Eins
New York, Juni 1908
„Bolivien“, sagte Sid.
„Bolivien?“ Selbst Gus klang überrascht. „Du willst, dass wir nach Bolivien fahren?“
Sid nickte. „Es ist an der Zeit für einen exotischen Ort. Wir werden bieder und langweilig.“
Ich saß mit meinen Freundinnen Elena und Augusta (meist liebevoll Sid und Gus genannt) in ihrer großen gemütlichen Küche auf der anderen Straßenseite des Patchin Place, und wir genossen wie üblich gemeinsam unseren morgendlichen Kaffee. Sie hatten einen Wintergarten angebaut und das Licht drang zwischen den Gestellen mit exotischen Pflanzen, wie ich sie in Irland nie zu Gesicht bekommen hatte, zu uns herein. Heute drang auch Hitze durch das Glas, und in der Küche war es schwül – beinahe so, wie ich es mir in einem tropischen Dschungel vorstellte. Der Sommer hatte New York dieses Jahr früh erreicht und wir bekamen die Hitze zu spüren, weshalb Sid und Gus so eilig Pläne für ihre übliche sommerliche Flucht aus der Stadt schmiedeten. In vergangenen Jahren hatten sie dafür völlig nachvollziehbare Ziele gewählt wie Newport, Rhode Island oder Southampton. Einmal waren sie sogar nach Europa gereist, aber Bolivien … das kam unerwartet.
„Warum Bolivien?“, fragte Gus. Sie versuchte, ruhig zu klingen.
Sid zuckte mit den Schultern, wobei ihre kurzen Haare auf und ab wippten. „Da waren wir noch nie. Das Land liegt in großer Höhe, also sollte es dort kühler sein, und es ist etwas anderes. Interessante Menschen reisen dorthin. Butch Cassidy zum Beispiel.“
„Um vor dem Gesetz zu fliehen und Menschen auszurauben“, merkte Gus an. „Das ist wohl kaum vergleichbar.“
„Na ja, er ist auch ein Gesetzloser. Wir hingegen sind respektable Frauen.“ Sie korrigierte sich: „Nun ja, recht respektabel.“
Ich musste lächeln. „Aber das ist doch schrecklich weit weg, oder?“ Mir wurde bewusst, wie sehr ich meine Freundinnen über den Sommer vermissen würde. „Wie kommt ihr überhaupt dorthin?“
Sid zuckte mit den Schultern. „Wir nehmen ein Schiff.“
„Bolivien hat doch gar keinen Zugang zum Meer, oder?“, fragte Gus.
„Dann neben wir eben erst ein Schiff und dann einen Zug.“
„Es gibt dort Züge? Nicht bloß Maultierkarawanen, die die Berghänge erklimmen?“
Sid legte die Stirn in Falten. „Du scheinst deine Schwierigkeiten damit zu haben. Gefällt dir die Idee nicht?“
„Ich glaube, wir müssen uns besser informieren“, sagte Gus diplomatisch. „Das klingt nicht nach einer Reise, die man leichtfertig antreten sollte. Und sie würde vermutlich so lange dauern, dass wir einige Monate bleiben müssten, damit sich das Ganze lohnt.“
„Ich hoffe nicht, dass ihr monatelang fortbleibt“, sagte ich. „Mit wem soll ich denn dann Kaffee trinken?“
„Nun gut, vielleicht ist Bolivien etwas zu weit weg“, sagte Sid, während sie sich ein Croissant nahm und gedankenverloren eine Ecke abriss. „Aber ich bin all die normalen Ziele leid. Newport, Long Island, das ist alles so prätentiös und bourgeois – und wir müssen aus der Stadt raus, bevor die Hitze unerträglich wird. Es heißt, dass wieder Typhus umgeht.“
Ich nickte. „Daniel hat mir davon erzählt; und nicht nur in den Mietskasernen, sondern auch in einigen Haushalten der Mittelschicht – in Häusern mit Bediensteten.“ Ich lehnte mich vor, um meinem Sohn Liam die überschüssige Marmelade vom Mund abzuwischen. Er hatte sehr brav auf seinem kleinen Hocker gesessen und sich über sein eigenes Croissant hergemacht, das Gus großzügig mit Butter und Marmelade bestrichen hatte. „Daniel redet immerzu davon, dass ich für eine Weile die Stadt verlassen soll.“
„Dann begleite uns“, sagte Sid begeistert.
„Aber nicht nach Bolivien, bitte.“ Ich grinste. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass Daniel damit einverstanden wäre! Tatsächlich drängt er mich, über den Sommer mit den Kindern zu seiner Mutter in Westchester County zu fahren.“
„Das solltest du auch tun.“ Gus nickte ebenfalls eifrig. „Du bist immerhin in anderen Umständen; in einer empfindlichen Verfassung. Du willst doch nicht riskieren, dir eine Krankheit wie Typhus einzufangen.“
„Ich weiß“, stimmte ich ihr zu. Ich ging wie auf rohen Eiern, seit ich herausgefunden hatte, dass ich dieses Mal wirklich schwanger war. Nach einem enttäuschenden Fehlalarm im vergangenen Herbst hatte ich befürchtet, verflucht zu sein und nie wieder ein Kind zur Welt bringen zu können. Doch jetzt war ich bereits seit mindestens vier Monaten schwanger. Meine Wangen waren rosig, mein Bauch wurde runder und ich schöpfte Hoffnung. „Aber wenn ich die Wahl habe, eine Ansteckung mit Typhus zu riskieren oder den Sommer bei Daniels Mutter zu verbringen, bin ich mir nicht sicher, wie ich mich entscheiden würde.“
Sie lächelten beide.
„Den Kindern würde es auf dem Land gefallen“, sagte Gus.
„Ja, ich will zu Oma“, meldete sich Liam zu Wort, während er nach dem letzten Stück seines Croissants griff.
„Die Luft ist gut und es gibt viel Platz zum Herumtoben, während du dich vom Dienstmädchen deiner Schwiegermutter umsorgen lassen kannst – wie hieß sie noch?“, fuhr Gus fort.
„Martha“, sagte ich. „Sie ist recht alt und taub geworden. Ich glaube, meine Schwiegermutter bildet ein neues Mädchen aus. Hoffen wir, dass das weniger dramatisch läuft als bei ihrem letzten Versuch. Liam würde es auf dem Land gewiss gefallen, aber bei Bridie bin ich mir nicht so sicher. Sie wird ihre Freundinnen vermissen. Ihr wisst, wie das ist, wenn man fast vierzehn ist – das Leben hat keinen Zweck, wenn deine Freundinnen nicht in der Nähe sind.“
Sid und Gus nickten wissend. Sie kannten Bridie beinahe so gut wie ich.
„Immerhin hat sie jetzt Freundinnen. Das ist gut“, sagte Sid. „Sie lebt sich endlich an ihrer neuen Schule ein und macht sich fantastisch in ihren Studien.“
„Dank euch beiden.“ Meine Freundinnen zahlten dafür, dass meine Adoptivtochter Bridie eine Akademie für junge Damen besuchen konnte. Bridie war es nicht leichtgefallen, unter den Töchtern der reichsten Familien Anschluss zu finden, doch mittlerweile hatte sie dort eine beste Freundin gefunden und wurde allgemein akzeptiert. Sie erblühte zu einer wundervollen jungen Dame und hatte eine strahlende Zukunft vor sich.
„Vielleicht könnten wir Bridie über den Sommer irgendwohin mitnehmen“, schlug Gus vor. „Dann könnten wir dafür sorgen, dass sie ihre Studien nicht vernachlässigt.“
Ich versuchte, mir nicht ansehen zu lassen, dass ich dagegen war. Ich liebte die beiden, doch sie übten einen zu großen Einfluss auf meine Adoptivtochter aus. Dank der Ermutigungen dieser beiden Damen hatte Bride bereits versucht, sich mir zu wiedersetzen, und sich für ihr Alter viel zu erwachsen verhalten. Nach einem ganzen Sommer mit den beiden wäre sie unverbesserlich.
„Also, Bridie wird nicht nach Bolivien gehen, soviel steht fest“, sagte ich. „Außerdem bekomme ich sie während des Schuljahres kaum zu sehen. Ich würde mich über ihre Gesellschaft freuen; erst recht, wenn ich den Sommer mit Mrs. Sullivan verbringen soll.“
Ich sprang hastig auf und packte Liam, ehe er sich noch ein Croissant schnappen konnte. „Ich glaube, du hattest genug. Machen wir dich sauber, mein Junge“, sagte ich. Er machte sich auf den Weg, die Küche zu verlassen, hielt aber inne, als ich mit strenger Stimme sagte: „Halt, junger Mann! Hände waschen.“ Er verzog das Gesicht, gehorchte aber. „Ich hoffe, dieses Mal ist es ein Mädchen“, sagte ich. „Die können einfach gar nicht so anstrengend sein wie Jungs!“
„Sei dir da nicht so sicher“, sagte Sid. „Ich war schon immer eine Rebellin. Ich habe mir reichlich Ärger eingehandelt, weil ich versucht habe, mit den Jungen Baseball zu spielen und in Unterwäsche schwimmen gegangen bin. Ihr hättet die Gesichter sehen müssen. Ich war damals gerade mal acht Jahre alt, aber man hätte glauben können, ich wäre ein schamloses Flittchen bei einer Bourlesque-Show.“
Wir lachten. „Das kann ich mir bei dir sehr gut vorstellen“, sagte ich.
„Meine Familie hat solche Dinge nicht gutgeheißen“, sagte Sid. „Wir waren ja überaus kultiviert und bieder.“
Ich hörte Liams Schritte im Flur. Er steuerte auf die Treppe zu, was mir sagte, dass es an der Zeit war zu gehen. „Der Kleine hat zu viel Energie“, sagte ich. „Komm, Liam, wir sollten nach Hause gehen. Bridie hat heute nur den halben Tag lang Schule, damit die neuen Absolventinnen ihren Aufzug üben können. Sie sagte, es gehe schon den ganzen Monat nur darum, was die Mädchen zu diesem Anlass tragen würden.“
„Das ist so viel wichtiger als ein Abschluss mit guten Noten“, sagte Gus trocken.
Sie hatte ihren Satz gerade beendet, als die Haustür aufgeworfen wurde und Bridie persönlich hereingestürmt kam. Sid erhob sich. „Bridie, du liebe Güte, was in aller Welt ist los?“
Bridies Gesichtsausdruck wirkte verzweifelt und sie keuchte, als wäre sie gerannt. „Etwas Schreckliches ist gerade passiert“, rief sie. „Ich halte das einfach nicht aus.“
Gus eilte herbei und nahm sie in den Arm. „Komm, setz dich, Mädchen, und erzähl uns alles. Bist du verletzt?“
„Mein Herz ist gebrochen. Das überlebe ich niemals“, sagte sie und schluchzte.
„Du hast doch nicht etwa eine schlechte Note im Englisch-Examen geschrieben, oder?“, fragte Sid.
„Schlimmer. Viel schlimmer als alles, was du dir vorstellen kannst, Tante Sid.“ Sie schaute uns der Reihe nach an. Liam war mitten in der Bewegung erstarrt, da er es nicht gewohnt war, seine Schwester so verzweifelt zu erleben.
„Was ist los, Bridie?“, fragte er mit Sorge in seinem jungen Gesicht.
„Sag es uns schon, meine Liebe“, sagte ich. „Spann uns nicht auf die Folter. War jemand gemein zu dir? Hat dich jemand verletzt?“
Bridie schüttelte so energisch den Kopf, dass Tränen durch die Luft flogen. „Es geht um Blanche“, sagte sie schließlich.
„Ist Blanche krank?“ Blanche war Bridies engste Freundin. Die beiden waren unzertrennlich, seit Blanches Familie von einer Tragödie heimgesucht worden war.
Bridie schüttelte erneut den Kopf. „Nein, schlimmer“, sagte sie. „Blanche wird den ganzen Sommer fort sein. Ihre Mutter reist nächste Woche mit ihr nach Paris. Ich werde sie erst im Herbst wiedersehen.“
Ich versuchte, nicht zu lächeln.
„Du solltest dich für deine Freundin freuen, wenn sie die Chance hat, nach Paris zu gehen“, sagte Gus gütig. „Und der Sommer geht schnell vorbei.“
„Nein“, klagte Bridie. „Er wird ewig dauern. Und ich werde hier in dieser schrecklichen Stadt festsitzen, nichts zu tun haben und mir wünschen, dass Blanche hier wäre.“
„Wir werden reichlich Beschäftigung für dich finden“, sagte Sid. „Wir nehmen dich mit in die Berge, oder an die Küste, wenn Molly das erlaubt.“
„Warten wir erst einmal ab, ja?“ Ich hob eine Hand. „Fürs Erste solltest du dich für deine Freundin freuen. Vielleicht bringt sie dir ja ein schönes Geschenk aus Paris mit … ein Stück Pariser Mode?“
Kurz sah ich Interesse in ihrem Blick aufflammen, doch dann schluchzte sie erneut. „Was, wenn sie mich vergisst? Was, wenn sie dort drüben eine neue beste Freundin findet und nicht mehr mit mir spricht, wenn sie zurückkommt?“
„Ihr beide werdet euch die ganze Zeit schreiben können und sie wird dir genau berichten, was sie tut“, sagte ich. „Jetzt komm mit nach Hause, damit wir Liam füttern und unser Mittagsmahl essen können.“
Ich hörte sie immer noch gelegentlich schluchzen, als ich sie davonführte. Sie vergrub sich den Nachmittag über in ihrem Zimmer und kam nicht einmal heraus, um sich eine Tasse Tee zu holen. Da ich wusste, wie junge Mädchen waren, ließ ich sie brüten und wollte sie gerade aufmuntern und zum Abendessen nach unten holen, als Daniel zur Tür hereinplatzte.
„Heilige Mutter Gottes“, rief ich. „Heute muss der Tag der dramatischen Auftritte sein. Erzähl mir nicht, dass auch dein bester Freund die Stadt verlassen will.“
Daniel runzelte die Stirn. „Wovon redest du da, Molly? Ich bin so schnell ich konnte nach Hause gekommen. Ich möchte, dass du auf der Stelle die Stadt verlässt. In der 10th Street ist Typhus ausgebrochen.“
„In der 10th Street?“, fragte ich, während er den Hut abnahm und ihn an den Ständer im Flur hängte. „Das ist ja direkt vor der Tür.“
„Na ja, es ist näher an der 5th Avenue, aber trotzdem nah genug, um sich Sorgen zu machen.“
„Und eigenartig“, sagte ich. „Dort gibt es nur respektable Haushalte. Es ist nicht so beengt wie auf der East Side. Ich dachte, Typhus wäre eine Krankheit, die sich bei Schmutz und Überbevölkerung ausbreitet.“
Daniel nickte. „Das dachte ich auch. Bis zu diesem Jahr. Die Krankheit hat an mehreren ungewöhnlichen Orten ihr hässliches Haupt erhoben. Ausschließlich in wohlhabenden Gegenden. Wenn sie sich wirklich über die Luft verbreitet, die wir alle atmen, wie manche behaupten, dann wäre es mir lieber, wenn du aufs Land fährst. Ich will wirklich kein Risiko eingehen, während du in diesen …“
„Wage es ja nicht, von ‚empfindlichen Umständen‛ zu sprechen“, protestierte ich. „Wirke ich empfindlich auf dich?“
Er musterte mich und legte die Stirn in Falten. „Nein, kann ich nicht behaupten; eher wie das blühende Leben. Aber wir waren schon einmal in froher Erwartung, lass uns nichts riskieren. Ich werde meiner Mutter noch heute ein Telegramm schicken und sie darüber informieren, dass sie bald mit dir rechnen soll.“
Er ging an mir vorbei in Richtung Küche. Widersprüchliche Gefühle tobten in mir. Die Aussicht auf einen Sommer bei Daniels Mutter mochte mir missfallen, da sie immer so gerne anmerkte, dass ich nicht die perfekte Frau für ihren Sohn war. Doch mir war auch bewusst, dass es eine ernste Angelegenheit war, wenn nur eine Straße weiter Typhus ausgebrochen war; erst recht, seit ich in anderen Umständen war. Doch ich musste auch an Bridie denken. Ich packte Daniel am Arm. „Einen Moment, Daniel. Wir können die Stadt nicht verlassen, bevor Bridie ihr Schuljahr abgeschlossen hat. Das wäre nicht richtig. Sie muss die Abschlussfeier erleben, und sie wird mit einem griechischen Tanz auftreten.“
„Vielleicht könnte sie gegenüber bei deinen Freundinnen wohnen, während du und Liam gleich aufbrechen?“, schlug er vor.
„Du warst es, der nicht wollte, dass meine Freundinnen zu viel Einfluss auf sie ausüben, weißt du noch?“, fragte ich. „Nein, wir werden warten und Ende nächster Woche zusammen abreisen. Ich werde ohnehin etwas Zeit brauchen, um für einen ganzen Sommer zu packen – und bis dahin werde ich auf mich aufpassen, versprochen. Wir schicken Aileen zum Einkaufen und ich werde nicht einmal mit Liam in den Park gehen, was ihm gewiss nicht gefallen wird.“
Daniel seufzte. „Na schön. Wenn es sein muss. Ich schätze, es ist nur fair, meiner Mutter etwas Zeit zu geben, um Zimmer vorzubereiten. Martha ist nicht mehr so kräftig wie früher. Meine Mutter spricht davon, ein neues Mädchen einzustellen und auszubilden. Der Besuch könnte sie etwas anspornen.“
„Wie lang soll ich denn fortbleiben?“, fragte ich, wobei ich versuchte, mit ruhiger Stimme zu sprechen.
„Vielleicht den ganzen Sommer. Bis es wieder abkühlt.“
„Den ganzen Sommer?“ Jetzt klang meine Stimme ganz sicher nicht mehr ruhig. „Und was ist mit dir?“
„Nun ja, ich muss natürlich hierbleiben. Ich werde versuchen, euch an meinen freien Tagen zu besuchen. Das machen im Moment viele Ehemänner so.“
„Aber, Daniel“, ich legte ihm sanft eine Hand auf den Arm, „wer wird sich dann um dich kümmern? Wer soll deine Mahlzeiten kochen; deine Hemden waschen? Ich schätze, ich könnte Aileen hierlassen. Sie macht sich ganz gut bei der Hausarbeit, auch wenn ihre Kochkünste zu wünschen übriglassen.“
Daniel schüttelte den Kopf. „Das wäre nicht richtig, Molly. Ich allein im Haus mit einer jungen Frau? Das würde Gerede geben. Ihr Ruf stände auf dem Spiel. Nein, Aileen muss mit dir gehen. Außerdem wird es dir guttun, wenn sie dir mit Liam hilft, und sie kann auch Martha zur Seite stehen. Sie ist doch eine emsige junge Frau.“ Er schaute sich um. „Wo ist sie eigentlich?“
„Sie badet Liam. Ihr Umgang mit ihm ist wirklich wundervoll. Und er liebt sie. Wir hatten großes Glück mit ihr.“
„Dann ist das also geklärt.“ Daniel setzte sich an den Küchentisch, als würde er sein Abendessen erwarten. „Du wirst nächste Woche abreisen. Da bin ich froh.“
„Aber was wirst du tun? Wer soll sich um dich kümmern?“
„Ich bin ein großer Junge, Molly. Ich kann mich schon versorgen. Das habe ich vor unserer Ehe auch getan, und ich werde es wieder schaffen. Ich werde mir meine Hauptmahlzeit in der Polizeikantine holen und meine Hemden und Unterwäsche in die Wäscherei schicken.“ Er lächelte mir aufmunternd zu. „Mach dir keine Sorgen um mich.“
Damit schien das Thema beendet zu sein. Meine vernünftige Seite wusste, dass ich jede nur erdenkliche Vorsichtsmaßnahme treffen sollte, da ich ein Kind in mir trug. Meine letzte Schwangerschaft hatte mit einer Fehlgeburt geendet und es hatte lange gedauert, erneut schwanger zu werden. Ich durfte kein Risiko eingehen, wenn ich noch ein Kind zur Welt bringen wollte. Und es würde schon nicht so schlimm werden, sagte ich mir, während ich zusah, wie Daniel seine Fleischpastete mit Kohl verspeiste. Es war schön auf dem Land. Ich würde im Garten helfen, Gemüse ernten und Liam die Nutztiere zeigen können. Ich würde das Beste daraus machen.
Zwei
Ich hatte geahnt, dass diese Neuigkeiten bei Bridie nicht gut ankommen würden. Sie war ohnehin schon verzweifelt, weil Blanche verreisen würde. Als sie hörte, dass wir gleich nach der Abschlussfeier ihrer Schule nach Westchester County fahren würden, flossen erneut Tränen.
„Den ganzen Sommer? Mama, das kannst du nicht ernst meinen. Mit wem kann ich mich denn da unterhalten? Mit niemandem. Es wird meilenweit niemand in meinem Alter zu finden sein. Ich werde mit dir, Liam und zwei alten Frauen festsitzen.“ Ihre Locken wippten, als sie den Kopf schüttelte. Sie hatte sich von einem einst verwahrlosten Mädchen in eine hübsche junge Frau verwandelt, mit großen blauen Augen und blonden Locken. Zum Glück wusste sie noch nicht, wie schön sie war, und ich würde es ihr gewiss nicht sagen.
„Ich gehe nicht davon aus, dass viele deiner Freundinnen aus der Schule in der Stadt bleiben werden.“
„Vermutlich nicht“, stimmte sie mir zu. „Ich weiß, dass Julia auf das Anwesen ihrer Familie auf Long Island gehen wird. Und Helen geht nach Maine. Einige der anderen Mädchen reisen ebenfalls nach Europa.“
„Die Glücklichen.“ Ich lächelte. „Ich fürchte, du wirst damit leben müssen, dass Tante Sid und Tante Gus dich auf eine Schule mit vielen Kindern aus reichen Familien schicken.“
„Ich weiß.“ Sie ließ die Schultern hängen. „Aber sie werden alle fort sein. Ich werde mich schrecklich langweilen.“
Ich versuchte, geduldig zu bleiben, was mir nicht immer leichtfiel. „Vielleicht kannst du etwas von den Dingen tun, zu denen dir die Damen von gegenüber immer raten – ein Bild malen, eine Geschichte schreiben, oder Oma Sullivan könnte dir das Sticken beibringen.“
Bridie verdrehte die Augen. Dann breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus. „Ich könnte bei Tante Sid und Tante Gus bleiben, oder? Die beiden würden mich bestimmt gern bei sich haben.“
„Deine Tanten haben auch vor, über den Sommer zu verreisen. Zuletzt sprachen sie über Bolivien.“
Bridie runzelte die Stirn. „Bolivien? Du meinst, das Land? In Südamerika?“
„Ebendas.“
„Warum sollten sie dort hinfahren wollen?“
„Weil es anders ist, anscheinend.“ Ich klopfte ihr auf die Schulter. „Aber mach dir keine Sorgen. Ich glaube, Tante Sid hat nur eine Idee geäußert. Sie meinte das nicht ernst. Die beiden wollen nur an einem anderen Ort sein.“
„Bolivien ist bestimmt anders“, sagte Bridie. „Aber würde die Reise dorthin nicht schrecklich viel Zeit kosten? Wochen um Wochen über Land?“
„Wahrscheinlich.“ Ich lächelte. „Aber du kennst die Damen – sie setzen sich etwas in den Kopf und machen dann plötzlich etwas ganz anderes. Aber sie werden ziemlich sicher die Stadt verlassen. Das machen sie im Sommer meistens.“
„Sie könnten mich mitnehmen“, sagte Bridie und warf mir einen hoffnungsvollen Blick zu.
„Vielleicht wollen sie allein sein“, sagte ich, um taktvoll zu sein. „Sie bekommen uns oft genug zu sehen, nicht wahr?“
Ich merkte, dass Bridie den Gedanken verdauen musste, dass ihre geliebten Tanten vielleicht eine kleine Pause von ihr brauchen könnten.
„Wie auch immer“, fuhr ich fort. „Es ist schon alles in die Wege geleitet. Wir fahren zu Oma Sullivan und werden das Beste daraus machen. Dein Papa hat das nur entschieden, weil er uns vor einer Ansteckung mit Typhus beschützen will.“ Ich hielt inne, als mir etwas einfiel. „Du solltest wissen, wie ernst diese Krankheit ist. Du wärst beinahe daran gestorben, als du kleiner warst.“
Sie nickte. „Es war schrecklich.“
„Und die Krankheit ist ganz in unserer Nähe ausgebrochen. Deshalb müssen wir gehen.“
Sie sagte nichts mehr, doch ihr Gesichtsausdruck wirkte entmutigt und resigniert, wie bei einem Christen, der den Löwen vorgeworfen wird. Sie wirkte besonders kleinlaut, als ich all die Sachen einpackte, die wir bei einem längeren Aufenthalt brauchen würden. Liam bemerkte ihre Stimmung und wurde selbst recht anhänglich und weinerlich. Nur die allzeit heitere Aileen, unser junges Kindermädchen, half mir mit einem Lächeln im Gesicht, das Haus aufzuräumen und unsere Koffer zu packen.
„Es wird guttun, raus an die frische Luft zu kommen, Mrs. Sullivan“, sagte sie. „Um Ihnen die Wahrheit zu sagen: Ich hatte in letzter Zeit ein wenig Heimweh nach Irland und den grünen Landschaften.“
„Ich weiß, wie es dir geht, Aileen“, sagte ich. „Mir geht es manchmal ähnlich. Es gibt nichts, was Irlands Grün gleichkommt, nicht wahr? Und diesem Geruch von gutem, frischem Gras.“
Sie strahlte. „Und das Gefühl des sanften Regens im Gesicht. Und wie alles nach dem Regen riecht. Ach, das war toll.“
Als wir fertig waren, ging ich Sid und Gus besuchen.
„Du machst dich also gleich morgen auf den Weg?“, fragte Gus. „Wir werden dich auf jeden Fall vermissen. Und erst recht unsere liebe Bridie. Schick sie bitte herüber, damit wir uns verabschieden können. Wir werden ihr dabei helfen, ein paar Bücher aus unserer Bibliothek auszuwählen, damit sie ihre Studien fortführen kann, während ihr fort seid.“
„Sie ist immer noch schwer deprimiert“, sagte ich, „und murmelt immerzu, wie schlimm sie sich langweilen wird.“
„Nun, diese Aussicht kann auf einen jungen Menschen wohl trist wirken. Freunde sind so wichtig, nicht wahr?“
„Aber ihre Freundinnen werden auch alle fort sein. Sie wäre in der Stadt also auch allein und der Hitze ausgesetzt.“
„Und der Gefahr, sich anzustecken“, rief Sid uns in Erinnerung. „Nein, du tust definitiv das Richtige, Molly. Wir werden selbst in einer Woche oder so abreisen.“
„Wirklich? Habt ihr euch für ein Ziel entschieden? Nicht nach Bolivien, oder?“
Sid lachte. „Das war eine etwas übereilte Idee, was? Manchmal kommen mir solche unnützen Gedanken.“
„Wie damals, als du einen Elefanten haben wolltest?“, fragte ich.
„Ich sehe ja ein, dass der Patchin Place kein angemessener Ort für so ein Tier ist. Aber unsere Pläne für den Sommer wurden uns aufgezwungen.“
Sie schenkte mir eine Tasse Kaffee ein und setzte sich neben mich an den Küchentisch. Dann warf sie Gus einen Blick zu, den ich nicht deuten konnte.
„Von wem?“, fragte ich. Wenn es eine Person gab, die sich nichts aufzwingen ließ, dann war das Sid.
„Von Sids Familie“, sagte Gus.
„Oh.“ Sid sprach kaum von ihrer Familie, abgesehen von der Tatsache, dass sie dort nicht gut angesehen war.
Sid rührte reichlich Zucker in ihren Kaffee. Dann hob sie den Blick. „Ich habe einen Brief von meiner Mutter erhalten. Die Gesundheit meines Großvaters verschlechtert sich, er hat womöglich nicht mehr lange zu leben. Er hat den Wunsch geäußert, etwas Zeit mit mir zu verbringen. Das kann ich wohl kaum ablehnen, oder? Egal wie schlimm es werden mag.“
„Warum sollte das so schlimm sein?“, fragte ich.
Sid und Gus wechselten erneut einen Blick. „Der Lebensstil, für den ich mich entschieden habe, passt nicht zu dem, was man von einem guten, jüdischen Mädchen erwartet. Ich hätte mittlerweile verheiratet sein und Kinder haben sollen – so wie du.“
„Oh je. Dann werden sie dich daran erinnern?“
„Ununterbrochen. Deshalb wollen wir nicht bei ihnen wohnen.“
„Wo leben sie denn?“, fragte ich.
„In den Catskill Mountains“, sagte Sid. „Weißt du, wo die liegen? Den Hudson hinauf, am westlichen Flussufer. Eine wirklich hübsche Gebirgslandschaft. Gute Luft, schöne Spazierstrecken. Es wäre perfekt dort, wenn nur meine Familie nicht wäre.“
„Deine Großeltern leben das ganze Jahr dort draußen? Ich dachte, deine Familie hätte in der Stadt mit Finanzen zu tun.“ Ich hatte mir nicht ausgemalt, dass Sid aus der Landbevölkerung stammte. Sie wirkte immer so urban und intellektuell.
Sid nickte. „Die Seite meines Vaters lebt in der Stadt. Aber es geht um meine Großeltern mütterlicherseits. Sie sind aus Polen eingewandert, als sie noch sehr jung waren, und haben einen Hof gegründet, um die Stadt mit Hühnern, Eiern und Milch zu versorgen. Das ist ihnen auch gut gelungen, doch als sie älter wurden und keine körperliche Arbeit mehr verrichten wollten, haben sie den Hof in eine Bungalow-Siedlung verwandelt.“
„Eine was?“
„Das habe ich auch gefragt, als Sid mir davon erzählte“, meldete Gus sich zu Wort. „Anscheinend bauen Landwirte schon seit einer Weile Cottages auf ihren Grundstücken auf, in denen andere Jüdinnen und Juden den Sommer verbringen können. Sie kommen wegen der frischen Luft und der schönen Landschaft. Es sind keine luxuriösen Unterkünfte, aber die Menschen aus der Stadt lieben es, Bauern zu spielen. Wir hörten, es sei recht beliebt geworden.“
„Da wir überall sonst nicht wirklich willkommen sind“, sagte Sid.
Ich hob den Blick und schaute sie verwirrt an.
„Juden sind in den üblichen Ferienorten nicht erwünscht, weißt du?“
„Wirklich? Selbst angesehene Familien wie die deine?“
„Selbst wenn der Vater Millionär ist.“ Sid zuckte mit den Schultern. „Die Eltern meines Vaters kamen mit Geld aus Deutschland hierher und mein Vater kann sich ein großes Haus und ein modernes Automobil zulegen, bekommt aber in einem nichtjüdischen Urlaubsort kein Hotelzimmer. Deshalb bleibt uns nur die Möglichkeit, bei anderen Juden unterzukommen.“
Ich runzelte die Stirn und dachte darüber nach. „Aber ihr reist in alle Welt.“
Gus gluckste. „Weil sie in meiner Begleitung unterwegs ist. Ich bin diejenige, die uns überall anmeldet – und wer würde ein Familienmitglied der Bostoner Walcotts abweisen?“
„Aber das ist ja schrecklich“, sagte ich.
„Es ist schrecklich, aber die Realität, fürchte ich“, sagte Sid. „Deshalb entwickeln sich die Catskills zu einem jüdischen Zufluchtsort. Ich hörte, dass dort mittlerweile sogar Hotels errichtet werden. Hoffen wir, dass nicht zu viele Touristen kommen und die schöne Natur dieses Ortes zerstören.“
„Dann wird man von euch erwarten, in einem dieser … Bungalows zu wohnen?“ Ich spielte mit dem Wort.
„Das erwarten sie von uns“, sagte Sid. „Aber du kannst dir nicht vorstellen, wie es ist, wenn meine Familie zusammenkommt. Das kann ich Gus nicht antun. Deshalb loten wir unsere Möglichkeiten in der näheren Umgebung aus. Wollen wir in Kingston wohnen und den Zug nehmen, um meine Familie zu besuchen? Oder suchen wir uns eines der neuen Resorts aus? Und wie würde Gus sich fühlen, wenn alle um sie herum jüdisch sind?“
„Wir werden schon etwas finden“, sagte Gus. „Und wenn nötig, wirst du eben allein gehen müssen und ich suche mir ein anderes Ziel. Es könnte uns guttun, mal einen Sommer nicht zusammen zu verbringen.“
„Auf keinen Fall“, sagte Sid wütend. „Wir werden einen Ort finden und einen schönen Sommer in den Bergen verbringen. Und weißt du was, Molly – wir werden nicht allzu weit von dir entfernt sein. Es ist nur eine kurze Bootsfahrt den Hudson hinauf, und dann geht es mit dem Zug in die Berge. Du könntest uns besuchen kommen.“
Ich musste lachen. „Was euch wie eine einfache Reise vorkommt, wird mit einem Dreijährigen recht kompliziert. Nein, ich fürchte, wir werden bei meiner Schwiegermutter festsitzen. Aber schreibt mir bitte. Ich werde mich auch einsam fühlen und Daniel vermissen.“
„Natürlich werden wir dir schreiben“, sagte Gus und drückte herzlich meinen Arm. „Und sorge du dafür, dass Bridie uns regelmäßig schreibt. Sie darf ihre Studien nicht vernachlässigen.“
Wir umarmten und verabschiedeten uns. Ich versuchte, nicht zu weinen. Mein Zustand machte mich deutlich emotionaler als sonst. Doch als ich in mein eigenes Haus zurückkehrte, rann mir eine kleine Träne über die Wange.
Drei
Mir blieb nicht viel Zeit, um meine Freundinnen zu vermissen. Die nächsten Tage flogen in einem Wirbel aus Aktivität an mir vorüber. Zwischen Bridies Abschlussfeier, dem Packen für einen ganzen Sommer außer Haus und dem Versuch, alles in Ordnung zu bringen, damit Daniel nicht zu viel Arbeit im Haus haben würde, war die Woche schnell verstrichen.
„Versprich mir, dass du uns oft besuchen kommst“, sagte ich zu Daniel, als wir auf einem Bahnsteig des Grand Central Terminals standen. „Es ist nur eine simple Zugfahrt. Viele Ehemänner kommen übers Wochenende zu ihren Familien.“ Ich drückte seine Hand. „Ich will nicht den ganzen Sommer ohne dich verbringen.“
„Ich werde es versuchen, Molly“, sagte er und lächelte mich an. „Wenn sich New Yorks Verbrecher doch nur auf die Werktage beschränken würden.“
„Du jetzt wieder.“ Ich schlug ihm auf den Arm und versuchte, ernst zu wirken. „Es muss doch seine Vorteile haben, Captain zu sein. Überlass die Fälle am Samstag deinen Männern und komm deiner Familie Gesellschaft leisten.“
„Ich werde es versuchen“, wiederholt er. „Diesen Samstag kann ich die Stadt nicht verlassen, aber ich versuche, am nächsten da zu sein.“ Dann gab er mir einen Kuss, umarmte Bridie und fuhr Liam durch die Haare. „Pass auf die beiden Damen auf, Liam, ja?“, sagte Daniel, als Liam den Blick hob.
„Mache ich, Daddy.“ Liams Stimme klang ernst.
„Guter Junge“, sagte Daniel mit einem Lächeln. Dann nahm er die Koffer, um uns beim Einsteigen zu helfen.
Die Zugfahrt nach White Plains war schön. Und Aileens erstauntes Keuchen machte sie für mich noch schöner. Ich glaube, sie war noch nie zuvor mit einem Zug gefahren. Zuerst schien es sie zu beeindrucken, wie ausgedehnt die Stadt war, als wir an Gleisen und Lagerhäusern vorüberfuhren, bis die Straßen der Stadt einer Mischung aus Gemüsegärten und Hütten wichen. Dann machte sie große Augen, als wir auf der prächtigen Brücke den Harlem River überquerten und am Botanischen Garten vorüberglitten. Die Aussicht öffnete sich, als wir die grüneren Vororte erreichten, wo sich Wälder und kleine Siedlungen aus Backsteinhäusern und weißen Holzcottages mit glitzernden Bächen und kleinen Seen abwechselten.
Der Bahnhof von White Plains war ein unscheinbares Holzgebäude. Etliche Passagiere erhoben sich und griffen nach ihrem Gepäck, als wir einfuhren. Die frische Brise, die mich empfing, als ich aus dem Zug ausstieg, war ein Zeichen dafür, dass ich mich richtig entschieden hatte. Ich half Liam auf den Bahnsteig herunter, und Bridie lud mit Aileen unser Gepäck aus, ehe auch sie heraussprangen. Mrs. Sullivans Mann für alles hatte ein Fuhrwerk mitgebracht und wir luden alles hinten auf. Ich half Bridie nach oben, damit sie sich neben ihn setzen konnte und stieg hinten ein. Nach dem Gestank und der Hitze der Stadt kamen mir die von grünem Laub eingerahmten Wege und die frische Luft wie Geschenke des Himmels vor. Mir fiel auf, dass Aileen sich verblüfft umschaute.
„Hast du die Stadt noch nie verlassen?“, fragte ich mit einem Lächeln.
„Sie meinen New York? Nein, noch nie“, antwortete sie. „Seit ich aus der alten Heimat herkam, war ich immer nur in der Stadt. Ich wusste gar nicht, dass Amerika auch so aussehen kann. Das ist geradezu magisch. Erst der Zug mit den vorüberfliegenden Landschaften – und dann sind wir auch noch quer über einen Fluss gefahren!“ In diesem Moment erreichten wir den Gipfel eines Hügels und blickten in ein grünes Tal mit kleinen Häusern, Wiesen und Bäumen. „Wie weit man hier schauen kann.“ Sie strahlte überglücklich. Ihre unschuldige Freude brachte mich ebenfalls zum Lächeln.
„Ich bin selbst auf dem Land aufgewachsen“, erzählte ich, „aber da sah es ganz anders aus als hier.“ Und die Häuser, die ich hier sah, waren sehr viel komfortabler als das kleine Haus mit dem Strohdach, das ich mir mit meinem Vater und meinen Brüdern geteilt hatte. Jetzt gehörte ich zur privilegierten Schicht derjenigen, die im Sommer vor Hitze und Krankheit fliehen konnten. Manchmal bereitete mir dieser Gedanke Unbehagen. Ich hörte immer noch meine Mutter, die mir sagte, dass es ein schlimmes Ende nehmen würde, wenn ich zu hoch über meinen Stand hinaus aufstiege. Aber bislang war es nicht zu diesem schlimmen Ende gekommen – vielleicht aus Glück oder purem Starrsinn. Ich beschloss, einfach dankbar dafür zu sein.
Mrs. Sullivan musste das heranrollende Fuhrwerk gehört haben. Sie empfing uns vor der Tür und breitete die Arme aus, um Liam aufzufangen.
„Oma!“, rief der und sprang zu ihr hinunter. Ich stieg rasch aus, weil ich befürchtete, er könnte ihr wehtun. Er war nicht allzu viel gewachsen, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, bestand aber mittlerweile nur noch aus Muskeln und war damit deutlich schwerer zu tragen.
Doch Mrs. Sullivan gab ihm einen Kuss und setzte ihn ab, dann hob sie recht gebieterisch eine Hand, um mich zu stoppen. „Nein, warte, Molly. Du wirst dir wehtun.“ Sie rief den Fahrer herüber und bestand darauf, dass er mich vom Fuhrwerk herunterhob. Ich sagte ihr, dass ich problemlos nach unten springen könnte, doch sie schaute mich entrüstet an.
„So ein Sprung wäre bestimmt nicht gut für das Kind“, sagte sie und schaute betont auf meinen leicht geschwollenen Bauch. „Du musst dich ausruhen.“ Sie legte mir eine Hand in den Rücken und führte mich durch das Haus und nach hinten auf die Terrasse. „Jetzt setzt du dich mit Liam hier hin“, fuhr sie fort, „während wir uns um alles kümmern.“ Ich hörte, wie sie Aileen und Bridie Anweisungen gab, dann folgte das Rumpeln von Koffern, die nach oben gezogen wurden. Ein junges Dienstmädchen kam mit zwei Gläsern Limonade zu mir nach draußen. Sie schien etwa in Aileens Alter zu sein. Mrs. Sullivan bildete also tatsächlich ein neues Mädchen aus. Das war gut für Martha. Sie wurde zu alt, um sich um ein volles Haus zu kümmern. Liam trank seine Limonade und sprang dann auf, um die Gegend zu erkunden, während ich zufrieden an meinem Glas nippte. Ich muss zugeben, es war schön, einfach hinter dem Haus auf der Schaukelbank zu sitzen und Liam beim Spielen zuzuschauen. Vielleicht war das Ganze doch eine gute Idee gewesen.
Wir verbrachten einen entspannten Nachmittag. Nachdem er sich ausgetobt hatte, aß Liam mit Aileen früh in der Küche zu Abend und ließ sich dann von ihr ins Bett bringen. Als wir anderen beim Abendessen saßen, fragte Mrs. Sullivan Bridie nach ihren Schulfreundinnen, woraufhin ich mich auf weitere Tränen gefasst machte.
„Also, meine beste Freundin ist vergangene Woche nach Europa aufgebrochen“, sagte Bridie mit einem betrübten Gesichtsausdruck. „Sie wird die Pariser Kunst studieren, an der Seine malen und bis spät abends wach bleiben, Wein trinken und Baguette essen können. Das ist das Brot, das man in Frankreich isst. Blanche sagt, sie wird eine Dame von Welt sein, wenn sie aus Paris zurückkommt.“ Ich musste ob Bridies ernster Trübsal lachen, verwandelte das aber rasch in ein Husten.
„Bridie befürchtet, dass sie ihre Freundin sehr vermissen wird“, sagte ich als Erklärung für Mrs. Sullivan.
„Ich weiß, dass ihr jungen Leute einander als Gesellschaft braucht“, sagte Mrs. Sullivan heiter. „Eine meiner Nachbarinnen hat eine Enkeltochter zu Besuch, die in deinem Alter ist. Sie leben drei Häuser weiter, hier am gleichen Weg.“ Die deutete in Richtung Straße. „Sie heißt …“ Sie zögerte und dachte nach. „Theresa, ja, genau. Theresa Hutchinson. Ich habe ihrer Großmutter von dir erzählt und die beiden erwarten morgen nach dem Frühstück deinen Besuch.“
Ich konnte sehen, dass Bridie nicht wusste, ob das gut oder schlecht war. Es hatte sie sehr viel Zeit gekostet, überhaupt erste Freundschaften zu schließen, ehe sie und Blanche sich besser kennengelernt hatten. „Bist du dir sicher, dass Theresa mich dahaben will?“, fragte sie zögerlich.
„Absolut“, sagte Mrs. Sullivan und zwinkerte mir zu. „Ihre Großmutter hat mir erzählt, dass sie auch befürchtet, sich den ganzen Sommer zu langweilen, wenn sie die gesamte Zeit mit ihrem Bruder verbringen muss. Und …“, sie machte eine theatralische Pause, „… sie haben Pferde.“
Bridie hob neugierig den Blick. „Pferde? Zum Reiten, meinst du? Ich wollte schon immer mal auf einem Pferd reiten.“
Die Wunder nahmen einfach kein Ende! Mrs. Sullivan hatte nicht nur mich freundlich in Empfang genommen, sondern zeigte sich auch als liebevolle Großmutter für Bridie und Liam.
Am folgenden Morgen machte Bridie sich nach einem deftigen Frühstück auf den Weg zu den Hutchinsons. Ich wollte sie begleiten, doch Mrs. Sullivan überstimmte mich. „Wir werden mein neues Dienstmädchen Katie als Begleitung mitschicken“, sagte sie, während sie mir auf den Oberschenkel klopfte. „Ich brauche da bei einer Sache deine Hilfe. Meine Kirche wird ein Fest veranstalten, um Geld für ein Gemeindehaus zu sammeln, und ich habe die Leitung des Handarbeitsstandes übernommen.“ Sie wirkte stolz und sehr zufrieden mit dieser Aufgabe. „Ich hatte gehofft, du würdest mir helfen, einige der Sachen anzufertigen. Und vielleicht finden wir auch etwas Zeit, um ein Paar Kinderstiefelchen und eine Decke zu machen, um mit deiner Säuglingsausstattung anzufangen.“ Sie warf einen liebevollen Blick auf meinen Bauch.
Mir wurde flau im Magen. „Ich werde mich bemühen, dabei behilflich zu sein“, sagte ich einigermaßen unverbindlich.
„Es ist ein schlichtes, irisches Spitzenmuster.“ Sie strahlte. „Ich mache Zierdeckchen.“ Wie sich herausstellte, fiel ihr das Muster wirklich leicht. Ihre Nadel flog nur so mit dem weißen Baumwollfaden auf und ab, während sie hübsche Maschen häkelte, so wie ich es noch von den alten Damen in meiner Heimat kannte. Dabei konnte sie problemlos eine Unterhaltung führen und schien nur gelegentlich einen Blick auf ihr Deckchen zu werfen.
In Ballykillin hatte jede Großmutter irgendwo etwas Spitze in einem sauberen Leinen versteckt, um mit dem Verkauf der Familie zu helfen. Ich hatte mich allerdings dafür entschieden, mich zusammen mit den jungen Damen im großen Haus unterrichten zu lassen. Außerdem war meine Mutter gestorben, ehe sie mir all die weiblichen Handwerksfähigkeiten hatte beibringen können. Daher hatte ich zwei linke Hände, wenn es um den Umgang mit Nadeln jeglicher Art ging. Nach einem arbeitsamen Vormittag hatte Mrs. Sullivan einen ganzen Stapel weißer Spitzendeckchen neben ihrem Sessel liegen. Ich hatte ein einziges beendet. Zwei der Blütenblätter im Muster waren riesig und die anderen klein und verdreht. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass irgendjemand ein so hässliches Deckchen kaufen würde. Mrs. Sullivan stoppte mich.
„Ich glaube, ich werde die Deckchen machen“, sagte sie, während sie sich um einen neutralen Gesichtsausdruck bemühte. „Vielleicht könntest du an den Topflappen arbeiten.“
Bridie rettete mich, indem sie in den Raum gestürmt kam. Sie hielt ein Bündel Kleidung in den Händen und strahlte im ganzen Gesicht. Katie trat hinter ihr ein, ein wenig außer Atem, nachdem sie Bridie offensichtlich hinterhergerannt war.
„Oma Sullivan! Darf ich jetzt zu Mittag essen? Theresa hat mich eingeladen, aber ich dachte, das könnte an meinem ersten Tag unhöflich sein. Wir waren bei ihren Pferden. Sie hat mir richtige Reitkleider ausgeliehen und nach dem Mittagessen wollen wir reiten gehen! Sie wird auf Queen Mab reiten und ich auf Snorty.“ Diese Bridie war eine ganz andere als die, die am Morgen das Haus verlassen hatte.
„Natürlich“, sagte Mrs. Sullivan lachend. „Besorgen wir dir etwas zu essen, dann kannst du wieder zu deiner Freundin zurückgehen.“ Bridie stürmte nach oben und kehrte kurz darauf in einer Reithose und einem geknöpften Hemd zurück.
Mrs. Sullivan blieb der Mund offenstehen. „Du liebe Güte“, sagte sie. „Verwandelst du dich jetzt in einen Jungen?“
„Nun ja, Theresa sagte, wenn ich einen Rock trage, müsse ich im Damensattel reiten, aber sie haben keinen Damensattel hier, also müssen wir die Reitkleidung ihres Bruders tragen. Aber das ist schon in Ordnung. Sie sagt, auch Mädchen reiten dieser Tage im Herrensitz.“
„Wenn du das sagst.“ Mrs. Sullivan fächelte sich Luft zu, als wäre diese Information zu viel für sie.
Bridie hatte bereits am Tisch Platz genommen und machte sich über das Brot und die Suppe her, die Martha serviert hatte.
„Bridie, denk an dein Benehmen“, tadelte ich, doch wieder mischte sich Mrs. Sullivan liebevoll ein.
„Es ist schön, das Mädchen glücklich zu sehen“, sagte sie mit einem Lächeln. „Ich erinnere mich noch an die Sommer mit meinen Freundinnen. Natürlich schwammen wir damals im Fluss und ritten nicht durch die Gegend. Und erst recht nicht rittlings. Ach, noch einmal jung sein.“
Bridie stürmte förmlich aus der Tür, kaum dass das Mittagessen beendet war. Mrs. Sullivan bestand darauf, dass ich mich nach dem Essen hinlegte, und dann ging es wieder an die Handarbeit. Die Topflappen wurden aus dickerer Wolle und mit einer größeren Nadel gehäkelt, was sich einfacher gestaltete, und am Ende des Tages war ich stolz auf meine beiden Lappen. Gelegentlich fragte ich mich, was Liam so trieb, und ging nach oben oder in den Garten, um nach ihm zu sehen. Doch er schien sehr zufrieden damit zu sein, ununterbrochen herumzurennen, zu springen, zu klettern und mit einer begeisterten Aileen Fantasiespiele zu spielen.
Bridie kam erst kurz vor Sonnenuntergang zurück. Sie war erfüllt von Plänen für den kommenden Tag. „Wir werden einen langen Ausritt machen. Theresa kennt eine gute Stelle für ein Picknick. Und …“, sie errötete leicht, „… ihr Bruder Gabe kommt vielleicht auch mit. Er ist sechzehn und kann auf Charger reiten.“
„So bald schon ein langer Ausritt?“ Zum Teil freute ich mich, und zum Teil war ich besorgt. „Hast du denn so schnell gelernt, gut genug zu reiten?“
„Oh, ja“, antwortete Bridie mit der unbekümmerten Zuversicht einer Jugendlichen. „Theresa sagt, ich würde gut im Sattel sitzen. Ich bin heute sogar schon Galopp geritten. Das ist leichter als Trab.“ Sie lachte. „Theresa hat versucht, mir beizubringen, im Trab zu reiten, aber ich konnte das Gleichgewicht nicht halten. Ich lehnte mich immer weiter nach vorn, bis ich runterfiel.“ Sie hielt inne, als sie meinen Gesichtsausdruck sah. „Ich habe mir nichts getan. Theresa sagt, wir werden im Schritt oder leichten Galopp reiten, bis ich besser darin werde, mich mit meinen Oberschenkeln festzuhalten.“ Sie errötete noch mehr, als sie begriff, dass sie in Anwesenheit ihrer Großmutter von ihren Oberschenkeln gesprochen hatte. „Ich sollte nach oben gehen und mich umziehen“, sagte sie eilig.
Zum Abendessen gab es ein köstliches Stück Lamm mit Kartoffeln, zubereitet mit frischer Minze aus dem Garten. Und zum Nachtisch aßen wir Pfirsiche von den hiesigen Bäumen, zusammen mit selbstgemachter Eiscreme. Ich muss gestehen: Die Pfirsiche waren so lecker, dass ich mir den Saft von den Fingern leckte, als gerade niemand hinschaute. Nach dem Abendessen brachte Mrs. Sullivan uns bei, wie man Bridge spielte, und wir verbrachten einen schönen Abend damit, zu bieten und Stiche zu machen. Ich war recht zufrieden mit der Welt, bis ich nach unten kam, um mir einen Schluck Wasser zu holen, und sah, wie Mrs. Sullivan meinen ersten Topflappen auflöste, die Wolle zu einem großen Knäul zusammenwickelte und wieder in den Korb legte.