Leseprobe Sommerküsse in der Pension Küstentraum | Eine bezaubernde Wholesome Romance an der Ostsee

Kapitel 1

Merle

»Herzlichen Glückwunsch, Frau Petersen, Ihnen gehört nun ein Einfamilienhaus mit großem Grundstück an der Ostsee.« Der Nachlassverwalter meiner Großtante rückte seine Brille zurecht und schob mir neben den Schlüsseln ein Dokument zu, das ich unterschreiben sollte. Ich war auf dem Stuhl wie zur Salzsäule erstarrt und regte mich erst wieder, als Dr. Paulsen ungeduldig mit dem Stift wedelte, den er mir entgegenhielt. »Entschuldigung«, murmelte ich verlegen und unterschrieb. Unglaublich! Ich war nun Besitzerin eines Hauses – in einem Kaff an der Ostsee. Ausgerechnet!

Immer noch benommen verabschiedete ich mich von Dr. Paulsen, nahm meine Tasche, in der schon eine Kopie des Grundbucheintrags lag, und verließ das riesige Gebäude, in dem sich das Nachlassgericht Kiel befand. Einem inneren Impuls folgend, ging ich an meinem quietschgelben Leihwagen vorbei und setzte mich auf eine Bank des gegenüberliegenden Parks. Mensch Tante Jette, was hast du dir nur dabei gedacht? Ja, ich habe manchmal gemeinsam mit meiner Oma die Sommerferien bei ihrer Schwester verbracht und es war nett gewesen. Aber ich war nun mal eine echte Stadtpflanze. Was sollte ich also mit einem Haus an der Ostsee anfangen? Meine Zelte in Berlin abzubrechen und nach Appenkuhl zu ziehen, kam für mich nicht infrage, obwohl ich als Autorin von Thrillern praktischerweise von überall arbeiten konnte. Einen Moment lang hatte ich darüber nachgedacht, das Erbe abzulehnen, aber das kam mir gegenüber Tante Henriette nicht richtig vor. Es war ja nett gewesen, dass sie an mich gedacht hatte, obwohl wir so selten Kontakt hatten. Ihr Mann war schon vor einigen Jahren verstorben und die Ehe kinderlos geblieben. Ich musste unbedingt mit jemandem reden, also nahm ich mein Smartphone und wählte die Nummer meiner Lektorin. Nach dreimaligem Klingeln nahm Karla ab.

»Hey Merle, schön von dir zu hören. Steckst du noch an der Küste?«, fragte sie und ich konnte hören, wie sie nebenbei tippte.

»Ja, ich fahre gleich wieder Richtung Berlin. Karla, meine Großtante hat mir ein Haus vererbt. In Appenkuhl!«, berichtete ich aufgeregt.

»Wo?«

»Genau, man hat noch nie davon gehört, weil es am Arsch der Welt liegt.«

Ich hörte Karla am anderen Ende der Leitung lachen. »Ach, ist vielleicht gar nicht so übel. Vielleicht liefert dir dieses Appental ja Stoff für ein neues Buch. In diesen kleinen Gemeinden sollen sich ja mitunter echte Dramen abspielen.«

»Es heißt Appenkuhl. Und nein, ich glaube nicht, dass da große Dramen auf mich warten. Eher sterbe ich da vor Langeweile.« Ich seufzte einmal schwer, sodass ein vorbeigehender Passant mir einen befremdeten Blick zuwarf.

»Na und, was willst du jetzt machen?« Karla hatte aufgehört, nebenbei zu tippen und schenkte mir jetzt hundert Prozent Aufmerksamkeit.

»Keine Ahnung, angenommen habe ich das Erbe schon. Ich kenne das Haus noch von früher, wahrscheinlich ist es ziemlich renovierungsbedürftig. Ausräumen muss ich es auch noch.«

»Du könntest es auf Vordermann bringen und dann zum Beispiel vermieten, entweder fest oder als Ferienhaus«, schlug Karla vor.

Ich blies mir eine meiner brünetten Strähnen aus dem Gesicht. »Hm, ich weiß nicht … Dann wäre ich als Vermieterin für alles verantwortlich und würde bestimmt wegen jeder Kleinigkeit einen Anruf bekommen. Dazu habe ich weder Zeit noch Lust. Mal abgesehen davon lässt sich das von Berlin aus nicht so leicht managen.«

»Ja, da hast du wohl recht. Dann richte es doch ein bisschen her und verkaufe es. Auch wenn es am Arsch der Welt liegt, Grundstücke in Küstennähe sind heiß begehrt, da bekommst du sicher einen guten Preis.«

»Ja, ich denke, das werde ich wohl tun. Dann verbinde ich das gleich mit meinem Sommerurlaub«, sagte ich wenig begeistert. Eigentlich hätte ich lieber entspannt, statt ein Haus auszumisten.

»Das ist doch eine hervorragende Idee! Und das Lektorat deines letzten Romans ist so gut wie abgeschlossen, das passt perfekt! Ich möchte dich echt nicht abwimmeln, Merle, aber ich habe in fünf Minuten meinen nächsten Termin und würde mir vorher noch gerne einen Kaffee holen.« Ihr entschuldigender Ton ließ mich schmunzeln.

»Natürlich, wir hören uns. Danke fürs Zuhören, Karla.«

»Kein Problem, bis bald.«

Während ich das Smartphone wieder in mein braunes Citybag gleiten ließ, grübelte ich darüber nach, welchen Schritt ich als Nächstes wohl am besten ging. Fest stand, dass das Haus erst einmal leer geräumt werden musste. Was sollte ich nur mit Jettes persönlichen Gegenständen machen? Die Möbel würde ich entweder über Kleinanzeigen loswerden oder auf den Sperrmüll bringen. Alleine würde ich das nie schaffen, also musste ich von irgendwo Möbelpacker herzaubern. Das Haus spukte dunkel in meiner Erinnerung herum. Zu Jettes Beerdigung hatten wir es gar nicht betreten und stattdessen in einem Hotel in Kiel übernachtet. Sicher müsste vieles gemacht werden. Je mehr ich darüber nachdachte, desto besser gefiel mir der Gedanke, denn ich liebte es, frischen Wind in alte Räume zu bringen. Wäre ich nicht Autorin geworden, hätte ich Innenarchitektur studiert. Und eine kleine Pause vom Schreiben würde mir sicher guttun. So könnte ich neue Energie tanken und vielleicht hatte Karla ja recht und Appenkuhl lieferte mir tatsächlich ein paar neue Ideen. Mein Plan stand fest: Rückfahrt nach Berlin, Sachen packen, kurze Nachricht an meinen Agenten Joachim und dann ab nach Appenkuhl. Nur in Jettes Haus wollte ich nicht übernachten, zumindest vorerst. Die Vorstellung, ganz allein in dem schon recht alten Gemäuer zu sein, behagte mir nicht. Kurzentschlossen holte ich mein Handy wieder hervor und suchte nach einer Unterkunft in Appenkuhl. Als ersten Eintrag spuckte Google die Pension Küstentraum aus, direkt im Ort gelegen. Na das klang doch vielversprechend!

Kapitel 2

Kai

»Rücken gerade, Zügel locker halten. Klasse, du machst das super.«

Meine junge Schülerin lächelte mir schüchtern zu und entblößte dabei eine kleine Zahnlücke. Die anderen vier Kinder der Zwergengruppe machten ihre Sache ebenso hervorragend. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass die Reitstunde sich langsam dem Ende zuneigte.

»Okay, das habt ihr alle ganz prima gemacht, ich bin stolz auf euch. Und weil auch die Ponys ganz lieb waren, werden wir sie jetzt füttern und dann gemeinsam in den Stall bringen, also los.«

Einige Kinder waren schon sehr geschickt und schwangen sich selbst vom Rücken der Tiere, andere brauchten noch ein wenig Hilfe von mir und meinem Mitarbeiter Jonas.

»Geh du mit den Kindern schon mal vor, ich komme gleich nach.« Düster sah ich zur Auffahrt.

Jonas folgte meinem Blick. »Alles klar, viel Glück.« Mit einem mitleidigen Lächeln klopfte er mir auf die Schulter, bevor er den größeren Kindern die Zügel in die Hand drückte, selbst unser Pony Poppi führte und mit den Kids in Richtung Stallungen davonmarschierte.

Ich straffte die Schultern und ging Nina, meiner Ex-Freundin, entgegen. In ihren zugegebenermaßen sexy Reitklamotten und mit dem breiten Lächeln im Gesicht schien sie wie aus einem Film entsprungen. Wir hatten uns vor drei Monaten getrennt. Das heißt, ich hatte mich getrennt. Wir passten einfach nicht zueinander. Ich liebte das Landleben, sie fand es hier unerträglich öde. Außerdem hatte ich in dem knappen Jahr unserer Beziehung festgestellt, wie materialistisch sie war. Sie legte größten Wert auf eine schicke Eigentumswohnung in Kiel und Designerklamotten. Es war ihr sogar unangenehm bis peinlich, wenn ich sie mit meinem alten Ford von zu Hause abgeholt hatte. Bis ich endlich die Reißleine gezogen hatte. Nur leider wollte sie das nicht akzeptieren und tat so, als würden wir lediglich eine kurze Beziehungspause einlegen.

»Hallo mein Schatz«, begrüßte sie mich übertrieben überschwänglich und drückte mir einen Kuss auf die Wange, den ich nicht erwiderte.

»Hallo Nina«, antwortete ich bemüht sachlich.

»Ich habe dich vermisst.« Mit Schmollmund und Dackelblick schaute sie mich an.

Darauf würde ich sicher nicht eingehen.

»Oktavia steht in ihrer Box, frisches Futter hat sie bereits bekommen und ausgemistet habe ich heute Morgen auch schon.« Damit ließ ich sie stehen. Hoffte ich zumindest.

Aber natürlich lief sie mir hinterher und kniff mir in den Hintern, als sie mich eingeholt hatte.

»Lass das bitte, Nina!«

Wütend stampfte sie mit dem Fuß auf. »Du behandelst mich, als wäre ich nur eine ganz normale Mieterin für dich.« Ihre blauen Augen funkelten gefährlich.

Wütend drehte ich mich zu ihr um. »Nina, wir haben uns getrennt! Es ist okay für mich, wenn du Oktavia trotzdem weiter hier unterbringen möchtest, aber bitte hör auf damit, so zu tun, als wären wir noch zusammen.«

»Ich kämpfe eben um uns. Weil ich dich liebe, Kai.« Sie legte ihre Arme um meine Schultern und ihre Augen glänzten verdächtig.

Gott, sie würde doch jetzt keinen Weinkrampf bekommen! Ich hätte mich aus ihrem Griff befreien sollen, aber es tat mir eben leid, sie so verzweifelt zu sehen.

»Nina«, entgegnete ich sanfter und umfasste ihre Handgelenke, um ihre Arme vorsichtig nach unten zu dirigieren. »Wir haben doch schon so oft darüber gesprochen – es war eine wunderschöne Zeit. Aber letztendlich hat es nun einmal nicht funktioniert. Du hast dich hier nie besonders wohlgefühlt und für mich kommt es nicht infrage, hier wegzugehen. Wir wären auf Dauer nie glücklich geworden und das weißt du auch. Einer von uns hätte immer zurückstecken müssen.« Und das wäre garantiert ich gewesen, fügte ich in Gedanken hinzu.

»Unsinn, wir hätten bestimmt eine Lösung gefunden. Die Wahrheit ist doch, dass du dich nicht binden möchtest. Aber eins sage ich dir: Ich werde nicht ewig auf dich warten.« Damit entließ sie mich endlich, um mit ihrer Schimmelstute auszureiten.

 

»Was wollte Nina denn schon wieder?« Mit fragendem Blick reichte Jonas mir eine Flasche Wasser, während er sich selbst eine aus dem Minikühlschrank im Büro nahm. Gemeinsam setzten wir uns draußen auf die Bank und schauten meinen beiden Pferden Jurist und Calipso beim Grasen zu.

»Ach, das Übliche. Dass sie mich liebt, dass sie mich wiederhaben will und dass ich nur Angst hätte, mich zu binden.« Seufzend stellte ich meine Flasche neben mir auf der Bank ab.

Jonas zuckte kurz mit den Schultern und schob sich seine blonde Surfermähne aus dem Gesicht. »Na ja, so komplett falsch liegt sie damit ja auch nicht.«

»Stimmt«, gab ich unumwunden zu. »Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Sie ist mir einfach zu dominant. Was ich will, zählt für sie überhaupt nicht. Ich habe mir hier eine tolle Existenz aufgebaut und habe nicht vor, die für eine Frau aufzugeben.« Mein Leben war wegen einer Frau schon einmal wie ein Kartenhaus in sich zusammengefallen. Das würde mir sicher kein zweites Mal passieren, aber das behielt ich für mich. Meine Vergangenheit war nicht der Ort, an dem ich mich gerne aufhielt.

»Ja, sie kommt schon ein bisschen wie eine verwöhnte Prinzessin rüber. Seit eurer Trennung ist das sogar noch schlimmer geworden.«

»Ja, ich glaube, sie kann gar nicht damit umgehen, dass es nicht nach ihr geht. Aber da kann ich ihr auch nicht helfen. Vielleicht sollte ich ihr nahelegen, sich einen anderen Stall für Oktavia zu suchen.«

Eigentlich hatte ich gedacht, dass das nicht nötig wäre und wir erwachsen damit umgehen könnten. Aber da hatte ich mittlerweile wenig Hoffnung.

»Okay, also die Richtige für dich muss auf jeden Fall das Landleben und Pferde lieben«, schloss Jonas.

»Auf jeden Fall.«

Pferde waren eine Leidenschaft, die mir das Leben gerettet hatte. Aber ob es die passende Frau überhaupt gab? Ich hatte da meine Zweifel …

Kapitel 3

Merle

Die Fahrt von Berlin nach Appenkuhl hatte dank gefühlt zehn Staus über fünf Stunden gedauert, obwohl ich extra früh losgefahren war. Als ich meinen Leihwagen, diesmal einen knallroten Skoda Fabia, endlich auf den Parkplatz der Pension Küstentraum lenkte, war mein Rücken schweißnass. Ich rieb mir kurz den Nacken und nahm mir dann die Zeit, meine Umgebung näher in Augenschein zu nehmen. Sofort breitete sich ein Lächeln auf meinem Gesicht aus. Das Gebäude sah von außen wie eine riesige alte Scheune aus rotem Backstein aus, nur die vielen modernen Fenster sowie die gläserne Eingangstür verrieten, dass hier keine Traktoren mehr geparkt wurden. Das Haus war umgeben von einem üppig bewachsenen Friesenwall, auf dem Rosen in sattem Rot, zartem Rosa und sonnigem Gelb um die Wette strahlten. Es sah noch traumhafter aus als auf der Website.

Ich stieg aus und wandte mich zu dem hübschen Wohnhaus um, das direkt gegenüber der Pension lag. Kaum hatte ich geklingelt, öffnete sich schon die Tür. Vor mir stand eine schlanke Frau mit blonden Haaren, die mir vage bekannt vorkam. Ihr Lächeln war so ansteckend, dass ich es sofort erwiderte. Sie hatte eine Babytrage umgeschnallt, in der ein kleiner, ebenso blonder Wonneproppen schlummerte. Dem rosafarbenen Outfit nach zu urteilen war es ein Mädchen. Ich streckte ihr meine Hand entgegen.

»Hallo, mein Name ist Merle Petersen, ich hatte ein Zimmer gebucht.«

»Herzlich willkommen im Küstentraum, ich bin Julia Sommerfeld und das hier …«, sie zeigte auf den kleinen schlafenden Blondschopf, »… ist meine Tochter Neele.« Stirnrunzelnd scannte sie mein Gesicht. »Entschuldigen Sie bitte, aber kennen wir uns nicht? Sie kommen mir irgendwie bekannt vor.«

»Das geht mir auch so. Ich glaube, wir haben uns auf der Beerdigung meiner Großtante gesehen, Henriette Hinrich.« Schließlich wüsste ich nicht, zu welcher Gelegenheit wir uns sonst hätten begegnen sollen.

Ihre Miene hellte sich auf, also hatte ich wohl richtig getippt. »Ja, genau, jetzt erinnere ich mich wieder! Und was führt Sie jetzt nach Appenkuhl?« Kaum hatte sie die Frage ausgesprochen, schlug sie sich die Hand vor den Mund. »Entschuldigung, ich bin immer so neugierig. Natürlich geht es mich überhaupt nichts an.«

»Ach, kein Problem«, erwiderte ich schnell. Ich hatte kein Problem mit Small Talk und Julias herzliche Art machte es mir leicht, mich zu öffnen. »Ich habe Henriettes Haus geerbt und plane, es während der nächsten Wochen zu entrümpeln und etwas herzurichten …«

Während ich redete, zauberte Julia einen Schlüssel hervor und wir gingen gemeinsam zur Pension.

»Ah, verstehe. Und möchten Sie es behalten oder verkaufen?«

»Das weiß ich ehrlich gesagt noch nicht genau. Ich lebe in Berlin und bin ein richtiges Großstadtkind. Ich denke also eher, dass ich es verkaufen werde. Wir können uns übrigens gerne duzen, wenn das okay ist.« Da wir beinahe im selben Alter waren, erschien mir das Sie unnötig.

»Ja, sehr gerne. Also wenn du beim Ausmisten und Renovieren Hilfe benötigst, sag einfach Bescheid. Glaub mir, ich habe da echt Erfahrung. Meine Pension war vor einigen Jahren auch nur eine Scheune – aber lass dich überraschen.«

Mit diesen Worten traten wir durch die gläserne Tür des Küstentraums. »Hier unten ist der Frühstücksraum, wo wir jeden Morgen von sieben bis zehn Uhr ein reichhaltiges Buffet anbieten. Und hier befindet sich unsere Bibliothek.«

Wir betraten den Nebenraum durch eine weiße zweiflügelige Tür. Zu allererst fiel mir der Kaminofen ins Auge. An den Wänden standen deckenhohe Regale in Weiß, in denen eine Menge Bücher zum Schmökern einluden. Komplettiert wurde der helle Raum durch einladende Sessel und zwei Sofas, die mit maritimen Kissen genau der richtige Platz zum Bücherlesen waren. Ich las die Bücherrücken quer und stellte erfreut fest, dass sogar eines meiner Werke dabei war. In dunkelblauen Buchstaben zierte der Name Jette Erikson den Buchrücken. Dieses Pseudonym hatte ich nicht zufällig gewählt.

»Das hier ist unser Aufenthaltsraum zum Lesen und Entspannen. Besonders im Winter veranstalte ich auch gerne kleine Themenabende, bei dem sich die Gäste auch einmal besser kennenlernen können.«

»Es ist wunderschön hier. Ich bin fast traurig, dass wir Sommer haben und der Kaminofen nicht an ist.« Ich stellte mir im Geiste schon vor, wie ich hier sitzen würde, eine heiße Schokolade neben mir und meinen Laptop auf dem Schoß.

»Ja, das sagen unsere Gäste öfter, aber hier im Norden weiß man nie. Unsere Sommer können sehr kalt und windig sein. Wollen wir weiter?« Ohne meine Antwort abzuwarten drehte sie sich um und stieg die Treppe hinauf.

Ich folgte ihr, bis wir vor eine weiße Tür traten, die ein Holzschild mit der Aufschrift Strandperle zierte. Alle Zimmer hatten einen maritimen Namen. Auf dem Weg hatte ich die Räume Treibgut und Ostseeblick bemerkt.

»Hereinspaziert!« Lächelnd und in gespannter Erwartung hielt Julia mir die Tür auf.

Ich nickte ihr dankend zu – und blieb mit offenem Mund stehen. Dieses Zimmer war ein wahr gewordener Traum in maritimem Schick: Die in Weiß, Blau und warmen Holzfarben gehaltene Einrichtung versprühte einen modernen, aber gemütlichen Charme. Passende Accessoires wie eine Lampe in Form eines Leuchtturms waren richtige Hingucker. Der Couchtisch hatte einen Glaskasten, in dem Muscheln, helle Steine sowie kleine Deko-Seesterne alle Blicke auf sich zogen.

»Wow, dieses Zimmer ist wunderschön. Das ist ja wirklich ein Traum!«

»Danke, freut mich, dass es dir gefällt. Beim Umbau und der Einrichtung haben mir übrigens viele Freunde und Bekannte aus Appenkuhl geholfen. Wenn du möchtest, kann ich ja mal horchen, wer alles Zeit hätte, um dir unter die Arme zu greifen.«

Solch eine Herzlichkeit und Hilfsbereitschaft war ich aus Berlin nicht gewohnt, weshalb mich dieses Angebot etwas überforderte, weil ich nicht sicher war, wie ernst es gemeint war. Herrgott, ich wusste ja nicht einmal, wie meine direkten Nachbarn in Berlin hießen. Und dabei lebte ich schon seit über sechs Jahren in der Wohnung. Zu meinem Leidwesen waren die Berliner teilweise ein ziemlich eigenbrötlerisches Völkchen. Trotzdem liebte ich die Stadt mit ihrer Fülle an Kultur und Vielfalt.

»Das ist sehr nett von dir, vielleicht komme ich darauf zurück. Erst einmal möchte ich mir ein Bild machen, was alles zu tun sein wird.«

Wenn Julia sich zurückgewiesen fühlte, ließ sie es sich zumindest nicht anmerken. Ihre Miene blieb unverändert freundlich und aufgeschlossen.

»Natürlich, kein Problem. Okay, hier ist der Schlüssel. Ich lasse dich jetzt mal in Ruhe auspacken. Wenn du irgendwelche Fragen hast oder Hilfe brauchst, lass es mich gerne wissen. Wir sehen uns.« Und damit ließ sie mich allein und schloss die Tür hinter sich.

Eine Stunde später stand ich vor Jettes Haus. Nein, vor meinem Haus. Ich drehte den Schlüssel nervös in der Hand und starrte die efeuberankten Mauern an. Laut der Unterlagen, die der Notar mir hinterlassen hatte, stammte das Gebäude aus dem Jahr 1908 und verfügte insgesamt über eine Wohnfläche von 130 Quadratmetern. Es war viel zu groß für eine Person. Von dem riesigen Garten ganz zu schweigen. Im Vorgarten hatte sich das Unkraut den Weg schon fast bis zur kleinen Pforte gebahnt, die über einen schmalen Plattenweg zum Eingang führte. Ich seufzte einmal, als das Ausmaß der Arbeit langsam in mein Bewusstsein sickerte. In den kommenden Wochen würde ich gut zu tun haben.

»Es ist wunderschön, nicht wahr?«

Erschrocken drehte ich mich zu der fremden, etwas rauchigen Stimme um. Vor mir stand eine ältere Dame mit kurzem lockigem Haar, die ihren Blick aufmerksam an mir herabgleiten ließ. Sie trug eine knallbunte Tunika und ihre vielen Armreifen klimperten, als sie mit ihrem beringten, knochigen Finger zum Haus zeigte. »Aber bisher steht es nicht zum Verkauf.«

»Ja, ich weiß, es gehörte meiner Großtante. Sie hat es mir vererbt.«

Schlagartig riss sie ihre Augen weit auf, sodass ich fast fürchtete, sie könnten ihr aus dem Kopf fallen. »Ach, Kindchen, dann bist du Jettes Großnichte? Wie schön!« Begeistert klatschte sie in die Hände. »Ich bin Wilma Hoppe, mir gehört der Blumenladen hier.«

Wie gesagt, ich hatte nichts gegen Small Talk, doch die recht aufdringliche Art dieser Frau aktivierte meinen Fluchtinstinkt. »Ähm … ja, danke, freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen. Ich werde dann auch mal …« Ohne den Satz zu Ende zu führen, hielt ich den Schlüssel hoch und rettete mich ins Haus.

Dass Jette verstorben war, hatte sich offenbar nicht zu jedem herumgesprochen, denn der Briefkasten quoll vor Werbeprospekten über. Ich warf der Dame, die ihre wachen Augen immer noch auf mich gerichtet hatte, ein letztes unverbindliches Lächeln zu und schloss die Haustür hinter mir. Seufzend lehnte ich mich dagegen. Mann, die Leute hier waren ja unglaublich neugierig. Vielleicht hatte Karla doch recht und dieses Nest lieferte mir neuen Stoff für einen Thriller – der Tod lauert hinter jeder Gartenhecke. Ich schüttelte den Gedanken ab und konzentrierte mich aufs Hier und Jetzt. Ich stand in Jettes großzügigem Flur, von dem insgesamt drei Türen abgingen. Eine dunkel lackierte Treppe führte nach oben. Ich beschloss, zunächst das Erdgeschoss zu erkunden. Meine Schritte wurden von dem schweren Orientteppich gedämpft. Die erste Tür links führte zur Küche. Kaum hatte ich die Klinke der hellen Massivholztür heruntergedrückt, stieß ich einen kleinen Freudenschrei aus. Den Boden zierten original Jugendstilfliesen in Schwarz-Weiß. Nur die Küchenzeile war schon etwas in die Jahre gekommen. Das Eichenholz sowie der riesige dunkle Tisch ließen den Raum recht düster wirken. Ich strich auf der Tischplatte entlang und meine Finger hinterließen eine Spur auf der dicken Staubschicht. Die Luft roch abgestanden und muffig. Ich schob die Blumentöpfe auf der Fensterbank zur Seite, wobei die letzten braunen Blätter der längst vertrockneten Pflanzen wie tote Fliegen herabfielen und sich auf dem Boden verteilten. Dann riss ich das Fenster weit auf und sog den Schwall frischer Luft ganz tief ein. Ich lehnte mich gegen den Tisch, nahm den Raum genau in Augenschein. Sofort wirbelten in meinem Kopf die verschiedensten Ideen durcheinander. Wenn man den antiken Gasherd durch einen modernen Induktionsherd ersetzte und den Möbeln, die zwar rustikal, aber dafür qualitativ hochwertig wirkten, einen neuen Anstrich verpasste, ließe sich damit arbeiten. Als ich in Gedanken schon beim Lackieren war, fiel mein Blick auf den Kühlschrank und ich zog die Nase kraus. Hatte hier seit Jettes Tod jemand die Lebensmittel entsorgt? Nach einer kurzen Sichtung kannte ich die Antwort. Angewidert warf ich die Tür wieder zu und stürzte in den Flur, auf der Suche nach einem Badezimmer, da der Anblick des verschimmelten Käses bei mir einen Würgereflex auslöste. Auf der gegenüberliegenden Seite der Küche befand sich das Gäste-WC. Schnell spuckte ich den Ekel ins Klo und betätigte die Spülung, die, komplett Old School, von einer Schnur ausgelöst wurde. Farblich war der Raum in einem 70er Jahre Grün gehalten. Okay, hier war dringend eine Kompletterneuerung angesagt. Dasselbe galt für das Vollbad im Obergeschoss, dessen violette Fliesen einem die Augen tränen ließen. Das Wohnzimmer war vollgestopft mit antiken Möbeln, typischen Oma-Zierkissen und jeder Menge Büchern. Es würde ewig dauern, bis ich mich hier durchgewühlt hätte. Von hier aus führte eine Tür auf die Terrasse und in den Garten, der mit seinem alten Baumbestand an einen verwunschenen Wald erinnerte. Gut, der Rasen war inzwischen kniehoch, aber das Grundstück hatte jede Menge Potenzial. Ich kämpfte mich einmal durch das Gras, um zum Schuppen zu gelangen, dessen rote Farbe bereits großflächig vom Holz abgeblättert war.

»Entschuldigung? Was machen Sie denn da? Das ist ein Privatgrundstück!«

Wieder einmal zuckte ich erschrocken zusammen und sah mich um. Von der anderen Seite des Zauns warf mir eine junge blonde Frau einen äußerst argwöhnischen Blick zu. Eines stand jedenfalls fest: Einbrecher hatten in diesem Ort keine Chance.

»Ja, ich weiß. Das Haus gehörte meiner Großtante, Henriette Hinrich. Ich bin Merle Petersen.« Ich kämpfte mich bis zum Zaun durch.

»Ach so, dann sorry. Ich dachte schon, jemand würde sich hier unbefugt aufhalten. Ich bin übrigens Sarah Sommerfeld.« Sie streckte mir ihre Hand entgegen, die ich sofort ergriff. »Sommerfeld. Hast du etwas mit Julia Sommerfeld zu tun?«

»Ja, Julia ist meine Schwester. Woher kennt ihr euch denn?«

»Kennen wäre zu viel gesagt, aber ich wohne seit heute erst einmal in der Pension Küstentraum, weil ich nicht wusste, in welchem Zustand das Haus ist.«

»Verstehe. Was hast du denn mit dem Haus vor?« Während sie sprach, band sie ihre Haare zu einem lockeren Dutt und pflückte Himbeeren von dem dichten Strauch, der am Zaun hinaufwuchs.

»Na ja, erst einmal sehe ich alles durch, entrümpele das Haus und dann … mal schauen. Wahrscheinlich werde ich es aber verkaufen.«

»Verstehe. Wenn du Hilfe brauchst oder Lust auf eine kleine Kaffeepause hast, dann klingle gerne. Wir, also mein Freund Ole und ich, mussten hier auch noch einiges machen, bevor wir endlich einziehen konnten.« Sie zeigte auf das Haus hinter sich, das in ähnlichem Stil gebaut war wie Jettes.

»Ach, dann wohnt ihr wohl noch nicht so lange hier?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, wir sind erst vor zwei Monaten eingezogen. Und woher kommst du? Nach einem waschechten Nordlicht hörst du dich nicht an«, lachte sie.

»Das stimmt, ich lebe eigentlich in Berlin. Ich habe extra Urlaub genommen, um mich um das Haus zu kümmern. Diese Ruhe hier ist ganz ungewohnt.«

Sarah lachte. »Ja, das glaube ich dir. Ging mir auch so, als ich vor knapp zwei Jahren wieder hierherzog. Davor habe ich in Hamburg gelebt. Aber mittlerweile liebe ich diese Ruhe hier. So, ich muss wieder an den Schreibtisch, ich wollte mir zwischendurch nur ein paar Vitamine holen.« Sie zeigte kurz auf die Himbeeren. »Also, wie gesagt: Melde dich gerne, wenn du Hilfe brauchst. Bis dann.«

»Danke. Bis dann.«

Ich beschloss, den Schuppen ein anderes Mal unter die Lupe zu nehmen und kehrte wieder ins Haus zurück, bevor noch jemand aus der Hecke hervorspringen und mich in ein weiteres Gespräch verwickeln konnte.