Leseprobe Mord in Southwark | Ein viktorianischer Krimi

Kapitel 1

London 1838

Miss Caroline Morton nahm die Morgenpost von dem Silbertablett, das der Butler neben ihrem Teller abgestellt hatte. Der Großteil war offenkundig für ihre Arbeitgeberin Mrs Frogerton. Es war ein heller, fröhlicher Morgen und Caroline saß allein im Frühstückssalon des angemieteten Hauses in der Half Moon Street. Ihre Arbeitgeberin, Mrs Frogerton, schlief noch nach einem späten Gesellschaftsball am Vorabend, den Mrs Frogertons Tochter, Dorothy, durchgetanzt hatte.

Caroline hatte ebenfalls dem Ball beigewohnt, da sie allerdings selbst nicht getanzt hatte, war es für sie nicht besonders anstrengend gewesen, sodass sie heute zur üblichen Zeit aufgestanden war, um ihren Tag einzuläuten. Die diesjährige Saison neigte sich dem Ende zu und Caroline würde bald entscheiden müssen, ob sie Mrs Frogertons Angestellte bleiben wollte oder sich eine andere Anstellung in London suchen würde.

Ihre Arbeitgeberin hatte ihr nachdrücklich zu verstehen gegeben, dass Caroline sie gern zurück in den Norden begleiten konnte, wenn Dorothy sich am Ende der Saison für eine Heirat entschied. Und das schien derzeit sehr wahrscheinlich. Trotz der anfänglichen Bedenken darüber, eine bezahlte Anstellung anzunehmen, nachdem ihr nichtsnutziger Vater sie mittellos zurückgelassen hatte, hatte Caroline Mrs Frogerton inzwischen zu bewundern gelernt. Ihre Arbeitgeberin behandelte sie wie eine Tochter und hatte bereits in mehr als einer schwierigen Situation, darunter auch ein Mord in der Familie, zu ihr gestanden.

Caroline legte den Stapel von Einladungen beiseite und nahm sich den Rest der Briefe vor. Zwei Schreiben waren an sie adressiert, eines davon von ihrer Schwester Susan, die derzeit in Kent zur Schule ging. Susan hatte Caroline noch immer nicht verziehen, dass sie sie ins Internat geschickt hatte. Ihre Briefe waren daher meist gestelzt, kurz und ausgesprochen anklagend. Jedes Übel der Welt vom Wetter, über die Ungerechtigkeit ihrer Französischlehrerin bis hin zum Mangel an modischen, neuen Kleidern war laut Susan in irgendeiner Form Carolines Schuld.

Caroline steckte sich den Brief ungelesen ein. Es war ein schöner Tag und sie freute sich darauf, im Hyde Park mit Mrs Frogerton und ihren Hunden spazieren zu gehen. Wenn Caroline jetzt Susans neueste Auflistung von Beschwerden las, würde das nur ihre fröhliche Stimmung trüben. Ganz besonders, weil sie nicht über das Geld verfügte, um an den Klagen ihrer Schwester irgendetwas zu ändern. Mrs Frogerton bezahlte großzügigerweise das Schulgeld für Susan und Caroline achtete sehr darauf, dass ihre Arbeitgeberin nichts von Susans Beschwerden mitbekam.

Ihre Hand verweilte kurz an ihrer Tasche. Sie hatte Susan in ihrem letzten Brief gefragt, ob diese sie zur Trauerfeier ihrer kürzlich verstorbenen Tante nach Greenwood Hall begleiten wollte. Caroline selbst würden in zwei Tagen dorthin aufbrechen, und sie wusste, dass sie den Brief besser öffnen sollte, um nachzusehen, ob Susan mitkommen wollte. Mit einem resignierten Seufzer nahm sie also das Schreiben wieder aus der Tasche, entfaltete es und fing an zu lesen. Es war nicht besonders lang.

Liebe Caroline,

Ich habe keinerlei Absicht, dich irgendwo hinzubegleiten. Wenn du dich nicht eingemischt hättest, würde ich noch bei Cousine Mabel leben und wäre nicht auf diese furchtbare Schule gezwungen worden. Bitte richte meinen Cousins und Cousinen mein Beileid aus.

Susan.

Caroline steckte den Brief wieder ein. Susan hatte einen Großteil ihrer Kindheit in Greenwood Hall in der Obhut von Tante Eleanor verbracht, daher war Caroline enttäuscht, dass sie sich nicht dazu durchringen konnte, persönlich zur Beerdigung zu erscheinen. Es war eine Sache, dass Susan über Carolines Rolle in den jüngsten familiären Turbulenzen erbost war, aber sich deswegen zu weigern, den Verstorbenen die letzte Ehre zu erweisen? Caroline fiel es schwer, das einfach so hinzunehmen.

„Was ist denn los, meine Liebe?“, fragte Mrs Frogerton, die gerade den Frühstückssalon betrat. „Sie schauen drein, als hätte jemand Ihr liebstes Haustier ermordet.“

Sie war bereits für den bevorstehenden Tag eingekleidet und trug ein karmesinrotes Seidenkleid mit Spitzenbesatz und ein dazu passendes Häubchen. Ihre Hunde tollten mit großem Enthusiasmus um sie herum und sie machte es sich auf dem Stuhl gegenüber von Caroline bequem. Ihre lebhafte Miene glühte förmlich vor Interesse.

Caroline unterdrückte ein Seufzen. „Susan will mich nicht auf die Trauerfeier von Tante Eleanor begleiten.“

„Nun, das kommt doch sicher nicht überraschend, oder? Ihre Schwester hat Ihnen nicht verziehen, dass Sie sie aus Greenwood Hall geholt und ins Internat gesteckt haben.“ Mrs Frogerton hielt inne, damit der Butler eine Tasse Kaffee auf dem Tisch vor ihr abstellen konnte. „Wenn Sie mich fragen, meine Liebe, dann glaube ich trotzdem, dass Sie das Richtige getan haben.“

„Hoffentlich wird das auch Susan irgendwann einsehen.“ Caroline erhob sich. „Kann ich Ihnen einen Teller bringen, Madam? Die Coddled Eggs und die Pilze sind ausgezeichnet.“

„Das klingt wunderbar.“ Mrs Frogerton nippte an ihrem Kaffee. „Und sehen Sie das Gute daran: Wenn Susan uns nicht begleitet, haben wir auf unserer Reise nach Norfolk mehr Platz in der Kutsche.“

Caroline stellte den Teller vor ihrer Arbeitgeberin ab. „Ich erwarte nicht, dass Sie mich begleiten, Madam. Ich habe genug Geld zusammengespart, um mir eine Fahrt mit der Postkutsche leisten zu können.“

„Als ob ich Sie allein an diesen Ort reisen lassen würde!“ Mrs Frogerton funkelte sie an. „Als ein früherer Gast des Hauses empfinde ich es als meine Pflicht, Ihrer Tante die letzte Ehre zu erweisen. Ich habe bereits für morgen früh um acht Uhr eine Kutsche bestellt. Ich muss Sie aber vorwarnen, dass ich keinerlei Absicht habe, in Greenwood Hall zu übernachten. Sollten wir nach der Zeremonie die Rückreise nach London nicht mehr antreten können, werden wir in einem der örtlichen Gasthäuser wohnen und unsere Reise am nächsten Morgen fortsetzen.“

„Ich selbst habe ebenfalls kein besonderes Verlangen, dort lange zu verweilen, Madam.“ Caroline unterdrückte ein Erschaudern. „Da meine Tante eine sehr praktisch orientierte Frau war, vermute ich, dass die Trauerfeier einen relativ kleinen Rahmen haben wird.“

„Das sehe ich auch so. Und von Ihrem Cousin Nicholas erwarte ich auch nicht, dass er einen aufwendigen Leichenschmaus plant“, ergänzte Mrs Frogerton. „Er hat keine Frau, die etwas Derartiges organisieren könnte, und kein Personal, um es umzusetzen.“ Sie probierte das Ei und strahlte Caroline an. „Das ist wirklich ausgezeichnet! Schmecke ich da eine Spur Senf heraus?“

„Ich werde die Köchin fragen. Sie wird sich sehr freuen, dass es Ihnen schmeckt.“

Caroline schob die zwei Stapel Briefe zu Mrs Frogerton hinüber. „Ihre geschäftliche Post liegt auf dem linken, die Einladungen auf dem rechten Stapel.“

Mrs Frogerton stöhnte theatralisch. „Vielleicht könnten Sie sich mit Dorothy bezüglich der Einladungen absprechen? Ich muss gestehen, dass ich es kaum erwarten kann, nach Hause zurückzukehren und keinen Tag meines Lebens mehr auf einem Gesellschaftsball verbringen zu müssen.“

„Das meinen Sie bestimmt nicht so, Madam. Sie sind ein gern gesehener Gast.“

„Mein Geld ist vielleicht gern gesehen. Das dürfen Sie nie vergessen.“

„Nein, auch Sie selbst. Viele Leute finden Sie … erfrischend.“

„Sie meinen wohl großmäulig und zu ehrlich?“

„Sie sind ein Original“, sagte Caroline mit Nachdruck und nahm den Stapel mit den Einladungen wieder an sich. „Ich werde mit Dorothy sprechen, sobald sie nach unten kommt. Sie hat inzwischen sehr klare Vorstellungen entwickelt, was die Veranstaltungen angeht, denen sie beiwohnen möchte. Das macht die Sache deutlich leichter.“

Zu Dorothys gesellschaftlichem Debüt hatte Caroline sie so gut wie möglich angeleitet, welche Bälle sie besuchen sollte, wenn sie ihr Ziel eines Ehemanns aus dem Hochadel erreichen wollte. Da Dorothy kürzlich die Aufmerksamkeit eines Viscounts auf sich gezogen hatte, musste sie sich nicht länger auf allen Veranstaltungen blicken lassen. Das war eine große Erleichterung für ihre Mutter gewesen, denn ihre Tochter hatte die Zahl der sozialen Anlässe in der Folge beträchtlich zurückgefahren.

„Ich freue mich auf einen deutlich ruhigeren Monat“, bemerkte Mrs Frogerton und nippte an ihrem Kaffee. „Nach dem Trubel rund um Dorothy und der Sache mit Madame Lavinia bin ich wirklich geschafft.“

„Dem kann ich mich nur anschließen, Madam.“

Caroline widmete ihre Aufmerksamkeit anschließend dem zweiten an sie adressierten Brief. Er kam von einer sehr prestigeträchtigen Adresse in der Nähe von Gray’s Inn. Sie entfaltete das Schreiben und las.

Sehr geehrte Lady Caroline,

Ich schreibe Ihnen bezüglich des Testaments Ihres verstorbenen Vaters, dem Earl of Morton. Bitte antworten Sie auf dieses Schreiben und teilen Sie mir mit, wann ich Sie aufsuchen kann. Mit vorzüglichster Hochachtung

Mr Jeremy Smith

Anwaltskanzlei Smith, Smith, Potkins, and Jones

Caroline unterdrückte einen Seufzer.

„Sagen Sie mir nicht, dass Sie noch mehr schlechte Neuigkeiten haben, meine Liebe“, bemerkte Mrs Frogerton.

„Keine schlechten Neuigkeiten, Madam, aber es ist ein wenig ermüdend. Die Anwälte meines Vaters wünschen mit mir über sein Testament zu sprechen. Und ich habe keine Ahnung, warum.“ Sie dachte einen Moment nach. „Es sei denn, sie haben noch mehr seiner Schulden gefunden und erwarten von mir, dass ich sie begleiche.“

„Ich glaube nicht, dass das legal wäre“, erwiderte Mrs Frogerton. „Das ist einer der seltenen Fälle, in denen man als Frau vor den Fehlern eines Gentlemans geschützt ist.“

„Von den ‚Ehrenschulden‘ dieses Gentlemans“, murmelte Caroline. „Ich will mir gar nicht vorstellen, wie viel Geld er mit Glücksspiel und seinen Spekulationsgeschäften verspielt hat.“

„Genug, um sein eigenes Anwesen in den Bankrott zu treiben und schamlos seine Kinder um ihr Erbe zu berauben.“ Mrs Frogerton nahm selten ein Blatt vor den Mund und ihre Verachtung für das, was Carolines Vater mit seinem Vermögen und seiner Familie angerichtet hatte, kannte keine Grenzen. „Man würde meinen, dass man zumindest davor zurückschrecken würde, aber offenbar nicht.“

„Der Anwalt hat zwar keine Details genannt, aber es dürften wohl keine guten Nachrichten sein.“

Caroline zerriss den Brief, ging zum Kamin und warf das Papier auf die glühenden Kohlen. Einen Moment flammte das Feuer auf, bis das Schreiben vollständig zu Asche zerfallen war. „Wenn es so wichtig ist, dann wird er mir zweifellos noch einmal schreiben.“

„Das ist die richtige Einstellung, meine Liebe“, pflichtete Mrs Frogerton ihr bei. „Man sollte Probleme nicht auch noch einladen.“ Sie ließ die Rinde ihres Toasts auf den Boden zu ihren Hunden fallen, die sich sofort darauf stürzten. „Wenn er unverschämt wird, lassen Sie es mich wissen und ich werde meinen Mr Lewis auf ihn ansetzen.“

Nachdem Caroline erlebt hatte, wie Mr Lewis mit den höchsten Stellen der Metropolitan Police gerungen und erfolgreich daraus hervorgegangen war, hatte sie keinen Zweifel, dass Mrs Frogerton zu ihrem Wort stehen würde. Es war beruhigend zu wissen, dass Mrs Frogerton ihren Reichtum und ihren Einfluss nutzte, um ihre Angestellte zu unterstützen.

„Wo wir gerade von der Metropolitan Police sprechen, haben Sie von Inspector Ross gehört?“, erkundigte sich Mrs Frogerton.

„Wie kommen Sie darauf, dass er die Zeit dafür haben könnte, sich mit mir abzugeben, Madam?“ Caroline wich dem strahlenden Blick ihrer Arbeitgeberin aus und beschäftigte sich damit, die Einladungen noch einmal zu sortieren.

„Wir beide wissen warum, Miss.“ Mrs Frogerton hielt kurz inne. „Er stammt aus einer sehr guten Familie.“

„Dann will er sicher nichts mit mir zu tun haben“, konterte Caroline. „Mein Vater hat uns allen Schande gebracht.“

„Inspector Ross scheint das anders zu sehen“, erwiderte Mrs Frogerton. „Und was ist mit Mr DeBloom? Ich habe ihn bei der Beerdigung, der wir kürzlich beiwohnten, herumschleichen sehen.“

Caroline fiel zum wiederholten Mal auf, dass ihrer Arbeitgeberin nur sehr wenig entging.

„Ich habe schon genug zu tun, ohne mir auch noch Gedanken darüber zu machen, wo sich irgendwelche Herren herumtreiben“, entgegnete Caroline schroff. „Wenn Sie oder Dorothy ihnen Ihre Aufwartung machen wollen, Madam, dann werde ich Sie jedoch natürlich begleiten.“

„Ich glaube, dass keiner der beiden Gentleman Interesse daran hat, sich mit mir zu unterhalten, meine Liebe. Wenn man die beiden und unseren lieben Dr. Harris bedenkt, sind Sie die wahrlich begehrte Schönheit Ihres ganz persönlichen Balls.“

Caroline sah Ihrer Arbeitgeberin in die amüsiert verengten Augen. „Ich … möchte diese Aufmerksamkeit wirklich nicht. Ich bin sehr glücklich, da wo ich bin.“

„Sie möchten keine Ehefrau und Mutter werden?“

„Ich ging immer davon aus, dass das mein Schicksal sein würde, aber meine Umstände haben sich bedeutend geändert. Ich versuche, nicht mehr über diese Dinge nachzudenken.“

Mrs Frogerton streckte den Arm über den Tisch aus und tätschelte ihre Hand. „Sie werden Ihre Meinung noch ändern, meine Liebe. Da bin ich mir sicher. Irgendein junger Gentleman wird dafür sorgen, dass Sie Ihre Lebensumstände vergessen, Sie völlig um den Finger wickeln und das war’s dann.“

„Ich schätze, Träumereien können nicht schaden, Madam.“ Caroline lächelte. „Aber ich kann Ihnen versichern, dass ich meine ganze Energie darauf verwende, dass Dorothy eine gute Ehe eingeht und Sie endlich erfolgreich verrichteter Dinge nach Hause zurückkehren können.“

„Also, das ist doch mal ein würdiges Ziel“, erwiderte Mrs Frogerton. „Sollen wir zu Ende frühstücken und uns dann für unseren Spaziergang fertig machen? Ich glaube, es wird ein sehr schöner Tag heute.“

***

Drei Tage später, in einem völlig anderen Teil des Landes, hielt Caroline Mrs Frogerton einen Schirm über den Kopf, während der Norfolker Regen auf sie niederprasselte. Am Grab ihrer Tante waren nur wenige Trauergäste anwesend. Das war nicht sonderlich verwunderlich, da die Familie in letzter Zeit Gegenstand zahlreicher Spekulationen und Gerüchte in der gehobenen Gesellschaft gewesen war. Ihr Cousin Nicholas, der den Titel seines Vaters geerbt hatte, kam fast nie auf das Anwesen und bevorzugte es, seine Zeit in London zu verbringen. Er pflegte Verbindungen zu einer Gruppe von Gentlemen, die Caroline insgeheim als Nichtsnutze betrachtete.

Er war aufgebracht gewesen, als seine Mutter an einem Schlaganfall verstorben war und ihn damit ohne eine führende Hand zurückgelassen hatte, sodass er jetzt allein verantwortlich war für seine Familie. Caroline machte sich Sorgen um die Angestellten von Greenwood Hall, die von den Launen eines Mannes abhängig waren, dem nichts daran lag, das Anwesen zu führen oder dort zu leben, solange er dazu nicht gezwungen war.

Caroline konnte sich gut vorstellen, dass genau das passieren würde. Sofern Nicholas keinen kompetenten Verwalter anheuerte – und ihr Cousin war noch nie ein guter Menschenkenner gewesen – würde er das Anwesen einfach ausbluten lassen, um damit seinen Lebenswandel in London zu finanzieren, bis nichts mehr vom Vermögen übrig war. Dann würde er die Ländereien entweder verkaufen müssen, was angesichts der Erbregelung schwierig sein würde, oder hier leben müssen, bis er sich wieder gefangen und irgendwo Geld aufgetrieben hätte.

Nach der kurzen Grabpredigt kam Nicholas auf Caroline zu. Die Regentropfen auf seinem Mantel und seinem hohen, schwarzen Hut glitzerten im diffusen Licht. Er war ohne Begleitung gekommen, da sein jüngerer Bruder George sich dazu entschieden hatte, nicht teilzunehmen. Er war gar nicht erst von seinem Studienort angereist. „Meine liebe Cousine, wie schön, dass du gekommen bist.“

„Vielen Dank für die Einladung“, erwiderte Caroline.

„Susan ist nicht mit dir gekommen?“

„Nein, und es ist leider zu weit, als dass sie die Reise allein bewältigen könnte“, erklärte Caroline. „Sie lässt ihr Bedauern für ihre Abwesenheit ausrichten und hat großen Wert darauf gelegt, dass ich in ihrem Namen Beileid bekunde.“ Sie wandte sich an Mrs Frogerton. „Darf ich Ihnen meinen Cousin vorstellen? Nicholas, der neue Earl of Greenwood, Madam.“

Mrs Frogerton musterte Nicholas von Kopf bis Fuß. „Mein Beileid, Sir.“

Nicholas nickte. „Danke. Ich glaube, Sie haben meine Familie Anfang des Jahres bereits kennengelernt.“

„Ja, Ihre Mutter lud mich und meine Tochter zu einer Feier auf dem Anwesen ein.“ Mrs Frogerton führte die Umstände nicht weiter aus, was ihr gar nicht ähnlich sah, aber Caroline war dankbar dafür.

„Möchten Sie beide gern mit zum Haus kommen und eine Kleinigkeit zu sich nehmen, bevor Sie wieder aufbrechen?“, fragte Nicholas. „Das Testament meiner Tante soll später noch verlesen werden und der Anwalt hat empfohlen, dass du daran teilnimmst, Caroline.“

„Ja, natürlich. Wir werden in Mrs Frogertons Kutsche hinter dir herfahren, Nicholas.“

Ihr Cousin wandte sich um und ging allein zu einer glänzend schwarz lackierten Kutsche, die von zwei ebenfalls schwarzen federgeschmückten Pferden gezogen wurde.

„Hat er denn niemanden, der ihn unterstützt?“, erkundigte sich Mrs Frogerton, als sie sich auf den Weg zurück zu ihrem eigenen Gefährt machten.

„Soweit ich weiß, nicht. Er zog es vor, sich nicht mit seiner Familie hier abzugeben, sondern sein Leben in London zu führen.“

„Daran wird sich vielleicht etwas ändern müssen“, bemerkte Mrs Frogerton, als sie in die Kutsche stiegen. „Von allem, was ich gesehen habe, braucht dieser Haushalt eine starke Hand wie die von Lady Eleanor.“

Caroline setzte sich und ließ den Kutscher die Tür schließen, bevor sie antwortete: „Unter uns gesagt, Madam, ist Nick nicht daran interessiert, sich um das Anwesen zu kümmern. Er hat es immer als seine persönliche Geldquelle gesehen und nie infrage gestellt, wie meine Tante dieser lebensfeindlichen Umgebung derartige Summen abgerungen hat.“

Ihr Blick wanderte über die flache, graue Moorlandschaft, die von tiefen Entwässerungsgräben durchzogen war. Die Hälfte des Landes war nicht nutzbar wegen der regelmäßig überfluteten Sümpfe. Der Rest war von trockenem, steinigem Boden geprägt, auf dem nur wenig gedeihen konnte. Wenn Nicholas seinen jetzigen Lebensstil weiterführen wollte, würde er in die Ländereien investieren oder sehr vorteilhaft heiraten müssen.

„Ich möchte wetten, dass er keinen angemessenen Leichenschmaus organisiert hat“, bemerkte Mrs Frogerton, während sie aus dem Fenster sah.

„Ich gehe davon aus, dass das Hauspersonal ein paar Vorkehrungen getroffen hat. Selbst mein Cousin muss irgendetwas essen.“ Mrs Frogerton schnaubte. „Er hat es Ihnen nicht gerade angetan, oder, Madam?“ Caroline sah zu ihrer Arbeitgeberin herüber.

„Bei allem Respekt, meine Liebe, aber Ihre ganze Familie ist mir etwas rätselhaft.“

„Sie wurden in letzter Zeit sicherlich von … Schwierigkeiten geplagt.“

„Die sie sich allesamt selbst eingebrockt haben“, entgegnete Mrs Frogerton. „Doch muss man gerechterweise anmerken, dass alle Familien ihr eigenes Kreuz zu tragen haben.“

Caroline war sich der etwas gespannten Beziehung zwischen Mrs Frogerton und ihrem einzigen Sohn bewusst, der derzeit die Geschäfte der Familie führte, während seine Mutter in London beschäftigt war. Viele lange Briefe gingen zwischen den beiden hin und her und mehr als einmal hatte Mrs Frogerton angedroht, ihre Koffer zu packen und in den Norden zurückzukehren, um die Kontrolle über ihr Imperium zurückzufordern.

„Ah, wir sind da“, bemerkte Mrs Frogerton, als die Kutsche links auf die Einfahrt von Greenwood Hall einbog.

Caroline fiel es schwer, sich vorzustellen, dass ihr Onkel und ihre Tante nicht mehr im Haus wohnten und die Hälfte des Personals bereits fortgegangen war. In der Eingangshalle wartete eine unbekannte Haushälterin, die sie nach oben begleitete, wo sie ihre Mäntel ablegten und sich frisch machen konnten. Von einem Butler fehlte jede Spur. Das Haus war stiller, als sie es in Erinnerung hatte, jetzt wo die Kinderstuben leer waren. Mehrere der Zimmer, die sie passierten, hatten verschlossene Fensterläden und die Möbel waren zum Schutz vor Staub mit Laken bedeckt, wodurch sich alles leblos anfühlte.

Die Haushälterin begleitete sie hinunter in den Salon, wo gerade Tee serviert wurde. Carolines Cousine Eliza blickte auf, als sie eintraten. Sie trug Schwarz und hatte ihre übliche säuerliche Miene aufgesetzt.

„Caroline. Mir war klar, dass du kommen würdest.“ Sie hielt inne. „Wenn ich derart am Boden läge, würde ich auch zu jeder Beerdigung kommen, selbst wenn ich gar keine Aussichten auf ein Erbe hätte.“

„Cousine.“ Caroline machte einen Knicks. „Mein Beileid für den Verlust deiner Mutter.“

„Trotz all deiner Bemühungen war ich ihr Lieblingskind.“ Eliza wandte sich Mrs Frogerton zu. „Guten Tag, Madam. Kann ich Ihnen Tee anbieten?“

„Ja, bitte gern.“ Mrs Frogerton nahm gegenüber von Eliza Platz. „Geht es Ihrer Familie gut?“

„Ja, in der Tat. Mein Sohn gedeiht prächtig und die Geschäftsbeteiligungen meines Ehemanns sind beträchtlich gewachsen.“ Sie lächelte selbstgefällig und wandte sich an Caroline. „Und dir, Caroline? Arbeitest du immer noch für deinen Lebensunterhalt?“

„Das tut sie und ich bin äußerst dankbar, dass sie mich weiterhin erträgt“, antwortete Mrs Frogerton, bevor Caroline etwas erwidern konnte. „Sie hat bei meiner Tochter Dorothy wahre Wunder bewirkt.“

„Vielen Dank, Madam.“ Caroline schenkte ihrer Arbeitgeberin ein Lächeln.

Eliza blickte auf, als Nicholas den Raum betrat. Ihm folgte der Vikar und ein anderer Mann, der vage bekannt aussah.

Nicholas winkte Eliza und Caroline zu. „Kommt mit. Das Ganze wird kaum eine Minute dauern. Mr Smith muss so bald wie möglich nach London zurückkehren.“

„Nur zu, meine Liebe.“ Mrs Frogerton schenkte Caroline ein ermutigendes Lächeln. „Mir reicht ein Gespräch mit dem Vikar als Unterhaltung.“

Caroline strich die Röcke ihres schwarzen Kleides glatt und folgte ihrem Cousin und ihrer Cousine in das frühere Arbeitszimmer ihres Onkels. Hier hatte sich nichts verändert und sie unterdrückte eine sinnlose Welle der Sehnsucht nach dem Haus von früher, vor seinem Ableben.

„Bitte nehmen Sie Platz.“ Mr Smith bezog hinter dem Schreibtisch Stellung. „Lady Eleanors Testament ist deutlich unkomplizierter als das ihres Ehemanns. Es geht größtenteils um Gelder, die aus ihrer Familie mütterlicherseits stammen.“

Nicholas unterdrückte nur halb einen Seufzer und lehnte sich mit der Schulter gegen das Bücherregal. „Bitte fahren Sie fort. Je schneller wir das hinter uns bringen, desto schneller können wir diesen Sumpf wieder verlassen.“

Mr Smith setzte sich seine Brille auf, entrollte das Pergament und räusperte sich.

„Dieses Testament ist datiert auf den 13. Oktober 1832.“

Eliza setzte sich auf. „Sie hat das Testament vor ihrem Tod nicht mehr geändert?“

„Soweit ich weiß, nein.“ Mr Smith musterte Eliza. „Möchten Sie andeuten, dass Sie Zeugin eines neuen Testaments waren?“

„Nein, ich ging nur davon aus, dass …“ Eliza sah sich zu ihrem Bruder um. „Ich dachte, sie hätte bestimmte Aspekte davon geändert, um ihre veränderten Wünsche zu reflektieren.“ Sie richtete den Blick wieder auf Caroline und funkelte sie böse an.

„Können wir es einfach hinter uns bringen, Eliza?“ Nicholas zog seine Taschenuhr hervor. „Wenn du aufhören würdest, Mr Smith zu unterbrechen, finden wir gleich auch heraus, was Mamas letzter Wille war.“

„Ich sage ja nur …“

Mr Smith blickte hinunter auf das Dokument, als wäre er sofort bereit fortzufahren, sobald die Streitigkeiten endlich endeten. Caroline ging davon aus, dass derartige Meinungsverschiedenheiten bei der Verlesung von Testamenten nicht unüblich waren.

„Bitte fahren Sie fort, Mr Smith“, bat Nicholas.

„Vielen Dank, Mylord. ‚Ich Eleanor Margaret Mary Greenwood, geborene Morton, beschließe am heutigen Tage im Vollbesitz meiner geistigen und körperlichen Fähigkeiten …‘“

„Mit allem gebührenden Respekt, Mr Smith. Können Sie einfach zum wichtigen Teil springen, nämlich dem, wer was bekommt, und uns dieses unnütze Rechtsgewäsch ersparen?“ Nicholas klang langsam ungeduldig. „Ich bin mir recht sicher, dass meine geschätzte Mutter mir nichts hinterlassen hat und würde die Sache gern hinter mich bringen.“

„Wie Sie wünschen, Mylord.“ Mr Smith überflog das Dokument und legte den Finger auf den entsprechenden Abschnitt. „Es gibt ein paar kleine Vermächtnisse an ihre Garderobiere, die Köchin und die Haushälterin, aber der Großteil ihres Geldes geht an ihre beiden Töchter und ihre beiden Nichten.“

„Das kann nicht stimmen“, protestierte Eliza. „Mama hat mir versprochen, dass ich alles erben würde!“

„Das hat sie wahrscheinlich gesagt, damit du endlich aufhörst, sie damit zu belästigen, Eliza. Sie hat es nie geschätzt, wenn man ihr vorschreiben wollte, was sie zu tun hat.“ Nicholas wandte sich dem Anwalt zu. „Meine Schwester Mabel hält sich derzeit im Ausland auf und meine Cousine Susan ist minderjährig und befindet sich in einem Internat in Kent. Caroline und ich können uns um die Gelder kümmern, die für sie bestimmt sind.“

„Wie viel?“, verlangte Eliza zu wissen. „Wie viel kriegt sie?“

Mr Smith sah so aus, als wäre er deutlich lieber woanders. „Von welcher Dame sprechen Sie, Madam?“

„Von ihr!“ Eliza zeigte mit ausgestrecktem Arm auf Caroline. „Der Person, die immer wieder versucht hat, mich aus der Gunst meiner Mutter zu verdrängen.“

„Dafür musste sie nichts tun, Schwesterherz.“ Nicholas lachte. „Das hast du dir selbst zuzuschreiben. Und wenn du mich fragst, geschieht es dir recht, so gemein, wie du zu unseren Cousinen warst.“

„Du …“ Eliza sprang auf und hatte die Hände zu Fäusten geballt.

Mr Smith warf ihr einen Blick zu. „Wenn ich Ihre Frage beantworten dürfte, Madam?“

„Ich bitte darum.”

„Lady Caroline und ihre Schwester sollen jeweils eine Summe von fünfhundert Pfund erhalten.“

Es wurde still im Zimmer und Eliza klappte die Kinnlade herunter. „Wie viel?“

„Fünfhundert Pfund“, wiederholte der Anwalt geduldig. Er sah zu Caroline herüber, während Eliza begann, wütend im Zimmer auf und ab zu schreiten, und ihr Bruder weiter lachte. „Wie ich höre, leben Sie derzeit in London, Mylady. Wenn Sie es bevorzugen, werde ich Sie dort aufsuchen. Ich muss ohnehin mit Ihnen bezüglich des Testaments Ihres Vaters sprechen, daher würde es keine Umstände bereiten.“

Jetzt erhob sich Caroline. „Ich denke, das ist eine gute Idee.“ Ihr Blick traf auf den von Nicholas. „Würdest du mich entschuldigen? Ich glaube, dass Mrs Frogerton so schnell wie möglich nach London zurückkehren möchte.“

Nicholas zwinkerte ihr zu. „Nur zu, liebe Cousine. Ich kümmere mich um Eliza. Vielen Dank, dass du überhaupt den weiten Weg auf dich genommen hast. Dürfte ich dich vielleicht in London besuchen? Wie ich höre, gehört Miss Dorothy Frogerton ein beachtliches Vermögen und hat vor, in den Hochadel einzuheiraten.“

„Ich fürchte, da bist du zu spät dran, Nick. Sie hat ihre Wahl bereits getroffen.“ Caroline steuerte zügig auf die Tür zu.

Sie machte sich keine Mühe, sich von Eliza zu verabschieden, die gerade nicht zugänglich für Vernunft zu sein schien und lauthals verkündete, dass sie und ihr Ehemann das Testament anfechten würden. Caroline kehrte in den Salon zurück, wo Mrs Frogerton neben dem Vikar saß. Ihre Arbeitgeberin hörte sofort auf zu sprechen und stellte ihren Tee auf dem Tisch neben ihr ab.

„Es war mir eine Freude, Sie wiederzusehen, mein lieber Vikar, aber ich fürchte, wir müssen aufbrechen.“ Sie erhob sich und eilte auf Caroline zu. „Ich bin froh, dass ich den Kutscher angewiesen habe, vor der Tür zu warten. Wenn Sie unsere Mäntel und Hauben von oben holen, können wir sofort von hier abreisen.“

***

Sie übernachteten in einem Gasthaus am Rande Londons, und erst als sie sich beim Abendessen in ihrem privaten Salon niederließen, fand Caroline wieder Worte. Seit sie Greenwood Hall verlassen hatten, hatte Mrs Frogerton ununterbrochen vor sich hin geplaudert, ohne Antworten zu verlangen, und sie hatte Caroline nicht nach Einzelheiten gefragt, was sehr untypisch für sie war.

„Also, meine Liebe.“ Mrs Frogerton schenkte ihnen beiden ein Glas Wein ein. „Geht es Ihnen besser?“

„Ja, Madam.“ Caroline holte tief Luft. „Ich war nur … überrascht. Ich nahm an, meine Tante Eleanor wollte nur, dass ich bei der Testamentseröffnung anwesend bin, um mich für meinen Ungehorsam zu tadeln und mich in aller Öffentlichkeit zu enterben.“

„Und das hat sie nicht getan?“

„Nein.“ Caroline nahm einen großen Schluck Wein. „Ich dachte, dass sie nach ihrem Schlaganfall das Testament geändert hätte, aber wie es aussieht, hat sie es so belassen.“

„Das überrascht mich. Sie wirkte auf mich nicht wie eine sehr nachsichtige Frau“, erwiderte Mrs Frogerton. „Ich dachte schon, dass ich Ihre Cousine Eliza wegen irgendetwas kreischen gehört hatte, und fragte mich bereits, worum es dabei gegangen sein könnte. Ich nehme an, dass sie davon ausging, Alleinerbin zu sein?“

Caroline nickte. „So ist es. Aber Tante Eleanor hat ihr den gleichen Anteil wie Mabel hinterlassen.“

„Oje.”

„Und was in Elizas Augen noch schlimmer ist, hat sie auch Susan und mir etwas Geld vererbt.“ Carolines Blick traf auf den ihrer Arbeitgeberin und sie sprach mit gedämpfter Stimme weiter. „Madam, sie hat uns jeweils fünfhundert Pfund hinterlassen!“

„Also, dass muss ja eine sehr angenehme Überraschung gewesen sein“, kommentierte Mrs Frogerton fröhlich. „Bei einer so großen Summe können Sie gleich Ihr Kündigungsschreiben einreichen.“

„Ich habe keinerlei Absicht, etwas Derartiges zu tun“, entgegnete Caroline. „Es sei denn, Sie bestehen darauf.“

Mrs Frogerton lächelte. „Mein gutes Mädchen. Lassen Sie uns zuerst meine Dorothy unter die Haube bringen und dann haben Sie genügend Zeit, um zu entscheiden, was Sie als Nächstes tun wollen.“