Prolog
Es dauert ein paar Sekunden, bis ich begreife, bis sich die Erkenntnis in meinem Gehirn festsetzt. So etwas passiert normalerweise nur in Filmen. Nicht hier, so nah an meinem Arbeitsplatz. Nicht in dieser Stadt. Und schon gar nicht mir. Aber es passiert gerade. Es ist real.
Ich werde vom Boden hochgezogen und nach hinten geschleift, meine Füße suchen verzweifelt Halt, meine Finger krallen sich an der großen Hand fest, die meinen Mund verschließt. Blitze durchzucken meinen Kopf, eiskalte Angst breitet sich aus. Die Welt verengt sich zu zwei Punkten: Licht und Schmerz. Ich werde sterben. Ich … werde … sterben.
Ich halte den Atem an, bereit für den Schmerz, das Grauen, die endlose Schwärze.
Laue Nacht, stille Straßen – und dann plötzlich rausgerissen aus dem komfortablen Leben. Ich war entspannt, fühlte mich sicher, war zu vertrauensselig. Und jetzt bin ich hier und warte auf den Moment, in dem dieser Unbekannte mich umbringen wird.
Er beugt sich über mich, während ich in den Kofferraum gezwungen werde. Augen schwarz wie Kohle und ein Blick, der mich kalt und gierig abtastet. Ein Raubtier, das seine Beute mustert, bevor es zuschlägt. Ich würge. Dann wird der Kofferraumdeckel zugeschlagen. Ich trete. Schreie. Kratze. Stoße. Ich winde mich in der Dunkelheit. In diesem schrecklich engen Loch. In der Hoffnung, dass mich irgendjemand hört. Aber da ist niemand.
Ich bin allein. Der Motor heult auf, und als sich das Auto in Bewegung setzt, ist mein einziger Gedanke: Mach es kurz. Und bitte, mach, dass es nicht weh tut.
Kapitel 1
Helena
Der Raum um sie herum scheint sich zu drehen. Eine plötzliche Welle von Schwindel zwingt sie in eine aufrechte Sitzposition. Die Benommenheit in ihrem Kopf gleicht einem wirbelnden Kaleidoskop aus gedämpften Farben. Helena zittert. Das schrille Klingeln des Telefons hat sie aus dem Tiefschlaf gerissen und die abrupte Unterbrechung fühlt sich an wie ein Schlag auf ihren Schädel. Sie hat von ihrer Mutter geträumt. Von der Frau, die nie für sie da war. Körperlich zwar anwesend, aber emotional nicht verfügbar. In Herzensangelegenheiten eine absolute Null, solange Helena sich erinnern kann. Sie hat sich immer geschworen, ihren eigenen Töchtern eine bessere Mutter zu sein. Sie würde für sie da sein, alles für sie tun. Eben eine kompetente Mutter, die ihnen Stabilität zu geben vermochte. Selbst in den schwierigsten Zeiten. Und die Zeiten waren schwierig. Sind es manchmal heute noch.
Ein Schmerz durchzuckt ihren Hinterkopf, als sie wieder unter die Bettdecke schlüpft, um sich vor der Kälte des ungeheizten Schlafzimmers zu schützen. Ihre Finger zittern beim Griff nach dem Handy, während ihr Blick den Wecker auf dem Nachttisch streift. Sie kneift die Lider zusammen, versucht, nicht hinzuschauen, aber das Leuchten der Ziffern sticht ihr in die Augen. Zwölf Uhr dreißig. Das kann nur ein Anruf von ihrer Tochter sein. Oder jemand ist gestorben. Ihre Fingernägel kratzen über das Plastik, als sie hastig auf das grüne Icon zur Rufannahme drückt. Ihre Stimme klingt heiser, als sie spricht.
„Hallo? Vanessa?“
Jede andere Stimme würde ihr das Blut in den Adern gefrieren lassen und sie in Panik versetzen. Es ist spät, oder früh, je nachdem, wie man es betrachtet, und Anrufe zu dieser Stunde sind Vorboten schlechter Nachrichten. Unfälle. Todesfälle. Nachrichten, die das Leben verändern – und dir den Atem rauben.
„Entschuldige, Mama. Ich wurde gerade zur Arbeit gerufen. Sie brauchen mich im Pflegeheim. Ich muss los. Kannst du vorbeikommen?“
Ihre Tochter klingt so wach, als wäre sie schon seit Stunden auf den Beinen. Nicht verschlafen wie Helena. Nicht müde und schwindelig und mit dem Wunsch, unter die Bettdecke zu schlüpfen und wieder einzuschlafen. Vanessa ist auf den Beinen und voller Tatendrang, bereit, das zu tun, was getan werden muss. Zu jeder anderen Zeit wäre Helena stolz auf die Professionalität und Loyalität ihrer Tochter gewesen. Aber nicht nachts um halb eins. Die Erschöpfung hat alle positiven Gedanken ausgelöscht und ihre scharfen Krallen bis auf die Knochen in ihr Fleisch gegraben.
Mit kalten, zusammengeballten Fäusten reibt Helena sich die Augen und versucht, den schweren Mantel des Schlafes abzuschütteln, der sie in den vergangenen Stunden warm umhüllt hatte. „Gib mir zehn Minuten, dann bin ich unterwegs.“
Ihre Sinne sind noch benommen, ihre Sicht ist verschwommen, sie stolpert durch das Schlafzimmer, greift nach ihren Kleidungsstücken und wirft blindlings ein paar Sachen für die Nacht in eine Tasche. Ein pochendes Gefühl hämmert hart gegen ihre Schläfen. Sie hätte nicht gedacht, dass sie nur zwei Stunden nach dem Einschlafen in einen solch tiefen Schlaf fallen würde, aber die Erschöpfung hatte sie scheinbar überwältigt, nachdem sie den ganzen Tag den Garten winterfest gemacht hatte. Wer konnte denn auch ahnen, dass das Zurückschneiden von Sträuchern und das Entfernen verwelkter Rosen sie so auslaugen würde? Im Stillen hatte sie gehofft, dass Vanessa sie nicht anrufen würde, aber diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt, und als ihre Mutter muss sie alles tun, um zu helfen. Weil Eltern das so machen. Anständige Eltern jedenfalls. Nicht jedoch die armselige Gestalt einer Frau, die ihre eigene Erziehung vermasselt hat. Eine Frau, die sich weigert, den Namen von Helenas Vater preiszugeben. Dieselbe Frau, die in ihren letzten Lebensjahren in einer winzigen Wohnung haust, umgeben von verschimmelten Pizzakartons und streunenden Katzen, die ihr bis nach Hause nachlaufen, wenn sie zum Laden an der Ecke geht, um Zigaretten und billigen Wein zu kaufen. Als Helena sie das letzte Mal besucht hat, musste sie über Berge von schmutziger Kleidung und Tellern mit verfaultem Essen klettern, um zu der zusammengekauert in der Ecke sitzenden Gestalt zu gelangen, die sie finster anstarrte.
„Na, kommst du, um dich an meinem Elend zu weiden? Oder ist das wieder einer deiner jährlichen Besuche bei der verrückten alten Furie, die dich zufällig zur Welt gebracht hat – bei dem du wie immer mit steinerner Miene dastehst als wärst du lieber sonst wo?“
„Hallo, Mama“, war alles, was sie lahm herausbrachte, als sie sich einen Weg durch den Müll gebahnt hatte, den Ekel hinunterwürgend, während sie darauf achtete, keine Emotionen zu zeigen und nicht auf die scharfen Sticheleien und bissigen Kommentare einzugehen. Der Klang der Stimme ihrer Mutter zerrt unvermindert an Helenas Nerven. Selbst nach all den Jahrzehnten geht ihr Sylvies Stimme noch unter die Haut, weil sie wie die Nadel eines Plattenspielers klingt, die über eine Schallplatte kratzt.
„Was auch immer du hier willst, mach schnell. Ich bekomme in zehn Minuten Besuch. Einer dieser Mitarbeiter aus dem Gemeindezentrum kommt mit einem Fotografen von der Lokalzeitung vorbei. Sie wollen mich für eine Auszeichnung nominieren: ‚Fürsorglichste Nachbarin und Mutter‘.“ Ihr Lachen klingt wie ein heiseres Bellen, sie schüttelt den Kopf und mustert Helena mit dunklen, kieselartigen Augen, auf der Suche nach dem geringsten Anzeichen einer Reaktion. Nach irgendetwas, das sie mit ihrer beißenden Zunge packen und zerreißen kann. An ihren Mundwinkeln hat sich Speichel gebildet, kleine weiße Schaumhäufchen, die sich dort sammeln und dann zerfließen und einen feuchten, öligen Film hinterlassen, der in silbernen Rinnsalen an ihren Lippen herunterläuft und über ihr Kinn tropft. Helena wollte würgen, sich umdrehen und fliehen, aber stattdessen tut sie, was sie immer getan hat: Sie bleibt und unterhält sich mit der Frau, die sie geboren hat. Die Frau, die sie kaum kennt, geschweige denn versteht. Ganze Welten trennen sie, ihre Denkweisen und Erziehungsmethoden liegen auf völlig unterschiedlichen Ebenen. Und doch kommt sie regelmäßig, um ihre alternde Mutter zu besuchen. Eine Tochter, die ihre Pflicht tut. Die versucht, sich zu kümmern. Die hofft, eine Frau zu ändern, die in ihren Gewohnheiten festgefahren ist und sich allem widersetzt, was sie von ihrem einmal eingeschlagenen Kurs abbringen könnte.
Der Besuch währt nie lange. Die elenden Verhältnisse und die Gefühlskälte ihrer Mutter, bar jeder Zuneigung, bar jeglicher menschlichen Wärme, machen ein längeres Verweilen unmöglich. Ein Besuch pro Monat genügt Helena, um ihr schlechtes Gewissen zu besänftigen – und um sicherzustellen, dass ihre Mutter nicht zur Statistik verkommt: eine weitere klapprige, unterernährte Rentnerin, die einsam im Sessel stirbt und erst Wochen später – unter Schutt und Gerümpel begraben – gefunden wird.
Ein stechender Schmerz fährt ihr in die Magengegend, als sie daran denkt, wie viel Familienleben ihrer Mutter entgeht. Wie sie alles an sich vorbeiziehen lässt. Und wie viel auch Gavin, Helenas verstorbener Mann und Vater ihrer beiden Töchter, verpasst hat. Es ärgert sie immer wieder, dass ihre Mutter ihr Leben wegwirft, während Gavin alles dafür gegeben hätte, um seines zu verlängern. Er hätte seine Enkelkinder geliebt, während Helenas eigene Mutter sich kaum an ihre Namen erinnern kann. Er wäre stolz gewesen auf Vanessa und ihre Arbeitsmoral. Wie sie diese traumatischen ersten Jahre überstanden hat, wie sie wieder Fuß gefasst hat und zu einem stabilen Halt in Helenas Leben geworden ist, während sie ihr eigenes Leben als alleinerziehende Mutter meistert. Helena sagt Vanessa viel zu selten, was für ein anständiger Mensch sie ist, wie stolz sie als ihre Mutter darauf ist, wie sie Widrigkeiten überwunden und sich darüber phoenixartig erhoben hat und nun wie ein Leuchtfeuer strahlt. Das Leben drängt sich zwischen die Wahrheit und jene so dringend nötigen, von Gefühl getragenen Augenblicke, in denen Menschen ihre innersten Gedanken aussprechen und wieder zueinanderfinden können. Die ausschlaggebenden Momente. Die Bruchstücke unserer Existenz, die uns menschlich machen. Vanessa ist nicht perfekt, aber wer ist das schon? Wir alle haben unzählige Fehler.
Helena zieht sich in Rekordzeit an und streift ihren Mantel über, noch während sie die Stufen hinuntereilt. Am Fuß der Treppe schlüpft sie in ein altes Paar Gartenschuhe und verlässt dann – immer noch schlaftrunken – das Haus, wobei sie die Tür so leise wie möglich abschließt, um die Nachbarn nicht zu wecken.
Frost glitzert auf der Windschutzscheibe ihres Autos, die feinen Kristalle funkeln im Licht der Straßenlaternen – ein stiller Hinweis darauf, dass der Winter nicht mehr fern ist. Sie reibt mit dem Mantelärmel darüber und sucht schnell die Straße nach Anzeichen von Eis ab, bevor sie sich auf den Fahrersitz setzt und rückwärts aus der Einfahrt fährt.
Die Fahrt zu Vanessas Haus dauert genau viereinhalb Minuten. Wenn die Sonne scheint, die Straßen hell und einladend sind und sie genug Zeit und Energie hat, geht sie zu Fuß, aber jetzt ist es stockdunkel und die Zeit drängt, also navigiert sie den Wagen durch die dunklen Gassen und bremst vor Vanessas Haus. Die Übergabe vollzieht sich rasch und nahtlos, ein eingespielter Ablauf. „Danke, Mama. Ich bleibe vermutlich nicht lange weg. Kommt ganz drauf an, was die Nacht bringt. Man kann ja leider nie voraussehen, was im Dienst so alles passiert.“
Ihre Tochter steht am Tor, hinter ihr lässt die Eingangstür einen schmalen Lichtstreifen auf den Weg fallen, dessen sanfter goldener Schein wie flüssiges Gold inmitten der Dunkelheit wirkt. Wie eine sanfte Brise, die Helenas Haut streichelt, beugt sich ihre Tochter vor, berührt kurz ihren Arm und verschwindet dann in der Nacht. Das leise Surren ihres Motors ist das einzige Zeichen dafür, dass sie eben noch hier war.
Drinnen legt Helena ihren Mantel ab, fröstelt im kalten Haus. Wie erwartet herrscht Stille: Die Kinder schlafen bereits, kein Geschrei, kein Geplapper – nur eine schwere, bedrückende Ruhe, die sich wie ein Leichentuch über sie legt. Um sieben Uhr morgens werden sie wieder auf den Beinen sein und herumrennen. Selbst wenn Vanessa vorher zurückkommt, wird Helena hier übernachten, die Kinder fertig machen und sie zur Schule bringen. Sie wird das Frühstück abräumen und ihre Tochter noch etwas schlafen lassen, bevor deren nächste Schicht beginnt. Sie und Vanessa hatten in der Vergangenheit ihre Differenzen, aber als alleinerziehende Mutter hat Helena genug Einfühlungsvermögen, Verständnis und Mitgefühl, um zu wissen, dass man bei der Führung eines Haushalts und der Erziehung von Kindern, sei es allein oder sogar als Paar, so viel Hilfe braucht, wie man bekommen kann. Außerdem ist Vanessa ihre Tochter, und wenn die eigene Mutter sie nicht unterstützt, wenn sie Hilfe braucht, wer dann? Überall im ganzen Land, auf der ganzen Welt gibt es familiäre Streitigkeiten, aber wenn alle an einem Strang ziehen, wird das Gewebe ihres Zusammenlebens gestärkt. So straff und zäh wie eine Darmsaite.
Vanessa war erst sieben Jahre alt, als Gavin starb, ihre Schwester Rachel gerade einmal vier. Sie weinten, sie trauerten. Helena schluchzte jeden Abend in ihr Kissen, wenn die Kinder im Bett lagen, und ging am nächsten Morgen mit einem Gefühl der Leere und Trauer zur Arbeit. Jeder Tag brachte ein neues Gefühl des Verlassenseins mit sich. Und doch ging das Leben weiter. Die Erde drehte sich weiter um ihre Achse, auch wenn ihre kleine Welt brutal auseinandergerissen worden war. Die Menschen mähten Rasen und putzten Fenster. Sie tranken Kaffee in schicken Cafés, gingen einkaufen, unterhielten sich, tanzten und lachten. Helena brauchte Wochen, vielleicht sogar Monate, um zu begreifen, dass ihre Trauer für andere unsichtbar war, dass die Menschen um sie herum ihren Gewichtsverlust und ihr ausgezehrtes, geisterhaftes Aussehen nicht wahrnahmen, weil sie ihr normales Leben weiterführten, mit eigenen Gewohnheiten, in ihren eigenen Familien und mit Jobs, die ihre Zeit ausfüllten. Jeden Tag durchflutete sie die komplette Gefühlsskala von Verwirrung bis zu völliger Wut darüber, dass die anderen nicht sehen konnten, wie sehr sie litt. Aber allmählich begann sie zu verstehen, dass Menschen den Schmerz anderer nicht fühlen können. Niemand kann nachvollziehen, was in jemandem vorgeht, der einen geliebten Menschen verloren hat. Trauer ist universell und einzigartig zugleich. Ein komplexes Gefühl, das ein breites Spektrum an Emotionen umfasst. Aber Helena versteht Vanessas Trauer und wenngleich sie einige Differenzen auszutragen hatten, tut sie für ihre Tochter alles in ihrer Macht Stehende. Den Streitigkeiten zum Trotz, die ihren Alltag bestimmten. Vanessa litt unter dem Verlust ihres Vaters. Rachel war jünger, ihre Emotionen noch nicht voll entwickelt, ihr Bewusstsein für die Ereignisse begrenzt. Aber Vanessa war in einem Alter, in dem sich Erlebnisse tief einprägen. Nacht für Nacht ihre älteste Tochter weinen zu hören, vermischt mit ihrem eigenen Schluchzen, das wird Helena niemals vergessen. Vanessa und Helena verbindet etwas Besonderes. Eine Verbindung, die im Laufe der Jahre etwas ausgefranst und manchmal sogar vollständig zerrissen schien. Aber immer ist da noch ein Faden, ein kleiner Faserstrang, der sie zusammenhält. Eine fundamentale, untrennbare Beziehung.
Als sie nach Noah und Mabel sieht, schlafen beide tief und fest, ihre kleinen Gesichter in die Kissen vergraben. Sie zieht sich aus und legt sich in das Einzelbett im Gästezimmer, wo eine Welle der Erschöpfung sie für die nächsten Stunden in einen finsteren Abgrund zieht.
Kapitel 2
Alex
Zwanzig Jahre zuvor
„Gib das zurück, Alex. Das gehört dir nicht.“ Saskias keifende Stimme, die normalerweise zart und kaum mehr als ein Flüstern war, dröhnte durch das Klassenzimmer, prallte von der hohen Decke ab und hallte von den weitläufigen Gipswänden des viktorianischen Gebäudes wider.
Blonde Locken umspielten ihr Gesicht, als sie sprach. Sie rutschte auf ihrem Stuhl hin und her und beugte sich vor, um nach dem silbernen Federmäppchen zu schnappen, das Alex fest umklammert hielt. Er verstärkte seinen Griff um seine Beute. Verzweifelt bemüht, etwas zu haben, das er sein Eigen nennen konnte.
Die Augen zusammengekniffen und den Blick gesenkt, spürte er, wie die Lehrerin ihn von der anderen Seite des Raumes beobachtete. Sein Rücken war steif, jeder Muskel seines Körpers angespannt und unnachgiebig. Er war bereit. Bereit für den Kampf, der in wenigen Sekunden losbrechen würde. Nachgeben – nicht mit ihm. Ganz egal, wer sein Gegner war – Junge, Mädchen, Lehrer oder Eltern; Alex wusste, dass in ihm eine Zeitbombe tickte, die bei der geringsten Provokation zu explodieren drohte. Er konnte nichts dagegen tun. Es steckte einfach in ihm drin. Manchmal stellte er sich seine Wut wie einen Drachen oder einen herumstreifenden Tiger vor. Die Lehrerin war zu weit weg, um eingreifen zu können. Sie konnte nicht überall sein. Und sie hatte einen anstrengenden Tag gehabt. Von Stunde zu Stunde nahm ihre Gereiztheit und damit ihre Erschöpfung zu und hinterließ winzige unsichtbare Spuren. Alex hatte einmal gehört, wie sie nach dem Unterricht im Flur zu einer anderen Lehrerin sagte, dass der Versuch, das schlechte Benehmen eines Kindes zu unterbinden, bevor es eskaliert, mit einer Tellerjonglage oder dem Spiel „Hau-den-Maulwurf“ zu vergleichen sei. Kaum habe man ein Problem gelöst, tauche schon das nächste auf. Das hatte ihn zum Lachen gebracht. Auf dem Heimweg hatte er darüber nachgedacht und sich Miss Lathaway als Zirkusartistin oder auf einem Jahrmarkt vorgestellt, wo sie immer wütender wurde, weil sie den Maulwurf mit einem Spielzeughammer nicht richtig treffen konnte.
Nachgiebig war sie jedoch nicht. Das wusste er. Er hatte sie in Aktion gesehen. Streitigkeiten auf dem Schulhof schlichtete sie souverän. Er hatte oft gesehen, wie sie Kinder trennte und ihnen mit allen möglichen Strafen drohte. Aber Vorfälle mit Alex waren immer anders. Weil er anders war. Er tat es nicht absichtlich, er war einfach so.
„Der bringt mich noch um den Verstand.“ Das hatte Miss Lathaway der Schulleiterin, Mrs Brown, letzte Woche mit einem Fingerzeig auf ihn geantwortet, als diese ihren Kopf zur Tür hereinsteckte, um zu fragen, was der Lärm zu bedeuten hätte.
Zuvor hatte Alex sich geweigert, seine Arbeit fertigzustellen, sie zerrissen und geschrien, dass das „alles hier eine verdammte Zeitverschwendung“ sei.
Er hätte das nicht tun sollen, das wusste er, aber manchmal spukten dunkle Gedanken in seinem Kopf herum. Bösartige Gedanken. Und ob es ihm gefiel oder nicht, er musste ihnen gehorchen.
Jetzt sah er, wie sie aufstand und sich durch den Raum schlängelte, wobei sie ihre Hüften hin und her schwang, um den Ecken der Schreibtische auszuweichen. Er konnte ihre Anwesenheit spüren, ohne auch nur aufzublicken, ihren Kaffeegeruch riechen, würzig und stark. Da war noch ein anderer Duft – Parfüm. Das mochte er an ihr, dass sie immer so gut roch, aber heute mischte sich da noch etwas hinein. Etwas Unangenehmes. Ein dunkler, feuchter Fleck erschien unter ihren Achseln, der neue, ungewöhnliche Geruch verstärkte sich schnell, als sie sich über ihn beugte und ihm ins Ohr zischte:
„Ich nehme das, danke. Ich gebe es seinem rechtmäßigen Besitzer zurück.“ Ihre sonst so kraftvolle Stimme klang plötzlich nicht mehr so überzeugt. Sie war müde. Er konnte es in ihren Augen sehen, an der Art, wie sie seufzte, wie sich ihre Brust hob und senkte, an ihrer schrillen Stimme, die eher nach einem aufgeregten Vogel klang als nach einer wütenden Lehrerin.
Alex hielt das Federmäppchen fest. Er wusste nicht einmal, warum er es besitzen wollte, aber er würde es nicht loslassen. Seine Finger krallten sich um das silberne, mit Glitzer bedeckte Gehäuse, und sein Widerstand, es wieder herzugeben, wurde immer stärker.
Er warf ihr einen seiner dunklen, leblosen Blicke zu. Die Blicke, die seine Mutter so wütend machten, dass sie ihn anbrüllte, er sei ein verdammtes Stück Dreck, ein Nichts.
„Alex hat dieses schöne Federmäppchen gefunden und passt freundlicherweise darauf auf.“ Miss Lathaways Stimme hallte durch den Raum, und ihr strenger Klang ließ alle verstummen. Ein Meer von weit aufgerissenen Kinderaugen beobachtete sie und lauschte gespannt darauf, was als Nächstes kommen würde. „Weiß irgendjemand, wem das gehört?“
Abrupt zog sie seinen Arm in die Höhe und schüttelte das Etui dabei so, dass der Inhalt raschelnd und klappernd die Stille im aufgeschreckten Klassenzimmer durchbrach.
Alex hörte seinen eigenen Atem in seinen Ohren rasseln. Er hatte keine Angst. Er fühlte nichts. Seine Finger immer noch fest um das Federmäppchen gekrallt, saß er einfach da und wartete auf das, was nun geschehen würde.
Da hob Oscar die Hand. Oscar mit seinen kostspielig aussehenden neuen Klamotten und Schuhen und den vielen Spielsachen, die er regelmäßig mit in die Schule brachte. Alex beobachtete, wie der Junge Miss Lathaway suchend ansah, um eine Antwort darauf zu finden, wie sein Eigentum in die Hände von Alex Broadwood gelangt war. Sein überraschter Gesichtsausdruck rang Alex ein Lächeln ab. Oscar hatte vielleicht jede Menge neue Sachen. Aber Cleverness? Die ließ sich nicht kaufen. Er hatte sich seine eigenen Methoden angeeignet, um sicherzustellen, dass er alles bekam, was er brauchte. Alex war auf eine Art clever, von der andere nur träumten.
„Das gehört mir, Miss Lathaway. Ich habe es heute Morgen verloren. Ich habe es vor der Pause in meine Tasche gesteckt, und als wir vom Schulhof hereinkamen, war es nicht mehr da.“
Er hätte es auch gar nicht finden können, weil Alex ihn beobachtet und sich das Mäppchen einfach genommen hatte. Manchmal nahm er Dinge, die er gar so toll fand, nur weil es sich gut anfühlte, etwas zu besitzen. Aber jetzt musste er eine Entscheidung treffen: entweder es hergeben oder darum kämpfen. Manchmal griff Miss Lathaway zu Verhandlungen, wenn Schüler sich weigerten, etwas zu tun – doch bei Alex zogen weder Bestechung noch Drohungen. Er tanzte nach seiner eigenen Pfeife, das hatte er schon immer getan, und jetzt musste er eine Entscheidung treffen – das Mäppchen behalten und riskieren, nach dem Unterricht zu einer „Unterredung“ mit seiner Lehrerin bleiben zu müssen, oder es hergeben und wie ein Schwächling dastehen, wie ein Kind, das Angst hatte, ausgeschimpft zu werden.
Etwas Positives hatte seine Aktion schon jetzt: Als er die junge Lehrerin beobachtete, konnte er sehen, wie Panik in ihr aufstieg, wie er, ein kleiner Junge, der noch in der Grundschule war, die Macht hatte, sie zu einer verängstigten jungen Frau zu machen. Ihre Halsschlagader pochte sichtbar, als ob ein kleines Tier in ihrer Kehle gefangen war und versuchte, sich herauszuwinden. Vielleicht war es doch keine so schlechte Idee, ihr das Federmäppchen zu geben. Er hatte bereits gewonnen, seine Lehrerin so sehr beunruhigt und verängstigt, dass sie Herzklopfen bekam. Jetzt verstand er, was es bedeutete, wenn jemand angab, das Herz schlüge ihm bis zum Hals. Und er hatte das geschafft. Er war eben doch kein Schwächling, er war mächtig und stark und besser als alle anderen in diesem Raum. Vor allem besser als seine Lehrerin, die sich als regelrechter Angsthase entpuppte. Eine Erwachsene, die sich Sorgen machte, was er als Nächstes tun würde. Das war echte Macht und Stärke. Er fühlte sich wie auf einem Berggipfel. Der Wind wehte ihm um die Ohren und die Sonne wärmte ihn. Er war klug und kontrolliert und allen anderen in der Klasse überlegen.
Alex wartete gespannt darauf, was sie als Nächstes tun würde. Wie sie reagieren und was sie sagen würde, um die ganze Situation zu entschärfen. Er hatte keine Angst. Wenn überhaupt, war er etwas aufgeregt. Dreißig Augenpaare waren auf ihn gerichtet, während sie warteten, dreißig halb geöffnete Münder, gespannt darauf, was sich gleich abspielen würde. Alex wusste, was alle von ihm dachten. Er war der Junge, der regelmäßig andere Kinder bestahl, ihre Habseligkeiten in seinen Taschen versteckte und sich nicht schämte, das Eigentum anderer Kinder mit nach Hause zu nehmen, wenn um drei Uhr die Schulglocke läutete. Es war einfach etwas, das er tat, etwas, das er weder verstand noch kontrollieren konnte. Es war einfach so.
Die Luft im Raum war zum Schneiden, man hörte nichts als das Ticken der Wanduhr. Abgesehen von dem Geräusch, als Miss Lathaway hart schluckte. Es war, als würde sie versuchen, das kleine Wesen hinunterzuschlucken, das so heftig in ihrem Hals strampelte, indem sie es zwischen ihren Fingern festhielt, drückte und das weiche Fleisch an dieser Stelle bearbeitete, in der Hoffnung, es zu zerquetschen und dadurch loszuwerden.
„Danke, dass du dich darum gekümmert hast, Alex.“ Er spürte die Anspannung in ihrem Griff, als sie versuchte, es ihm aus den Händen zu reißen. Das würde ihr nicht gelingen. Das würde er nicht zulassen. Sein Griff war fester als ihrer, seine heißen kleinen Hände hielten das Plastik fest, drückten es flach und taten alles, um die Kontrolle über die Situation zu behalten.
Dann, plötzlich – als hätte man ihm diesen einen Moment zum Geschenk gemacht – lockerte sich ihr Griff. Ob das ihre Absicht war oder unbewusst geschah, wusste er nicht. Es führte jedenfalls dazu, dass er langsam und ruhig aufstand. Die Stille lag bleischwer über dem Raum. Er würde das Federmäppchen zurückgeben, aber nur, weil er es wollte, nicht weil sie ihn dazu gebracht hatte. Seine Schuhe quietschten auf dem Vinylboden, als er zu Oscar hinüberging und den kleinen glitzernden Gegenstand auf sein Schreibpult pfefferte. Mit einem Klatschen landete das Mäppchen auf der beschichteten Oberfläche, und eine Reihe kleiner Buntstifte fiel heraus und kullerte auf den Boden. Alex sah hämisch zu, wie Oscar unter dem Tisch herumkrabbelte und versuchte, seine Kostbarkeiten zusammenzuklauben. Was für ein Spinner. Das waren nur Stifte. Nichts Besonderes. Alex hatte sie sowieso nie wirklich haben wollen. Es ging ihm nie um die Gegenstände, wenn er etwas nahm. Lediglich um Kontrolle. Außerdem war das hier für ihn längst nicht vorbei. Er hatte noch ein Ass im Ärmel – etwas Krasses, Aufregendes. Er würde Oscar schon zeigen, dass Alex Broadwood immer als Sieger vom Platz ging. Alex ließ sich nie unterkriegen. Niemals.
***
Die nächste Stunde verging ohne Zwischenfälle, und als die letzte Klingel des Tages schrillte, ging ein kollektiver Seufzer der Erleichterung durch die Klasse. Sie alle fürchteten und hassten ihn. Meistens fühlte sich das ganz gut an, aber wenn er ganz ehrlich war, machte es ihn manchmal auch ziemlich traurig. Es stach wie Nadeln, wenn sie sich wegdrehten, kaum dass er näher kam. Er hatte beobachtet, wie sie alle zusammen spielten, sich an den Armen hielten und lachten. Er wollte auch so sein, aber er wusste nicht, wie er das erreichen konnte. Die in ihm brodelnde Wut und sein Neid ließen ihn immer Dinge tun, die alle anderen abschreckten.
Mit dem Läuten der Glocke lockerte sich auch die starre Haltung seiner Lehrerin. Er hatte beobachtet, wie sie den Rest des Nachmittags dagesessen hatte, mit gerade aufgerichtetem Körper in alle Richtungen blickend, um einen weiteren Zwischenfall zu vermeiden. Es war Freitag. Freitags waren alle besser gelaunt. Alle außer Alex. Freitag, das bedeutete für Alex zwei ganze Tage, in denen er mit seiner Mutter zu Hause allein war. Zwei Tage voller Dunkelheit und unvorhersehbarem Verhalten. Alex ballte die Fäuste so fest, dass seine Fingernägel schmerzhaft in die Haut schnitten. Sein Bauch war ein einziger harter Knoten, als hätte er einen schweren Stein hinuntergeschluckt. Er spürte die Hitze in seiner Brust, den Druck, der nur darauf wartete, entweichen zu können. Die anderen Schüler tummelten sich herum, sammelten Mäntel und Taschen ein und strahlten voller kindlicher Vorfreude über das ganze Gesicht. Er hasste sie alle. Er hasste ihr ordentliches, immer gleich verlaufendes, lächerliches Leben. Und besonders hasste er Oscar mit seinem blöden glänzenden Federmäppchen und der Art, wie er sich anbiederte, bedacht darauf, nie etwas falsch zu machen, und Miss Lathaway anlächelte, als wären sie beste Freunde.
Er würde seinen Plan in die Tat umsetzen, wenn alle anderen aus der Tür strömten und mit ihren Augen die Menge der wartenden Eltern abscannten, während er allein nach Hause gehen musste. Bei dem Gedanken daran, was ihn erwarten würde, wenn er durch die Haustür trat, zog sich sein Bauch zusammen, als hätte er einen Stein verschluckt. Er machte nicht einmal den Versuch, das, was als Nächstes geschah, wie einen Unfall aussehen zu lassen oder als ungeschickte Tollpatschigkeit, als wäre er in seiner Aufregung über die eigenen Füße gestolpert. Nein – es sollte wie ein Stoß wirken. Ein kräftiger. Alex’ Hand, seine Schulter und der gesamte Oberkörper krachten gegen den nichts ahnenden Oscar, der unsanft auf dem Beton landete. Ein flüchtiger Blick auf die zusammengekrümmte Gestalt reichte Alex, um zu wissen, dass er ganze Arbeit geleistet hatte. Oscars Hände waren aufgeschürft und voller Staub, seine Knie aufgeschlagen. Mit glasigen Augen, in denen Tränen und Verwirrung zu erkennen waren, schaute er zu Alex hoch. Blutspuren zeichneten sich durch den zerrissenen Stoff seiner Hose ab. Alex lächelte in sich hinein. Erledigt.
Alex sog den Anblick in sich auf. Endlich. Endlich war da einer, der kleiner war als er. Schwächer wirkte. Endlich hatte er etwas im Griff. Ein Zucken huschte über seine Lippen – ein leises, dunkles Lächeln der Genugtuung.
Hinter ihm versammelte sich eine Menschenmenge, die dem verletzten Jungen tröstende Worte zuraunte. In ihre Rufe, er solle Oscar in Ruhe lassen, mischte sich von der Schultür her jetzt auch Miss Lathaways Befehl, sofort zurückzukommen.
Zu spät. Er war bereits auf halbem Weg durch das Tor, schlängelte sich durch die Menge der wartenden Eltern und verschmolz mit ihnen, bevor er endgültig aus dem Blickfeld verschwand. Am Montag würde er zweifellos für seine Sünden bezahlen müssen, aber bis Montag war noch viel Zeit. Zu Hause warteten dringendere Probleme auf ihn: eine betrunkene Mutter, ein verwahrlostes Haus, leere Schränke. Dagegen sind ein kleiner Schubs und ein weinender Oscar völlig unbedeutend. Keiner von seinen Mitschülern kannte ihn wirklich. Und sie hatten auch keine Ahnung von seinen Sehnsüchten und den boshaften, grausamen Gedanken, die in seinem Kopf herumschwirrten.
In sich gekehrt lächelte Alex, als er in einen abgelegenen Schleichweg einbog, eingesäumt von einem Gewirr aus Brombeersträuchern und überwucherten Hecken. Hier störte ihn keiner mehr. Endlich allein. Nur er und seine Gedanken gegen den Rest der Welt. Erleichtert, all das hinter sich gelassen zu haben, trat Alex aus dem matschigen Pfad heraus und bog in die schmale Gasse ein, die zu seinem Haus führte. Vor dem Tor blieb er stehen, holte tief Luft und legte die Hand an den Griff – bereit, das eine Problem gegen das nächste zu tauschen.
Kapitel 3
Helena
„Iss das jetzt, Noah. Wenn du nichts isst, wird Oma richtig sauer. Nur einen kleinen Bissen, das ist doch echt nicht schlimm.“ Mabels strenger, belehrender Tonfall trägt nicht gerade dazu bei, die angespannte Stimmung zu entschärfen, und ihre aufmunternden Worte verfehlen ihre Wirkung, als Noah den Kopf schüttelt und mit seiner kleinen Faust auf den Tisch schlägt.
Mit einem Wisch bugsieren seine kleinen, kurzen Kinderfinger die vor ihm liegende Scheibe Toast auf den Boden, wo sie mit der Butterseite nach unten landet und ein schmatzend-feuchtes Geräusch von sich gibt. Helena atmet schwer, während sie Luft holt. Ihr Lächeln verkommt zu einer Grimasse. Es ist nur Toast. Den Boden kann sie gleich putzen, die Butter abwischen. Es ist nur ein unbedeutender Zwischenfall, kein Grund, wütend zu werden oder die Stimme zu erheben. Er ist ein Kind, sie ist seine Großmutter; sie darf bestimmte Dinge durchgehen lassen. Nicht wie damals, als ihre eigenen Kinder klein waren, sie noch keine Erfahrung hatte und immer in Eile war. Stets bemüht, alles richtig zu machen und dafür zu sorgen, dass sie nicht hungrig zur Schule gingen, was dazu führte, dass sie sich ständig überfordert fühlte. Eine alleinerziehende Mutter am Rande des Abgrunds.
„Noah, du bekommst Bauchschmerzen und wirst in der Schule Hunger haben, wenn du jetzt nichts isst.“ Einfühlsam und mit sanfter Stimme findet sie die richtigen Worte und tut, was sie kann, um ihn zu ermutigen, dabei weiß sie genau, dass ihm einer der Lehrer einen Müsliriegel oder ein Stück Obst geben wird, sollte er in der Schule Anzeichen von Hunger zeigen. So verläuft ihre morgendliche Routine üblicherweise. Noah ist klug genug, um ihre Bitten und Schmeicheleien zu durchschauen und ihnen nicht nachzugeben, denn er hat schon Bilder von seinem Ersatzfrühstück vor Augen. Die Vorstellung, in der Schule bevorzugt behandelt zu werden, ist ein verlockender Gedanke in seinem kleinen, sich gerade erst entwickelnden Gehirn. Er liebt seine Oma, aber diese nächtlichen Anrufe haben Auswirkungen auf ihn. Auf sie alle. Er vermisst seine Mama und ist oft verzweifelt, wenn er aufwacht und sie mal wieder nicht da ist.
„Also gut, los geht's. Holt eure Taschen und Jacken und steigt ins Auto, sonst kommen wir zu spät.“
„Ist Mama im Bett?“ Mabels Stimme durchdringt den Aufbruchslärm und den allgemeinen Trubel.
„Ja, deshalb müssen wir leise sein. Sie wurde gestern Abend sehr spät zur Arbeit gerufen und ist sehr müde.“ Mit dem Zeigefinger auf ihren Lippen macht sie eine Geste des Schweigens, wohl wissend, dass das kaum etwas an der Lautstärke ändern wird. Es sind Kinder. Lärm zu machen gehört zu ihrem Naturell.
„Immer ist sie bei der Arbeit. Und danach ist sie immer müde.“ Noah runzelt die Stirn, schiebt schmollend die Unterlippe vor und senkt protestierend die Augenlider. Unter seinen dunklen Wimpern huscht ein nervöses Blinzeln über die schmalen Augen, während er den Kopf abwendet und Helena nur mit einem knappen Seitenblick bedenkt – ein Blick voller Frustration, der die unterschwellige Wut nur mühsam verbirgt.
„Und sie ist immer wütend.“ Mabels singende Stimme steht im krassen Kontrast zu der zischenden Erklärung ihres Bruders. Ein kindlicher Ton, leicht und luftig, als wären ihre Worte nichts weiter als eine Feststellung, als wäre die Wut ihrer Mutter etwas, an das sie sich leichthin gewöhnt hat.
Helena zieht die Augenbrauen zusammen, während ihr ein unerklärlicher Schauer über den Rücken läuft. Sicher, Vanessa hatte immer schon ein temperamentvolles Wesen. Aber Helena hatte gehofft, dass sich das mit den Jahren gelegt hätte, dass die Mutterschaft die scharfen Kanten ihrer Tochter abrunden, sie nachgiebiger und einfühlsamer machen würde. Nun entfacht Mabels Bemerkung in ihrem Inneren eine heiße und beunruhigende Glut. Erinnerungen an Vanessas Jugend. Streit. Hässliche Worte, laut ausgesprochen. Beleidigungen, die sie jedem entgegenschleuderte, der ihr in einem ihrer Wutanfälle in die Quere kam.
Sie zuckt bei dem Gedanken daran zusammen, streckt die Arme aus, um jedes ihrer Enkelkinder kurz darin einzuhüllen, ignoriert beide Aussagen und gibt sich alle Mühe, sie zur Eile zu drängen. „Kommt schon“, verkündet sie fröhlich, „der Letzte, der aus dem Haus geht, ist ein Stinker.“
Freudenschreie hallen um sie herum. Auf dem Holzboden lassen sich die trippelnden Schritte der Kinder vernehmen, während Mabel und Noah auf den Weg laufen, wo sie kurz schweigend innehalten und zu Vanessas Schlafzimmerfenster hinaufschauen. Helena wirft keinen Blick auf die fest zugezogenen Vorhänge. Erst als sie im Auto sitzen und schon mehr als die Hälfte der Strecke zur Schule zurückgelegt haben, geht sie auf ihre Bedenken ein.
„Eure Mama arbeitet sehr hart, wisst ihr. Sie ist die Leiterin eines stark ausgelasteten Pflegeheims, in dem viele alte und gebrechliche Menschen leben.“
„Stellvertretende Leiterin“, unterbricht Mabel sie, und ihre Richtigstellung klingt scharf und unversöhnlich. Sie vermittelt eine Verärgerung, die ihrem Alter so gar nicht entspricht.
Helena unterdrückt den Seufzer, der ihr in der Kehle steckt. Jetzt ist nicht die Zeit für Schelte oder Vorträge über Vergebung und Toleranz und darüber, dass Erwachsene sich abrackern, weil sie Hypotheken und Rechnungen bezahlen müssen. Sie weigert sich, zu glauben, dass Vanessa gemein zu ihren Kindern ist. Ein temperamentvolles Wesen zu haben ist eine Sache, absichtlich grausam zu sein eine ganz andere. Stattdessen atmet sie tief durch, umklammert das Lenkrad und versucht, ihre letzte Energie zu sparen, bevor sie ihr wie Wasser aus einem Sieb entweicht. Heute wird ein langer Tag. Sie hatte definitiv zu wenig Schlaf für die vielen vor ihr liegenden Aufgaben.
„Okay, stellvertretende Leiterin, aber es ist trotzdem ein sehr anspruchsvoller Job. Vielleicht umarmt ihr sie heute Abend einfach mal ganz doll, wenn sie euch von Josie abholt? Vielleicht könntet ihr eure Zimmer auch selbst aufräumen und sauber halten? Dann muss sie das nicht auch noch machen und ist vielleicht nicht mehr so müde und schlecht gelaunt. Nur so eine Idee.“
Ein kurzer Blick in den Rückspiegel trifft auf zwei traurige Augenpaare. Helena weiß tief in ihrem Inneren, dass sie das Temperament ihrer Tochter gerade mal wieder herunterspielt, aber sie muss tun, was sie kann, um die Stimmung aufzulockern und Mabel und Noah zu bestätigen, dass sie bedingungslos geliebt werden. Um die Atmosphäre aufzuhellen, schaltet Helena das Autoradio ein und alle singen zu den sanften Klängen von George Ezra mit. Als sie vor dem Schultor ankommen, sind ihre vorherigen Bemerkungen längst vergessen.
„Josie holt euch heute von der Schule ab, und dann kommt Mama dorthin und nimmt euch mit nach Hause.“
„Und du, Oma? Wo bist du?“
Schon wieder dieser stille Vorwurf. Helena muss arbeiten – sie will arbeiten. Sie kann nicht überall sein.
Und Josie ist eine Kinderbetreuerin, die praktisch zur Familie gehört. Eine geduldige, zuverlässige Frau, die obendrein noch angemessene Preise verlangt.
„Ich habe einen Job, meine Lieben, das wisst ihr doch. Ich fahre direkt dorthin, nachdem ich euch zur Schule gebracht habe.“
Es ist nur eine Teilzeitstelle in der Stadtbibliothek, aber ihr Job hilft ihr, nicht den Verstand zu verlieren. Als sie davor zu viele Stunden zu Hause verbracht hatte, führte das nur dazu, dass unzählige düstere Gedanken in ihrem unbeschäftigten Kopf herumschwirrten. Die Kinder zur Schule zu fahren und sonst nichts zu tun, vernebelte ihren Verstand, und so bewarb sie sich spontan um die Stelle als Assistentin in der Stadtbibliothek und bekam damit den perfekten Job: nur ein paar Stunden pro Woche und wenig Verantwortung. Sie hat weder die Energie noch die Lust, irgendetwas zu tun, das sie auch nur im Entferntesten anstrengt. Dieser Job hingegen war bestens geeignet, sie passend zu beschäftigen, um die Dunkelheit fernzuhalten. Die Führungsaufgaben in einem großen, geschäftigen Büro, die sie einst so geliebt hatte, würden sie völlig überfordern. Sie war jetzt ein anderer Mensch in anderen Lebensumständen.
„Kommt schon, Zeit, sich auf den Weg zu machen.“
Nach einer Reihe von Küssen, begleitet von Gemurmel und Fragen über Schultaschen und Sportzeug, verabschieden sie sich voneinander. Helena sieht ihren Enkelkindern nach, wie sie durch das Tor hüpfen, und beim Anblick ihrer sich entfernenden Gestalten überkommt sie eine leichte Welle der Unruhe. Sie zittert, schüttelt dieses unerwünschte beklemmende Gefühl ab und wirft ihnen einen Handkuss zu. Noahs Augen funkeln, als er ihn in seiner winzigen Faust auffängt. Mit seinen pummeligen, noch etwas ungeschickten Fingern steckt er den Kuss in seine Brusttasche. Es fühlt sich an, als würde eine ganze Wildpferdeherde über ihre Brust galoppieren, als die beiden kleinen Gestalten um die Ecke biegen und aus ihrem Blickfeld verschwinden. Sie sind in Sicherheit, es geht ihnen gut. Ihrer Mutter geht es gut. Helena geht es gut. Es ging ihr noch nie besser. Warum also, fragt sie sich traurig, fühlt sie sich so unwohl, als stünde etwas Beängstigendes bevor? Es ist keine Angst im eigentlichen Sinne und schon gar nicht die Trauer und Verzweiflung, die sie nach Gavins Tod empfunden hat, aber da ist etwas. Wie eine Ölschicht, die langsam unter ihre Haut sickert, in ihre Adern fließt und sie von innen vergiftet. Es fühlt sich an, als hätten sich Klauen mit Widerhaken in ihrem Kopf verankert, unbeweglich, wie ein ungebetener Gast, der nicht gehen will. Ihre Gedanken wandern zu Rachel.
Rachel.
Ihre andere Tochter. Ihr jüngstes Kind. Alles dreht sich immer um Rachel. Egal, wie sehr Helena versucht, ihr eigenes Leben zu leben, sie ist immer präsent. Rachel ist der dunkle Schleier in Helenas Gedanken. Sie ist das Damoklesschwert, was Tag für Tag über Helena schwebt, ihre Probleme nisten sich in Helenas Geist ein und vernebeln ihn. Rachel geht es alles andere als gut, doch nichts, was Helena sagt oder tut, kann an ihrer Situation auch nur das Geringste ändern. Sie hat es versucht. Gott weiß, dass sie es versucht hat. Die Sorge um Rachel und die Last, die sie sich dadurch aufbürdet, sind dauerhafte Begleiter geworden. Sie nagen unaufhörlich an ihrem Gehirn, bis ihr ganzer Körper von der Anstrengung und dem ständigen Unbehagen schmerzt. Ihr eigenes Leben zu leben, eine gute Mutter und eine liebevolle Großmutter zu sein, während Rachel da draußen ist, überzeugt davon, ungeliebt und vernachlässigt zu sein und sich dabei selbst ruinierend, ist ein schwieriger Balanceakt.
Helena holt zitternd Luft und verdrängt diese letzten Gedanken. Rachel ist alles andere als ungeliebt. Sie wird genauso geliebt wie jedes andere Mitglied der Familie, und doch sind ihre Lebenswelten so unterschiedlich, dass Helena die Denkweise und den Lebensstil ihrer Tochter nicht nachvollziehen kann. Sie fragt sich oft, wie und wann der Abstieg begonnen hat. Jetzt aber schüttelt sie den Kopf. Das ist eine Frage für ein anderes Mal, das ganze Konstrukt ist zu komplex, um es nebenbei während der Autofahrt zu analysieren.
Der Verkehr ist ungewöhnlich dicht. Heulende Sirenen und blinkende Blaulichter begleiten sie, während sie sich in Richtung Stadt schlängelt. Die Fahrt verläuft mehr als die Hälfte der Zeit in einem ermüdenden Stop-and-go-Modus. Als sie endlich bei der Bibliothek ankommt und durch die Tür hastet – einem taumelnden Bündel aus Armen, Beinen und Taschen gleich – hat sich das unheilvolle Gefühl längst verflüchtigt. Die bleierne Last in ihrem Inneren ist ausgelöscht, verdrängt vom Stress, sich zwischen all den Einsatzfahrzeugen hindurchkämpfen zu müssen, um dann einen Parkplatz zu suchen, der nicht am anderen Ende der Stadt liegt und keinen zwanzigminütigen Fußmarsch zur Arbeit erfordert.
Das Betreten der Bibliothek hellt ihre Stimmung gleich merklich auf. Einmal beschrieb sie es einer Freundin als einen Moment spiritueller Reinigung, in dem sich alle Sorgen, die sie vor dem Öffnen der Tür noch hatte, in Luft auflösten und verschwanden. Hierherzukommen fühlt sich nicht wie Arbeit an. Sie kann dieses Gefühl nicht wirklich in Worte fassen, wagt es auch nicht, weil das dazu führen könnte, dass es einfach verschwindet, und das darf Helena nicht riskieren, denn ohne diesen Ort kann sie nicht überleben. Ihre Enkelkinder sind ihr Ein und Alles. Aber das hier ist ihr persönlicher Zufluchtsort. Und sie weiß, dass in ihrem Herzen Platz für beides sein muss.
Barbara scrollt gerade durch ihr Handy, als Helena den Personalraum betritt und ihre Tasche und ihren Mantel aufhängt.
„Guten Morgen, Barb.“
„Grundgütiger, ich weiß nicht, was an diesem Morgen gut sein soll.“
Helena und Barbara sind fast gleich alt und haben einige gemeinsame Interessen. Oft schwelgen sie in Erinnerungen an ihre Kindheit und Schulzeit. Auch ihre Kinder sind etwa gleich alt, Barbaras Töchter sind nur ein Jahr jünger als Helenas. Barbara gehört zu Helenas engsten Freundinnen, sie sehen sich auch regelmäßig außerhalb der Arbeit. Allerdings hat Barbara die unangenehme Angewohnheit, selbst das Alltäglichste zu dramatisieren – was Helena manchmal schier zur Verzweiflung bringt. Nach dieser unruhigen Nacht ist Helena sich nicht sicher, ob sie die Kraft hat, Barbaras neuesten melodramatischen Bericht zu ertragen – der am Ende doch nur auf einer Kleinigkeit fußt, die Barbara zu einem halben Seifenoper-Drama aufgebauscht hat. Die eigentliche Wahrheit geht regelmäßig in den sorgfältig konstruierten Erfindungen und Ausschmückungen unter.
„Na ja, wir beide sind hier, das Wetter ist gut, es ist windstill und es scheint so, als würde die Sonne sogar gleich herauskommen. Ach, und ich habe einen Parkplatz gefunden, ohne zweimal durch die halbe Stadt fahren zu müssen, also ist alles gut.“ Ihr Lächeln wirkt gezwungen. Kaum hat sie es ausgesprochen, plagt sie auch schon ihr schlechtes Gewissen, denn ihr verzweifelter Versuch, fröhlich zu wirken, ist eigentlich eine Beleidigung für Barbaras Intelligenz. Es sind die nächtlichen Notrufe. Und Rachel. Die Gedanken an ihre jüngste Tochter rauben ihr regelmäßig Energie und Geduld, weil sich immer alles nur um Rachel dreht.
Barbara blickt zu ihr hoch, die Augen von Traurigkeit überschattet. „Sie haben eine Leiche gefunden, Helena. Noch eine.“
Eiseskälte durchflutet sie, gefriert auf der Haut und entzieht ihren Beinen jeglichen Halt. Ein Schmerz durchzuckt ihren Unterleib, als sie sich auf den Stuhl neben Barbara sinken lässt, die mit einem gleichermaßen verzweifelten wie hilflosen Gesichtsausdruck ihren Blick nun erneut vom Bildschirm löst.
„Sie wurde in der Nähe der Stadt gefunden. Nahe dem Supermarkt. Weitere Details wurden noch nicht bekannt gegeben.“
„Sie?“, fragt Helena mit leiser, rauer Stimme. „Die wissen also, dass es eine Frau ist?“
„Noch nicht, aber der Bericht deutet darauf hin, er wurde im gleichen Stil verfasst wie der letzte. Sie haben sogar den Ausdruck ‚eine weitere Leiche‘ verwendet, was ja wohl darauf schließen lässt, dass die Fälle miteinander in Verbindung stehen.“
Helena verspürt ein flaues Gefühl in der Magengrube. Dies ist bereits die zweite Leiche, die innerhalb weniger Monate gefunden wurde. Die Fülle an Einsatzfahrzeugen auf dem Weg in die Stadt, all die blauen Lichter und heulenden Sirenen – und irgendwo ganz in der Nähe liegt mit erkalteter Haut und starren Gliedern womöglich ein Mitglied irgendeiner Familie. Sie fragt sich, wie lange die Leiche schon dort gelegen und darauf gewartet hat, gefunden zu werden.
Rasiermesserscharfer Draht schneidet ihr in die Kehle, ihre Worte klingen gezwungen und erstickt. Sie versucht, positiv zu bleiben, alle unangenehmen Gedanken zu verdrängen, obwohl eine Stimme in ihrem Kopf sie anschreit, dass sie der Realität in ihrer Heimatstadt endlich ins Auge sehen soll. „Vielleicht ist es doch nicht dasselbe wie letztes Mal, Barb. Die Rückseite des Supermarkts ist ein Zufluchtsort für Drogenabhängige. Vielleicht …“
„Und dann ist da ja auch noch die Frau, über die wir letzte Woche sprachen. Die wird immer noch vermisst. Die suchen sie jetzt schon seit Monaten.“
Natürlich erinnert Helena sich. Wie könnte sie das vergessen? Nicht nur das Gespräch mit Barbara hatte ein dumpfes Gefühl in ihrer Magengrube hinterlassen. Das Foto der Frau, die sie jung und strahlend schön von allen Nachrichtenseiten anlächelte, hatte sich in ihr Gedächtnis eingebrannt. Ihr Name ist Maisie Anderson, sie ist Gesundheitsassistentin im örtlichen Krankenhaus und arbeitete früher einmal in dem Pflegeheim, in dem auch Vanessa tätig ist. Der Name „Oak Meadow Care Home“ war Helena sofort ins Auge gesprungen, als sie zum ersten Mal von ihrem Verschwinden gelesen hatte, und jeder Buchstabe, jede Silbe hatte ihr vor Angst den Magen umgedreht. Sie hatte mit Vanessa darüber gesprochen, doch ihre Tochter behauptete, sie könne sich kaum an Maisie erinnern.
„Sie war nur etwa einen Monat dort. Wir beschäftigen manchmal Mitarbeiter von Agenturen. Sie hat wahrscheinlich für eine davon gearbeitet.“
Das war alles. Eine junge Frau, vermisst und vergessen. Abgetan und weggeworfen, als hätte sie nie existiert.
Ein kalter Lufthauch streicht über Helenas Gesicht und legt sich um ihren Hals. Fröstelnd schlingt sie die Arme um sich und senkt das Kinn auf die Brust, um sich zu wärmen und Trost zu suchen. Solche Schreckensmeldungen gehen ihr ohnehin nahe – jeder Tod, jedes Verschwinden trifft sie. Doch diesmal spielt noch etwas anderes mit: Die toten Frauen werden nur wenige Kilometer von ihrem Arbeitsplatz gefunden, ganz in der Nähe ihres Zuhauses. Sie weiß, dass es egoistisch ist, solche Gräueltaten nur durch die Brille der eigenen Familie zu betrachten – doch tut das nicht fast jeder? Am Ende rückt der Instinkt, die Seinen zu schützen, immer in den Vordergrund und verdrängt jedes gesellschaftliche Pflichtgefühl. Sie denkt an ihre Tochter Rachel. An ihre Nähe zu dem Ort, an dem die Leichen gefunden wurden. An ihre Schutzlosigkeit. Und natürlich bewegt sie auch das Schicksal dieser armen Frauen. Was müssen sie wohl durchgemacht haben? Wie kommen ihre Eltern und Familien wohl damit zurecht? Und dann überlegt sie, wie sie selbst damit zurechtkommen würde, wenn einer ihrer Töchter etwas zustoßen würde. Vor allem Rachel, die sich vermutlich unwissentlich ganz in der Nähe der Leichenfunde aufhält. Sie bereitet ihr die größten Sorgen. Etwas an Rachels Lebensstil passt nicht ganz zusammen, ergibt für Helena keinen Sinn, so als würde ihr ein wichtiges Puzzleteil fehlen. Helena kann immer noch nicht begreifen, wie ihre jüngste Tochter als obdachlose Süchtige auf der Straße gelandet ist. Scheinbar hat sie den Zeitpunkt verpasst, als alles aus dem Ruder lief. Ein scharfer Messerstich durchzuckt ihren Bauch. Sie verdrängt diesen Gedanken und beißt sich auf die Innenseite ihrer Wange, als wolle sie sich selbst dafür bestrafen, dass sie eine schlechte Mutter ist. Helena schmeckt Blut, zuckt kurz zusammen und fährt sich dann durch ihr dunkles, lockiges Haar, wobei sie an den kleinen Strähnen hängen bleibt, die sich ineinander verhakt haben.
„Nun, wir können nur abwarten, bis sie die Todesursache herausfinden. Es ist vielleicht nicht das, was wir denken.“
„Oder gerade das.“
Ihre Befürchtung bleibt unausgesprochen. Wenn das zweite Opfer ebenfalls eine Frau ist und auf die gleiche Weise brutal ermordet wurde, muss man von der Tat eines Serienmörders ausgehen.
Natürlich weiß Helena, dass ihre Freundin recht hat, doch das Bedürfnis nach Drama auf Kosten anderer, noch ehe überhaupt die Fakten bekannt sind, stößt ihr bitter auf. Eigentlich würde sie den Raum gerne verlassen, entgegnet aber lediglich: „Nun ja, als Mutter und Großmutter würde ich lieber auf die Experten warten, um herauszufinden, was passiert ist, statt mich Spekulationen hinzugeben.“ Und dann ändert sie abrupt das Thema und erkundigt sich mit beinahe enthusiastisch klingender Stimme: „Haben wir heute nicht die örtliche Grundschule zu Besuch?“ Wenn Barbara diesen unterschwelligen Versuch ihrer Freundin, das Gespräch zu beenden bemerkt hat, so lässt sie sich davon nichts anmerken, lächelt breit und schlägt sich mit den Händen auf die Knie, bevor sie sich von ihrem Stuhl erhebt. Barbara, die wie immer eine frisch gebügelte schwarze Hose und eine weiße Bluse trägt, glättet ihre Kleidung und streicht sich eine blonde Strähne hinter das Ohr.
„Ja, du hast recht. Wie konnte ich das vergessen? Hoffentlich ist es nicht wieder der Junge aus der vierten Klasse. Der von letzter Woche, der fünf Minuten lang mit dem Finger in seinem rechten Nasenloch gebohrt hat, bevor er sich ein Buch ausgesucht und es mir mit einer theatralischen Geste gereicht hat“, sagt sie tief seufzend und ihr schwach nach Zahnpasta und Kaffee riechender Atem weht Helena entgegen. Barbara lächelt sie breit an, legt eine Hand auf Helenas Schulter, und plötzlich ist alles wieder wie zuvor.
„Komm schon, Kollegin.“ Barbaras Stimme ist voller Einfühlungsvermögen und Humor. „Versuchen wir, alles zu vergessen, was in der großen weiten Welt passiert, und konzentrieren wir uns auf das, was hier bei uns vor sich geht. Ich schließe die Eingangstür auf, wenn du die Computer hochfährst. Her mit den rotznäsigen, klebrigen Kindern.“
Helena spürt die Wärme in dem Lächeln ihrer Freundin, die Verbindlichkeit ihrer Berührung tut ihr gut, und sie lacht zustimmend, in der Hoffnung, dass Barbara recht hat und alles gut werden wird.
Kapitel 4
Helena
Selbst wenn Schulbesuche nicht so verlaufen wie geplant, selbst wenn Kinder Seiten aus Büchern herausreißen und schmutzige Fingerabdrücke auf Regalen und Tischen hinterlassen, selbst wenn ihre Lehrerin die ganze Zeit in der Ecke sitzt und auf ihr Handy starrt, während Helena den Schülern hilft, ihre Bücher auszuwählen – sie liebt diese Tage einfach. Den Lärm, die Hektik. Die Beschwerden und das Gejammer, das schallende Gelächter und das gelegentliche leise Aufblitzen eines Kinderlächelns. Das alles gehört zum echten Leben dazu. Das ist kein gewöhnlicher Bürojob, bei dem man in einer kalten, klinischen Umgebung Zahlen in einen Computer tippt oder E-Mails von Menschen verschickt und empfängt, die man nie getroffen hat und wahrscheinlich auch nie treffen wird. Aber hier begleitet sie die nächste Generation auf ihrem Weg durch das Leben, hat die Möglichkeit, sie zu formen und in die richtige Richtung zu lenken. Bücher sind ein wunderbares Mittel zur Bildung und Aufklärung. So kitschig und klischeehaft das auch klingen mag, sie glaubt fest daran.
„Angus, vergiss deine Tasche nicht!“ Die Berührung der weichen Haut des Jungen auf ihrer, als er die ihm entgegengestreckte Schultasche aus ihrer Hand entgegennimmt, genügt, und schon bildet sich ein Kloß in Helenas Kehle.
Sie schluckt heftig und schimpft leise mit sich selbst, weil sie sich von ihren Gefühlen überwältigen lässt. Sie ist einfach nur müde, das ist alles. Müde und überarbeitet. Und darüber hinaus beschäftigen sie die Gedanken an Rachel und an die Entdeckung dieses weiteren Opfers und schwächen ihre sonst so eiserne Entschlossenheit, sich nicht von den Problemen der Welt unterkriegen zu lassen. Na ja, und dann ist da noch ihre Mutter. Ein Besuch ist längst überfällig. Der Gedanke daran tickt unablässig in ihrem Kopf und zählt die Zeit herunter, bis sie wieder gezwungen ist, einen Fuß in das stinkende Loch zu setzen, in dem ihre Mutter haust. Angus ist offensichtlich ein geliebtes Kind – sauber, gut genährt. Glücklich. Nicht alle Kleinen haben eine solche Kindheit wie die ihre. Mit zitternden Fingern wischt sie sich über die Augen. Und nicht alle jungen Menschen schlagen den richtigen Weg im Leben ein, selbst wenn ihre Eltern ihr Bestes gegeben haben. Es scheint, als hätten einige Menschen ständig einen Finger auf einer Art Selbstzerstörungsknopf, jederzeit bereit, ihn zu drücken.
Rachel.
Egal, wie leicht der Tag ist, wie hoch die Sonne am Himmel steht, ihr Gesicht wärmt und sie mit Hoffnung erfüllt, Rachel ist immer in Helenas Gedanken – ihr Gesicht, ihre zusammengesunkene Gestalt. Ihre Sucht.
„Sie kommt ganz nach mir“, erklärte Sylvie mit einem gewissen Stolz in der Stimme, als sie von der Notlage ihrer jüngsten Enkelin erfuhr, und es klang gerade so, als gehörten sie und Rachel einem exklusiven Klub an. Eine Bruderschaft, die nur denen bekannt ist, die ihr zugehörig sind, deren Gedanken und Herzen aufeinander abgestimmt und auf die völlige Vernichtung ihres kümmerlichen Lebens ausgerichtet sind. „Sie wird schon zurechtkommen. Mach dir keine Sorgen“, hatte Sylvie gemeint, während sie eine Zigarette aus der Packung nahm und sie zwischen ihre zusammengepressten, geschminkten Lippen schob. „Das ist dein Problem, Helena. Du versuchst immer, alles zu kontrollieren. Lass das Mädchen in Ruhe. Sie ist glücklich, so wie sie lebt.“
Helena hätte gerne wissen wollen, woher ihre Mutter über Rachels Gemütszustand Bescheid wusste, da sie ihre beiden Enkelkinder seit über zwei Jahren nicht gesehen hatte, aber sie hatte nicht die Energie, darauf einzugehen. Streit mit ihrer Mutter war so sinnlos wie der Versuch, einen wütenden Stier mit sanften Worten zur Vernunft bringen zu wollen. Ihr letztes Treffen endete in einem Streit über die Unordnung und das Chaos in der Wohnung ihrer Mutter und hatte sie körperlich erschöpft und seelisch ausgelaugt. Da sie nur wenig Zeit und Energie hatte, musste sie sorgfältig abwägen, welche Kämpfe es auszufechten lohnte, und in diesem Fall entschied sie sich dazu, zurückzustecken und die Dinge auf sich beruhen zu lassen.
In der Mittagspause geht es heute so hektisch zu, dass sie nicht einmal zum Essen kommt, weil noch vor dem ersten Bissen eine ganze Schar älterer Menschen mit Büchern in den Händen hereinkommt. Sie verbringen die nächste Stunde damit, langsam die Regale zu durchstöbern, während ihr Sandwich an den Ecken wellig wird und der Schinken eine unappetitliche grünliche Farbe annimmt.
Um 16 Uhr, während die Sonne hinter den fernen Hügeln untergeht, räumt Helena die Rezeption auf und schließt die Eingangstür ab, bevor sie ins Personalzimmer geht, um ihre Sachen zu holen. Ein langer, aber erfüllter Tag geht zu Ende. Es war viel los, sie war gut beschäftigt. Ein ständiger Strom von Aufgaben hielt ihre Gedanken davon ab, an Orte zu wandern, an denen sie lieber nicht sein wollte.
Erst als sie das Gebäude verlässt und zum Parkplatz geht, merkt sie, dass ihre Gedanken wieder zu den Leichen und dem vermissten Mädchen Maisie Anderson zurückwandern. Eine Welt voller entwurzelter Menschen – das, denkt sie traurig, ist die Umgebung, in der wir leben. Eine Welt, in der Menschen ohne Erklärung verschwinden und dann unter unheimlichen und oft mörderischen Umständen wieder auftauchen. Die arme, entwurzelte Rachel. Sie fragt sich oft, ob sie mehr hätte tun müssen, mehr hätte sagen müssen. Sie mehr hätte lieben müssen. Ob sie überhaupt etwas hätte tun können – irgendetwas –, um den Verfall aufzuhalten. War Rachels Kindheit derart zerrüttet, dass sie das Bedürfnis hatte, sich selbst so zu verletzen? Unzählige Nächte hatte Helena schlaflos im Bett gelegen und versucht, den genauen Moment zu bestimmen, in dem alles auseinandergebrochen ist. In ihren Augen gibt es nicht diesen einen entscheidenden Moment. Es ist die Summe kleiner Dinge – Augenblicke, die manchmal so unbedeutend erscheinen, dass sie unter dem Radar verschwinden, ungesehen und unausgesprochen.
Jetzt, da die Sonne untergeht, überzieht eine unangenehme Kühle ihre Haut, huscht über ihr Gesicht und setzt sich in ihren Knochen fest. Helena starrt auf den letzten Schimmer goldenen Lichts, der hinter den Hügeln versinkt. Eine neblige orangefarbene Kugel, umgeben von wolkigen Schwaden, die in bleigrauem Metallton schillern. Sie schaltet das Autoradio ein und verfolgt aufmerksam die Berichterstattung rund um die kürzlich entdeckte Leiche. Die Details sind lückenhaft, Geschlecht und Alter werden nicht erwähnt, ebenso wenig die Todesursache. Aber sie weiß es. Alle wissen es. Manchmal steckt die Wahrheit zwischen den Zeilen.
Als sie Rachel das letzte Mal sah, gab Helena ihr ein Prepaidhandy mit Guthaben und eine Prepaidkarte für ein Café in der Nähe. Kein Bargeld. Das hatte sie auf die harte Tour lernen dürfen, als sie ihre jüngste Tochter nur wenige Tage, nachdem sie ihr 100 Pfund in die schmutzige, ungewaschene Hand gedrückt hatte, schlafend in einer Gasse fand, umgeben von leeren Flaschen. Wenn es doch nur Handbücher für Eltern wie Helena gäbe; Ratgeber mit fundierten Tipps, wie man erwachsene Kinder aus den Fängen einer Sucht befreien kann. Sie hatte schon früh erkannt, dass Zeitschriften und Websites für Eltern nur für Mittelschichtfamilien gedacht waren, deren größte Probleme darin bestanden, dass ihre Kinder nicht ihren Wunschstudiengang an der Universität bekommen hatten oder dass ihre Babys nachts nicht durchschliefen oder mit acht Monaten noch nicht vollständig abgestillt waren. Als Mutter einer alkohol- und drogenabhängigen Tochter muss sie diesen holprigen Weg ganz alleine gehen. Ohne Ehemann oder Eltern an ihrer Seite, die ihr hätten helfen können, musste sie über die Jahre hinweg an sich selbst arbeiten, einfallsreich sein und aus ihren Fehlern lernen. Die wichtigste Lektion seit Rachels Zusammenbruch: Man kann nur Menschen helfen, die sich auch helfen lassen wollen. Rachel ist eine eigenständige Person mit einer eigenen Meinung. Und was für eine starke Meinung das ist! Sie behauptet immer, dass sie glücklich sei, so wie sie lebt, dass sie ihre aktuelle Situation freiwillig gewählt habe und nichts daran ändern wolle. Ihr letzter Abschiedsgruß an Helena vor wenigen Wochen war, dass sie auf keinen Fall wie ihre Mutter oder ihre Schwester sein möchte.
„Du hast sie mir sowieso immer vorgezogen. Ich hoffe, ihr zwei werdet jetzt sehr glücklich zusammen.“
Diese Worte trafen sie tief ins Mark. Es stimmte nicht. Es stimmte einfach nicht. Als Kind war Rachel ein so unkompliziertes, fröhliches Mädchen gewesen, das wenig verlangte und half, wo sie konnte, während Vanessa anspruchsvoller gewesen war. Sogar widerspenstig. Gavins unerwarteter früher Tod durch einen Herzinfarkt hatte Vanessa stärker aus der Bahn geworfen als ihre Schwester. Das musste Rachel doch sehen? Doch während Helena mit diesen Gedanken ringt und sich einzureden versucht, dass Rachel unter Alkoholeinfluss stand und ihre Erinnerung an diese Zeit sicherlich verschwommen war, beginnt sie sich zu fragen, ob an Rachels Worten vielleicht doch etwas Wahres dran ist. Ist ihre jüngere Tochter vernachlässigt worden, sind ihre Bedürfnisse ignoriert und beiseitegeschoben worden? Ist Helena mitverantwortlich für Rachels derzeitige Lebensumstände? Oder ist diese Aussage nur ein Versuch, sich zu wehren und jemand anderem als sich selbst die Schuld für ihre Entscheidungen und ihren wenig gesunden Lebensstil zu geben? Die Bemühungen, die einzelnen Stränge ihres Lebens auseinanderzuziehen und zu untersuchen, gleichen dem Versuch, den Wind einzufangen.
Helena starrt auf die Uhr auf dem Armaturenbrett. Ihr Zuhause ruft, ein kalter, leerer Ort. Niemand ist da, um sie zu begrüßen, wenn sie durch die Tür kommt. Keine einladenden Kochgerüche. Kein Ehemann oder Partner, der ihr die Jacke abnimmt und ihr sagt, dass das Essen in zehn Minuten fertig sein wird. Im Laufe der Jahre gab es ein paar lockere Affären, ein paar Verabredungen zum Abendessen und eine intime, aber wenig denkwürdige Begegnung mit Übernachtung, nach der sie sich desorientiert und unwohl fühlte, aber es war niemand dabei, der ihr etwas bedeutet hätte. Niemand, der Gavin jemals hätte ersetzen können. Ihre beiden Töchter waren immer ihr Ein und Alles, sind es noch nach wie vor. Auch wenn eine von ihnen gerade in einer völlig anderen Welt lebt.
Eine Leiche wurde in der Stadt gefunden. In der Nähe von Rachels Stammplatz. Helena dreht den Zündschlüssel und fährt vom Parkplatz in Richtung Supermarkt. Sie muss es wissen. Sie muss ihre jüngste Tochter sehen. Selbst wenn sie Rachel bewusstlos in einer Gosse liegend vorfindet, weiß sie dann wenigstens, dass sie nicht tot ist. Und wie immer wird Helena versuchen, sie zu überreden, nach Hause zu kommen, ein Bad zu nehmen und in einem bequemen, warmen Bett zu schlafen. Und wie immer wird Rachel sich weigern, vielleicht sogar fluchen und sie beschimpfen. Aber das nimmt Helena gerne in Kauf, solange sie nur weiß, dass ihre geliebte Tochter noch lebt. Gerade so.
***
„Du dachtest, ich wäre tot, was?“
Rachels Mund verzieht sich zu einer hässlichen Fratze, die eine Reihe verfaulter Schneidezähne freilegt, übersät mit Schmutz und Zahnbelag. Einer ihrer Vorderzähne ist abgebrochen, und als Rachel den Mund öffnet, sieht Helena eine dunkle Lücke, wo eigentlich eine Reihe Backenzähne sein sollte. Sie wendet den Blick ab und schaut über Rachels Schulter hinweg. Als Kind hatte sie ihr beigebracht, sich die Zähne zu putzen und keinen Zucker zu essen, und sie regelmäßig zur zahnärztlichen Kontrolle geschickt. Helena hatte alles getan, um ihre Tochter behütet und gesund großzuziehen. Und nun? Nun steht sie vor diesem jämmerlichen Ergebnis.
Kleine Stromstöße durchzucken Helenas Haut. Trotz der sinkenden Temperatur ist ihr Schweiß auf der Stirn getrocknet. Eine Person, die ihr einst so nahestand, ist ihr nun fremd, ihre Unterhaltung verläuft langsam und angespannt. Die Nähe ihrer Tochter ist schmerzhaft für sie. In ihrer Vorstellung nimmt sie Rachel in ihre Arme, drückt ihren unterernährten, dürren Körper an sich und bringt sie ins Auto, um sie nach Hause zu fahren. Wieder einmal wünscht sie sich, sie könnte den genauen Moment bestimmen, in dem Rachels Leben bergab ging, aber in ihrem Kopf ist alles durcheinander, die Zeitachse und die Bilder sind unzusammenhängend und lassen sich nicht synchron übereinanderlegen.
Sogar die Frage, wie es ihr geht, ist sinnlos und kommt einer Beleidigung gleich. Außerdem würde eine so banale Frage eine Salve sarkastischer Kommentare nach sich ziehen. Ihre Tochter ist süchtig, sie ist keine Idiotin. Helena war immer klug und scharfsinnig, und selbst jetzt kann sie Rachels Gedanken lesen und vieles vorhersagen, was ihr über die Lippen kommen wird. Das bedeutet, dass Helena in den seltenen Fällen, in denen sie sich begegnen, vorsichtig sein und lange überlegen muss, was sie sagt. Es ist, als würde man ein Niemandsland betreten und sich vorsichtig zwischen den Trümmern von Rachels Existenz hindurchtasten. Man überlegt sich, wie man Konfrontationen am besten vermeidet. Selbst die einfachste Begrüßung kann zu einer äußerst schmerzhaften Erfahrung werden.
„Die Leiche wurde dort hinter den Mülltonnen gefunden, falls es dich interessiert.“
Rachel zeigt mit einem schmutzigen Finger auf ein großes Gebäude auf der anderen Straßenseite und setzt sich dann auf eine wackelige Bank, die unter ihrem skelettartigen Körper kaum nachgibt.
„Hier, ich habe dir etwas mitgebracht“, flüstert Helena, an jedem Wort fast erstickend, weil die einzelnen Silben wie Leim in ihrer Kehle kleben.
Doch sie weigert sich, zu weinen, obwohl die Tränen hinter ihren Augenlidern brennen und ein schmerzhafter Kloß in ihrem Hals feststeckt. Ihre Tochter sollte nicht hier sein. Sie sollte bei ihr zu Hause sein. Oder ein selbstbestimmtes, sinnvolles Leben in den eigenen vier Wänden führen. Rachel ist intelligent und hätte alles werden können. Lehrerin, Buchhalterin, Ingenieurin. Und dennoch ist sie hier, hängt in der Innenstadt herum und verbringt die Nächte in einer Herberge mit Fremden, die alle mit ihren eigenen Dämonen zu kämpfen haben.
Helena reicht ihr eine weitere Prepaidkarte für ein Café in der Nähe. Dunkle Augen folgen Helenas Bewegungen, Misstrauen und Argwohn strömen aus jeder Pore, bis sich Rachel nach einigen quälenden Sekunden, in denen die Welt stillsteht, nach vorne beugt, die Karte aus der Hand ihrer Mutter schnappt und sie in ihre Tasche steckt, als wäre es Schmuggelware.
„Du kannst jederzeit mit mir nach Hause kommen, Rachel. Hier ist es nicht sicher. Das ist schon die zweite Leiche, die gefunden wurde. Die suchen doch schon wegen des ersten Falls nach jemandem – und jetzt meinen sie, der steckt auch dieses Mal dahinter.“ Die Worte sprudeln aus ihr heraus. Sie kann sie nicht aufhalten. Sie will es auch nicht. Nichts zu sagen, käme einer Billigung von Rachels Entscheidungen gleich.
Ein Schniefen, ihre Augen huschen überall hin, nur nicht zu ihrer Mutter. „Ja, aber dieser Fall ist vielleicht anders. Außerdem könnte es sich beim ersten um einen Fall von häuslicher Gewalt gehandelt haben. Das ist meistens so. Irgendein Typ stalkt seine Partnerin und wird dann handgreiflich, wenn die Eifersucht überhandnimmt. Das übliche idiotische Verhalten.“ Sie presst die letzten Worte hervor, voller Zorn, der sie von innen heraus abschirmt und sie so unantastbar macht wie kontaminierte Ware.
„Rachel, du schwebst in Lebensgefahr, wenn du dich weiter in dieser Gegend aufhältst. Bitte, bitte überleg es dir noch einmal und komm mit mir nach Hause.“
Helena weiß bereits, wie ihre Antwort lauten wird, aber sie stellt die Frage trotzdem. Sie kann ihre Tochter nicht hier lassen, ohne zumindest alles Menschenmögliche versucht zu haben.
„Nee, mir geht es gut. Geh und verbring Zeit mit deiner anderen Tochter. Deinem Lieblingskind.“
Da ist er wieder. Der Vorwurf, dass sie vernachlässigt wurde, dass Vanessa schon als Kind anders behandelt wurde. Dass sie mehr geliebt wurde als Rachel. Das ist nicht wahr, und diese Worte, abgefeuert wie Kanonensalven, darauf ausgelegt ihr Ziel zu treffen und es zu zerstören, verfehlen ihre Wirkung nicht. Die Andeutung, dass Helena eines ihrer Kinder bevorzugt, ist absurd und völlig falsch. Sie weigert sich, darüber nachzudenken oder darüber zu sprechen. Es muss am Alkohol liegen, den Drogen, der Unterernährung und den eisigen Temperaturen. Alles zusammen entwickelt sich zu einem gefährlichen Gemisch, das Rachels Denken verzerrt. In Helenas Familie gibt es keine Lieblinge. Das gab es nie und wird es nie geben. Sie liebt alle ihre Kinder und Enkelkinder gleichermaßen, trotz ihrer Fehler und ihrer offensichtlichen Feindseligkeit ihr gegenüber.
„Wo bleibst du heute Nacht?“
Sie folgt Rachels Blick zu den Wohnblocks hinter der Eisenbahnbrücke und nickt. Es ist sinnlos, weiter zu versuchen, sie zu überreden. Sie kann es beim nächsten Treffen versuchen. Und sie wird dafür sorgen, dass sie sich wiedersehen. Sie wird jetzt regelmäßig hierherfahren, um nach Rachel zu sehen. Mit einem möglichen Mörder auf freiem Fuß braucht ihre Tochter sie mehr denn je. Ob sie das nun begreifen will oder nicht.