Leseprobe Nur ein Meer von dir entfernt | Eine romantische Wholesome Romance

Kapitel 1

»Was sagst du? Ich höre dich nicht!« Mit der freien Hand halte ich mein linkes Ohr zu, um Milla irgendwie zu verstehen.

Angestrengt stapfe ich den Strand entlang. Genau dort, wo die Themse in die Nordsee mündet. Eisiger Wind peitscht mir entgegen, schickt eine Gänsehaut über meinen Nacken. Macht es mir mit seinem ohrenbetäubenden Rauschen fast unmöglich, meine beste Freundin am anderen Ende der Leitung zu verstehen.

»Du … zusammen … Restaurant«, höre ich sie nur abgehackt.

»Lädst du mich ins Restaurant ein?« Obwohl es mehr eine Frage sein soll, schreie ich ins Handy hinein. In der Hoffnung, dass Milla mich so besser hört. »Wann denn?!«

Ich setze mich in eine Mischung aus Sand und Kieselsteinen und zucke zusammen, als eine starke Böe mir entgegen peitscht. Sie gibt mir fast das Gefühl, schwerelos zu sein, so sehr drückt sie mich von Seite zu Seite. Vor und zurück. Rüttelt mich durch wie ein Orkan ein Haus.

Vielleicht ist es keine gute Idee gewesen, bei einer Sturmwarnung ans Meer zu gehen, aber ich wollte einfach etwas Ruhe und Abstand in meiner Mittagspause. Musste mal rauskommen aus dem Trubel der Stadt und weg von der Arbeit …

»Freitag.«

Ich ziehe meine Nase kraus. »Das geht nicht. Da haben wir ein wichtiges Meeting in der Firma.« Wie immer. Ständig haben wir irgendwas Wichtiges, das mir ein Privatleben unmöglich macht.

»Ach, Cassy. Wann hast du … Zeit … essen oder einfach mal treffen?« Wieder höre ich Milla nur abgehackt, aber ihre Message ist eindeutig.

»Ich weiß es nicht.« Ich kauere mich zusammen, um dem Wind so wenig Angriffsfläche wie möglich zu geben. Wie ein Igel, der sich einrollt. Sandkörner knistern auf meiner Zunge, vermischen sich mit dem Salz in der Luft. »Aber das Meeting ist wirklich wichtig.«

»Wie alle Meetings.« Millas Sarkasmus schwappt bis ans Ufer.

Niedergeschlagen lege ich den Kopf auf die Knie, schließe die Augen und lausche dem melodischen Zusammenspiel von Wind und Meer. Es klingt wie Musik in meinen Ohren. Sehr laute Musik.

»Es tut mir leid, Milla.«

»Schon gut. Vielleicht nächstes Mal.« Sie legt auf.

Stöhnend hebe ich den Kopf, blicke auf das aufgewühlte Meer, das … ja … genauso aufgewühlt ist wie ich. Ich entdecke jede einzelne meiner Emotionen in diesem tobenden Gewässer. Kleine Wellen schwappen harmlos vor und zurück. Die Schaumkronen darauf sind so weiß wie die Bluse, die ich heute nach bereits einer Stunde mit Kaffee vollgekleckert habe.

Große, brausende Wellen, so hoch, dass selbst die Möwen einen Bogen um sie fliegen, brechen mit voller Wucht am Ufer. Erinnern mich daran, dass ich mein Privatleben fast vollständig für meinen Job aufgegeben habe. Für einen Job, von dem ich mir mittlerweile nicht mehr sicher bin, ob er mein Traum ist oder der von Dad.

Eine noch größere Welle baut sich auf. Ich kneife die Augen zusammen, möchte mir alles haargenau ansehen. Wie sie wächst, immer mehr Fahrt aufnimmt und kleinere Wellen einfach verschluckt. Diese Welle ist die Beziehungswelle, die mich jeden Tag überrollt wie ein Tsunami.

Ich kann mir nicht erklären, warum alle um mich herum eine offenbar perfekte Beziehung führen und ich es nicht einmal hinbekomme, ein einfaches Date nicht zu versauen. Ganz zu schweigen von meiner letzten Beziehung mit Daniel, der mich so sehr verletzt hat. Sein Unverständnis war … Nein. Ich will nicht weiter darüber nachdenken.

Aber die Wut, die in mir brodelt, kann keine Welle angemessen abbilden. Nicht einmal der größte Tsunami der Geschichte.

Ich bin eine hoffnungslose Romantikerin. Und der Fakt, dass ich immer noch Single bin, während überall um mich herum die Hochzeitsglocken läuten, schmerzt tief in mir. Reißt an meinem Herz, als hätte es einen schwachen Anker, der jede Sekunde von der Strömung mitgerissen werden könnte.

Nun sitze ich hier allein im Sand. In meiner Mittagspause. Und durch meinen Job in Dads Anwaltskanzlei entferne ich mich immer weiter von meinem alten Leben. Von meinen Freunden, die jedes Wochenende feiern und shoppen gehen. Von der großen Liebe, an die ich trotzdem noch irgendwie glaube. Die irgendwo in mir lodert und auf den Richtigen wartet.

Sandkörner knirschen immer lauter zwischen meinen Zähnen, als wäre ich ein Kind, das auf dem Spielplatz vom Sandkuchen genascht hat.

Etwas Nasses landet auf meiner Nase, fließt langsam über meine Nasenspitze.

»Regen. Na toll.« Ich wische mir mit dem Ärmel übers Gesicht. Stöhnend stehe ich auf und klopfe den Sand von meinem Hintern. Ich muss weg, bevor der Sturm zu stark wird. Meine Pause ist sowieso fast vorbei. Zu meiner Linken entdecke ich eine Einbuchtung zwischen zwei großen Sandhügeln. Das muss ein Weg zurück zur Straße sein.

Während ich die Kapuze über mein zerzaustes rotes Haar ziehe, lenkt etwas Glitzerndes am Ufer meine Aufmerksamkeit auf sich. Ich verharre in meiner Bewegung. Mit gerunzelter Stirn betrachte ich den Gegenstand, der nur wenige Meter von mir entfernt am Ufer liegt. Immer wieder schwappt er vor und zurück. Wird von jeder Welle einige Zentimeter bewegt.

Ich schiebe meine Hände tief in die Jackentaschen und kämpfe gegen den immer stärker werdenden Wind an. Lehne mich bei jedem Schritt etwas nach vorn, um nicht vom Sturm umgeworfen zu werden. Eine weitere Böe saust in meine Kapuze, pfeift um meine Ohren. Ich möchte wissen, was vor mir liegt. Was dieses wunderbar wilde, aber auch geheimnisvolle Meer mir zeigen möchte.

Wie hypnotisiert visiere ich das glitzernde Etwas vor mir an und bleibe direkt davor stehen.

»Eine … Flaschenpost?« Ich strecke meine Hand aus, berühre das eisige Wasser, das sich um meine Finger schließt. Eine Gänsehaut rauscht über meinen Körper, lässt mich erschaudern.

Ich halte eine Glasflasche mit einem eingerollten Papier hoch, schaue mir den Inhalt skeptisch durch das durchsichtige Glas hindurch an. Die Flasche ist mit einem Korken verschlossen, der schon bessere Tage gesehen hat. Er hat einige Einbuchtungen, vielleicht verursacht von hungrigen Fischen oder von Treibgut. Doch Wasser ist keines in die Flasche gekommen. Das Papier sieht trocken aus. Perfekt eingerollt und mit einem braunen Band zusammengehalten.

»Wer macht so was denn heutzutage noch?«, nuschle ich.

Ich streiche ein paar Haarsträhnen zurück in meine Kapuze und setze mich einige Meter vom Ufer entfernt hin.

Meine Mittagspause muss ich wohl verlängern.

Irgendetwas, wogegen ich nicht ankämpfen kann, zieht mich zu dieser Flasche. Will wissen, wo sie herkommt.

Ein Kribbeln tanzt durch meinen Magen und bringt mein Herz dazu, schneller zu schlagen. Obwohl es eiskalt ist, habe ich Hitzewallungen unter meiner schwarzen Regenjacke.

Ich bin nervös, als ich mit Fingern, die vor Kälte zittern, am Korken ziehe, ihn langsam von links nach rechts bewege. Doch nichts passiert.

»Na, komm schon, du doofes Ding.« Ein weiteres Mal umschließe ich den Korken mit meiner Hand, rüttle mit all meiner Kraft daran.

Plopp!

Ich atme tief ein, habe nicht damit gerechnet, ihn wirklich so schnell in der Hand zu halten. Ich lege ihn neben mich in den Sand und wische meine Hände an der Hose ab. Die Flasche halte ich kopfüber, schüttle sie, um den Brief herauszubekommen.

»Da bist du ja.« Als ich das Papier in der Hand halte, streichle ich mit dem Daumen über das braune Band, das die Rolle zusammenhält.

Wie alt es wohl ist? Durch welche Hände es bereits gereicht wurde?

Fragezeichen schwirren durch meinen Kopf wie aufgeschreckte Wespen.

Der Wind nimmt noch mehr zu. Peitscht immer stärker. Schickt wieder eine Ladung Sandkörner über meinen Körper. Ich kauere mich weiter zusammen.

Den Brief muss ich jetzt öffnen. Die Neugier kribbelt in meinen Fingerkuppen.

Vorsichtig ziehe ich an der Schleife, löse sie wie in Zeitlupe. Das Band stecke ich sofort in meine Jackentasche, damit es nicht wegfliegt.

Mit Fingern, die nun mehr vor Aufregung als vor Kälte zittern, rolle ich das Papier auf. Halte es fest in meinen Händen, damit der Wind es mir nicht entreißt.

Wer auch immer diesen Brief findet, hält nun den Beweis dafür in Händen, dass Liebe unendlich ist.

Mit dieser Flaschenpost besiegeln wir das, was wir haben.

Das, was uns ausmacht.

Das, was uns immer verbinden wird.

Unsere Liebe zueinander. Und die Aufrichtigkeit und Zuneigung, die unsere Herzen vereinen und bis in die Ewigkeit versiegeln. Nichts wird unsere Liebe jemals zerstören.

Keine Schere, so gut sie auch geschmiedet sein mag, kann dieses Band jemals zerschneiden. Keine Unterschiede, keine Makel werden uns je trennen. Denn wir haben uns füreinander entschieden und das wird sich niemals ändern. Dass wir so verschieden sind, macht uns besonders. Und stärker. Wir werden all dies nutzen, um unsere Zukunft aufzubauen und zu festigen. Denn Unterschiede machen uns zu individuellen Personen.

Wir möchten für alle Ewigkeit in Erinnerung bleiben als das untrennbare Paar, das durch die Liebe zueinander immer stärker geworden ist und allem getrotzt hat und trotzen wird.

Lieber Leser oder liebe Leserin, du sollst eines wissen: Die Liebe ist unbesiegbar. Möge sie auch dein Herz umschließen und dich zu der Person führen, die du schon dein Leben lang suchst.

 

Espen & Elvy aus Ferring

Mich schaudert es. Nicht wegen des Regens, der seit wenigen Sekunden diagonal gegen mich prasselt. Nicht wegen des Windes, der so laut um meine Ohren pfeift, dass ich kaum noch meine eigenen Gedanken höre.

Sondern wegen dem Gefühl von Liebe, das sich aus dem Brief direkt in mein Herz überträgt. Es genauso wärmt, wie Espen und Elvy es wollten.

Der blass-beige Farbton des Papiers und die verwitterten Ecken sind Spuren der Zeit. Spiegeln die möglichen Jahre oder Jahrzehnte wider, die diese Flaschenpost im Meer trieb, bis sie heute, an diesem verregneten und windigen Mittag an einem einsamen Strand in Gravesend in der Nähe von London angekommen ist.

»Ein perfektes Paar.« Ich wende das Briefpapier in meinen Händen, möchte unbedingt wissen, wie alt es ist.

Aber ich finde keine Jahreszahl. Nur die Vornamen der Verfasser und ihren Wohnort.

Espen und Elvy haben oder hatten das, wonach ich seit meiner Jugend strebe. Ich suche nach der einen großen Liebe. Nach einer Person, die mich so akzeptiert, wie ich bin. Die all meine Fehler und Makel liebt.

Doch meine Hoffnung, diese Art der Liebe irgendwann selbst zu erfahren, ist so klein geworden. Zu oft wurde ich in der Vergangenheit enttäuscht, vor allem von Daniel. Kaum dass er von meinem Geheimnis, meiner größten Unsicherheit, erfahren hat, hat er mich im Stich gelassen.

Mein Handy vibriert. Ich verdrehe die Augen, erschrecke aber, als ich auf das Display sehe.

Ein Anruf von Dad.

»Oh!« Panisch drücke ich auf den grünen Hörer. »Dad! Ich bin gerade auf dem Weg zurück. Gib mir fünf Minuten.«

Ich ergreife die Flasche und den Brief, drehe mich vom tosenden Wind weg und eile in Richtung Golfclub. Er wird außer sich sein, da bin ich mir sicher.

»Cassy, wir haben in zwanzig Minuten einen sehr wichtigen Termin.« Seine Stimme bebt. Er klingt gestresst.

»Ich war noch am Wasser. Alles gut. Bin gleich da.«

Kapitel 2

»So, noch kurz Haare kämmen, dann bin ich so weit«, murmle ich meinem Spiegelbild zu. Mit einer Furche auf der Stirn, die so groß wie der Marianengraben zu sein scheint, ordne ich konzentriert meine roten Haare. Achte darauf, nicht zu sehr an ihnen zu ziehen. »Immerhin habe ich den Kaffeefleck aus der Bluse bekommen.«

»Cassy, hier ist Dad. Bist du fertig?« Dads tiefe Stimme ertönt hinter der Tür der Toilettenräume des Golfclubs, wird vom dicken Holz gedämmt.

Seufzend stecke ich die Haarbürste in meine Handtasche und schaue in den Spiegel. In diese dunkelblauen Augen, die voller Tatendrang scheinen, aber gleichzeitig so müde vom Arbeitsleben sind. Schaue die junge Frau an, die seit ihrer Geburt an diese Firma gebunden ist und immer mehr an ihrer Entscheidung, Anwältin zu werden, zweifelt.

»Cassy?«

»Komme!« Ich schlucke schwer, wende den Blick ab und hänge mir meine Handtasche über die Schulter. Suche die professionelle Maske heraus, die ich seit Jahren trage, wenn ich im Namen der Kanzlei Walsh arbeite.

Ein letztes Mal streiche ich meinen Bleistiftrock glatt. Der feuchte Stoff haftet an meinen Händen. Die Regenjacke war wohl zu kurz, um mich vor der Nässe zu retten. Dann trete ich aus dem Toilettenraum hinaus in den Eingangsbereich des Golfclubs.

Dad steht mir gegenüber – lässig an die Wand gelehnt – und schaut mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. Sein Blick liegt auf meinen Haaren. Von Sekunde zu Sekunde verdunkeln sich seine Augen mehr. Er schnalzt mit der Zunge. »Beim letzten Treffen waren deine Haare schulterlang. Sie können in so kurzer Zeit niemals so schnell gewachsen sein. Das fällt auf.«

»Denkst du, darauf achtet jemand? Ich könnte auch Extensions tragen.« Ich seufze. Hasse diese Art von Unterhaltung, die wir viel zu oft führen. Dad verabscheut meine Alopezie. Verabscheut mein Aussehen. Die Glatze unter meiner Perücke. Dabei ist alles, was ich möchte, dass er akzeptiert, was ich nicht ändern kann.

Wir betreten den imposanten Empfangsbereich, der mit seinem überdimensionalen Kronleuchter an der Decke nach purem Reichtum schreit. Die dunklen Bodenfliesen harmonieren perfekt mit den Holzmöbeln, die wahrscheinlich mehr kosten, als ich innerhalb von zehn Jahren verdienen werde.

»Was klimpert da in deiner Tasche?« Dad linst zu mir. Er scannt mich mit seinen braunen Augen von oben bis unten.

»Ach, das?« Ich zeige auf meine Handtasche. Habe die Flaschenpost total vergessen. »Ich habe eine Flaschenpost am Strand gefunden. Die musste ich einfach mitnehmen.« Die Euphorie über diesen emotionalen und erwärmenden Brief kocht wieder in mir auf. Strömt durch meine Adern und lässt mich unruhig werden.

Ich will unbedingt mehr über Espen und Elvy erfahren.

Dad bleibt stehen, als wir die Lounge erreichen. »Das ist schön und gut, aber wenn andere Glas in deiner Tasche klirren hören, könnten sie auch denken, dass du ein kleines Problem mit dem Trinken hast.«

Ich presse die Lippen aufeinander. Er meint es nur gut und will mir peinliche Momente – von denen ich schon genug erlebt habe – ersparen.

»Da sind Derek und Jason.« Dad nickt zu einem Tisch am Panoramafenster, an dem sein wichtigster Klient mit seinem Sohn sitzt.

Panisch wühle ich in meiner Handtasche und klemme die Flasche zwischen meine Haarbürste und einen Notizblock. Hoffentlich hält das.

»Na komm.« Dad gibt mir den Vortritt.

Geschäftsessen lösen immer noch Panik in mir aus. Ich fühle mich wie auf einer Bühne. Der Scheinwerfer ist auf mich gerichtet. Ich muss performen, perfekt sein und darf mir keinen Fehler erlauben.

Und dann sitzt da Jason Brathorne am Tisch. Der Kerl hat die Fähigkeit, mich komplett aus dem Konzept zu bringen. Mit seinem hellbraunen Haar, das liegt, als hätte es eine höhere Macht frisiert. Absolut perfekt hängen einzelne Strähnen in sein Gesicht. Lassen ihn nahbar wirken, obwohl er zu der High Society Englands gehört.

»Derek, Jason.« Dad gibt beiden die Hand und ich tue es ihm gleich.

Während wir uns setzen, spüre ich Jasons Blick auf mir. Dieser Blick, der sagt: »Hey, ich erinnere mich sehr genau an letzte Nacht.«

Ich zupfe an meiner weißen Bluse. Hoffe so sehr, dass Macho Jason die gestrigen Geschehnisse für sich behält.

Mit gefalteten Händen schaue ich zu ihm. Jason und ich führen einen stillen Machtkampf aus. Sein Blick – selbstgefällig und auf eine eklige Weise charmant. Meiner – so hoffe ich jedenfalls –, wütend und ein wenig enttäuscht von mir selbst.

Auf letzte Nacht bin ich nicht stolz.

»Cassy?«

Ich zucke zusammen. »Ja … Dad? Entschuldigung.« Wow, Cassy. Dein Stammeln ist echt professionell. Da kannst du dir ein imaginäres High Five geben.

Dad kneift die Augen zusammen, während er den Rücken durchstreckt. Ein Zeichen, dass ihm irgendetwas nicht passt. »Wie war euer Date gestern? Wie klasse es doch ist, dass sich unsere Kinder so gut verstehen.« Mit einem schmalen Lächeln auf den Lippen schaut er zwischen Derek, Jason und mir hin und her. »Es war doch ein Date, oder?«

Alles in mir verkrampft sich. Dad möchte mich in dieselbe gesellschaftliche Schicht katapultieren, in der sich Jason bewegt. Er möchte mich absichern. Sichergehen, dass ich mir niemals finanzielle Sorgen machen muss.

Ob ich das alles allerdings möchte, ist eine andere Sache. Jasons Freunden kann ich jedenfalls nicht mehr unter die Augen treten.

»Nein, Dad. Das war kein Date.« Ich mahle mit den Kiefern. »Wir waren nur mit seinen Freunden in einer Bar. Mehr … Mehr war da nicht.«

Jason grunzt, versteckt seine Reaktion hinter einem Hustenanfall.

Mit erhitzten Wangen schaue ich zwischen Dad und Derek hin und her. Ein nervöses Kribbeln zuckt durch meinen Magen.

Jasons braune Augen werden erst groß, mustern mich. Doch nach wenigen Sekunden formen sie sich zu siegessicheren Katzenaugen. »Stolpere nicht über deine eigenen Worte.«

»Mach ich nicht. Alles unter Kontrolle.« Ich beiße meine Zähne fest aufeinander. »Also, ich möchte den gegrillten Barsch haben. Wie sieht’s bei euch aus?«

***

»Wir sollten gleich einen Tisch für unser nächstes Essen reservieren. Wollen wir das mal klären, Victor?« Derek steht neben seinem Stuhl, schließt sein Jackett.

»Das klingt nach einem Plan. Wir sind gleich wieder da, Kids.« Dad steht auch auf und geht mit seinem Klienten an die Rezeption.

Kaum sind die beiden außer Hörweite, beuge ich mich zu Jason. »Ist das dein Ernst? Musstest du meinen Fauxpas von gestern andeuten?«

»Sorry, es war einfach zu witzig.« Jason prustet los und verschränkt gelassen die Arme. Seine Muskeln spannen sich unter dem weißen Hemd an. »Wie du die Treppen runtergefallen bist. Und dann noch deine Perücke.«

Ich presse die Kiefer aufeinander, mein Nacken versteift sich. Wer hätte ahnen können, dass Jasons Kumpel den ich sehr attraktiv fand – ausgerechnet nach meinen Haaren greifen würde, um mich vor dem Fall zu retten? Perückenkleber ist kein Sekundenkleber. Ein starker Zug und er gibt nach. Und genau das ist gestern Abend passiert.

»Ich fand es nicht witzig. Mein Hintern tut immer noch weh und …« Den letzten Satz breche ich ab. Ich muss keine weitere Aufmerksamkeit auf meine Glatze ziehen. Mit zusammengezogenen Augenbrauen starre ich mein Gegenüber an. »Ich bin halt nervös, wenn ich Menschen attraktiv finde.«

Und ich bin unheimlich unsicher. Der gestrige Vorfall hat alles nur noch verschlimmert. Bestimmt bin ich in der WhatsApp-Gruppe seines Freundeskreises Gesprächsthema Nummer eins.

Wut kocht in mir auf. Brodelt, will blubbernd überschwappen, aber ich beherrsche mich. Ich darf dieses Essen nicht ruinieren. Dad würde Ewigkeiten sauer auf mich sein.

Jason nickt. Selbst dabei bewegt sich sein Haar keinen Zentimeter. »Also bist du jetzt auch nervös?«

»Nein.« Ich trinke einen Schluck von meinem Mineralwasser.

Jason Brathorne ist ein sehr gepflegter, gutaussehender Mann, der sämtlichen Frauen den Kopf verdreht. Aber sein eingebildetes Verhalten überschreibt diese Attraktivität einfach. Er würde mich nie zu schätzen wissen.

»Schon gut. Du bist auch nicht mein Typ.« Mit dieser kurzen Aussage und einem Blick, der zu lange auf meinem Haaransatz verweilt, setzt er mich Schachmatt. Bringt mich zum Verstummen.

Ich balle die Hände zu Fäusten. Ärgere mich über diese oberflächliche Arschgeige, die in den nächsten Jahren der Boss einer der größten Plattenfirmen Englands sein wird. Millionär sein wird.

Meine Wangen glühen. Die Hitze breitet sich bis zu meinen Ohren aus, pocht unangenehm. Sie sind fast so heiß wie meine Handflächen, in die sich meine Fingernägel bohren und die deshalbunheimlich schmerzen.

»Du bist ein Arsch.« Ich will diesen Satz mit so viel Selbstsicherheit sagen. Mit einer Willenskraft, die Jason vom Stuhl fegen könnte. Aber meine Stimme versagt kläglich, ist nicht mehr als ein Kratzen.

»Du bist nicht die Erste, die das sagt.« Jason zuckt locker mit den Schultern.

Kapitel 3

»Da triffst du mal einen netten Kerl, fällst die Treppen runter und verlierst deine Perücke. Wie kann ein Mensch so viel Pech mit Männern haben?« Milla umklammert ihren Kaffeebecher und lehnt sich zu mir über den Tisch.

Wir sitzen im Monocle Café mitten in London. Zwischen hippen Leuten mit Kopfhörern und älteren Gästen, die in der Tageszeitung blättern. Eine leise Jazz-Playlist läuft im Hintergrund, vermischt sich mit dem Gemurmel der Gäste.

»Nein, keine Treppe. Nur drei Stufen oder so.« Mehr als ein Nuscheln bringe ich nicht heraus. »Die lose Perücke war das I-Tüpfelchen.«

Das Treffen mit Jasons Freunden war einfach peinlich. Ober-peinlich.

»Und nur, weil du den Kerl süß fandest?« Schmunzelnd nimmt Milla einen Schluck ihres Flat Whites. Das warme Rot des Bechers harmoniert mit ihrem ebenso warmen Hautton und dem dunklen Haar, das in Wellen über ihre Schultern fällt.

Sie hat echt schönes Haar …

»Ich wollte ihn beeindrucken! Er sollte mich für … mich mögen. Ich wollte witzig sein, locker …«

All das, was ich irgendwie seit Jahren nicht mehr bin.

»Und als ich lachend einen Schritt nach hinten gemacht habe, war da halt kein Boden mehr.« Und ich bin mit Gerumpel drei Stufen weiter unten auf dem perfekt polierten Marmorboden gelandet.

»Und was haben die anderen gesagt?«

»Jason hat gelacht. Und Rory, der Kerl, den ich so heiß fand, hat mir hoch geholfen und mir peinlich berührt meine Haare gereicht. Er war den Rest des Abends aber total distanziert.« Ich breche seufzend ein Stück meines Chocolate Chip Cookies ab und stecke es in den Mund. Ich brauche jetzt Schokolade zur Aufmunterung. »Da ist jetzt ein riesiger blauer Fleck auf meiner rechten Pobacke, Milla! Und bei Jasons Freunden kann ich mich nicht mehr blicken lassen.«

»Ach, Süße. Was ein Mist.« Sie streckt ihre Hand aus, streichelt über meine frische Maniküre, die so gut zu dieser Jahreszeit passt. Ein dunkles Grün mit rosa Flecken. »Du darfst nicht so krampfhaft nach einem Mann suchen. Das darf auch dein Dad nicht für dich.« Sie zwinkert. »Das wird so nie was. Irgendwann triffst du einen Typen, bei dem du sofort weißt, dass er es ist. So war es bei Mitchell und mir.«

Milla und Mitchell sind der wahrgewordene Traum. Seit sechs Jahren ein Paar. Die Hochzeit ist auch in Planung.

»Ich möchte doch nur … geliebt werden. Einen Menschen haben, auf den ich mich freue, wenn ich nach einem langen Arbeitstag nach Hause komme. Einen, der alles an mir liebt. Jeden einzelnen Zentimeter. Jemand, der keine heißen Wangen bekommt, wenn er meine Perücke in der Hand hält.« Mein Herz wird schwer. Es möchte meine sowieso schon schlechte Laune noch weiter Richtung Erdkern ziehen. »Momentan sind meine besten Freunde Ben und Jerry.« Beim Gedanken an mein Schokoladeneis im Gefrierschrank läuft mir das Wasser im Mund zusammen.

»Gib dir Zeit, ja?« Millas warmes Lächeln muntert mich wenigstens ein bisschen auf.

Ich nicke nachdenklich. Bin immer wieder zerrissen zwischen dem Wunsch, den perfekten Partner für mich zu finden, und dem Bedürfnis, mich sofort an den nächstbesten Kerl zu binden, um nicht mehr allein zu sein und zumindest irgendeine Form der Zuneigung zu bekommen.

»Dein Job nimmt dein Leben ein. Willst du das für immer so weitermachen? Dann bleibt kaum Zeit für eine Beziehung.« Milla schürzt ihre vollen Lippen.

»Wir sehen uns kaum noch. Das tut mir so leid! Aber ich will so gut wie möglich vorbereitet sein, wenn Dad mir in ein paar Jahren die Kanzlei übergibt.« Über die letzten Worte stolpere ich. Es schüttelt mich jedes Mal, wenn ich daran denke, dass ich irgendwann die Chefin der Kanzlei sein werde. Das ist … das ist surreal. Als würde sich ein Spielfilm in meinem Kopf abspielen, der absolute Fiktion ist. Mittlerweile bin ich mir nicht mehr sicher, ob ich meinen Traum lebe oder einen Traum von meinem Vater aufgezwungen bekommen habe.

»Ist es denn das, was du willst? Dich in Arbeit stürzen? Bis zum Morgengrauen?«

»Nicht unbedingt.« Ich streiche mit dem Zeigefinger über den Rand meiner Kaffeetasse. »Manchmal brauche ich einfach ein bisschen Pause.«

»Verständlich.«

»Übrigens muss ich dir was zeigen.« Mit einem Kribbeln, wie ich es zuletzt bei meinem ersten Kuss in der siebten Klasse gespürt habe, hole ich die Flaschenpost aus meiner Handtasche und stelle sie auf den Tisch.

»Eine alte Flasche?« Eine Furche gräbt sich tief in Millas Stirn.

»Nein, schau, was drinnen ist. Ein Brief.« Ich schiebe die Flasche zu meiner Freundin.

Milla zieht den Brief heraus, rollt ihn vorsichtig aus und liest sich die wunderschön geschriebenen Zeilen durch.

Die Zeilen, die seit zwei Tagen durch meinen Kopf sausen wie Tausende wildgewordene Bienen. Die Zeilen, die mein Herz einen Gang höherschalten.

»Das ist schon süß geschrieben.« Sie presst die Lippen aufeinander und steckt den Brief unbeeindruckt zurück in die Flasche.

»Schon süß geschrieben? Das ist … alles, was ich jemals wollte! Das ist … einfach perfekt!« Ich nestle am Ärmel meines grauen Pullovers. »Ich sehe das Paar vor mir. Wie sie vor Jahrzehnten diesen liebevollen Brief verfasst haben. Irgendwann in ihren Schaukelstühlen auf der Veranda saßen und bis an ihr Lebensende zusammen waren.« Verträumt schaue ich durch die Fensterfront neben uns hinaus. Beobachte die vielen Autos, die am Monocle Café vorbeifahren.

Milla räuspert sich. »Bist du dir denn sicher, dass der Brief so alt ist? Er könnte auch vor einem Monat verfasst worden sein.« Da ist sie wieder. Diese Furche, durch die meine Freundin so schnell zweifelnd aussieht.

»Nein, das glaube ich nicht. Die beiden heißen Espen und Elvy. Die Namen klingen nicht gerade modern.« Ich nippe an meiner heißen Schokolade.

»Hier in England vielleicht nicht. Aber in … Was war das für ein Ort?«

»Warte. Irgendwas mit F.« Ich schaue noch einmal auf den Brief. »Ferring.«

»Wo liegt das?« Noch während Milla die Frage ausspricht, zückt sie ihr Handy und tippt darauf herum.

Angespannt halte ich die Luft an und beobachte meine Freundin. Wie sie mit geschürzten Lippen auf ihr Display starrt und ihren Hinterkopf kratzt …

»Ferring liegt an der Südspitze Englands. Gar nicht weit weg von hier.«

»Oh.« Der Gedanke, dass sich diese wundersame Liebesgeschichte nicht weit von hier abgespielt hat, ist seltsam ernüchternd. Die Flaschenpost hat also keine Reise um die halbe Welt gemacht. Es gibt keine großartige Geschichte, die dieses Stück Papier erlebt hat. »Aber die Namen klingen nicht englisch.«

Milla trinkt einen weiteren Schluck ihres Flat Whites. »Warte mal.« Wieder tippt sie auf ihrem Handy herum. Die Augenbrauen zieht sie tief ins Gesicht. »Hm. Ferring ist auch ein kleiner Ort in Dänemark. Aber glaubst du, die Flaschenpost ist so weit gekommen?«

»Wenn sie seit Jahrzehnten unterwegs ist, ist das doch möglich, oder?« Ich zucke mit den Schultern. Bin nicht überzeugt, was die Herkunft der Flasche angeht.

Aber was stelle ich mir eigentlich unter Espen und Elvy vor? Nur ein altes Ehepaar. Einen genauen Wohnort sehe ich auf dem Bild vor meinem inneren Auge nicht. Keine Szenerie, die ihr Zuhause zeigt.

»Die Namen … recherchier die mal. Vielleicht können wir noch mehr herausfinden.« Mit einem Kribbeln im Bauch lehne ich mich über den Tisch und will jedes Suchergebnis sehen.

»Aber nur, wenn ich ein Stück von deinem Riesenkeks bekomme.« Milla schiebt ihre Unterlippe vor.

Ich seufze und breche ein Stück für sie ab.

»Espen. Moment.« Sie tippt auf dem Display herum. »Die Espe gehört zu den Pappeln.« Meine Freundin grunzt und hält mir ihr Handy hin.

»Wow.« Mein Sarkasmus ist unüberhörbar. »Hast du auch was Brauchbares für uns? Ich will wissen, wer diese Menschen sind.«

»Ähm.« Milla scrollt und tippt auf dem Handy. »Espen ist ein norwegischer und dänischer Vorname. Und Elvy ist … schwedisch, norwegisch, dänisch und finnisch. Die Sprachen können sich anscheinend nicht entscheiden.« Glucksend schaut sie zu mir hoch.

»Dann könnte es doch Dänemark sein. Wow …« Die Vorstellung, dass diese unscheinbare Flasche jahrelang auf dem Meer geschwappt ist und Tausende Meilen hinter sich gebracht hat, haut mich um.

»Und was möchtest du nun machen? Den Brief einfach behalten? Zu einem Museum bringen, wenn er so alt zu sein scheint?«

»Das ist eine gute Frage.«

Am meisten fasziniert mich die Liebesgeschichte. Diese innige, unzerstörbare Beziehung zwischen Espen und Elvy. Die poetischen Zeilen, die mein Herz erwärmen. Diese Art bedingungsloser Liebe, nach der ich mich seit Jahren sehne. Eine Liebe, die über die gesellschaftliche Schicht hinausgeht. Die über die Äußerlichkeiten hinausgeht und einfach verweilt, weil sich zwei Menschen gefunden haben.

»Cass?«

Ich zucke zusammen. »Oh, ja?«

»Woran hast du gedacht?« Milla platziert das Handy auf dem Tisch und legt den Kopf schief.

Ich seufze. »Daran, dass Espen und Elvy alles hatten und ich … nichts habe.« Eine Schwere legt sich um mein Herz. Meine Karriere kann die fehlende Liebe nicht wettmachen. Niemals.