel los um die Zeit“, merkte Emelie an. Sie hielt den Wagen direkt vor dem Eingang.
„Die Bude ist schon nach fünf gut besucht“, sagte Yan, während er sich abschnallte.
„Die schnelle Nummer nach Büroschluss. Heimlich. Angeblich dauerte die Besprechung dann länger.“ Emelie erklärte es sich damit.
„Du hast es erfasst.“
Sie stellte den Motor ab und stieg nach Yan aus. Er ging zielstrebig zur Klingel. Mit dem Summton schnappte das Türschloss auf. Yan trat als Erster durch die Tür. Er kannte sich schließlich aus und führte sie direkt zur Rezeption, die mit ihrer Ledercouch und den Palmen in Blumentöpfen, die dem Empfangstresen gegenüberstanden, recht gemütlich aussah.
„Für zwei? Aber heute ist ab acht Maskenabend. Kostet fünf Euro mehr, wenn Sie bleiben wollen. Masken habe ich hier. Kostet zehn Euro extra.“
Die Frau hinter dem Tresen, eine Rothaarige in überraschend adretter Kleidung, einem Kostüm mit einer weißen Bluse, das man durchaus in einem Büro tragen konnte, spulte routiniert ihr Programm ab.
„Kripo Offenburg. Mein Name ist Emelie Gutenberg und mein Kollege aus Frankreich, Yan Leblanc. Wir ermitteln in einem Mordfall“, erklärte Emelie. Auffällig war, dass die Dame Yan einen Tick zu lange musterte. Anscheinend hatte sie ein gutes Personengedächtnis.
„Ingrid Zellner. Ich bin um die Zeit allein am Empfang. Wenn Sie möchten, können wir es uns in der Sitzecke bequem machen. Wie kann ich behilflich sein?“
Die Frau war die Ruhe selbst, was Emelie beeindruckte. Sie hatte etwas von einer Geschäftsfrau, wie sie im Buche stand.
„Es geht um den Mord an einem Mann Mitte dreißig. Die Ermittlungen haben ergeben, dass er an dem Tag, als seine Frau ihn zuletzt gesehen hat, hier war.“
Frau Zellner zog eine Augenbraue hoch und ließ das anscheinend erst einmal sacken.
„Wann soll das gewesen sein?“
„Letzte Woche am Dienstagabend.“
„Da war Maskenabend.“
„Die Witwe des Verstorbenen sagte, dass sie Stammgäste hier gewesen seien. Sagen Ihnen die Namen Sven und Jenny Schubert etwas?“
„Sven ist tot? Ermordet?“
Nun fuhr doch Leben in die Miene der Geschäftsfrau. Emelie hatte den Eindruck, dass sie die Betroffenheit nicht spielte. Ihr Augen wanderten unruhig hin und her. Sie fing an, mit dem Ring an ihrem Mittelfinger zu spielen.
„Wie gut kannten Sie die beiden?“
„Wie Sie schon sagten. Sie waren Stammgäste. Und sehr gern gesehene.“
„Wie meinen Sie das?“
„Sie waren beide begehrte Spielpartner. Kein Wunder bei deren gutem Aussehen.“
Letzteres konnte Emelie nur von Jenny bestätigen. Was Sven betraf, sollte Kurt versuchen, ein Foto von ihm zu besorgen. Sie brauchten es für weitere Nachforschungen wahrscheinlich sowieso.
„Im Himmel oder in der Hölle?“, fragte Yan.
Frau Zellner sah ihn überrascht an.
„Meine Kollegin weiß, dass ich zwei Mal hier war. Ist aber schon länger her.“
„Ich konnte mich trotzdem an Ihr Gesicht erinnern. So schöne blaue Augen vergisst man nicht so schnell.“
Yan nahm ihr Kompliment mit einem verlegenen Lächeln entgegen. Emelie wäre an seiner Stelle rot angelaufen.
„In der Hölle. Sven … verstehen Sie mich nicht falsch. Man soll ja nichts Schlechtes über Tote sagen und es ist ja letztlich auch nichts Schlechtes. Er war jemand ohne Tabus. Ein richtiger Vollmacho und auch bei Männern begehrt. An sich achten wir darauf, dass selbst in der Hölle alles in gewissen Grenzen bleibt. Sven lotete sie aus.“
„Bei SM-Spielen?“
Frau Zellner nickte.
„Inwiefern?“
„Ein Gast stand auf Exekutionsfantasien. Sven hat ihm einen Strick um den Hals gelegt. Er wurde ohnmächtig. Kam dann aber wieder zu sich. Ich habe ihm daraufhin gesagt, dass ich so etwas in meinem Klub nicht dulde, vor allem nicht vor versammelter Mannschaft. Er hatte Publikum, verstehen Sie? Jemand hätte mich anzeigen können. Dann wäre die Bude dicht. Menschlich war Sven aber sehr angenehm. Wir haben uns über Gott und die Welt unterhalten, doch sobald er in der Hölle war … Versaut trifft es wohl am ehesten und er kam so richtig in Fahrt, wenn möglichst viele zusahen.“
„Vermutlich kennen Sie die meisten der Gäste, die an diesem Abend im Klub waren, nicht.“ Emelie ging fest davon aus, doch fragte sicherheitshalber nach.
„Nur ein paar Gäste, die aber nie in die Hölle gingen, soviel ich weiß.“
„Zahlen die Leute mit Kreditkarte?“
„Die meisten in bar. Aus Diskretionsgründen. Bei Maskenabenden ist das ja besonders wichtig.“
„Ist an jenem Abend irgendetwas Außergewöhnliches vorgefallen? Hat sich Sven in Szene gesetzt?“, fragte Yan.
„Nein, so viel ich weiß. Ich halte mich aber nicht in diesem Raum auf und bin die meiste Zeit hier. Ab und zu nehme ich drinnen an der Bar einen Drink mit meinen Gästen. Mir ist jedenfalls nichts zu Ohren gekommen.“
In dem Moment klingelte es am Tresen.
„Sie entschuldigen mich.“
Frau Zellner stand auf und ließ einen Mann herein, der bestimmt noch keine dreißig war. So jung und schon so versaut, dachte sich Emelie im Stillen. Frau Zellner spulte ihren Begrüßungstext ab.
„Ich bleibe und die Maske nehme ich gerne.“ Daraufhin zog er noch einen Zehneuroschein aus seinem Geldbeutel.
Frau Zellner holte eine schwarze Maske, die Emelie an den Karneval von Venedig erinnerte, aus dem Schrank und reichte sie ihm. Auch in einem Filmklassiker mit Cruise und Kidman, Eyes White Shut von Stanley Kubrick, hatte sie solche Dinger bereits gesehen.
„Einen schönen Abend.“ Frau Zellner öffnete ihm die Tür zum Himmel.
Emelie lugte von ihrem Platz aus hinein und sah einige Männer verschiedenen Alters teils sogar halb nackt an der Bar sitzen. „Das wäre für den Moment alles“, erklärte sie und erhob sich.
„Wenn Sie noch Fragen haben. Rufen Sie mich gerne an.“
Emelie nickte und reichte ihr die Hand zum Abschied.
„Vielleicht sieht man sich auch bei anderer Gelegenheit wieder“, steckte sie Yan, der nun doch leicht errötete, was Emelie erst bemerkte, als sie ins Freie getreten waren und das helle Eingangslicht direkt auf sein Gesicht fiel. Ihr Schmunzeln ignorierte er geflissentlich.
„Es könnte also ein Triebtäter gewesen sein. Jemand, der Sven hier in Aktion sah. Ein Sadist, der Lust am Quälen anderer empfindet.“
Yans Theorie, die er ihr auf dem Weg zurück zum Wagen offenbarte, war stimmig. Sie dachte mittlerweile in die gleiche Richtung, doch es gab einen Haken.
„Ich glaube nicht, dass Frau Zellner in der Hölle so einen Stier stehen hat. Die Inspiration zu diesem Mord muss sich der Täter von Alex` Videos geholt haben. Was anderes wäre es, wenn er Sven Schubert erhängt hätte.“
„Mit anderen Worten. Wir sind keinen Schritt weiter.“
Yans Resümee traf es auf den Punkt.
„Das schließt aber nicht aus, dass der Täter an jenem Abend hier war.“
„Ich sollte morgen mit Heiner nach Freiburg fahren. Der springende Punkt ist doch, dass der Täter wusste, wo diese Installation steht. Vielleicht hat am Lehrstuhl jemand davon erfahren.“
„Mit Heiner?“
„Deutscher Boden. Deutsche Polizeiarbeit. Die Kollegen glauben sowieso schon, dass wir noch vor Weihnachten heiraten.“
„Das wäre mir aber einen Tick zu früh.“
So wie er sie gerade anlächelte, hätte Emelie einen Heiratsantrag glatt angenommen.
Emelie sperrte den Wagen auf. Sie nahm sich vor, ihn zurück zu seinem Fahrzeug zu bringen und dann nach Hause zu fahren.
„Wir könnten doch heute noch zum Hirschen gehen.“
„Das heben wir uns für ein andermal auf. Hab keinen großen Hunger und du kennst die Riesenportionen.“ Yan kaufte es ihr ab, weil es wenigstens teilweise der Wahrheit entsprach. Der Brief von Jürgen. Das war der eigentliche Grund. Alles noch einmal in Ruhe durchdenken und keine voreiligen Entscheidungen treffen. Damit war sie bisher immer gut gefahren. Zumindest wollte sie in sich gehen und ihr Innerstes befragen, ob sie sich richtig entschieden hatte.