Leseprobe Pizza con amore

Kapitel 1

Merle klappte den Koffer zu, wuchtete ihn von der Matratze und schob ihn unter das Bett des Eheschlafzimmers. Nur ein einziger Koffer. Sie wollte nicht ewig wegbleiben. Nur so lange, bis alle gemerkt hatten, dass sie ihnen fehlte. Ihrer Familie war ihre Anwesenheit so selbstverständlich wie die des Küchentischs oder der Geschirrspülmaschine. Dass die Geschirrspülmaschine wichtig ist, merkt man auch erst, wenn sie mal nicht funktioniert.

Wenn sie zurückkäme, würde sie nicht länger das unbezahlte Dienstmädchen sein, das das Essen auf den Tisch stellt und die schmutzigen Socken in die Waschmaschine steckt. Genauso fühlte sie sich nämlich manchmal. Nach ihrer Rückkehr wäre manches anders. Veränderungen würde es geben, da war sie sich sicher.

Kurt würde merken, dass es ihm den Rest gab, wenn seine bessere Hälfte ihm nicht mehr den Rücken freihielt. Ein Bürgermeister ohne Frau war wie ein Mixer ohne Deckel.

Und Sara? Nun, Sara würde wahrscheinlich gar nichts merken. Sara würde sich niemals ändern.

Doch bevor Merle sich endgültig entschied, den Koffer in ihr Auto zu laden und loszufahren, war noch etwas Wichtiges zu erledigen. Ein letztes gemeinsames Essen. Sie würde den beiden noch eine allerletzte Chance geben.

Sie ging die Treppe hinunter und band sich in der Küche eine Schürze um. Sie blickte durch die Scheibe der Terrassentür. Der Sonnenhut litt in der sommerlichen Hitze, die draußen herrschte, und ließ bereits die Köpfe hängen. Eigentlich müsste sie heute Abend gießen. Meine Blumen werden mich mit Sicherheit vermissen, dachte sie.

Während zwei Esslöffel Honig im Topf zerschmolzen und sie ein paar Knoblauchzehen hineinpresste, ließ sie sich ihren Plan noch einmal durch den Kopf gehen.

„Lass dir das nicht länger bieten“, hatte Bea immer wieder gesagt. Ihre jüngere Schwester hatte leicht reden. Sie war schon so lange geschieden, dass ihre einstige Ehe im Nebel einer fernen Vergangenheit verblasst war. Fast schon nicht mehr wahr. Statt auf Familie hatte Bea auf Karriere gesetzt.

Merle nahm die Lammschulter aus dem Kühlschrank. Hermann, der Metzger, dem sie schon seit Jahren vertraute, hatte es wie immer gut mit ihr gemeint. Er hatte die Knochen bereits ausgelöst und das Fleischstück perfekt pariert, das meiste Fett und das dünne, weißliche Silberhäutchen entfernt. Sie rieb das Fleisch von allen Seiten kräftig mit Salz und Pfeffer ein, bestrich es mit der Honig-Knoblauch-Mischung, legte es in den Bräter und verfrachtete diesen in den vorgeheizten Backofen.

Bea versuchte schon seit Jahren, sie zur Trennung von Kurt zu überreden. Die geschiedene Frau ertrug es anscheinend nicht, wenn eine andere glücklich verheiratet war. Merle seufzte. Soweit man bei ihr von glücklich reden konnte. Schließlich litt sie schon lange unter dem Gefühl, dass alles, was sie leistete, für ihre Familie eine Selbstverständlichkeit war und dass keiner ihre Anstrengungen würdigte. Nein, Bea hatte recht, Merle führte keine glückliche Ehe und lebte in keiner glücklichen Familie. Und so hatte sie sich schließlich auf eine Wette eingelassen.

Das war nach Saras Abi gewesen. Die ganze Familie hatte den guten Abschluss mit einem Festessen gefeiert. Merle hatte sich mal wieder selbst übertroffen: Es gab Doradenfilets in einer feinen Weißweinsoße, Kalbsröllchen mit Peperonata und danach Saras Lieblingsdessert, Tiramisu mit Himbeeren.

Die Zubereitung war recht aufwendig gewesen, ganz abgesehen von der Planung und dem Einkaufen der Zutaten. Die Familie hatte das Essen schweigend verdrückt. Wenigstens waren Sara und Kurt sich nicht wieder in die Haare geraten.

Vielleicht musste Merle es ja so sehen, dass das Kochen die eigentliche Feier war. Sie hatte sich später bei Bea beklagt, und Bea sagte: „Eher erkennt ein Blinder ein Schnitzel mit dem Krückstock, als dass deine Familie ein Festmahl anerkennt. Tisch ihnen mal ein Gourmet-Menü auf, ohne es anzukündigen. Und dann warte ab. Sie werden es nicht einmal merken.“

Merle lachte. „Natürlich werden sie es merken. ‚Liebling, was ist los, was gibt’s zu feiern?‘, wird Kurt fragen.“

„Wetten, dass nicht.“

„Wetten, dass doch?“

„Okay, dann lass uns wirklich wetten. Wenn sich niemand für das Festmahl bedankt, ziehst du für ein paar Wochen von zu Hause aus und quartierst dich bei mir ein. Vielleicht reibt sich deine Sippe ja die Augen, wenn du mal eine Weile nicht zur Verfügung stehst.“

„Einverstanden. Und wenn Kurt fragt, was es zu feiern gibt, hörst du auf, an ihm herumzunörgeln.“

„Top. Die Wette gilt. Ich geh schon mal das Gästebett beziehen.“

So war es gelaufen, eine Wette wie ein Scherz, aber dann wurde es plötzlich ernst, und sie kochte hier vielleicht zum letzten Mal, bevor sie den Koffer nahm und ging.

Die Beilage, Spinatknödel, hatte sie bereits gestern zubereitet und musste sie nachher, wenn der Braten fertig war, nur noch kurz unter den Grill stellen.

Als Vorspeise würde es einen Salat geben. Direkt vor dem Essen frisch angerichtet. Jetzt kam also erst einmal der Nachtisch dran.

Gerichte, bei denen lange gerührt werden muss, gelten als kompliziert, weil sie Zeit kosten. Tatsächlich aber war der Marzipanpudding ein ganz einfaches Rezept. Und Rühren machte Merle Spaß. Das lag daran, dass man beim Rühren Zeit hatte, einmal in aller Ruhe nachzudenken. Sie gab Milch, Mehl, Eier und Zucker in einen Topf und stellte ihn auf die Herdplatte. Dann griff sie zum Kochlöffel - und ja, sie dachte wirklich nach. War sie hier die Putzfrau, die für alle sprang? Hätte sie nicht besser Karriere machen sollen wie Bea? Energisch zog sie kräftige Kreise durch das Gemisch im Topf, während sie zurückdachte. Natürlich hatte Sara sie gebraucht, als sie klein gewesen war. Aber andere Kinder brauchten ihre Mütter auch, und die schafften es trotzdem, alles unter einen Hut zu bekommen und auch noch im Beruf aufzusteigen.

Sobald die Zutaten im Topf durch Hitze und Rühren zu einem zähen Brei eingedickt waren, zog sie das gewürfelte Marzipan unter und pürierte alles mit einem Stabmixer. Die Masse musste jetzt erst einmal abkühlen, und das gab ihr Gelegenheit, sich wieder der Lammschulter zuzuwenden.

Als sie die Ofentür öffnete, kam ihr eine Wolke von leckerem Bratenduft entgegen. Sie durfte nicht zulassen, dass die düsteren Gedanken bis in ihr Allerheiligstes, die Küche, vordrangen. Das Kochen wenigstens barg seinen Sinn in sich. Es war ein Zeichen ihrer Liebe für ihre Familie. Es machte Spaß, umschmeichelte ihre Sinne, gab ihr das Gefühl, etwas geschafft zu haben, und hinterher konnte man sich das Ergebnis schmecken lassen. Ob sie nun Lob und Dank dafür bekam oder nicht, Kochen war in sich ein Highlight ihres Lebens.

Sie goss die Keule mit Wein an, gab gehackten Thymian in den Sud und setzte ein paar Scheibchen Butter auf den Braten. So blieb er schön zart.

Als sie sich wieder dem Nachtisch zuwandte, kehrten die schwermütigen Gedanken, die das kräftige Bratenaroma vertrieben hatte, zurück. Bedrückt rührte sie Ricotta in die gelbliche Puddingmasse. Was, wenn ihre Familie sie gar nicht vermissen, sondern wunderbar ohne sie zurechtkommen würde?

Vor Kurzem hatte Merle ihre Stelle im Hotel Sonne verloren, einem kleinen Hotel garni. Sie hatte die Arbeit sehr gemocht, obwohl sie viel zu schlecht bezahlt gewesen war. Als gelernte Hotelfachfrau hatte sie den Betrieb zum Schluss fast allein geführt, denn ihre Chefin, Frau Sutter, war im Lauf der Jahre immer gebrechlicher geworden und konnte kaum mehr mithelfen. Merle hatte nicht nur das Frühstück zubereitet, die Betten bezogen und die Gästezimmer gereinigt, den Verwaltungskram erledigt und den Einkauf organisiert, sondern auch die Arbeitseinsätze des übrigen Personals gelenkt und überwacht, während ihre Chefin an der Rezeption thronte und wie immer die Gäste empfing.

Dann aber war das Unausweichliche geschehen. Die Chefin, die sich eisern an ihre Aufgaben klammerte, hatte schließlich doch das Hotel verkauft. Und die neue Besitzerin war jung und dynamisch und brauchte keine Hotelfachfrau zur Unterstützung, sondern nur ein paar angelernte Teilzeitkräfte. Merle hatte die Kündigung erhalten. Immerhin hatte sie noch eine kleine Abfindung herausgehandelt. Aber dieser Abschied kam ihr wie ein vorgezogener Ruhestand vor. Würde sie, die auf die Fünfzig zuging, noch einmal eine Stelle finden? Bisher sah es nicht danach aus. Wie es sich anfühlte, überflüssig zu werden, das wusste sie jetzt jedenfalls aus eigener Erfahrung.

Nachdenklich zupfte sie die Johannisbeeren von den Stielen. Dann wusch und halbierte sie eine kleine Portion Erdbeeren, die sie vorhin im Garten geerntet hatte. Kaum hatte sie ein paar Löffel Johannisbeergelee in einem Topf erhitzt, vermischte sich der kräftig säuerliche Duft mit dem zarten Aroma der Erdbeeren, das in der Luft hing. Zusammen mit Orangensaft und Campari würde der Gelee eine Soße ergeben, in der das Beerenobst ziehen konnte, bis es mit dem Marzipanpudding als Dessert aufgetragen wurde.

Als sie mit dem Nachtisch fertig war, begoss sie die Lammschulter mit Bratensaft und prüfte die Festigkeit mit dem Finger. Das Fleisch brauchte bestimmt noch eine Dreiviertelstunde, bis es gar war. Danach würde es auf der Zunge zergehen. Für eine Lammschulter war diese Zubereitung bei relativ geringer Hitze einfach ideal.

Bea sagte gern, sie solle sich doch ein Bratenthermometer kaufen. Merle antwortete dann immer, durch die Einstichstelle trete zu viel Fleischsaft aus, das schade dem Braten. Aber das war nicht der eigentliche Grund. Was sie am Kochen liebte, war gerade das Risiko. Es konnte auch schiefgehen. Der Braten innen noch blutig oder im Gegenteil übergart und trocken. Die Knödel zermatscht. Das Dessert überzuckert. Der Salat in Soße ertränkt. Das alles war im Prinzip möglich, und es gehörte mit zu dem, was das Kochen für sie so spannend machte.

Ein Automat, in den man vorn die Zutaten hineingäbe und aus dem hinten das fertige Gericht in immer gleicher Perfektion herauskäme, wäre für sie der absolute Albtraum. Und das Bratenthermometer war der erste Schritt auf dem Weg dorthin.

Das Kochen sollte wie das wirkliche Leben sein. Auch da konnte immer etwas schiefgehen. Und man musste seine ganze Kunst und Erfahrung einsetzen, damit das Ergebnis gut und schmackhaft wurde.

Sie war auf dem Weg zum Kühlschrank und verharrte mitten im Schritt. Wann war sie eigentlich zum letzten Mal im Leben ein Risiko eingegangen? Hatte etwas gewagt, für das sie ihre ganze Lebenserfahrung und Lebenskunst brauchte? Sie geriet ja schon ins Schwitzen, wenn sie sich ein paar Wochen Auszeit von zu Hause gönnen wollte.

Nachdenklich nahm sie das in Zeitung eingeschlagene Päckchen, das sie auf dem Markt besorgt hatte, aus dem Kühlschrank und legte es vor sich auf die Arbeitsplatte. Sie schlug die Zeitungsseite auseinander, und die knackigen rot-grünen Blätter kamen zum Vorschein. In der Kühle gelagert, aber dadurch auch noch frisch und unverbraucht. Im Grunde war sie wie dieser Eichblattsalat. Sie hatte noch genügend Kräfte, die sie einsetzen konnte.

Jetzt wünschte sie fast, dass sie ihre Wette verlor.

Kapitel 2

Um sieben Uhr versammelte sich die Familie zum Abendessen um den Tisch. Es war eine Tradition aus Kindertagen, und manchmal gelang es ihnen immer noch, sie einzuhalten.

Sara saß bereits. Über ihr Smartphone gebeugt, tippte sie mit beiden Daumen in rasendem Tempo darauf ein. Sie schickte die Nachricht ab, schaute kurz auf und nickte Merle stumm zu. Dann ertönte ein Pling, und schon hatte sie wieder den Kopf über dem Gerät.

Als Kurt ebenfalls kam, trug Merle als ersten Gang die Teller mit dem Salat auf. Sie hatte die rot-grünen Blätter mit dünnen Champignonscheiben, blanchierten grünen Bohnen, geviertelten Cocktailtomaten und Avocadowürfeln bestreut, was so farbenfroh und appetitlich aussah, dass sie das ganze Arrangement tatsächlich fotografiert hatte. Jeder Teller war eine köstliche Vitaminbombe.

Die erste Gabel voll Salat kaute sie mit einem zufriedenen Nicken. Das neue Walnussöl war zwar teurer, aber hochwertiger, und das hatte sich gelohnt. Der nussige Geschmack harmonierte perfekt mit dem Sherryessig und wurde durch den kleinen Schuss Sahne sowie eine Prise gemahlenen Koriander noch betont. Beim Salat kam es auf die Kleinigkeiten an. Nur ein Löffelchen Essig, aber welcher? Balsamico oder Sherry, Weißwein oder Apfel? Dieser Löffel machte den entscheidenden Unterschied, und dasselbe galt für das Öl, den Senf oder die Gewürze. So konnte man das aus stets ähnlichen Zutaten angerührte Dressing fast unendlich variieren. Einmal hatte sie sich zum Spaß die Aufgabe gestellt, einen Monat lang jeden Tag einen neuen Salat zu machen. Es war ihr mühelos gelungen, obwohl sie die Hauptzutat – die Salatblätter selbst – mehr oder weniger gleich belassen hatte.

Aufblickend bemerkte sie, dass niemand am Tisch ihre Zufriedenheit zu teilen schien. Sara hielt ihr Handy mit einer Hand. Sie tippte nur mit einem Daumen, wenn sie sich mit der Gabel Salat in den Mund stopfte, und griff wieder mit beiden Händen zu, sobald sie kaute. Dabei spritzte Salatsoße in alle Richtungen, auch auf das Gerät. Das schien sie nicht zu stören.

Kurt hatte eine Mappe mit Unterlagen neben dem Teller liegen und blätterte beim Essen darin. Merle erkannte lange Listen und Kolonnen von Zahlen.

„Kurt“, sagte sie. „Leg mal dieses Zeug weg. Den ganzen Papierkram. Iss doch bitte richtig mit uns. Genieße das Essen.“

„Wenn es sein muss.“ Er schob die Blätter ein wenig zusammen und rückte sie zur Seite. „Es ist dringend, über diese Sache wird morgen entschieden.“

„Ach Kurt.“ Merle seufzte. „Seit du Bürgermeister bist, kannst du nicht mehr genießen. Ich könnte dir auch Hundekuchen vorsetzen, die Reaktion wäre dieselbe. Es ist, als wärest du gar nicht da. Ich habe einen Mann geheiratet, den jeder bemerkt, wenn er den Raum betritt. Das war damals so und ist so geblieben. Nur hier, bei uns zu Hause, bist du ganz anders. Ich könnte genauso gut allein am Tisch sitzen. Du nimmst mich nicht einmal wahr. Von einem Kompliment für das Essen ganz zu schweigen.“

Es war ein Kampf, den sie letztes Jahr verloren hatte, als Kurt zum Bürgermeister von Heimlingen gewählt worden war, der kleinen Stadt am Rande des Südschwarzwalds, in der sie beide aufgewachsen waren und noch immer lebten. Die Niederlage mit Kurts Unterlagen zog dann gleich die nächste nach sich. Wie sollte sie Sara unter diesen Umständen klarmachen, dass Handys bei Tisch tabu waren?

„Mach jetzt bitte kein Ehedrama.“ Kurt schielte noch immer nach den Unterlagen. „Ich muss nur das hier kurz durchschauen, dann habe ich Zeit für dich.“

Bei der Hochzeit vor zweiundzwanzig Jahren war Merle stolz und glücklich darüber gewesen, dass sie einen Mann erobert hatte, dem alle Herzen zuflogen. Der große, kräftige Kerl ragte aus jeder Menschenmenge heraus. Bei Tisch wirkte der Teller neben seinen von der Arbeit gestählten Pranken klein. Wurde gefeiert und getanzt, hatte Merle manchmal Angst, er könnte mit seinem hünenhaften Körper vor lauter Schwung andere Tänzer umwerfen, aber tatsächlich behielt er selbst im dichtesten Gedränge den Überblick, hatte noch nie jemanden angerempelt und war auch ihr selbst noch nie auf die Füße getreten. Er schien wie gemacht dafür, mit seiner lauten, fröhlichen Stimme auf Wahlkampfveranstaltungen die Menge im Sturm zu erobern. Deswegen hatten die Freien Wähler ihn so lange bekniet, bis er sich als Bürgermeisterkandidat hatte aufstellen lassen.

Kurt, der als junger Mann in die Heizungs- und Sanitärfirma seines Vaters eingestiegen war, hatte davor zwei Semester Maschinenbau studiert, das Studium aber abgebrochen, weil er gemerkt hatte, dass er lieber mit den Händen arbeitete. Merle wünschte, er wäre bei dieser Erkenntnis geblieben.

Sie hatte es nie laut gesagt, aber tatsächlich vermutete sie, dass jeder von Kurts Gegenkandidaten sich in dem Amt leichter getan hätte als er. Man musste nur die Pratzen ihres Mannes betrachten, um zu begreifen, dass er nicht für die Verwaltungsarbeit geschaffen war. Und genau damit hatte er jetzt vorwiegend zu tun.

Er hatte sich aufstellen lassen, weil er seine Heimatstadt liebte. Was es bedeutete, eine Verwaltung mit mehr als hundert Mitarbeitern zu leiten, war ihm gewiss nicht klar gewesen. Und nun musste er sich mit der Digitalisierung der Behörden, dem Kita-Ausbau, Maßnahmen zum Klimaschutz, tausend Förderanträgen an Land, Bund und EU und hundert anderen Dingen abgeben. Zu sagen, dass er im ersten Jahr seiner Amtszeit kaum wusste, wo ihm der Kopf stand, war untertrieben.

Sie hatte Einwände erhoben, als man Kurt zur Kandidatur drängte. ‚Du bist ein Handwerker, kein Bürgermeister‘ hatte sie gesagt und ihn damit nur verärgert. Eine Frau müsse ihren Mann unterstützen, hatte er energisch erklärt.

Und so hatte sie ihren Widerspruch aufgegeben. Das war ein Fehler gewesen, denn seit seiner Wahl war Kurt mit den Gedanken nur noch im Rathaus, so wie jetzt.

Doch schlimmer geht immer. Bei Tisch waren seit Kurzem neue Schrecken hinzugekommen mit der Planung eines Neubaugebiets der Stadt unter Kurts Federführung. Sara hatte sich einer Bürgerinitiative dagegen angeschlossen, und nun hatten sie den politischen Streit mitten in der Familie.

Merle brachte die leer gegessenen Salatteller in die Küche und trug erst die Auflaufform mit den Spinatknödeln, dann die Servierplatte mit der Lammschulter auf. Sie hatte das Fleisch in Scheiben geschnitten, mit etwas Soße begossen und mit gerösteten Mandelblättchen bestreut. Es sah großartig aus. Die Blättchen hoben sich appetitlich und knusprig von der glänzenden Soße ab, und darunter schimmerte der Braten hervor. Bei dem Anblick lief ihr das Wasser im Mund zusammen.

Als Merle anfing, das Essen auf die Teller zu verteilen, hob Sara plötzlich den Kopf. Sie legte das Handy weg und streckte die Hände abwehrend vor. „Ich esse kein Fleisch.“ Unwillig hielt sie die Hände über ihren Teller gebreitet, als befürchtete sie, ihre Mutter könnte ihren Widerspruch einfach übergehen.

Merle schluckte. „Seit wann denn das? Letzte Woche hast du doch noch welches gegessen.“

„Was ist das für Fleisch?“ Sara deutete angewidert auf die Servierplatte.

„Lammschulter“, antwortete Merle mit ruhiger Stimme. Sie wusste, dass sie bei Sara nicht weiterkam, wenn sie aus der Haut fuhr.

„Nein“, sagte Sara energisch. „Ich esse kein Fleisch und Lamm schon gar nicht. Hast du mal die Lämmchen auf der Weide beobachtet? Wie sie spielen und herumspringen? Wie kann man nur so süße Lämmchen essen?“ Sie sah Merle anklagend an.

„Das siehst du falsch“, sagte Merle. Wider aller Erfahrung hoffte sie, Sara wenigstens einmal durch Argumente überzeugen zu können. „Die Lämmer werden erst geschlachtet, wenn sie ein halbes Jahr alt sind. Da wiegen sie vierzig Kilo, und du könntest sie von einem ausgewachsenen Schaf kaum unterscheiden.“

„Ha ha“, machte Sara. „Das kann jeder sagen.“

„Aber du siehst doch selbst, dass da eine ganze Menge Fleisch liegt. Nur von einer einzigen Schulter. Die kann nicht von einem kleinen Tier stammen.“

Sara musterte die Fleischscheiben misstrauisch. „Wie viel Leid dahinter steckt“, sagte sie mit rauer Stimme. „Die schlimme Massentierhaltung. Und dann das grausame Schlachten.“

„Die Schafe haben ein besseres Leben als fast alle anderen Nutztiere“, argumentierte Merle. „Schon früh im Jahr sind sie den ganzen Tag mit ihrer Herde auf der Weide, sind abgehärtet und robust. Die leben wirklich artgerecht. Schaf kannst du mit gutem Gewissen essen.“

„Ich esse überhaupt kein Fleisch“, entgegnete Sara. „Wiederkäuer furzen Methan, und das ist schlecht für das Klima. Das weiß doch jedes Kind.“ Sara legte die Hände neben ihrem Teller ab, hob angriffslustig das Kinn und sah Merle scharf in die Augen.

Merle musste sich zusammenreißen, um ihrem Blick nicht auszuweichen. Ihre Tochter war wirklich ein Energiebündel an scharfzüngiger Durchsetzungskraft. Schließlich lösten sie den Blick gleichzeitig voneinander, und Merle legte sich zuletzt Lammschulter auf den Teller.

Der Appetit war ihr vergangen. Beim Kochen hatte sie sich so auf den köstlichen Bratengeschmack mit seinem zarten Lammaroma gefreut. Schon vom Duft war ihr das Wasser im Mund zusammengelaufen. Jetzt dagegen war ihr Mund trocken. Saras Verweigerung hatte sie getroffen. Sie schnitt ein Stück von ihrem saftigen Bratenstück ab und tunkte es in die Soße. Als sie das Fleisch in ihren Mund schob, schmeckte es wie Pappe – als wären all ihre Geschmacksknospen verwelkt.

„Wenn man hochwertiges Fleisch isst, fördert man damit eine ökologischere Landwirtschaft“, mischte Kurt sich ein. Immerhin kam er ihr zur Hilfe. Normalerweise zoffte er sich nur wegen der Gemeindepolitik mit Sara.

„Hört, hört“, sagte Sara und grinste. „Väterchen macht sich Gedanken. Aber natürlich denkst du nicht an die Welternährung.“ Sie musterte Kurt höhnisch. „Um alle sattzubekommen, muss genug Nahrung produziert werden. Und das geht am besten vegan. Es gibt überhaupt keinen Grund, warum Menschen sich nicht ausschließlich von Getreide, Gemüse und Hülsenfrüchten ernähren sollten.“

„Dann iss meinetwegen Spinatknödel ohne alles“, versuchte Merle es mit Sarkasmus. „Guten Appetit.“ Aus dem Augenwinkel verfolgte sie, wie Kurt sich wieder seinen Unterlagen zuwandte, inzwischen ungeniert. Er hatte sein Fleisch in Stücke geschnitten und pickte eines davon mit der Gabel auf, ohne hinzuschauen.

Sara nahm sich ein paar der kleinen Knödel aus der Auflaufform, spießte einen davon auf die Gabel und führte ihn zum Mund. Doch mitten in der Bewegung hielt sie inne. Mit der auf und ab wippenden Gabel in der Hand sah sie Kurt an. „Ich marschiere Samstag übrigens auf der Demo gegen das Neubaugebiet mit.“

Kurt ließ das Dokument in seiner Hand fallen und blickte auf.

O nein, dachte Merle. Nicht schon wieder.

Saras Kloß wippte gefährlich.

„Mach das nicht“, sagte Kurt. „Das Neubaugebiet ist gut für Heimlingen. Wir brauchen eine Stadt, in der sich junge Familien wohlfühlen. Du willst doch nicht in einem Ort leben, in dem es irgendwann nur noch alte Leute gibt.“ Er hatte sich inzwischen ganz von seinen Unterlagen abgewandt und sah Sara eindringlich an. An den dunklen Halbmonden unter seinen Augen erkannte Merle, dass er schlecht geschlafen hatte.

„Ihr dürft die Wiese neben dem Moosweiher nicht zubauen. Im Teich laichen Molche, Kröten und Frösche, und jedes Jahr wandern sie über die Wiese. Damit ist Schluss, wenn man dort Häuser baut und Zäune hochzieht.“

„Die Umweltprüfung ist ordnungsgemäß durchgeführt worden“, entgegnete Kurt und nickte bekräftigend. „Meinst du, wir hätten sonst die Genehmigung bekommen, wenn in dieser Matschpfütze wirklich so viel Leben wäre, wie du behauptest?“

Saras Kloß kippte von der Gabel und fiel mit einem Platsch auf den Teller. „Demonstrieren ist mein demokratisches Recht. Und wenn die Umwelt zerstört wird, nehme ich es wahr. Ich wette, ihr seid von dem Bauern bestochen worden, dem das Land gehört. Was bietet er den Freien Wählern an Spenden? Für wie viel seid ihr käuflich?“

Nein, dachte Merle. Das ist lächerlich. Geh nicht darauf ein. Fangt nicht wieder damit an.

„Das ist eine hundsgemeine Unterstellung!“ Kurt wurde laut. „Ohne den Zuzug junger Familien lebt eine Stadt nicht, sondern vegetiert …“

„Und ohne Natur …“, fiel Sara ihm ebenso laut ins Wort.

„Jetzt reicht´s.“ Merle schlug mit der Faust auf den Tisch. „Ich ertrage diese ewigen Streitereien nicht mehr. Ich hab mir das lange genug angehört.“

Einen Moment herrschte Schweigen. Merles Wut legte sich so rasch, wie sie gekommen war, und sie spürte, wie ihr Herz klopfte. Jetzt würde es sich entscheiden. Ihre Zunge war wie gelähmt. Sie stand auf. Ihre Beine funktionierten noch.

„Das war übrigens ein Festessen.“ Die Tränen standen ihr in den Augen. „Ein Testessen wollte ich sagen.“ Sie schluckte. „Und ihr habt die Probe nicht bestanden. Eure Gleichgültigkeit, euer endloser Hickhack, das Lesen in den Akten, ich halte das nicht mehr aus. Ich hab meinen Koffer schon gepackt.“

Sekundenlang herrschte Stille. Kurt starrte sie mit offenem Mund an. Sara legte ihr Handy weg und sah verblüfft zu ihrer Mutter auf.

Mit raschen Schritten ging Merle Richtung Tür.

„Halt!“ Kurt sprang auf. Er eilte ihr nach und drehte sie zu sich herum. „Was fällt dir ein, Merle? Du kannst nicht einfach weggehen.“

Merle sah ihn einfach nur an und schwieg.

„Rede mit mir“, donnerte Kurt.

Merle schrak zusammen, als Kurt sie an den Armen packte und sie schüttelte. Groß wie ein Turm stand er über ihr. Plötzlich hatte sie Angst, er könnte gewalttätig werden. Er hatte sie zwar noch nie geschlagen, aber sie hatte auch noch nie versucht, die Familie zu verlassen.

Sie riss sich los, versuchte aber, ihn zu beruhigen. „Wir reden später miteinander“, sagte sie beschwichtigend. Sie hatte wirklich Angst, dass er sie schlagen könnte, so wütend schaute er. „Lass mich gehen.“ Sie ging rasch hinaus und stieg die Treppe zum Schlafzimmer hinauf.

Als sie mit dem Koffer zurückkehrte, stand Kurt am Fuß der Treppe.

„Mach kein solches Theater!“, rief er. „Sei ehrlich. Du willst doch gar nicht weg.“

Er stand vor der Treppe, als wollte er ihr den Weg verlegen. Wieder fürchtete Merle, dass er sie gewaltsam aufhalten könnte. Sie schob sich mit gesenktem Kopf stumm an ihm vorbei, spürte die Wärme, die sein kräftiger Körper abstrahlte, aber diesmal berührte er sie nicht.

„Wir sind deine Familie!“, rief er ihr nach, als sie die Haustür öffnete. „Wo geht es dir besser als hier?“

„Überall.“ Merle war schon fast zur Tür hinaus. Vor Erregung zitterte sie am ganzen Körper. „Alles ist besser als das.“