Leseprobe Mord mit Poolblick | Ein spannender Cosy Crime über Ermittler in Rente

1

MOIRA

Die Zeit kurz vor Sonnenaufgang hat Moira am liebsten. In der Morgendämmerung wirkt der Tag am vielversprechendsten; er liegt vor ihr wie ein unbeschriebenes Blatt ein Neuanfang. Eine weitere Gelegenheit, Geschehenes zu vergessen und sich darauf zu konzentrieren, etwas Neues zu schaffen. Wieder einmal.

Beim Schließen des Gartentors prüft sie, ob sie unbeobachtet ist. Froh darüber, dass niemand in der Nähe ist, betritt sie den weißen Kiesweg. Sie mag es nicht, beobachtet zu werden, sondern zieht es vor, im Hintergrund zu bleiben und in der Menge unterzutauchen. Doch in The Homestead ist das schwieriger, als sie es sich vorgestellt hatte.

Sie folgt dem Rundweg zum Manatee-Park, der sich um den Ocean-Mist-Distrikt schlängelt. Die Luft ist kühl, und der Spaziergang dauert etwa zwanzig Minuten.

Moira zieht die Kapuze ihres Pullis hoch und steigert ihr Tempo. Heute wird sie versuchen, die Strecke in achtzehn Minuten zu schaffen. Sie setzt sich gern Ziele.

Während des Laufens summt Moira vor sich hin. Allmählich beginnt die Sonne aufzugehen. Soweit sie den vor ihr liegenden Weg einsehen kann, ist er menschenleer, und das ist gut so. Nicht, dass sie Menschen nicht leiden kann, doch seit ihrem Umzug in die The Homestead Seniorenresidenz vor einem Monat ist ihr aufgefallen, wie redselig die Leute hier sind Den Tag zu beginnen, ohne freundlich zu jemandem sein zu müssen, ist eine Wohltat. Herzlichkeit war nie ihr Ding.

Jeder hier in dieser Gemeinde, die eigens für Menschen mit einem Alter von über fünfundfünfzig Jahren gegründet wurde, ist einfach so verdammt freundlich. Es gibt keine Anonymität, wie man sie in einer Großstadt hat. Sie hofft, dass sie sich daran gewöhnen kann. Denn um diese Tageszeit, wenn der Tau im Gras anfängt, in der Sonne zu verdunsten und die Stille nur durch den morgendlichen Ruf der Vögel unterbrochen wird, ist der Ort so still. Und genau das kann sie jetzt wirklich gebrauchen, Ruhe.

Ein Blick auf die Uhr verrät ihr, dass es 6.49 Uhr ist. Sie liegt im Zeitplan ihres seit dem Umzug gefundenen Rhythmus  6 Uhr morgens aufstehen, einen Proteinshake trinken, zum Schwimmen in den Park gehen, während die Sonne ihren Aufgang vollendet, danach zurück ins Haus, um die Hunde auszuführen. Es ist das Ende der vierten Woche, und sie hat das Timing im Griff. Wenn sie es schafft, um halb neun aus dem Pool zu sein, sollte sie den Ort für sich allein haben und kann dem gefürchteten Smalltalk entgehen.

Das motiviert sie. Der Kies knirscht unter ihren Turnschuhen, als sie eine Steigung hinaufläuft. Bevor sie hergezogen ist, hat sie Florida immer für flach gehalten. Doch sie hat sich geirrt, denn dieser Teil von Zentral-Florida ist ziemlich hügelig. Aber das kommt ihr gelegen, sie freut sich über das zusätzliche Ausdauer-Training.

Beim Erreichen der Anhöhe verlangsamt Moira ihr Tempo, nimmt einen Schluck aus ihrer Wasserflasche und betrachtet die Aussicht. Zu ihrer Linken erstrecken sich die Hinterhöfe der einheitlich cremefarbenen, stuckverzierten Häuser entlang des Weges; Rasenflächen aus grobem Florida-Gras, das die Hitze wesentlich besser verträgt als sein empfindlicheres britisches Äquivalent; abgeschirmte Steinterrassen, riesige gasbetriebene Grills und gelegentlich ein Tauchbecken oder ein Whirlpool. Alles sauber, ordentlich und auf den Zentimeter genau zurechtgestutzt, wie es in den Statuten der Residenz vorgeschrieben ist.

Sie nimmt noch einen Schluck aus der Flasche und geht weiter. Auf ihrer rechten Seite kann sie über das offene Grasland der Misty Plains bis hin zur entfernten Baumreihe blicken, die den Ocean-Mist-Distrikt von dem noch nicht bebauten, noch unbenannten Distrikt Elf abgrenzt. Moira weiß nicht, wie viel Hektar zwischen ihr und den Bäumen liegen, aber es müssen verdammt viele sein. Bis vor etwas mehr als einem Monat hatte sie ausschließlich in London gelebt und gearbeitet. Die weite, offene Landschaft an diesem Ort ist ihr immer noch fremd.

Doch obwohl es ihr fremd erscheint, ist sie froh darüber. Die offene, freie Landschaft ist einer der Hauptgründe ihrer Entscheidung gewesen, diesen Ort für ihren Ruhestand zu wählen. Sie hatte genug von der Großstadt, genug von London, genug von der ständig zunehmenden Bürokratie und dem Papierkram, den die Arbeit als verdeckte Ermittlerin mit sich brachte. Eine Veränderung war dringend nötig, und genau damit wirbt The Homestead  ein neues Zuhause für ein neues Kapitel in ihrem Leben. Moira zieht eine Grimasse. Sie braucht diesen Neuanfang. Nach allem, was in diesem Jahr passiert ist, war wegzugehen nicht nur das Richtige, sondern auch das Sicherste, was sie tun konnte.

Sie hatte nur nicht damit gerechnet, dass es so verdammt schwer sein würde.

Moira schaut erneut auf die Uhr und erhöht ihr Tempo. Sie hat keine Zeit herumzudümpeln, wenn sie im Zeitplan bleiben will. Den Pfad entlang marschierend, überquert sie den Kamm und beginnt den Abstieg zum Park. Jedes Mal, wenn ihre Gedanken zu ihrer damaligen Einheit und dem letzten Fall wandern, an dem sie gearbeitet haben, zwingt sie sich, schneller zu laufen. Doch die Erinnerungen kehren immer wieder zurück. Vor ihrem inneren Auge sieht sie, wie sich die Einheit auf ihren letzten Einsatz vorbereitete  Riley, Pang, Kress und McCord. Ihr Gedankenfilm bleibt bei McCord stehen. Er lächelt, stößt mit seiner Faust gegen ihre, bevor sie ins Fahrzeug steigen, um zum Einsatz zu fahren.

Sie beißt sich auf die Lippe und unterdrückt die Flut der Emotionen. Ihre Fäuste ballend, drückt sie ihre Nägel in die Handflächen, in der Hoffnung, dass der Schmerz sie ablenken wird.

Jetzt bloß nicht an McCord denken.Sie kann es einfach nicht.

Stattdessen konzentriert sie sich auf den weißen Torbogen am Eingang des Manatee-Erholungsparks und geht darauf zu. Ihr ist bewusst, dass sie ihre Gefühle nicht unterdrücken sollte; die Polizeiärztin hatte ihr oft genug gesagt, dass sie sich den Dingen stellen muss, aber es ist einfach zu schwer. Sie fühlt sich, als wäre stünde sie hinter Glas, als hätte sie es noch gar nicht richtig realisiert.

Mit ihrer Pensionierung geht es ihr genauso.

Es kommt ihr vor, als wäre durch eine Fehleinschätzung, die im Bruchteil einer Sekunde getroffen wurde, alles zu Staub zerfallen, was sie geliebt und wofür sie gearbeitet hat. Es passierte blitzschnell. Sie war immer der Annahme gewesen, dass sie mit Veränderungen gut umgehen könne, doch jetzt weiß sie, dass dem nicht so ist.

Moira schüttelt den Kopf, um sich von den Erinnerungen zu befreien. Unter dem Torbogen bleibt sie stehen und schaut auf die Uhr. Siebzehn Minuten und dreiundfünfzig Sekunden. Eigentlich sollte es sich wie ein kleiner Triumph anfühlen – ein guter Anfang für die Tabula rasa – aber sie fühlt einfach nur Leere.

Lebe den Moment, sagt sie zu sich selbst und wiederholt das schwachsinnige Psychogeschwätz die Polizeiärztin, nachdem sie sie um Rat bezüglich ihres Ruhestandes gebeten hatte. Sei selbst die Veränderung.

Sie holt tief Luft und sagt: „Na dann.“

Durch den Torbogen gelangt sie in den Park. Sie folgt dem steinernen Weg, vorbei an den Pickleball-Plätzen, dem Boccia-Bereich sowie den Planschbecken und den Whirlpools, bis hin zum größten Schwimmbecken. Alles ist ruhig. Außer ihr ist niemand da, genau wie sie gehofft hatte.

Konzentriere dich auf das Positive, auf jeden noch so kleinen Erfolg. Das hatte die Polizeiärztin gesagt. Vielleicht sollte sie aufhören, so verdammt zynisch zu sein, ihren Rat befolgen und sich selbst etwas mehr dazu zu zwingen, etwas zu empfinden. Sie glaubt nicht, dass es ihr schaden wird.

Moira zwingt sich zu einem Lächeln. „Es. Wird. Ein. Guter. Tag. Werden.“

Beim lauten Aussprechen der Worte kommt sie sich lächerlich vor.

Die Polizeiärztin hatte angemerkt, dass sie keine sofortige Besserung erwarten solle. Bleib in der Gegenwart, haben sie gesagt, mach dich nicht fertig, wenn die Dinge nicht perfekt sind.

Ja, genau. Wieder schüttelt sie den Kopf. Wenn sie eine Sache in ihren achtundfünfzig Jahren gelernt hat, dann ist es, dass nichts jemals perfekt ist.

Sie geht weiter. Vor ihr, auf der Gattertür des letzten Pickleball-Feld, sitzt ein Blauhäher. Moira unternimmt einen neuen Versuch und lächelt ihn an.

„Es wird ein guter Tag werden.“

Beim zweiten Mal fällt es ihr leichter; es fühlt sich fast so an, als könnte an der Sache was dran sein.

Sie verzeichnet es als einen kleinen Sieg, stößt die weiße Gattertür neben der hohen Hecke, die den Pool abschirmt, auf und schließt nach Eintreten den Riegel hinter sich. Dem Weg folgend, welcher sie um das Ende der Hecke herumführt, kommt der Pool in Sicht.

„Oh mein Gott.“ Ihr stockt der Atem.

Mit rasendem Herzen eilt sie voran und sieht im letzten Moment die auf dem steinernen Boden verteilten Blutspritzer. Sie stoppt im letzten Moment, noch bevor sie hineintreten würde.

Sie atmet tief durch und spürt dann, wie das in ihrer Ausbildung Gelernte übernimmt und ihr Gehirn in den Arbeitsmodus schaltet. Automatisch zieht sie das Telefon aus der Tasche ihres Kapuzenpullis und wählt. Während die Verbindung hergestellt wird, lässt sie ihre Augen über den Tatort wandern und registriert jedes Detail.

„911. Nennen Sie ihren Notfall.“ Die Frauenstimme klingt blechern und weit entfernt.

„Es hat einen Todesfall im Manatee-Erholungspark, Ocean-Mist-Distrikt, in The Homestead gegeben. Die Leiche liegt in einem der Swimmingpools und es sieht so aus, als …“

„Moment, was? Ein Todesfall in einem Pool in The Homestead?“

„Ja, das habe ich gesagt.“ Moira weiß nicht, warum die Dispatcherin nicht richtig zuhört  schließlich ist das ihr Job. Dispatcher sind darauf trainiert, sich an die Regeln zu halten, ihre Fragen abzuarbeiten und ruhig zu bleiben.

Diese hier ist schon zu Beginn vom Protokoll abgewichen und klingt verunsichert. Moira runzelt die Stirn. Das ist unprofessionell. Die sollen gefälligst ihren Job machen. „Das Opfer ist eine junge Frau. Es gibt Anzeichen dafür, dass der Tod gewaltsam herbeigeführt wurde. Dem ersten Eindruck nach wurde sie getötet.“

„Mord? In der Seniorenresidenz?“ In der Stimme der Dispatcherin ist Entsetzen zu hören „Aber es ist noch nie …“

„Sie müssen sofort die Rettungskräfte zu mir schicken“, sagt Moira. „Ich brauche Polizei und Sanitäter. Können Sie das veranlassen?“

„Ja, ich … selbstverständlich.“ Es hört sich so an, als habe das Mädel der Notrufzentrale sich ein wenig gefasst; lediglich ein leichtes Zittern ist in ihrer Stimme auszumachen. Moira hört das Geräusch einer Tastatur, dann sagt die Frau: „Okay, ich habe Sanitäter und Polizisten zu Ihnen in den Manatee-Park geschickt. Sie werden in etwa zwölf Minuten eintreffen.“

„Gut.“ Moira schaut auf die Uhr, um abschätzen zu können, wann das Blaulicht eintreffen wird. Sie sucht den Poolbereich ab, dann lässt sie ihren Blick über die Rasenfläche schweifen. Es gibt keinerlei Anzeichen, weder für weitere Personen noch sonst irgendetwas. Sie richtet ihren Blick zurück zu der Frau im Pool und spricht dabei. „Bevor Sie mich fragen, ich glaube nicht, dass ich in Gefahr bin. Ich würde sagen, dass das, was hier passiert ist, vor einigen Stunden geschehen ist. Gerne bleibe ich hier und warte, bis die Rettungskräfte eintreffen.“

„Legen Sie nicht auf. Bitte bleiben Sie in der Leitung.“ Die 911-Dispatcherin klingt wieder nervös. „Können Sie mir Ihren Namen sagen, Ma’am?“

„Moira Flynn, ich bin eine der Bewohnerinnen hier.“

„Und die Person, wegen der Sie angerufen haben, sind Sie sicher, dass sie …“

„Sie sieht definitiv tot aus, und es scheint kein Unfall gewesen zu sein.“ Moira geht um das Blut herum und nähert sich dem Rand des Pools. Die junge Frau treibt auf dem Rücken in der Mitte des Wassers. Ihre Augen sind geöffnet und ihr langes schwarzes Haar ist wie ein dunkler Heiligenschein um ihren Kopf gefächert. Auf ihrer Brust und auf dem Oberteil ihres blassgelben Kleides befinden sich Blutflecken, aber das ist nicht das Ungewöhnlichste.

Und das Seltsamste: Tausende Dollarscheine treiben im Wasser.

2

Philip

Philip ist immer ganz aufgeregt, wenn er einen Tatort aufsucht, und heute ist keine Ausnahme. Der Anblick der blauen Lichter am Ende der Straße bringt den gewohnten Adrenalinkick mit sich. Sofort fühlt er sich wachsamer und ist voll bei der Sache. Er ist bereit.

Den Toyota fährt er so nah wie möglich an die Straßensperre heran, manövriert ihn in eine Lücke an der Bordsteinkante und stellt den Motor ab. Er nimmt sich einen Moment, um die Szene zu evaluieren. Vor dem Eingang zum Manatee-Erholungspark stehen zwei Streifenwagen, ein Krankenwagen und ein Leichenwagen. Das Heck des Wagens steht direkt am Eingangstor des Parks. Philip ist über fünfunddreißig Jahre Detective im Thames Valley gewesen. Unabhängig davon, wo man sich in der Welt befindet, deutet eine solche Anordnung immer nur auf eines hin: eine Leiche.

Beim Verlassen des Toyotas streicht er imaginäre Falten aus seinem marineblauen Poloshirt und geht an den Streifenwagen vorbei. Eine Gruppe von Gaffern hat sich am Ende der Absperrung versammelt, die dem Park am nächsten ist. Er zählt fünf Personen: alle grauhaarig und älter  offensichtlich Bewohner. Einige von ihnen kennt er aus dem Golfclub. Eine der Damen sitzt in einem der modernsten Mobilitätswagen der Spitzenklasse, einem Platinum Swiftster. Es handelt sich hier nicht um die gewöhnlichen Schaulustigen.

Der große, bärtige Mann aus dem Golfclub signalisiert Philip mit einem Winken, er solle sich zu ihnen gesellen. Doch Philipp hat keine Zeit für Smalltalk. Er nickt und winkt zurück, geht dann aber weiter. Er darf sich nicht ablenken lassen, sondern muss sich auf den Tatort konzentrieren.

Nachdem er sich unter dem gelben Tatortband hindurchduckt, eilt er zum Eingang des Parks. Die Spurensicherung ist gerade im Torbogen beschäftigt, während die Bestatter eine leere Bahre über den Steinweg zwischen den Pickleball-Plätzen schieben.

Definitiv eine Leiche, denkt er. Mindestens eine.

„Sir, Sie müssen hier stehenbleiben.“

Philip dreht sich um und sieht, wie ein uniformierter Polizist aus dem am weitesten entfernten Streifenwagen steigt. Er bleibt stehen und lässt sich von dem Polizisten einholen. Der Bursche sieht aus, als wäre er ehrgeizig  verspiegelte Sonnenbrille, tief gebräunt und die Art von autoritärem Tonfall, mit dem Jungs ihr mangelndes Selbstvertrauen überkompensieren.

Philip zeigt in Richtung des Parks. „Also, was haben wir?“

Der Polizist bleibt neben ihm stehen. „Sir …“

„Es handelt sich um einen Mord, nicht wahr?“, fragt Philip. Das ist zwar sehr weit hergeholt – bis vor Kurzem lag die Kriminalitätsrate in The Homestead praktisch bei null – aber Polizei, Sanitäter und der Leichenwagen lassen darauf schließen, dass etwas Ernstes passiert ist.

Der Polizist runzelt die Stirn und ignoriert die Frage. Er tritt näher, eigentlich zu nahe. Mit etwa 1,80 Metern ist er größer als Philip, sieht aber aus, als käme er gerade aus dem College. „Ich werde Sie bitten müssen, zurückzutreten, Sir. Unbefugten ist das Betreten dieses Bereichs nicht gestattet.“

Philip gefällt der Tonfall des jungen Mannes nicht. Immerhin ist er ein DCI, ein Detective Chief Inspector; Uniformierte sollten tun, was er sagt. „Ich verstehe, Officer, auch ich bin Gesetzeshüter.“

Der Polizist runzelt erneut die Stirn. „Haben Sie einen Ausweis?“

„Nun ja, nicht hier in den USA, aber ich bin …“

„Dann kann ich Sie nicht näher heranlassen.“

Philip ballt die Fäuste. „Jetzt hören Sie mal, ich bin …“ Er hält inne und verschiebt es auf später, dem eingebildeten Jungen zu sagen, mit wem er es zu tun hat.

Aus dem hinteren Teil des Krankenwagens taucht eine Frau auf, die er erkennt. Darin ist er sehr gut, er vergisst nie ein Gesicht oder einen Namen. Und Moira ist eine Frau, an die man sich erinnert; groß, athletisch, mit einem schwarzen Kurzhaarschnitt und einem Gesicht, das viel jünger aussieht als die Gesichter aller anderen hier in The Homestead. Sie ist eine neue Bewohnerin. Seine Frau, Lizzie, hat ihm das erzählt, bevor sie sie einander vorgestellt hat, als sie sich neulich im Publix beim Wocheneinkauf trafen. Moira und Lizzie hatten sich ein paar Wochen zuvor beim Yoga kennengelernt. Er weiß nicht, weshalb Moira im Krankenwagen ist, aber er ist sich verdammt sicher, dass er es herausfinden wird.

Philip richtet sich zu seiner vollen Größe auf, sodass er fast auf Augenhöhe mit dem Polizisten ist, und zeigt auf den Krankenwagen. „Hören Sie zu, mein Sohn, Sie müssen mich durchlassen. Ich bin hier, um meiner Freundin zu helfen.“

Der junge Polizist folgt seinem Blick. Wieder runzelt er die Stirn, sagt aber nichts.

Philip spürt, dass der Jungspund verunsichert ist. Diese Chance muss er nutzen. „Moira“, ruft er und winkt in Richtung des Krankenwagens.

Sie schaut herüber, doch in ihrem Gesichtsausdruck gibt es keine Anzeichen dafür, dass sie ihn wiedererkennt.

Verdammt noch mal, denkt Philip. Komm schon, erinnere dich.

Um ihre Schultern liegt eine silberne Rettungsdecke, und ein gestresst aussehender Sanitäter scheint zu versuchen, sie in den Krankenwagen zurückzubringen. Vielleicht ist sie verletzt oder hat eine Gehirnerschütterung oder so.

Philip hebt die Hand und winkt erneut. „Moira. Geht es Ihnen gut?“

Sie runzelt die Stirn und wendet sich ab.

Philip nützt das nichts. Sie soll sich zusammenreißen und ihm Aufmerksamkeit schenken. Er schreit ihren Namen lauter und wiederholt ihn einige Male.

Der junge Polizist verlagert sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen. „Sir, Sie müssen wirklich …“

„Moira, ich bin’s, Philip. Ich bin hier, um Ihnen zu helfen.“ Philip darf nicht zulassen, dass dieser Junge ihn abweist. Er muss da rein. Es ist nicht tolerierbar, dass er draußen bleiben muss, wie ein x-beliebiger Bürger. Er kann das einfach nicht zulassen und winkt noch verzweifelter. „Moira!“

Erneut dreht sie sich um und runzelt die Stirn. Philip glaubt, dass sie ihn wieder ignorieren wird, doch dann hebt sie die Hand. Es ist kein richtiges Winken, aber es reicht völlig aus.

„Sehen Sie“, sagt Philip zu dem Polizisten. „Sie steht unter Schock, hat mich kaum erkannt. Ich muss zu ihr.“

Der Bursche sieht unschlüssig aus und zögert. Er schaut hinüber zu den Streifenwagen, aber von seinen Kollegen ist keiner zu sehen.

Der Junge ist völlig überfordert, denkt Philip. Er tut ihm fast leid. Aber eben nur fast.
Als sie sich beide wieder zum Krankenwagen umdrehen, ist Moira verschwunden. Doch auch wenn Philip sie nicht sehen kann, kann er sie gut genug hören. Die Stimmen aus dem Inneren des Krankenwagens  eine männlich und amerikanisch, eine weiblich und britisch  sind laut und werden immer lauter.

„Haben Sie das gehört, Officer?“, sagt Philip mit ernster Stimme. „Ich kann helfen.“

Der Jungspund reibt sich die Stirn, blickt noch einmal zurück zu den Streifenwagen und sagt dann: „Na gut, aber gehen Sie nicht in den Park. Bleiben Sie bei Ihrer Freundin, okay?“

„Mach ich“, sagt Philip. Ihm ist danach, triumphierend die Faust in die Luft zu strecken, als er von dem Polizisten weg in Richtung Krankenwagen marschiert. Er ist wieder mitten im Geschehen, und das zu Recht. Er hätte nie in den Ruhestand gehen sollen.

3

Moira

Sie hasst alles an Krankenhäusern den Geruch, die gestärkten Laken sowie die verletzte Privatsphäre. Aber am meisten hasst sie den Kontrollverlust, den man als Patient erleidet. Deshalb wird sie es auf keinen Fall zulassen, dass diese Sanitäter sie ins Lake County General bringen. Moira sieht sich nach ihrer Wasserflasche um. Sie will aus dem Krankenwagen raus, ihre Flasche aber nicht zurücklassen.

Der verantwortliche Sanitäter hat es beim Argumentieren kaum geschafft, Luft zu holen, und sein größerer, kräftigerer Kollege nickt ständig zustimmend. Beide weigern sich, ein Nein als Antwort zu akzeptieren und somit liegen sich die drei in den Haaren, denn sie wird ihre Meinung mit Sicherheit nicht ändern.

Der leitende Sanitäter, rothaarig und mit rotem Gesicht, deutet auf einen als Bett hergerichteten Rollwagen. „Bitte, setzen Sie sich.“

„Es geht mir gut.“ Moira bleibt stehen. Mit der Hand stützt sie sich an der Wand des Krankenwagens ab und wartet, bis das Drehen in ihrem Kopf aufhört. Dann sieht sie sich erneut nach ihrer Wasserflasche um und entdeckt sie auf einer der Sitzbänke.

Als sie sich darauf zubewegt, stellt sich ihr der rothaarige Sanitäter in den Weg. „Wie ich bereits erklärt habe, Ma’am, müssen wir eine gründlichere Untersuchung …“

„Nein.“ Moira drückt die silberne Rettungsdecke fester an sich und verschränkt ihre Arme. „Sie können mich nicht gegen meinen Willen mitnehmen und ich habe Ihnen gesagt, dass ich nicht mitkomme.“

Der kräftige Sanitäter räuspert sich. „Ihr Blutdruck ist erhöht und Sie sollten wirklich …“

„Ist hier alles in Ordnung?“, fragt eine männliche Stimme mit britischem Akzent.

Moira dreht sich zum Heck des Krankenwagens um und sieht Lizzie Sweetmans kahlköpfigen, korpulenten Ehemann durch die offenen Türen spähen. Verdammt! Er ist das Letzte, was sie gebrauchen kann. Das ganze Winken und Schreien vor wenigen Minuten war völlig unnötig. Sie hatte gehofft, dass die vorgetäuschte Verwirrung darüber, wer er ist, ihn abschrecken würde. Offensichtlich scheint dem nicht so zu sein. Sie nickt ihm kurz zu. Will sich nicht auf ihn einlassen. Hofft, dass er diesmal die Botschaft versteht. „Das wird schon.“

Sie bemerkt, wie die Sanitäter zu Philip schauen. Der Stämmigere hebt eine Augenbraue. Die beiden versuchen anscheinend herauszufinden, ob er ein Verbündeter oder ein Widersacher ist. Moira möchte verhindern, dass er sich für eines von beiden entscheiden kann.

Sie reißt sich die Decke von den Schultern, schiebt sich am Sanitäter vorbei und wirft die Decke auf die Sitzbank. Dann schnappt sie sich ihre Wasserflasche und geht auf die Türen zu.

Der kräftigere Sanitäter versperrt ihr den Weg. „Ma’am, ich muss Sie wirklich bitten …“

„Hören Sie, ich weiß, dass Sie nur Ihren Job machen, aber wie ich schon sagte, mir geht es gut.“ Sie schiebt sich an ihm vorbei und klettert aus dem Krankenwagen. Auf dem Boden angekommen, dreht sie sich zu den beiden um. „Es gibt keinen Grund dafür, mich ins Krankenhaus zu bringen.“

Der rothaarige Mann schüttelt den Kopf. „Wie ich schon sagte, Ma’am, ich denke, es gibt Gründe für …“

„Vielleicht sollten Sie sich untersuchen lassen.“ Philip tritt näher an Moira heran und legt eine Hand auf ihre Schulter. „Es kann nicht schaden.“

Moira schüttelt seine Hand ab. „Es ist nicht nötig und ich will es auch nicht, also nein.“ Ihr Ton ist selbstbewusst und fast schon wütend. Warum kapiert er es nicht und geht? Warum ist er überhaupt hier? Sie starrt Philip an. „Ich habe mich nicht verletzt, sondern eine Leiche gesehen.“

Philip tritt einen Schritt zurück. „Beruhigen Sie sich und …“

„Okay, Ma’am, ich werde nicht länger mit ihnen diskutieren.“ Der Sanitäter tippt etwas auf dem Bildschirm seines Tablets ein. „Ich vermerke in meinen Notizen, dass Sie den Transport ins Krankenhaus abgelehnt haben.“

„Machen Sie das“, schnauzt Moira. Dann tut er ihr ein wenig leid. Sie weiß, dass er nur versucht, seinen Job zu machen, aber es gibt Menschen da draußen, die seine Fähigkeiten und ein Krankenhausbett weitaus dringender benötigen. Außerdem fühlt sie sich gut. Na ja, so halbwegs. Ein bisschen schwindlig, leichte Übelkeit, aber ansonsten gut. Sie schenkt ihm ein kleines Lächeln. „Und danke.“

Während die Sanitäter sich abfahrbereit machen, hebt Moira ihre Sporttasche neben dem Krankenwagen auf und schiebt ihre Wasserflasche in die Seitentasche. Als sie sich aufrichtet, ist ihr deutlich schwindliger. Philip sagt etwas zu ihr, aber seine Stimme wirkt gedämpft, als ob sie unter Wasser wäre. Moira hat keine Lust zu plaudern und schaut Philip an. „Man sieht sich.“

Bereits beim Aussprechen der Worte weiß sie, dass es gelogen ist. Sie muss vermeiden, Philip und seine Frau Lizzie zu treffen. Es ist zu riskant, sich mit ihnen einzulassen; das kann sie sich nicht erlauben.

Philip setzt zu einer Antwort an, doch sie wendet sich ab, geht um den Krankenwagen herum und zu den Polizeiautos hinüber. Die Bewegung hilft ihr, den Kopf freizubekommen. Das Schwindelgefühl ist eine Blutzuckersache, dessen ist sie sich sicher. Sie hat so etwas bereits früher erlebt und es fühlt sich anders an, als die Panikattacken. Sie weiß, sie kann damit umgehen; sie muss nur nach Hause und etwas essen.

Bei den Polizeiautos angekommen, klopft sie an die Scheibe des ersten Wagens, erschreckt den Beamten mit der verspiegelten Sonnenbrille darin und winkt ihm zu. „Ich gehe jetzt, okay?“

Der junge Polizist öffnet die Tür und springt heraus. Er sieht verwirrt aus. „Sie fahren nicht ins Krankenhaus?“

Moira schüttelt den Kopf und fängt an zu blinzeln, als ihre Sicht verschwimmt. Um das Gleichgewicht zu halten, stützt sie sich am Auto ab. „Ich geh nach Hause.“

„Nun, wie Sie meinen. Der leitende Detective hat gesagt, dass es okay ist, wenn Sie gehen. Er hat Ihre Personalien aufgenommen und wird sich bei Ihnen melden, falls es noch etwas gibt.“ Der Polizist zieht eine Karte aus seiner Hemdtasche und reicht sie Moira. „Sollte Ihnen noch etwas einfallen, können Sie ihn unter dieser Nummer erreichen.“

Moira nimmt die Karte und liest den Namen darauf:

Detective James R Golding – Dezernat für Raubmord.

Dann spitzt sie ihre Lippen. Als Detective Golding eintraf, hatte er ihr ein paar flüchtige Fragen gestellt, jedoch nichts Tiefgründiges. Er wirkte abgelenkt und erwähnte mehrmals, dass er sich am Ende einer Nachtschicht befand. Seine bisherige Leistung hat Moira nicht beeindruckt, aber das erwähnt sie nicht. Sie sagt lediglich: „Danke.“

„Kein Problem, Ma’am, ich wünsche Ihnen einen schönen Tag.“

Auf diese Standardfloskel reagiert sie mit einem leichten Kopfschütteln, da diese in Anbetracht der Tatsache, dass sie sich am Tatort eines Mordes befinden, einfach nur unangebracht ist. „Ich werde mir Mühe geben.“

Der Polizist steigt zurück in seinen Wagen und Moira weiß, dass es an der Zeit ist, zu gehen. Sie zögert und wirft einen flüchtigen Blick zurück in den Park. Es fühlt sich seltsam an, zu gehen, wo sich ihr doch so viele Fragen stellen. Sie möchte wissen, wer die Frau ist und warum das ganze Geld im Wasser um sie herumtrieb.

Als Philip neben ihr zum Stehen kommt, ist sie immer noch in Gedanken vertieft. Die freundliche Art und Weise, mit der er sie anschaut, so als wäre sie ein verlorenes Kind oder ein verletztes Hündchen, geht ihr auf die Nerven.

Er streckt den Arm aus und klopft ihr auf die Schulter. „Sie stehen unter Schock. Es ist besser, wenn Sie nicht allein nach Hause gehen. Darf ich Sie mitnehmen?“

Moira starrt ihn an und geht ein paar Schritte zurück, damit er sie nicht berühren kann. Es ist nicht nötig, sie wie eine zarte Blume zu behandeln. In ihrer Karriere hat sie jede Menge Tatorte zu Gesicht bekommen und viele waren weitaus schlimmer als dieser hier. Sie braucht keine Begleitung. Leichen schockieren sie schon lange nicht mehr. Das Letzte, was sie jetzt vertragen kann, ist unnötiger Smalltalk. Sie wäre lieber allein.

Philip scheint ihr Zögern zu spüren und wechselt seine Herangehensweise. „Kommen Sie doch mit zu uns. Auf diese Weise sehen Sie Lizzie und wir trinken einen Tee zusammen.“ Dann senkt er den Ton seiner Stimme, es klingt verschwörerisch. „Und Sie erzählen uns alles, was Sie am Tatort gesehen haben.“

Moira hält seinem Blick stand. Sie ist Philip erst einmal begegnet und nach dem, was sie bis jetzt über ihn weiß, würde sie sagen, dass er harmlos ist. Für ihren Geschmack zu einfühlsam. Sie weiß jedoch, dass es besser ist, sich auf nichts einzulassen. Schade eigentlich, denn seine Frau Lizzie war ihr gleich sympathisch, als sie sich beim Yoga kennengelernt haben. Sie sah in ihr eine mögliche Freundin. Doch als Lizzie ihr ein paar Wochen später beim Kaffeetrinken erzählte, dass sowohl sie als auch Philip früher bei der Polizei waren, hat das die Dinge in ein anderes Licht gerückt. Sie ist extra den weiten Weg hierhergekommen, um der Polizei und alldem, was passiert ist, zu entfliehen. Das kann sie nicht durch eine Freundschaft mit diesen Leuten vermasseln.

Was hatte die Polizeiärztin gesagt? Wenn man ein neues Leben beginnt, muss man sich darum bemühen, neue Leute kennenzulernen die eigene Komfortzone verlassen. Aber es eine Sache, die eigene Komfortzone zu verlassen, und eine andere, ein Vollidiot zu sein. Das kann sie nicht riskieren. Es geht einfach nicht.

„Lizzie würde sich freuen, Sie zu sehen“, fährt Philip fort. „Sie sagte, Sie hätten an den letzten Yogastunden nicht teilgenommen?“

Hat sie nicht, und sie hat auch nicht vor, nochmal hinzugehen. Es ist einfacher, sich nicht blicken zu lassen und still und leise aus Lizzies Leben zu scheiden, als darüber sprechen zu müssen. Denn nach dem, was sie über Lizzie und Philip bisher weiß, sind beide eher von der gesprächigen Sorte. Irgendwann würden sie über ihren alten Job und ihre Kollegen sprechen und danach alles über sie wissen wollen. Aber Moira wird nicht darüber sprechen wollen, und das wird ein Problem sein. Denn wenn sie eines über Polizisten weiß, dann, dass sie Rätsel lieben. Soweit sie weiß, könnten die beiden immer noch in Kontakt mit Leuten von der Truppe stehen. Es könnte sein, dass die beiden sie denen gegenüber erwähnen und anfangen, Fragen zu stellen. Es schaudert sie. Das würde alles ruinieren. Das darf einfach nicht passieren.

Moira schüttelt den Kopf. Ihre Sicht verschwimmt und das Schwindelgefühl kehrt zurück. Ihre Stimme klingt schwach, als ob sie weit weg wäre. „Ich muss zurück.“

„Geht es Ihnen gut?“ Philip runzelt die Stirn. Sein Blick ist besorgt. „Sie sehen sehr blass aus.“

Wieder schüttelt sie den Kopf, doch dadurch wird ihr noch schwindliger. „Ich bin … ich …“

Dann fällt sie.

Philip fängt sie auf, hält sie aufrecht. „Sind Sie okay? Bleiben Sie bei mir, sehen Sie mich an.“

Sie schaut ihn an, er ist verschwommen und seine Gesichtszüge unscharf. Ihre Beine fühlen sich schwach an, als könnten sie ihr Gewicht nicht mehr tragen. Obwohl sie keine Hilfe von ihm will, lehnt sie sich an ihn.

„Sie sollten wirklich nirgendwo hingehen“, sagt Philip. Er wirft einen Blick zurück zum Krankenwagen. „Sie sollten zurückgehen und sich ins Krankenhaus bringen lassen.“

„Nein.“ Sie versucht, sich von Philip loszureißen, und taumelt wie eine Betrunkene nach einer vierundzwanzigstündigen Happy Hour. Widerwillig lässt sie sich wieder von ihm stützen.

„Na gut, wie Sie meinen. Aber erlauben Sie mir, Sie zu fahren. Bitte, kommen Sie mit zu mir nach Hause, dort treffen wir Lizzie und trinken einen süßen Tee. Das hilft gegen den Schock, danach werden Sie sich besser fühlen.“

Es ist kein Schock. Das weiß Moira. Sie war noch nie leicht zu schockieren. Das hier ist anders. Ihr treuloser Körper hat einen weiteren Weg gefunden, sie zu verraten. Sie will nicht mit Philip mitgehen, aber sie fürchtet, auf den Asphalt zu fallen, sobald er sie loslässt. Also unterdrückt sie einen Seufzer, nickt und sagt wider besseres Wissen: „Okay“.

Philip zeigt die Straße entlang. „Mein Auto steht gleich da drüben.“

Langsam aber stetig gehen sie los. Philip hat Moira fest im Griff, stützt ihren Ellbogen und hält sie aufrecht. Nachdem die beiden sich unter dem gelben Tatortband der äußeren Absperrung hindurchgeduckt haben, führt er sie zu seinem Auto.

Moira konzentriert sich darauf, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Ihre Beine fühlen sich immer noch wackelig an. Das Schwindelgefühl ist immer noch da. Am liebsten würde sie sich bei ihm bedanken, sagen, dass es ihr gut geht, dass sie allein nach Hause kommt und dort einen Tee trinkt. Aber sie ist sich nicht sicher, ob sie es schaffen würde. Sie flucht vor sich hin, hasst das Gefühl, abhängig zu sein, vor allem von diesem Mann, dem sie aus dem Weg gehen will.

„Bitte was?“, fragt Philip.

„Nichts.“ Moiras Stimme klingt fremd und schwächer als sonst. Sie ist absolut genervt.

Philip runzelt die Stirn, hakt aber nicht nach. „Wir sind gleich da.“

Während sie zum Wagen gehen, fängt er an zu plaudern.

„Es hat noch nie einen Mord in The Homestead gegeben“, sagt er, ohne Luft zu holen. „Das wird das Gesprächsthema in der Gemeinde sein.“

Ich hoffe, dass nicht alle versuchen, mit mir darüber zu reden, denkt Moira.

Sie hört ein klapperndes Geräusch hinter sich und blickt über ihre Schulter in Richtung Park. Hinter der kleinen Gruppe grauhaariger Schaulustiger, die sich an der Absperrung vor den Parktoren versammelt haben, sieht sie, wie die Leute von der Gerichtsmedizin eine Trage mit einem Leichensack über den Weg zwischen den Pickleball-Plätzen schieben. Moira erinnert sich an das letzte Mal, bei dem jemand in einem Leichensack abtransportiert wurde, und beißt sich auf die Lippe. Vor ihrem geistigen Auge taucht sein Gesicht auf. Sie muss schwer schlucken. Mit einem Blinzeln vertreibt sie das Bild, bevor der Kummer und die Wut sie überwältigen.

„Da sind wir“, sagt Philip und hält neben einem glänzenden schwarzen Toyota.

Als er ihr die Beifahrertür öffnet, wirft Moira einen letzten Blick auf den Park und spürt einen undefinierbaren Schmerz. Sie erinnert sich daran, wie sie sich fühlte, als sie die Leiche sah, und von Moira Flynn, der Lebedame im Ruhestand, in ihre alte, ursprüngliche Haut geschlüpft war. Es war ihr vorgekommen, als wäre sie im Autopilot-Modus selbstbewusst, professionell, als wüsste sie genau, was sie zu tun und zu sagen hatte und es hatte sich gut angefühlt. So gut. Als wäre sie wieder von Nutzen. Als würde ihre Existenz wieder einen Sinn haben und sie noch einen Zweck erfüllen.

„Soll ich Ihnen helfen?“, fragt Philip.

„Nein, es geht schon“, sagt sie.

Während Philip zur Fahrerseite geht, dreht sich Moira ein letztes Mal in Richtung Park. Dabei fällt ihr auf, dass sie beobachtet wird. Auf der anderen Straßenseite, halb zusammengekauert hinter einem der geparkten Autos einem silbernen VW-Käfer  steht ein junger, dünn aussehender Mann mit kurzen blonden Haaren und einer schwarzgerahmten Brille. Er starrt sie direkt an. Er trägt einen marineblauen Kapuzenpulli und hat einen dicken kastanienbraun-goldenen Strickschal um den Hals, obwohl es bereits wärmer wird und die Temperatur schon auf 25°C zugehen muss.

Moira begegnet seinem Blick, doch anstatt seine Augen abzuwenden, verhärtet sich sein seltsam durchdringender Gesichtsausdruck. Er hält sein Handy in ihre Richtung und sie kann das Klicken hören, als er ein Foto macht.

„Was zum Teufel machen Sie da? Ihre Stimme ist nicht kräftig, sondern klingt eher zittrig und schüchtern. Moira hasst das. Sie macht einen Schritt auf den Mann zu, aber ihre Sicht verschwimmt wieder und eine weitere Welle von Übelkeit erfasst sie.

„Moira!“ Philip springt aus dem Fahrersitz und eilt um den Toyota herum. Er greift ihren Arm und kann gerade noch verhindern, dass sie fällt. „Bitte, lassen Sie mich Ihnen helfen.“

„Haben Sie ihn gesehen?“, fragt sie.

Philip schüttelt den Kopf, runzelt die Stirn. „Wen gesehen?“

Moira dreht sich erneut zu dem geparkten VW auf der gegenüberliegenden Straßenseite, aber da ist niemand, weder stehend noch kauernd. „Ich … Ich dachte, ich …“ Sie schüttelt den Kopf, fragt sich, ob sie sich das nur eingebildet hat. „Ist nicht wichtig.“

Mit Philips Unterstützung steigt sie langsam ins Auto. Ihr ist immer noch übel und es fällt ihr schwer zu schlucken. Sie lässt sich auf den Beifahrersitz fallen. Beim Anschnallen hört sie immer wieder die Stimme der Polizeiärztin in ihrem Kopf: Du brauchst Zeit, um zu heilen, und das musst du an einem sicheren Ort tun, fernab von Gewalt. Sonst wird sich nie etwas ändern.

Du bist im Ruhestand, sagt sie sich. Du bist nicht mehr der Mensch, der du früher warst. Das Ermitteln ist nicht dein Job und das ist nicht dein Tatort. Du hast jetzt ein anderes Leben. Du musst verdammt noch mal loslassen.“

4

Lizzie

Lizzie steht mit dem Pinsel in der Hand vor ihrer Staffelei und wirft einen Blick auf das Foto, das oben an der Leinwand heftet. Das Licht im Wintergarten ist um diese Tageszeit immer perfekt, doch heute hilft auch das nicht. Das Abbild von Dolly einzufangen, dem alternden Spaniel ihres Nachbarn, der zwei Häuser weiter wohnt, erweist sich als Herausforderung. Die leicht schielenden Augen des Hundes sind schwer zu treffen.

Kopfschüttelnd steckt sie den Pinsel in das Gefäß mit Terpentin. Sie hat keine Zeit mehr, um jetzt noch etwas an den Augen zu verändern. Philip und Moira werden jeden Moment hier sein. Seit Philips Nachricht müssen fast fünf Minuten vergangen sein. In den letzten Wochen hat es eine Serie von Einbrüchen gegeben und nach dem, was Philip gesagt hat, scheint Moira das neuste Opfer zu sein.

Wenn sie ehrlich ist, überrascht es sie, dass Moira hierherkommt. Lizzie hatte sie sofort gemocht, als sie sich kennenlernten. Gemeinsam hatten sie über die peinliche Pose des herabschauenden Hundes sowie über die unglaublich flexible Yogalehrerin gelacht, die mindestens zehn Jahre älter als sie sein musste. Vor ein paar Wochen waren sie einen Kaffee trinken gegangen und hatten sich auch für nach der nächsten Yogastunde verabredet, aber dann … nichts. Moira war nicht mehr zum Unterricht erschienen. Sie hatte Lizzie weder ihre Adresse noch ihre Handynummer gegeben. Danach waren sie sich im Publix über den Weg gelaufen und Lizzie hatte eindeutig den Eindruck, dass Moira verzweifelt versuchte, so schnell wie möglich von ihnen wegzukommen. Es war seltsam.

Lizzie ist noch dabei, ihre Farben wegzupacken, als sie Philips Schlüssel in der Tür hört. Sie huscht ins Badezimmer, wäscht sich einen Farbklecks von der Wange und eilt dann hinaus in den Flur. Philip und Moira sind bereits drinnen. Philip hängt seinen Mantel in den Schrank im Flur. Moira steht mit den Armen verschränkt da und sieht aus, als fühle sie sich unbehaglich.

Lizzie wechselt in den Gastgebermodus, eine Rolle, die sie genießt. „Willkommen, Moira.“

„Hast du einen Regenbogen geschlachtet?“, sagt Philip und mustert ihre mit Farbe bespritzte Latzhose. Er drückt Lizzie einen Kuss auf die Wange, während er seine Schlüssel in die Schale auf der Kommode fallen lässt.

„So etwas in der Art.“ Lizzie wischt sich die noch feuchten Hände an ihrer Latzhose ab und dreht sich zu Moira um. „Entschuldigen Sie meine Aufmachung, ich neige dazu, die Zeit zu vergessen, wenn ich male.“

Moira schaut verunsichert. „Ich möchte nicht stören.“

„Sie stören überhaupt nicht. Möchten Sie einen Tee, einen Kaffee, vielleicht etwas Stärkeres?“ Lizzie blickt ihren Mann an und dann wieder Moira. Normalerweise wirkt sie mutig und selbstbewusst, doch in diesem Augenblick sieht Moira blass und niedergeschlagen aus. Philip scheint sie am Ellbogen zu stützen. „Geht es Ihnen gut?“

„Ihr ist ein bisschen schwindlig geworden“, sagt Philip. „Sie braucht einen süßen Tee und ein paar Kekse, dann geht es ihr wieder besser.“

„Ich würde Kaffee bevorzugen, wenn das in Ordnung ist.“

„Selbstverständlich.“ Lizzie lächelt, während sie Moira erneut begutachtet. Ihre Augen wirken abwesend und ihre Stimme zittrig, ganz anders als sonst. „Ich glaube, Sie sollten sich hinsetzen.“ Sie deutet zu den Hockern in der Küche, die auf der anderen Seite der Insel stehen. „Kommen Sie, setzen sie sich und erzählen Sie mir, was passiert ist.“

Philip hilft Moira, auf einen Hocker der Kücheninsel und nimmt dann ihr gegenüber Platz. Lizzie holt drei weiße Tassen aus dem Schrank und stellt sie auf der weißen Arbeitsplatte aus Granit ab. Sie nimmt die Thermoskanne von der Warmhalteplatte der Kaffeemaschine und schenkt jedem von ihnen einen starken Kaffee ein. Moiras Tasse fügt sie drei Stück Zucker bei. Die drei Kaffees stellt sie vor Moira, Philip und dem freien Hocker neben ihm ab. Dann holt sie eine Packung Butterkekse aus dem Schrank und kippt sie auf einen Teller. Den Teller stellt sie Moira hin.

Während Lizzie auf den freien Hocker steigt, nimmt Moira sich einen der Kekse. Sie knabbert eine Ecke ab und legt den Rest neben ihrer Kaffeetasse auf den Tresen. Lizzie hofft, dass Philip es nicht bemerkt. Er hasst Krümel.

Philip tippt mit einem Finger auf seinem Telefon herum. Seine Lippen sind vor Konzentration gespitzt. Als sie sich setzt, blickt er kurz zu ihr auf. „Ich schicke Rick eine Nachricht. Wir müssen ein Treffen der Gemeindewache einberufen mal sehen, ob eine der Patrouillen letzte Nacht etwas gesehen hat.“

„Gute Idee“, sagt Lizzie. Die Gemeindewache ist Philips neue Besessenheit seine Art, etwas Gutes für die Nachbarschaft zu tun. Lizzie weiß, wie wichtig das für ihn ist. Er hatte schon immer das Bedürfnis, eine Aufgabe zu haben oder irgendeinen Kreuzzug anzuführen. Seit er Anfang des Jahres die Leitung des Tall Grass Golf Clubs abgegeben hat, fühlt er sich nutzlos. Ihr wäre es am liebsten, wenn seine Kreuzzüge nichts mit Strafverfolgung zu tun hätten. Aber sie ist der Meinung, dass im Vergleich zu anderen Verbrechen, Einbrüche eher zu den gewaltloseren gehören. Lizzie schaut zu Moira hinüber. „Philip hat etwas von einem Verbrechen erwähnt, wurden sie ausgeraubt?“

Moira schüttelt den Kopf. „Heute Morgen lag eine Leiche im Schwimmbecken.“

Lizzie holt stark Luft, spürt, wie sich ihre Brust zusammenzieht. Es gab noch nie einen Mord in The Homestead. Bis vor etwa einem Monat hat es dort noch nie auch nur irgendeine Art von Verbrechen gegeben. Das ist einer der Gründe, weshalb sie sich entschieden haben, hier zu leben. In ihrer beruflichen Laufbahn haben sie beide mehr als genug erlebt. The Homestead wählten sie, um all das zu vergessen. Lizzie runzelt die Stirn. Sie versucht, Moira nicht zu zeigen, dass die Nachricht sie erschüttert hat. „Wirklich? Das kommt … unerwartet.“

Moira nimmt noch einen Bissen vom Butterkeks. „Das dachte ich auch.“

Lizzie wirft einen Blick auf ihren Mann, aber der tippt immer noch. Seine ganze Aufmerksamkeit gilt dem Bildschirm seines Telefons. Was auch gut so ist, denn die Krümel von Moiras halb gegessenem Butterkeks breiten sich aus. Lizzie versucht, nicht hinzusehen. „Philip sagte, Sie waren in einem Krankenwagen. Sind Sie verletzt worden?“

„Nein, nichts dergleichen. Die Sanitäter haben nur ein bisschen Theater gemacht und gesagt, ich solle ins Krankenhaus gehen. Aber das war nicht nötig.“

Einen Moment lang sagt Lizzie nichts. Sie hat gesehen, wie sich Moiras Nasenlöcher aufblähten, als sie fragte, ob sie verletzt sei. Dann war da noch die Art, mit der sie beim Erwähnen der Sanitäter wegschaute. Lizzie ist sich ziemlich sicher, dass Moira etwas verbirgt. Sie lehnt sich über den Tresen und senkt ihre Stimme. „Sind Sie sicher, dass es ihnen gut geht?“

„Mir gehts gut, wirklich. Mir ist nur ein bisschen schwindlig geworden. Manchmal sinkt mein Blutzuckerspiegel.“ Moira macht eine Pause und nimmt einen weiteren Bissen vom Butterkeks. „Aber das hier hilft mir, danke.“

Lizzie sagt nichts. Sie ist nicht überzeugt.

Moira schenkt ihr ein gezwungenes Lächeln. „Hören Sie, Sie brauchen sich keine Sorgen um mich zu machen. Ich bin nicht leicht zu verängstigen.“

Lizzie fragt sich, was für einen Beruf Moira früher ausgeübt hat. Wenn sie die Leiche nicht schockiert hat, war sie vielleicht Krankenschwester, Sanitäterin oder Ärztin, irgendetwas, bei dem der Tod zur Arbeit gehörte. Als Tatort-Ermittlerin hat Lizzie das Nachspiel aller Arten von Verbrechen gesehen. Um so etwas jeden Tag zu ertragen und dennoch bis zur Pensionierung am Job festzuhalten, muss man eine bestimmte Art Mensch sein. „Ja, mag schon sein. Trotzdem muss es ein Schock gewesen sein. Tatorte sind ziemlich schrecklich.“

„Das ist wahr, aber es war dennoch seltsam, dort wegzugehen. Weil ich sie gefunden habe, hatte ich das Gefühl, ich sollte bleiben und irgendwie helfen.“

Lizzie nickt, als würde sie es verstehen, aber in Wirklichkeit tut sie es nicht. Sie mag den Ruhestand. Es ist die Zeit zum Entspannen und um die einfachen Freuden zu genießen. Die Menge an Leichen und Körperflüssigkeiten, mit denen sie zu tun hatte, reicht für ein ganzes Leben, und Philip erträgt das Ganze überhaupt nicht mehr. Deshalb gefällt es ihr in The Homestead es ist wie ein Dauerurlaub, ein Ort, an dem nur gute Dinge passieren. Sie möchte nicht an all die schrecklichen Dinge erinnert werden, die sich die Menschen gegenseitig antun. Ihrer Meinung nach hat sie das verdient.

„Erzählen Sie uns, was Sie gesehen haben, Moira“, sagt Philip. Er legt sein Telefon auf den Tresen und nimmt seinen Kaffee. „Wie haben Sie die Leiche gefunden? Gab es irgendeine Spur vom Mörder? Ist Ihnen etwas Ungewöhnliches im Park aufgefallen?“

Lizzie hält den Blick auf ihren Mann gerichtet. Zu oft schon hat sie diesen lebhaften Ausdruck gesehen. Immer, wenn er an einem großen Fall gearbeitet hat. Fälle wie dieser haben ihn jedes Mal völlig vereinnahmt. Wie ein besessener Bluthund auf Spurensuche arbeitete er pausenlos. Er liebte es und lebte dafür. Bis zu dem Moment, als ein Herzinfarkt und ein in die Höhe schießender Blutdruck ihn zwangen, alles aufzugeben.

Lizzie beißt sich auf die Lippe. Der Ausdruck auf seinem Gesicht ist zurück und sie weiß, die Besessenheit wird nicht lange auf sich warten lassen. Sie holt tief Luft und gibt einen kaum hörbaren Seufzer von sich.

Ihr entspannter Ruhestand ist im Eimer. Jetzt kann sie nur noch Schadensbegrenzung betreiben und hoffen, dass ihr friedliches Leben hier nicht erzwungenermaßen beendet wird.

5

Moira

Moira möchte nicht hier sein und schon gar nicht über den Mord sprechen. Je mehr sie darüber reden, desto größer ist die Gefahr, dass sie sich verplappertund sie beiden könnten dahinterkommen, dass sie eine Vergangenheit als Gesetzeshüterin hat. Das will sie nicht.

„Also, erzählen Sie mal, wie war es?“ Philips Tonfall ist diesmal dringlicher, bestimmender. Er sieht sie mit Übereifer an, wie es eine Katze mit einer in die Enge getriebenen Maus tut. „Ich will alle Einzelheiten.“

Sein Ton gefällt ihr nicht. Ginge es ihr ein wenig besser, würde sie ihm sagen, dass er sie in Ruhe lassen soll, und einfach weggehen. Aber es geht ihr nicht besser. Sie fühlt sich immer noch seltsam ein wenig benommen und abwesend. Noch geht es ihr nicht gut genug, um nach Hause zu laufen, was bedeutet, dass sie hier vorerst festsitzt. Es ist einfacher, nachzugeben und seine Fragen zu beantworten, als sich zu widersetzen. Aber sie muss vorsichtig sein. „Vom Mörder gab es keine Spur, aber ich glaube, im Pool stimmte etwas nicht.“

„Was genau?“, fragt Philip und beugt sich etwas vor. Seine Augen leuchten und sein Telefon, das auf dem Tresen surrt, scheint vergessen. Er ist ganz auf sie fokussiert.

Lizzie hingegen scheint abgelenkt zu sein. Sie runzelt die Stirn, während sie ihren Becher auf dem weißen Granit hin und her dreht.

Moira zögert. Sie denkt über den Tatort nach das Blut auf der Brust des Opfers, die schwimmenden Dollarscheine und die auf den Grund des Pools gesunkene Tasche es war keine natürliche Todesursache oder ein Unfall, sondern ein gewaltsamer und verdächtiger Tod. Die Art von Rätsel, die einen beschäftigt. In ihrem vorherigen Leben hat Moira bereits an solchen Fällen gearbeitet und weiß, wie gefährlich sie sind. Das Bedürfnis zu wissen, was passiert ist, kann zu einer Art Besessenheit werden.

Eigentlich sollte sie solchen Wahnsinn meiden. Es ist nicht mehr ihre Welt. Ihr altes Leben hat sie abgestreift, wie eine Haut, die ihr nicht mehr passt, und jetzt ist sie ein anderer Mensch. Sie denkt an die letzten Worte die Polizeiärztin zurück. Wie diese noch einmal betonte, dass Moira sich von Gewalt und Gefahr fernhalten müsse. Ihre mahnenden Worte: Du musst dir die Zeit nehmen, um zu heilen.

Moira blickt von Philip zu Lizzie. Sie kann ihnen nichts von alldem erzählen, sie dürfen ihr Geheimnis nicht erfahren. Da beide in der Strafverfolgung tätig waren, ist jede Sekunde, die sie mit ihnen verbringt, riskant. Und je mehr sie über das Gesehene spricht, desto tiefer wird sie in deren Welt hineingezogen. Sie muss hier weg, und zwar sofort.

Sie hält sich an der Arbeitsplatte fest und lässt ihre Füße auf den Boden gleiten. Ihre Beine fühlen sich schwach an, als würden sie ihr Gewicht nicht tragen können. Sie versucht aufzustehen, doch ihre Knie geben nach. Mit einem Ruck setzt sie sich zurück auf den Hocker. Es ist hoffnungslos, sie ist hier gefangen.

„Alles in Ordnung?“, fragt Lizzie und schiebt Moira den Teller mit Butterkeksen zu. „Nehmen Sie noch einen.“

„Danke.“ Moira hasst es, wie schwach sie klingt. „Um ehrlich zu sein, geht es mir nicht sonderlich gut.“

„Am besten bleiben Sie eine Weile hier, damit wir uns um Sie kümmern können“, sagt Philip. „Und erzählen Sie uns alles, was Sie gesehen haben. Geteiltes Leid ist halbes Leid und so weiter. Es wird Ihnen helfen, uns davon zu erzählen, danach werden Sie sich besser fühlen. Lassen Sie kein Detail aus  ich weiß, für Sie, als Zivilistin, ist das schwierig, aber wir haben bei der Polizei gearbeitet und wissen damit umzugehen.“

Moira ist sich sicher, Dass sie sich dadurch nicht besser fühlen wird. Doch sie ist nicht in der Lage, sich zu wehren. Sie nimmt einen Schluck ihres Kaffees und verzieht das Gesicht wegen der Überdosis Zucker. Philip ist so wissbegierig, dass ihm praktisch das Wasser im Mund zusammenläuft. Er nickt aufmunternd, während sie gegen das Verlangen ankämpft, ihm zu sagen, dass sie mehr als fähig ist, mit den Details eines Tatorts umzugehen und dass sie schon genügend Mordfälle bearbeitet hat.

Sie öffnet den Mund, um zu antworten.

Die Hintertür fliegt auf und knallt gegen die Wand, sodass die Gläser in der Vitrine neben der Tür klappern.

Moira zuckt zusammen und dreht sich zu dem Geräusch um. „Was zum …?“

Ein breitschultriger Kerl, so groß wie ein Berg, stapft in die Küche. Sein weißes Haar, sein dunkler Teint und seine riesigen Arme lassen ihn wie Popeyes älteren, muskulöseren Bruder aussehen. Er hat eine raue, tiefe Stimme und sein Akzent scheint mehr aus Boston als aus Florida zu stammen.

„Ich habe die Truppe zum Einsatz berufen. Das Treffen ist in einer halben Stunde.“

„Ausgezeichnet“, sagt Philip und deutet in ihre Richtung. „Moira hier hat die Leiche gefunden, sie wird uns erzählen, was sie gesehen hat.“

„Klingt gut“, sagt der Berg von einem Mann. Er gießt sich eine Tasse Kaffee ein, geht quer durch die Küche zu dem Platz neben Moira und lehnt sich mit der Hüfte gegen den Tresen.

Philip zeigt auf den leeren Hocker. „Setz dich.“

„Ich steh lieber“, sagt der große Mann. Er sieht Moira an. „Fahren sie einfach fort.“

Moira runzelt die Stirn. Wer zum Teufel ist dieser Kerl? Jetzt, da er sich vor ihr auftürmt, wirkt die Küche, die eben noch so groß und geräumig schien, eher wie ein Hobbit-Haus. „Und Sie sind?“

„Ich bin Rick, Ma’am.“ Er stellt seinen Kaffee ab und streckt ihr seine Hand zur Begrüßung entgegen. „Rick Denver.“

Moira schüttelt seine Hand. Sie ist mindestens doppelt so groß wie ihre. Er hat einen festen Griff und eine kühle, trockene Handfläche. „Ich bin Moira.“

„Toller Akzent“, sagt Rick und grinst. „Ich schätze, Sie sind auch aus England hergezogen, wie diese beiden?“

Er spricht das Wort England aus, als hätte es drei Silben – En-ger-land. Und sein Lächeln lässt ihn weniger imposant, sondern eher albern aussehen. Aber Moira ist nicht bereit, ihre Deckung aufzugeben. „Das bin ich.“

„Sie wohnen hier?“ Er hält ihren Blickkontakt.

Sie nickt kurz. „Bin letzten Monat eingezogen.“

„Cool.“ Rick blickt flüchtig von Moira zu den anderen. „Also, der Tatort. Was genau haben Sie gesehen?“

Moira zögert. Die Vorstellung, es Lizzie und Philip zu erzählen, hatte ihr bereits missfallen, und jetzt, wo dieser Rick da ist, ist sie noch weniger scharf darauf.

„Schießen Sie los“, sagt Philip und nickt ermutigend. „Rick war beim Drogendezernat. Er ist ein Gesetzeshüter, genau wie ich und Lizzie.“

So wie ich auch, denkt Moira, aber sie sagt nichts. So ein Mist hat ihr gerade noch gefehlt  noch eine Person aus der Strafverfolgung.

„Ist schon gut“, sagt Philip. „Machen sie einfach weiter. Bei uns sind Sie vollkommen sicher.“

Sie unterdrückt den Drang, ihm mitzuteilen, dass sie selbst Polizistin war und seine herablassenden Zusicherungen nicht braucht. Stattdessen schaut Moira zu Rick. „Stimmt das, Sie waren bei der DEA?“

„Na klar. Ich war einundvierzig Jahre dabei. Ein echter Langzeitläufer.“

Moira starrt ihn an. Sie muss auf der Hut sein, um sich nicht zu verraten. Nach Jahren als verdeckte Ermittlerin wird es zur Gewohnheit, automatisch das zu tun, was einen am Leben hält. Aber sie muss sich eingliedern, um keinen Verdacht zu erregen. Deshalb atmet sie einmal tief durch und zwingt sich zu lächeln. „Nun, wie ich schon sagte, es gab ein paar Dinge im Pool, die nicht dort hingehörten und keinen Sinn ergaben.“

Lizzie hört auf, ihre Tasse auf dem Tresen zu drehen. „Wie?“

„Nun, als ich mit dem Detective sprach, schien er davon auszugehen, dass es sich um einen Überfall handelte, aber das kam mir seltsam vor.“ Moira versucht, ihre Stimme unsicherer klingen zu lassen, als würde sie von etwas sprechen, von dem sie keine Ahnung hat. „Ich meine, wenn es ein Überfall war, warum hat der Mörder das ganze Geld und die …“

„Warte.“ Philip streckt seine Hand aus, um sie zu unterbrechen. „Welches Geld? Wie viel? Wo …?“

„Erzählen Sie uns alles von Anfang an“, sagt Rick und übergeht Philip. „Beschreiben Sie, wie Sie den Tatort vorgefunden haben.“

„Okay.“ Dieser neue Typ, Rick, hat etwas Anständiges und Ehrliches an sich. Er scheint interessiert, aber er ist nicht aufdringlich wie Philip. Dadurch ist Moira eher breit zu reden. Sie schließt die Augen und konzentriert sich auf ihre Erinnerung. „Also, ich ging durch das Gittertor zum Pool. Wie immer um diese Uhrzeit war es geschlossen, als ich ankam. Ich öffnete es also und ging Richtung Schwimmbecken. Die Flutlichtanlage aktiviert sich durch einen Bewegungsmelder. Sobald diese sich eingeschaltet hatte, sah ich sie. Sie trieb auf dem Rücken, und obwohl ich ihr Gesicht noch nicht sehen konnte, wusste ich, dass sie tot war.“ Moira öffnet ihre Augen und sieht Rick an. „Es war seltsam, dass ich es selbst aus dieser Entfernung erkennen konnte. Ich glaube, es lag an der Reglosigkeit, mit der sie im Wasser trieb?“

Ricks Gesichtsausdruck ist ernst. „Ja, könnte sein.“

Philip beugt sich über die Arbeitsplatte. „Was haben Sie als Nächstes getan?“

„Ich eilte zum Beckenrand. Die Frau trieb in der Mitte. Sie war jung, höchstens zwanzig und hatte langes schwarzes Haar, das sich im Wasser um ihren Kopf gefächert hatte. Sie trug ein gelbes Kleid, und als ich näherkam, konnte ich Blut auf ihrer Brust und dem Oberteil des Kleides erkennen.“

„Haben Sie sie erkannt?“, sagt Lizzie.

Moira schüttelt den Kopf. „Nein.“

„Und das Geld?“, fragt Philip.

„Das war mit ihr im Pool. Es trieb an der Oberfläche, wie ein Ölteppich aus Dollarscheinen. Es müssen Tausende von Scheinen gewesen sein.“

Lizzie schlägt die Hände über dem Kopf zusammen. „Wenn es ein Überfall war, macht es keinen Sinn, dass der Mörder das ganze Geld im Pool gelassen hat.“

Moira begegnet ihrem Blick. „Ganz genau. Es sei denn, er war nicht hinter dem Geld her.“

Rick runzelt die Stirn. „Konnten Sie noch mehr beobachten?“

„Da war eine schwarze Tasche auf dem Grund des Pools.“

„Wie eine Handtasche?“, fragt Lizzie.

Moira schüttelt den Kopf. „Ich konnte es nicht richtig sehen, wegen all der Dollarscheine auf der Oberfläche, aber ich glaube, es war ein Rucksack. Er lag einfach auf dem Boden, was mir seltsam vorkam  es muss etwas sehr Schweres drin gewesen sein.“

„Glauben Sie, das war es, was der Mörder gesucht hat?“, fragt Philip.

„Ich weiß es nicht. Vielleicht.“

Lizzie legt den Kopf auf die Seite und runzelt die Stirn. „Warum wurde es dann nicht mitgenommen?“

„Es könnte sein, dass er nicht schwimmen konnte“, sagt Moira. „Das Schwimmbecken ist durchgehend tief. Es hat kein flaches Ende.“

„Vielleicht wurde der Täter gestört?“, schlägt Philip vor.

„Wenn es kein Raubüberfall war und er nicht hinter dem Geld her war, hat er vielleicht doch bekommen, was er wollte.“ Rick fährt sich mit der Hand übers Kinn. „Wir wissen nur nicht, was das war.“

Lizzie schüttelt den Kopf. „Aber wer lässt schon so viel Geld zurück, selbst wenn es nicht sein Hauptmotiv war? Wenn es einfach so herumtrieb …“

„Nun, ist das nicht die Millionen-Dollar-Frage?“ Rick schaut von Lizzie zu Moira. „Waren Sie da, als die Ermittler die Tasche aus dem Pool zogen?“

Moira nickt. „Ja, aber ich war zu weit weg. Ich versuchte, näher heranzugehen, aber die Polizisten haben mich aufgehalten. Ich konnte keinen klaren Blick darauf werfen.“

„Aber?“, fragt Philip nach.

„Nichts aber.“ Moira sieht ihn stirnrunzelnd an. „Wie ich schon sagte, ich kam nicht nahe genug ran. Als sie die Tasche herausfischten, kam ein Detective zu mir, sein Name war Golding. Er stellte mir ein paar Fragen und danach bestanden die Sanitäter darauf, dass ich zurück in den Krankenwagen komme. Den Rest kennen Sie.“

„Ich nehme an, Sie halten nicht allzu viel von diesem Detective?“, sagt Rick.

Sie schenkt ihm ein kleines Lächeln. „So offensichtlich, was?“

Rick lächelt zurück, wobei sich die Lachfalten um seine Augen vertiefen. „Irgendwie schon.“

„Wissen Sie, er war nicht bei der Sache und am Ende einer Nachtschicht. Es schien, als wolle er nicht dort sein oder habe keine Zeit dafür.“ Sie holt Luft. „Ich fand, die Frau im Pool, wer auch immer sie war, hätte etwas Besseres verdient.“

Rick schaut mitfühlend drein. Lizzies Blick ist auf Philip gerichtet, der die Stirn runzelt.

Moira fragt sich, ob sie ihnen die Wahrheit darüber sagen soll, was sie getan hat.

Philip schüttelt den Kopf. Er sieht ernst aus. „Jedes Opfer verdient Gerechtigkeit.“

Rick und Lizzie nicken zustimmend. Moira trifft ihre Entscheidung.

„Das tun sie. Deshalb habe ich die Bilder nicht gelöscht.“ Sie holt ihr Handy aus der Tasche ihres Kapuzenpullis, entsperrt den Bildschirm und öffnet ihre Fotos. „Ich weiß, es mag unheimlich erscheinen, aber …“ Sie zuckt mit den Schultern.

Sie hält ihr Handy in Richtung der Gruppe und blättert durch die Fotos, die sie, noch vor dem Eintreffen der Polizei, am Tatort gemacht hat. Die ersten Bilder zeigen den Pool und die Terrasse aus einem weiten Winkel. Dann kommen die Nahaufnahmen, die im frühen Sonnenlicht brutal wirken  die junge Frau im Pool, mit purpurroten Flecken auf der Brust und dem gelben Kleid, die Blutspur und die Spritzer auf den Steinkanten, die auf dem Wasser treibenden Dollarscheine, die schwarze Tasche am Grund des Beckens.

Einen Moment lang spricht keiner von ihnen, bis Rick schließlich fragt: „Haben Sie diesem Detective Golding gesagt, dass Sie die haben?“

„Nein. Ich wollte sie löschen.“ Ihr Blick begegnet Ricks. „Aber dann, als er so abwesend schien, konnte ich mich nicht dazu durchringen. Ich fühlte mich in die ganze Sache verwickelt, weil ich die Leiche gefunden hatte. Fast so, als müsse ich etwas unternehmen, um mir selbst zu helfen, verstehen Sie? Als ob ich irgendwie verantwortlich wäre.“

Philip nickt. Rick ebenfalls.

„Das ist verständlich“, sagt Lizzie mit einem mitfühlenden Gesichtsausdruck. „Jemanden tot aufzufinden, ist eine große Sache.“

„Ja, ja“, sagt Philip und tätschelt Moira den Arm. „Es ist furchtbar, selbst wenn man ein ausgebildeter Profi ist und sich an Tatorte gewöhnt hat. Aber für eine Zivilistin wie Sie muss es besonders hart sein.“

„Darum geht es nicht.“ Moira lässt sich nicht auf Philips herablassenden Kommentar ein. Stattdessen tippt sie auf den Bildschirm und vergrößert das Gesicht der jungen Frau – die Augen geöffnet, und dennoch blind. Während sich der Griff um ihr Telefon verstärkt, blickt Moira zu den drei pensionierten Gesetzeshütern. Ihre Stimme zittert wieder beim Sprechen, und das ist nur teilweise auf das Schwindelgefühl zurückzuführen. „Die Art und Weise, wie dieser Detective Golding völlig unbeeindruckt schien, hat mich wirklich verärgert. Diese arme junge Frau ist letzte Nacht gestorben. Irgendjemand sollte sich dafür interessieren, was ihr widerfahren ist.“