1
Die Landschaft zog so schnell am Fenster vorüber, dass Mina sie kaum richtig ausmachen konnte. Es sah eher wie ein vor allem grüner Einheitsbrei in verschiedenen Farbtönen aus – verschwommen durch die zahlreichen Regentropfen, die sich ihren Weg entlang der Scheibe bahnten.
Es war drei Monate her, seit sie das letzte Mal zwar vielleicht nicht genau in diesem Zug saß, aber zumindest diese Bahnstrecke gefahren war: Auf dem Weg nach Green Hill, um an der Testamentsverlesung ihrer verstorbenen Großtante Poppy teilzunehmen. Damals hatte sie keine Ahnung, was sie erwarten würde. Nicht nur, dass sie einen zugegeben etwas verfressenen, roten Kater namens Mr. Marvel geerbt hatte. Sie und die Besitzerin des schnuckeligen B&Bs in dem kleinen schottischen Dörfchen Green Hill, Ellison, hatten einen echten Todesfall aufgeklärt! Aber natürlich nicht ohne die Hilfe von Mr. Marvel und seinem grandiosen Spürsinn – sonst wären sie vermutlich noch länger im Dunkeln getappt.
Jedenfalls hatte Mina, die ein Faible für spannende Krimis und True Crime-Podcasts besaß, damit ihren ersten eigenen Kriminalfall in den Semesterferien aufgedeckt. Sofort kamen all die Bilder wieder hoch: Die Testamentsverlesung, der Leichenfund im Garten, all die Gespräche mit Ellison im Kaminzimmer, ihre Besuche bei den Bewohnern Green Hills, um den möglichen Täter oder die mögliche Täterin zu entlarven … und diese grünen Augen, die sie verdächtig an Collin, Ellisons Enkel, erinnerten, tauchten auch immer wieder auf. Ihre Neugier hatte Mina jedenfalls nicht nur einmal in Bredouille gebracht – auch wenn alles schließlich anders ausgegangen war, als es zunächst den Anschein gemacht hatte. Sie konnte manchmal selbst kaum glauben, was geschehen und dass seitdem bereits wieder ein volles Semester vergangen war! Die drei Monate waren geradezu verflogen.
Umso schöner war es, dass Ellison und sie die ganze Zeit über in Kontakt gestanden hatten. Sie schickte Mina regelmäßig Fotos und Videos von Mr. Marvel, den Mina leider nicht mit nach London in ihr Studentenwohnheim hatte nehmen können und daher bei Ellison im B&B gelassen hatte. Mina wusste, dass der Kater dort in den besten Händen war und es ihm an nichts mangelte – außer vielleicht an ihren Extra-Kuscheleinheiten.
Die Sorge, der Kontakt würde sich über die Zeit nicht halten, war völlig unbegründet gewesen. Erst vor wenigen Tagen hatte Ellison Mina angerufen und sie für die Semesterferien nach Green Hill eingeladen. Dort sollte in der kommenden Woche ein großer Jahrmarkt mit Riesenrad, Fressbuden und sogar Akrobaten und einer Wahrsagerin stattfinden. Ausgerechnet in Green Hill! Für das kleine Dörfchen, in dem es gefühlt mehr Schafe als Menschen gab, musste es das Spektakel des Jahrzehnts sein, denn sonst passierte dort nicht viel. Jedenfalls nicht, wenn man Freddies Tod und die Geheimnisse der Dorfbewohner außer Acht ließ.
Jedenfalls war ein Besuch in Green Hill und auf dem Jahrmarkt jetzt genau das Richtige nach der anstrengenden Prüfungszeit, die Mina nun endlich hinter sich gebracht hatte. Wenn es jemanden gab, der sie aus ihrem After-Klausuren-Trott herausholen konnte, dann waren es die schrullige Ellison und Mr. Marvel und in wenigen Stunden würde sie die beiden – und mit hoher Wahrscheinlichkeit auch Collin – wiedersehen.
Mina zog ihren Rucksack zu sich heran, öffnete den Reißverschluss des größten Faches und nahm den Krimi heraus, den sie momentan las und ließ sich für die nächsten Stunden von der Geschichte zurück nach London entführen.
Das Buch hatte sie so gefesselt, dass sie es kein einziges Mal aus der Hand gelegt und vollkommen die Zeit vergessen hatte. Erst als ein Knattern durch die Lautsprecher drang und verkündete, dass die Türen gleich schlossen, schaute Mina auf – direkt auf eines der Schilder am Bahnhof, auf dem ausgerechnet ihre Haltestelle stand!
So schnell sie konnte, schmiss Mina sich ihren Rucksack über die Schulter und zerrte den Koffer hinter sich durch den Gang zur noch offen stehenden Zugtür. In einem beinahe heldenhaft-epischen Moment, zumindest stellte sie sich das in Slow Motion ziemlich cool vor, hechtete sie ohne Rücksicht auf Verluste hinaus. Gerade rechtzeitig, denn kaum berührten ihre Schuhe den harten Steinboden des Bahnsteigs, ertönte ein schriller Pfiff, die Zugtüren schlossen sich mit einem lauten Knall und der Zug kam stotternd ins Rollen.
Glück gehabt!, schoss es Mina durch den Kopf. Nicht auszudenken, was Ellison gesagt hätte, wenn Mina die Haltestelle verpasst hätte und das nur, weil sie so sehr in ihr Buch vertieft gewesen war. Immerhin fuhr Ellison ein gutes Stück hierher, um sie abzuholen. Green Hill selbst war so ein kleines – und zumindest nach außen hin beschauliches – Dörfchen, das natürlich keinen eigenen Bahnhof besaß und der Weg einen bis in die nächste Stadt führte.
Mina sah sich auf dem Bahnsteig um, doch Ellison war nicht zu sehen. Die hätte sie allein schon an ihrer bunten, schrillen Kleidung erkannt – oder daran, dass sie die einzige Frau war, die hier im Gartenanzug auftauchte. Beides lag bei Ellison im Bereich des Möglichen. Rasch zog Mina ihr Handy hervor, um einen Blick auf die Uhr zu werfen und nachzuschauen, ob Ellison vielleicht angerufen hatte, um Bescheid zu geben, dass sie zu spät kam. Das war nämlich eine weitere Eigenheit der B&B-Besitzerin: Pünktlichkeit war nicht ihre Stärke. Doch Mina wurde kein verpasster Anruf angezeigt und der Uhrzeit nach zu urteilen, war ihr Zug gute zwanzig Minuten später als geplant angekommen, was Ellisons Zu-spät-komm-Syndrom eigentlich hätte vorbeugen müssen.
»Angst wir hätten dich vergessen?«, ertönte eine Stimme in ihrem Rücken. Mina drehte sich um und da waren sie. Diese verdammten grünen Augen, gepaart mit einem gleichermaßen breiten wie frechen Grinsen – und beides gehörte zu Ellisons Enkel Collin. Zwar hatte sie gewusst, dass sie mit hoher Wahrscheinlichkeit auf ihn treffen würde, aber irgendwie hatte sie nicht erwartet so … befangen zu sein. Immerhin waren drei Monate vergangen, keine allzu geringe Zeitspanne, sondern eine, in der durchaus etwas geschehen konnte. Sie dachte, diese seltsamen Gefühle wären längst verschwunden oder zumindest deutlich abgeschwächt. Aber jetzt, wo Mina ihm wieder direkt gegenüberstand, schlug ihr Herz Purzelbäume und ihr Hirn fühlte sich an, als wäre es in Watte gepackt.
»Hat es dir die Sprache verschlagen?« Collin trat einen weiteren Schritt auf sie zu, schnappte sich den Griff des Koffers und zwinkerte ihr zu.
Mit diesem Spruch hatte er es jedenfalls geschafft, sie aus ihrer Schockstarre zu befreien. »Du weißt, dass das ein Ding der Unmöglichkeit ist. Da braucht es schon deutlich mehr, um mich sprachlos zu machen.« Nun zwinkerte sie ihrerseits Collin zu und ging an ihm vorbei. Im Augenwinkel erkannte sie, dass er ihr einen Augenblick grinsend und mit dem Kopf schüttelnd nachsah, bevor er sich ebenfalls in Bewegung setzte.
»Wie konnte ich nur vergessen, dass du immer das letzte Wort haben musst.«
»Da muss ich wohl deine Erinnerung wieder etwas auffrischen. Aber wir haben ja jetzt fast zwei Wochen Zeit dafür.«
Collin stöhnte laut auf und fragte »So lang?«, worauf Mina ihm einen spielerischen Klaps auf die Schulter verpasste.
Sie erreichten den kleinen Parkplatz und steuerten auf Ellisons alten Kombi zu, der bereits die besten Tage hinter sich hatte.
»Komm schon, gib wenigstens zu, dass du mich ein bisschen vermisst hast.« Erst als die Worte bereits aus ihrem Mund gepurzelt waren, wurde Mina deren Tragweite so richtig bewusst. Rasch beugte sie sich vor, um den Kofferraum des Wagens zu öffnen und ihr Gepäck darin zu verstauen. Es war ihr eine willkommene Sache, dass ihre etwas längeren Locken dabei nach vorne fielen und ihr vermutlich knallrotes Gesicht versteckten.
»Es war jedenfalls deutlich ruhiger«, erwiderte Collin und schlug den Kofferraumdeckel mit einem so lauten Rumsen zu, dass Mina für einen Moment dachte, das Auto würde gleich einfach auseinanderfallen. Doch die alte Kiste blieb standhaft. »Aber das dürfte sich mit dem Jahrmarkt in ein paar Tagen auch erledigt haben.«
Sie stiegen ein und Collin steuerte den Wagen vom Parkplatz auf die wenig befahrene Straße. Allgemein wirkte alles wie ausgestorben. Seit ihrer Ankunft hatte Mina – Collin ausgenommen – kaum einen anderen Menschen zu Gesicht bekommen.
»Wird das wirklich so eine große Sache?« Zwar hatte Ellison davon erzählt, dass dieser Jahrmarkt das Ereignis werden würde, aber aus ihrem Mund klang das eher nach einem weiteren Weltwunder. Daher dachte Mina, dass die B&B-Besitzerin etwas übertrieben hatte.
Collin zuckte mit den Schultern. »Jedenfalls sind alle ganz aus dem Häuschen. Vor allem Grandma. Seit Tagen wirbelt sie wie ein Tornado durch das B&B in dem Versuch, alles für die Besucher perfekt zu machen. Dabei macht sie alles eher schlimmer als besser. Es kommen immer neue Sachen auf die Reparatur- und Instandhaltungsliste. Da weiß man wirklich nicht, wo man anfangen und wo man aufhören soll.« Er nahm eine Hand vom Lenkrad und fuhr sich zuerst über das Gesicht und dann durch das Haar, das ihm in wirren Locken in die Stirn fiel, als hätte er das in den letzten Stunden häufiger gemacht. Erst da fiel Mina auf, wie müde Collin aussah. Ellison musste ihn ganz schön auf Trab halten, um das B&B in Schuss zu bringen.
»Erwartet ihr denn wirklich so viele Gäste?«
»Grandma hat eine Art Zusammenarbeit mit dem Inhaber des Jahrmarkts vereinbart. Sie ist praktisch die ausgeschriebene Stelle für Übernachtungsgäste, die den Jahrmarkt besuchen wollen. Seitdem ist sie Feuer und Flamme und erzählt jedem davon. Egal, ob derjenige es hören will oder nicht. Dabei wäre gar kein anderes B&B oder so in Frage gekommen – in Green Hill gibt es ja nur unseres.«
Das konnte Mina sich vorstellen. Ellison liebte ihr B&B und fast genauso sehr gefiel es ihr, ihre Gäste zu verwöhnen. Mina erinnerte sich noch zu gut an ihren ersten Besuch. Ellison hatte ihr Spaghetti gemacht, es wurden fast täglich Scones und Shortbread gebacken und zu dem ein oder anderen Gläschen Scotch eingeladen. Also für das leibliche Wohl wurde im B&B definitiv gesorgt.
Endlich fuhren sie an dem schiefen Ortsschild vorbei, auf dem in schwarzen Lettern »Green Hill« stand und spätestens jetzt fiel es Mina unheimlich schwer, ruhig sitzen zu bleiben. Sie konnte es kaum erwarten, Ellison wiederzusehen. Und Mr. Marvel natürlich! Wie sehr sie ihren flauschigen Begleiter in den vergangenen Monaten vermisst hatte!
Collin warf Mina einen amüsierten Seitenblick zu, als sie praktisch an der Autoscheibe klebte, während sie in die schmale Einfahrt des B&Bs fuhren. Die Räder standen kaum still, als sie auch schon die Autotür aufstieß und ausstieg. Im selben Moment wurde die Haustür aufgerissen und nur wenige Sekunden später lagen sich Mina und Ellison in den Armen.
Sie umarmten sich mehrere Augenblicke lang fest, bis Ellison Mina sanft ein kleines Stück von sich schob. »Na endlich! Lass dich ansehen, Kindchen. Wie geht es dir? Hat mit dem Zug alles funktioniert? War Collin pünktlich da? Ich hatte befürchtet, dass er ein wenig zu spät los ist. Aber wie ich sehe, hat ja alles funktioniert.«
Mina musste augenblicklich losprusten, als sich Ellisons Wortschwall über sie ergoss und sie Collins sauertöpfisches Gesicht sah. »Und wie ich sehe, hat sich nichts verändert.« Sie ließ ihren Blick über die Fassade des B&Bs schweifen und hatte den seltsamen Anflug eines Nach-Hause-kommen-Gefühls. Dann richtete sie den Blick wieder auf Ellison, die in ihrer bunten Kleidung, bestehend aus einer grünen Stoffhose, einer roten Bluse und einem gelben Schal, scheinbar versucht hatte, das Gefieder eines Papageis nachzuahmen. »Ich bin so froh, hier zu sein. Danke für die Einladung.«
Ellison winkte ab und legte einen Arm um Minas Schulter. »Du weißt, dass du hier immer willkommen bist. Aber lass uns reingehen, da gibt es jemanden, der dich ganz besonders vermisst hat und außerdem werden sonst die Spaghetti kalt. Du hast nach deiner Anreise sicherlich einen Bärenhunger.« Minas Magen knurrte wie auf Kommando, was Ellison und Collin gleichermaßen zum Lachen brachte.
Sie betraten das B&B, umrundeten den kleinen Tresen im Eingangsbereich und gingen in Richtung Küche, wo auch Ellisons geliebtes Kaminzimmer lag. Darin hatten sie bei Minas letztem Besuch viel Zeit verbracht, um den Todesfall aufzuklären, der die beiden Frauen und Mr. Marvel ordentlich auf Trab gehalten hatte.
Mina folgte Ellison in die Küche. »Ah, und da ist auch schon dein verrückter Kater.« Und tatsächlich kam gerade ein roter, dicker Kater angestapft. Gähnend streckte er sich, indem er die Vorderpfoten weit vorstreckte und den Po hinten anhob.
»Mr. Marvel!«, rief Mina aus und lief auf den Kater zu. So verschlafen wie dieser war, wusste er gar nicht, wie ihm geschah. Doch als Mina ihn auf den Arm nahm und an sich drückte, presste er schnurrend sein Köpfchen an ihre Wange und ließ sich wie ein Baby von ihr auf dem Arm wiegen. »Hab ich dich vielleicht vermisst. Aber du bist ganz schön schwer geworden. Hat Ellison dir zu viele Katzenplätzchen gegeben?« Vorsichtig setzte sie den Kater wieder auf den Boden. Die sieben Kilogramm, die vom vergangenen Jahr noch im Impfpass standen, waren ihrer Meinung nach nicht mehr zeitgemäß.
»Ich befürchte, da bin ich auch nicht ganz unschuldig.« Collin lächelte verschmitzt und beugte sich vor, um Mr. Marvel zwischen den Ohren zu kraulen. »Grandma hat mir einmal gezeigt, wie man die Dinger zubereitet. Er liebt das Zeug einfach und seitdem ich weiß, wie es funktioniert, backe ich sie für ihn ständig.«
»Hoffentlich dieses Mal, ohne selbst davon zu probieren«, spielte Mina auf das Versehen bei ihrem letzten Besuch an, als Collin von dem Katzenkeksteig probiert hatte.
Collin warf ihr einen gespielt bösen Blick zu, während Ellison und Mina in lautes Gelächter bei dieser Erinnerung ausbrachen. »Ihr hättet mich ruhig vorwarnen können.« Es schüttelte ihn ein wenig – vermutlich aufgrund der Erinnerung an das Geschmackserlebnis der besonderen Art.
»Aber jetzt erzählt, wie ist es euch die letzten Monate ergangen? Was gibt es sonst so Neues in Green Hill? Ich will alles wissen.« Mina schaute gespannt Ellison dabei zu, wie sie einen Teller mit einer ordentlichen Portion Spaghetti füllte und sich dann grinsend zu ihr umdrehte.
»Lass uns ins Kaminzimmer gehen, da ist es doch deutlich gemütlicher zum Quatschen.«
Gesagt, getan. Wenige Minuten später fanden sich Mina, Ellison, Collin und Mr. Marvel im Kaminzimmer wieder. Der Raum hatte sich seit Minas letztem Besuch kein wenig verändert und während sie sich in einen der bequemen roten Sessel setzte und die Spaghetti in sich hineinschaufelte, als hätte sie seit Tagen nichts gegessen, gönnte sich Ellison ihren geliebten Scotch. Collin dagegen nahm sich einen Scone aus dem Brotkorb, die es bei Ellison zu jeder Tages- und Nachtzeit gab. Sie war nicht nur eine leidenschaftliche Gärtnerin, sondern backte auch gerne – zur Freude ihrer B&B-Gäste und der Mitglieder der Gartenfreunde, die sie ebenfalls jede Woche mit Gebäck versorgte.
Mr. Marvel hatte es sich auf Minas Schoß bequem gemacht und forderte laut schnurrend jede verpasste Kuscheleinheit ein, was das Essen für Mina zu einer ziemlichen Herausforderung machte.
»Alsoooo? Irgendwelche Neuigkeiten?«, wiederholte Mina und sah gespannt zwischen Ellison und Collin hin und her.
Collin schüttelte lachend den Kopf und auch Ellison musste ein wenig schmunzeln. »Du bist wirklich mit Abstand die neugierigste Person, die ich kenne.«
»Danke«, erwiderte Mina mit einem Augenzwinkern in Collins Richtung, doch wandte sich dann schnell wieder Ellison zu, die gerade Luft holte, um mit ihrem Bericht zu beginnen.
»Eigentlich gibt es gar nicht so viel Neues. Amanda ist geschwätzig wie eh und je, die Gartenfreunde-Treffen finden gerade noch jede Woche statt, wobei wir es vermutlich bald nach drinnen werden verlegen müssen und … apropos Garten! Meine Pfingstrosen gedeihen ganz prächtig und sind mein großer Stolz, die musst du dir unbedingt ansehen. Aber ich glaube, mit Abstand das Interessanteste ist, dass ab dem Wochenende der große Jahrmarkt eröffnet wird. Ausgerechnet hier in Green Hill.« Ellison schüttelte mit einem Lächeln auf den Lippen den Kopf. »Um ehrlich zu sein, habe ich das, glaub ich, immer noch nicht richtig verarbeitet. Und dann auch noch diese Kooperation, die mir in den kommenden Tagen ordentlich Gäste ins B&B spülen wird.« Im Schnelldurchlauf erzählte Ellison Mina absolut alles, was sie über den Jahrmarkt wusste – und das war einiges. Ihre Aufregung war beinahe mit den Händen zu greifen. Sie sprach immer schneller und schneller, bis Mina Mühe hatte, ihr überhaupt noch zu folgen. »Morgen habe ich die letzte Besprechung mit dem Inhaber des Jahrmarktes. Also falls du …«
Ellison kam gar nicht dazu, fertig auszusprechen, als Mina auch schon laut »Kann ich mitkommen?« fragte.
»Ich sag‘s ja. Der neugierigste Mensch ever«, sagte Collin, während Ellison und Mina sich nur in stillem Einverständnis angrinsten.
2
Es war nicht weit bis zum Veranstaltungsort des Jahrmarkts. Im Gegenteil: Mina, Ellison und Mr. Marvel machten sich daraus einen schönen Spaziergang zum anderen Ende des Dorfes und kamen dabei an sprudelnden Bächen und blökenden Schafen vorbei. Oftmals dachte man bei Schottland an dessen Highlands, doch die Landschaft der Lowlands nahm Mina mindestens genauso gefangen.
Am Ort des Geschehens angekommen, lag eine riesige – normalerweise ungenutzte – Weidefläche vor ihnen, die nun jedoch kaum noch wiederzuerkennen war.
Als Erstes stach Mina das Riesenrad ins Auge.
»Nicht ganz so beeindruckend wie das London Eye, aber für einen Jahrmarkt ist das schon eine ordentliche Höhe«, bemerkte Mina mit in die Hüfte gestemmten Händen und besah sich die Attraktion mit gespielt fachmännischer Miene. »Was glaubst du? Sind das vielleicht so fünfzig Meter? Ich glaube, im Dunkeln macht das richtig etwas her, wenn die Stege und Gondeln in verschiedenen Farben leuchten.«
Ellison folgte ihrem Blick und schüttelte den Kopf. »Mir ist es völlig egal, wie hoch das Ding ist. Mich kriegen da jedenfalls keine zehn Pferde hoch. Nicht mal, wenn sie sich auf den Kopf stellen und mit den Hufen Bälle jonglieren.«
»Dabei wäre das doch mal ein krasser Anblick.« Allein bei der Vorstellung musste Mina bereits lachen. »Ich wusste gar nicht, dass du Höhenangst hast.«
Ellison zuckte mit den Schultern. »So hat jeder seine Sperenzchen.«
Sie machten sich auf den Weg über den Platz, kamen an halbfertig aufgebauten Buden und Fahrgeschäften vorbei und als Mina ein Plakat entdeckte, das sogar mit Akrobaten und einer Wahrsagerin warb, pfiff sie leise durch die Zähne. »Das ist wirklich eine große Sache, was? Da wird ganz schön aufgefahren.« Auf Ellisons fragenden Blick hin, nickte sie in Richtung des Plakats, bevor sie rechts abbogen und weiter in Richtung des äußeren Rands gingen, wo laut Ellison die Wohnwagen der Schausteller standen.
»Der Inhaber meinte, das würde dem Jahrmarkt etwas mehr Pepp verleihen. Viele haben das mit den Schaustellern schon vor Jahren aufgegeben, aber er hält noch daran fest. Zwar gibt es nicht mehr ganz so viele Auftritte, wie noch vor zwanzig Jahren, aber ganz ohne geht laut ihm auch nicht.« Ellison kniff die Augen zusammen und legte den Kopf abwägend von rechts nach links. »Die Akrobaten sind ja keine schlechte Idee. Aber das mit der Wahrsagerei ist nichts als Humbug, wenn du mich fragst.«
»Lass sie das bloß nicht hören.«
Die Wohnwagen der Schausteller kamen in Sicht und Ellison und Mina hielten direkt darauf zu. »Ich verstehe überhaupt nicht, warum ich heute schon wieder antanzen muss. Meiner Meinung nach war schon bei dem vorvorvorvorletzten Gespräch alles Wichtige besprochen. Inzwischen habe ich wirklich das Gefühl, dass der Mann nur jemanden braucht, um sich über seine Mitarbeiter zu beschweren.« Mina zog fragend eine Augenbraue nach oben, woraufhin Ellison genauer berichtete. »Er scheint mir nicht unbedingt wie jemand, den man als seinen Chef haben möchte. Auch wenn er sich mir gegenüber bisher immer sehr zuvorkommend verhalten hat. Die Art und Weise, wie er sich über seine Leute auslässt … Es stößt mir einfach etwas sauer auf. Also falls du dir das selbst ersparen willst …«
Ellison ließ den Rest des Satzes unausgesprochen, doch Mina wusste auch ohne nachzufragen, dass sie ihr gerade ein Schlupfloch präsentierte. »Also wenn du nichts dagegen hast, würde ich mich hier tatsächlich gerne ein wenig umsehen. Du weißt schon, bevor der ganze Trubel am Wochenende losgeht.«
»Klar, mach das. Für den Kater ist es vermutlich ohnehin besser, draußen zu sein, als in diesem kleinen stickigen Wohnwagen. Es reicht, wenn eine von uns leidet.« Ellison warf einen Blick auf die Uhr. »Dann treffen wir uns einfach in einer Stunde bei den Wohnwägen. Der Große auf der rechten Seite gehört dem Inhaber. Falls wir nach einer Stunde noch nicht fertig sind, holst du mich da raus.«
Mina nickte lachend und verabschiedete sich von Ellison, bevor sie und Mr. Marvel loszogen, um sich ein genaueres Bild von dem Jahrmarkt zu machen. Er war wirklich sehr groß – fast ein wenig zu riesig, wenn man überlegte, dass er in einem Dörfchen wie Green Hill stattfinden sollte. So ganz wollte das bevorstehende bunte Jahrmarktstreiben mit den grünen Wiesen, Schafen und sprudelnden Bächen der schottischen Lowlands in Minas Kopf nicht zusammenpassen. Doch für das Dörfchen war es natürlich das Ereignis schlechthin. Dennoch fragte Mina sich, warum der Inhaber sich ausgerechnet dieses kleine, ruhige Örtchen ausgesucht hatte. Vielleicht war das auch eine rein logistische Entscheidung gewesen. Große Städte jedenfalls hatten kaum so viel Grünfläche zu bieten – oder waren schlichtweg zu teuer.
Sie schlenderte über den Platz, besah sich die verschiedenen Buden und das Zelt mitsamt einem kleineren Anbau, in dem vermutlich die akrobatischen Aufführungen stattfinden würden. Wenige Meter weiter wurde ein etwas kleineres Zelt aufgebaut, das dem daran befestigten Aufnäher nach zu urteilen zu der Wahrsagerin gehörte. Auf dem Bild trug sie eine Art roten Turban, um den Hals mehrere Tücher in verschiedenen Farben und sah mit großen, geweiteten Augen in eine Kristallkugel. Es war also genau das Bild, das schon immer von Wahrsagerinnen auf Jahrmärkten vermittelt wurde und Mina fragte sich, wie mystisch eine solche Konsultation tatsächlich war und mit welchen Tricks gearbeitet wurde. Denn in dieser Sache stimmte Mina mit Ellison überein – auch sie hielt die Wahrsagerei für Humbug.
Die Stunde verstrich schnell. Mina und Mr. Marvel hatten gerade einmal zwei Drittel des neuen Festplatzes begutachtet, als ihr ein Blick auf die Uhr sagte, dass sie den Rückweg antreten mussten, um rechtzeitig zurück bei Ellison zu sein. Daher machten sie einmal auf dem Absatz kehrt und gingen zu den Wohnwägen der Schausteller und Jahrmarkt-Mitarbeiter. Vor dem größten machten sie Halt und Mina vernahm bereits eine laute, tiefe Stimme, die sich mehrfach bedankte. »Doch ich bestehe darauf Mrs. Paterson!«, rief der Mann nun aus und spätestens jetzt wusste Mina, dass sie beim richtigen Wohnwagen war. Die Stimme des Inhabers drang so laut durch das Blech, dass es ihr vorkam, als würde er direkt neben ihr stehen.
»Danke, aber nein«, hörte sie nun Ellison leiser antworten, doch immer noch gut verständlich. »Aber meine Begleitung kommt gleich. Vielleicht kann sie sich mehr dafür begeistern.« Das schien Minas Stichwort zu sein, also trat sie rasch vor und klopfte an die Blechtür des Wohnwagens. »Ah, das dürfte sie sein!«, rief Ellison aus und die Erleichterung schwang in ihrer Stimme deutlich mit.
Mina hörte Schritte und dann wurde die Tür aufgerissen. Im Durchgang stand ein Mann mittleren Alters. Er trug ein hellblaues Hemd, dessen oberste Knöpfe offen standen und einen Blick auf die sehr behaarte Brust des Mannes und eine blitzende Goldkette zuließen. Der Stoff spannte so sehr über seinem Bauch, dass Mina befürchtete, die restlichen noch geschlossenen Knöpfe könnten jede Sekunde platzen und ihr gegen die Stirn schießen. Das musste der Inhaber des Jahrmarkts sein.
Als dieser Mina und Mr. Marvel nicht sofort einließ, sondern erst mal einer Begutachtung unterzog, die ihr eine Gänsehaut verpasste, schob Ellison sich an ihm vorbei und rief »Mina, da bist du ja!« Nun konnte sie die Erleichterung nicht nur hören, sondern auch ganz deutlich im Gesicht der B&B-Besitzerin ablesen. Der Inhaber des Jahrmarkts schien kein allzu angenehmer Zeitgenosse zu sein.
Nun kam Leben in den Mann. »Herzlich willkommen in meinem bescheidenen Heim. Treten Sie ruhig ein, junges Fräulein.« Er setzte ein breites Lächeln auf, wodurch ein Goldzahn zum Vorschein kam und mit der gleichfarbigen Kette um seinen Hals um die Wette blitzte. Er vollführte eine ausholende Geste mit dem Arm – wobei er Ellison, die etwas zu nahe stand, beinahe mit der Hand im Gesicht traf – und lud Mina damit ein.
»Vielen Dank«, erwiderte diese ein wenig unwohl und trat ein.
Sie hatte kaum einen Fuß in den Wohnwagen gesetzt, als er die Tür auch schon mit einem lauten Knallen hinter ihr schloss. Mr. Marvel schaffte es gerade so mit einem Satz durch den schmaler werdenden Türschlitz und machte seinem Namen damit alle Ehre. Der Inhaber allerdings schien den Kater gar nicht wahrzunehmen und hielt ihr die Hand hin. »Mr. Macellroy, Inhaber dieses Jahrmarkts. Schon seit über zwanzig Jahren, was man mir aber hoffentlich nicht ansieht.« Er fuhr sich mit der freien Hand über das quasi nicht vorhandene Haar und grinste abermals breit, doch sein Blick blieb weiterhin kühl. Das erste Wort, das Mina einfiel, war »falsch«. Sein Auftreten, sein Verhalten – und auch sein Goldzahn.
»Mina Abbott«, stellte Mina sich ebenfalls vor und versuchte, den Händedruck zu erwidern.
»Ich habe Ihrer Großmutter gerade ein Essen im Riesenrad als kleines Dankeschön für die Zusammenarbeit angeboten, das sie jedoch abgelehnt hat. Höhenangst sollte man natürlich in keinem Fall ignorieren.« Er warf Ellison einen Blick über Mina hinweg zu, der vermutlich amüsiert aussehen sollte, aber eher ein wenig genervt wirkte. »Vielleicht hätten Sie stattdessen Lust darauf? Das soll eine Aktion auf dem Jahrmarkt werden und ich möchte es vorab testen. Wie ich hörte, könnten Sie sich dafür begeistern?«
Mina und Ellison tauschten einen kurzen Blick aus. Keine der beiden Frauen machte sich die Mühe, Mr. Macellroy darauf hinzuweisen, dass sie nicht Großmutter und Enkelin waren.
Er bemerkte Minas Zögern und klatschte einmal laut in die Hände. »Lassen Sie uns doch einfach einmal hingehen. Dann können Sie auf dem Weg entscheiden.«
Keine der beiden hatte die Chance auf Widerworte, denn Mr. Macellroy riss bereits die Tür auf und stürmte hinaus. Gezwungenermaßen folgten Mina und Ellison ihm und Mr. Marvel trabte neben ihnen her. Doch anstatt direkt den Weg zum Riesenrad einzuschlagen, klopfte der Mann nacheinander an mehrere Wohnwägen, worauf die Mitarbeiter des Jahrmarkts ihre Türen öffneten. Keiner von ihnen wirkte aufgrund der Störung überrascht, jedoch alle gleichermaßen genervt.
»Das Riesenrad-Dinner soll jetzt getestet werden«, waren die einzigen Worte, die der Inhaber an seine Mitarbeiter richtete, bevor er einfach davon ging. Offensichtlich ging er davon aus, dass die anderen Bescheid wussten und keine weiteren Erklärungen benötigt wurden.
Zwar verstand Mina den Sinn dahinter nicht so ganz, warum sie alle nun bei dem Dinner dabei sein mussten, aber sicher gab es irgendeinen Grund dafür, der sich nur ihr nicht erschloss.
Auf dem Weg zum Riesenrad ließ es sich Mr. Macellroy nicht nehmen, über jedes Fahrgeschäft und jede Attraktion etwas zu erzählen. So erfuhren Mina und Ellison, dass die Wahrsagerin bereits seit den Anfängen des Jahrmarkts ein Teil davon war, während der junge Mann, der dem Koch gefolgt war, sein erstes Jahr hatte. Die Akrobaten-Show hatte zum ersten Mal den Titel Flying Diamonds verliehen bekommen, wodurch der Jahrmarkt-Inhaber hoffte, noch mehr Zuschauer an Land zu ziehen. Dieser Jahrmarkt schien wirklich sein Baby, sein ein und alles zu sein. Man konnte von seinem Verhalten halten, was man wollte, aber er brannte für seine Arbeit.
»Und nun sind wir beim Herzstück.« Mr. Macellroy deutete auf das Riesenrad, das definitiv nicht zu übersehen war. »Das mit dem Dinner wird eine Wucht, das kann ich versprechen.« Um Mina, Ellison und den Inhaber hatte sich eine Traube aus Mitarbeitern gebildet, die im Gegenteil zu ihrem Chef gleichermaßen unbeeindruckt wirkten. »Also darf ich Sie für eine Testfahrt begeistern? Sie können als erste Fish and Chips mit Aussicht auf den Jahrmarkt genießen«, wandte er sich nochmals an Mina.
Wieder wechselten Ellison und Mina einen Blick, woraufhin Letztere schließlich mit den Schultern zuckte. »Gerne.« Zwar konnte sie sich angenehmere Dinner-Partner vorstellen, aber sie mochte Riesenräder und von dort oben aus würde sie einen kompletten Überblick über den Jahrmarkt ergattern können – und mit einer guten Portion Fish and Chips konnte man auch nichts falsch machen.
Ein korpulenter Mann mit Schnäuzer löste sich aus der Reihe der Mitarbeiter. »Dann richte ich rasch das Essen an und bringe beide Portionen gleich«, brummelte er und entfernte sich mit schnellen Schritten. Mina nahm im Augenwinkel einen jungen Mann wahr. Er war etwa in ihrem Alter, vielleicht ein oder zwei Jahre älter.
»Bist du sicher, dass du da rauf willst?«, fragte er sie und blickte dabei am Riesenrad empor, als wäre es eine Maschine, die der Teufel höchstselbst entwickelt hatte. »Also ich wäre da so was von raus. Allein schon die Kombination aus hoch und schaukelig …« Er schüttelte sich. »Vielleicht solltest du es dir doch nochmal überlegen.« Nun wurde er sogar ein wenig blass um die Nase herum, als wäre nicht Mina, sondern er derjenige, der am Riesenrad-Dinner teilnehmen sollte und jede Sekunde gezwungen werden könnte für die nächsten zehn Stunden am höchsten Punkt ausharren zu müssen.
Mina lächelte den jungen Mann freundlich an. »Ich habe kein Problem mit Höhe und die Fish and Chips kommen mir gerade recht.« Sie tätschelte sich vielsagend den Bauch, der daraufhin wie auf Kommando ein Knurren von sich gab.
»Du hast auf jeden Fall meinen Respekt«, erwiderte er mit einem weiteren Blick nach oben. »Aber wenn du dir sicher bist – und noch dazu ordentlich Hunger mitbringst, dann stelle ich wenigstens sicher, dass du genug auf den Teller bekommst.«
»Oh, das ist echt nett von dir, danke.«
Er zwinkerte ihr im Vorbeigehen zu – was sie für einen Moment an Collin erinnerte – und erwiderte ihr Lächeln. »Kein Problem. Wenn du dich schon so waghalsig in die Höhe wagst, dann sollst du nicht mit halb leerem Magen wieder zurückkommen. Das Knurren klang nämlich verdammt gefährlich – und wie wir alle wissen, ist mit hangry Frauen nicht zu spaßen.«
Dem konnte Mina nicht widersprechen.
3
»Bereit, kleines Fräulein?«
Mina schluckte einen Kommentar hinunter und ging stattdessen wortlos an dem Inhaber des Jahrmarkts vorbei und stieg in die Gondel des Riesenrads, die sie gleich in luftige Höhen bringen würde. Auch Mr. Marvel ließ es sich nicht nehmen, mitzukommen, und Mina war überrascht, als Mr. Macellroy ihnen folgte und gegenüber von ihr Platz nahm, ohne die Anwesenheit des Katers zu kommentieren.
Wenige Augenblicke später folgte der beleibte Koch mit einem Tablett, auf dem zwei gut gefüllte Teller Fish and Chips sowie Gewürze, zwei Gläser und eine Flasche Mineralwasser drapiert waren. Er trat an die Gondel heran und deckte das kleine Tischchen, das zwischen Mina und dem Inhaber der Kirmes war.
»Guten Appetit«, wünschte der Koch und gab dann jemandem im Kassierhäuschen des Riesenrads ein Zeichen, worauf es sich langsam in Bewegung setzte. Als wäre das Mr. Marvel nun doch nicht mehr so ganz geheuer, sprang er auf Minas Schoß und machte es sich dort bequem. Er sah sie an und sein Blick war mehr als skeptisch.
Mr. Macellroy klatschte in die Hände. »Hervorragend, das läuft ja wie am Schnürchen.« Er warf einen Blick zum Fenster hinaus und sah erst wieder zu Mina, als sie den höchsten Punkt erreicht hatten. »Das Ganze müssen Sie sich jetzt noch mit einem malerischen Sonnenuntergang und Lichterketten in allen Gondeln vorstellen. Für ein tatsächliches Dinner sind wir heute doch tatsächlich ein wenig zu früh dran«, sagte er mit einem kurzen Blick auf die Uhr. »Doch ich denke, es hat dennoch seinen Charme.«
Mina nickte und ließ den Blick über die Landschaft unter sich gleiten. Green Hill war wirklich ein schönes, idyllisches Dörfchen. Sie glaubte beinahe, das Sprudeln des kleinen Baches zu hören, der sich durch die weiten, grünen Wiesen schlängelte. Eines musste sie dem Inhaber des Jahrmarkts lassen – er war zwar keine allzu angenehme Person, aber mit dieser Idee konnte er bei den Besuchern sicher ordentlich punkten.
»Dann würde ich sagen, lassen Sie uns essen. Bevor das Ganze hier kalt wird.«
Mina war so gefangen in den Anblick des Dörfchens aus der Höhe, dass sie das Essen beinahe vergessen hatte. Aber eben doch nur beinahe, denn die Erwähnung reichte bereits, damit der Hunger mit aller Kraft zurückkehrte.
Mr. Macellroy griff nach den Gewürzen, noch bevor er überhaupt probiert hatte. Mit erhobener Augenbraue – und nicht nur ein wenig verwundert – beobachtete Mina ihn dabei, wie er zuerst eine ordentliche Menge Salz und dann mindestens nochmal genauso viel Pommesgewürz über seine Portion streute. Bevor sie sich schnell genug ab- und ihrem eigenen Essen zuwenden konnte, hatte er ihren Blick bereits aufgefangen.
»Ich arbeite schon seit Jahren mit Wilson zusammen und glauben Sie mir, es ist nie genug gewürzt. Auch etwas?«
Mr. Macellroy hielt Mina den Salzstreuer entgegen, die mit einem Kopfschütteln dankend ablehnte. Sie hatte inzwischen selbst probiert und war der Meinung, dass der Koch ganz hervorragend gewürzt hatte und noch mehr zu viel des Guten wäre.
»Sind Sie gerade zu Besuch bei Ihrer Großmutter?«
Nun war also der Zeitpunkt für Small Talk gekommen. Mina schluckte die Pommes herunter und schüttelte den Kopf. »Ellison ist nicht meine Grandma. Wir sind Freundinnen.« Sie streichelte sanft über Mr. Marvels weiches Fell, der sich inzwischen an die Fahrt im Riesenrad zu gewöhnen schien.
Mr. Macellroy sah sie mindestens genauso ungläubig an wie sie ihn noch vor wenigen Augenblicken. »Freundinnen?«, wiederholte er, als müsste er sichergehen, dass er Mina auch wirklich richtig verstanden hatte.
»Ja«, bestätigte sie. »Wir haben uns vor drei Monaten kennengelernt, als ich bei ihr im B&B untergekommen bin.« Mina erwähnte nicht, weswegen sie damals überhaupt nach Green Hill gekommen und, dass es vor allem der Todesfall rund um ihren Großcousin Freddie gewesen war, der Ellison und sie erst zu einer richtigen Einheit zusammengeschweißt hatte. Das würde ihn vermutlich vollends verstören, wenn er bereits über das Wort »Freundinnen« stolperte.
»Das ist überaus interessant«, sagte Mr. Macellroy und dann trat Stille ein. Der Small Talk war schneller vorbeigegangen, als Mina gedacht hatte. Doch obwohl sie es zunächst als unangenehm empfunden hatte, war es die Stille noch mehr. Zumindest hörte sich das Knabbern und Kauen nun unglaublich laut in ihren Ohren an.
Mina sah wieder hinaus – inzwischen hatten sie eine komplette Umdrehung hingelegt und würden gleich wieder am höchsten Punkt ankommen – bis ein lautes Röcheln und Mr. Marvels durchdringendes Miauen sie aus ihrer Betrachtung rissen.
Mr. Macellroy hielt seinen Hals umklammert. Sein Kopf wurde innerhalb weniger Sekunden zuerst knallrot, dann blau. Wertvolle Augenblicke verstrichen, bis das, was Mina sah, ihr Gehirn erreichte: Der Inhaber des Jahrmarkts war gerade dabei, zu ersticken.
Mina sah sich um, suchte nach einer Möglichkeit irgendwie zu dem Mann zu gelangen und den Heimlichgriff durchzuführen. Zwar war sie alles andere als eine medizinische Fachkraft, doch hatte sie die Anwendung zumindest schon ein paar Mal in Filmen und Serien gesehen. Doch in der schwankenden, kleinen Gondel war es schon ein Ding der Unmöglichkeit überhaupt nah genug an Mr. Macellroy heranzukommen. Vor allem mit dem kleinen Tischchen zwischen ihnen.
Das Röcheln wurde immer lauter. Mr. Macellroy rutschte von seinem Sitz, knallte auf den Boden und krampfte heftig. Mina riss ihr Handy aus der Hosentasche. Mit fliegenden Fingern wählte sie den Notruf, während sein Gesicht einen immer dunkleren Lilaton annahm.
Oh Gott, er stirbt, schoss es Mina durch den Kopf, als endlich eine männliche Stimme das Tuten unterbrach. Es kam ihr vor, als hätte sie es stundenlang klingeln lassen müssen, nicht nur wenige Sekunden.
In kurzen abgehakten Sätzen erklärte sie dem Mann, was gerade geschah und versuchte nebenbei, den Mitarbeitern des Jahrmarkts klarzumachen, dass sie die Gondel so schnell wie möglich nach unten bringen sollten. Doch zeitgleich den Notruf zu wählen, einem Mann vor dem Ersticken zu bewahren und dafür zu sorgen, wieder richtigen Boden unter die Füße zu kriegen, erwies sich als ein unmögliches Unterfangen.
»Wir schicken sofort einen Rettungswagen. Bleiben Sie vor Ort«, sagte der Mann des Rettungsdienstes am Telefon und legte auf.
Mina konnte nicht anders, als ungläubig aufzulachen. »Bleiben Sie vor Ort«. Selbst wenn sie wöllte, könnte sie nicht verschwinden. Sie saß in dieser vermaledeiten Gondel auf diesem vermaledeiten Riesenrad fest. Zusammen mit dem am Boden liegenden, röchelnden Mann, dessen Lippen sich bereits blau färbten. Auch ohne medizinische Ausbildung wusste Mina, dass gleich jede Hilfe zu spät kommen würde.
Panisch sah sie sich um. Sie musste doch irgendetwas tun!
Abermals griff sie nach ihrem Handy und wählte Ellisons Nummer. Diese hatte gerade erst abgenommen und es noch nicht einmal geschafft sich zu melden, als Mina auch schon »Holt uns sofort hier runter!« schrie.
»Gefällt dir das Riesenrad-Dinner nicht?«, fragte Ellison und klang dabei ein wenig betrübt, als hätte Mina ihr gerade erzählt, dass sie einen noch schöneren Garten als Ellisons gesehen hatte und damit ihre Chancen, den Gartenwettbewerb im nächsten Jahr zu gewinnen, wieder einmal zunichte waren. »Ich dachte wirklich …«
»Ellison!«, unterbrach Mina sie und nun schien auch die B&B-Besitzerin die pure Panik in ihrer Stimme wahrzunehmen, denn sie wurde mit einem Schlag ruhig. »Sag dem Riesenrad-Menschen, dass er uns sofort hier runterholen muss! Wir …«
Ein lauter gurgelnder Laut unterbrach sie. Mr. Macellroy schüttelten keine Krämpfe mehr. Stattdessen wurde es mit einem Mal unheimlich still und Mina ließ langsam das Handy sinken. Es rutschte ihr aus der schlaffen Hand und fiel zu Boden. Sie hörte noch Ellisons Stimme, doch dann nahm sie nichts anderes mehr wahr, als den vor ihr liegenden Mann. Es war, als hätte jemand die Zeit angehalten. Der Anblick brannte sich in Minas Gedächtnis und sie wusste, sie würde dieses Bild nie wieder vergessen können.
Ihr Atem ging immer schneller und es gelang ihr nicht, den Blick von Mr. Macellroys leblosem Körper abzuwenden. Kein Laut drang mehr über seine blauen Lippen. Seine Haut war hellrot verfärbt – nicht nur im Gesicht. Auch seine Arme und Beine. Alles, was Mina sehen konnte und nicht verdeckt war, schimmerte hellrot.
Mehrere Augenblicke verstrichen und es brauchte mehrere Stupser seitens Mr. Marvel, ehe Mina es schaffte, sich in Bewegung zu setzen. Vorsichtig ließ sie sich neben den leblosen Mann sinken und griff nach seinem Handgelenk. In der Hoffnung, zumindest einen schwachen Puls zu fühlen. Doch nichts. Sie beugte sich über den Kopf des Mannes, sodass ihr Ohr knapp über seinem Mund schwebte. Nicht einmal der geringste Lufthauch war zu spüren. Lediglich ein seltsamer Geruch stieg ihr in die Nase, den Mina jedoch nur am Rande wahrnahm.
Sie richtete sich auf und schluckte fest gegen den immer größer werdenden Kloß in ihrer Kehle an. Übelkeit drohte sie zu übermannen, doch sie atmete tief durch die Nase ein und durch den Mund wieder aus, um die aufkeimende Panik irgendwie zu unterdrücken.
Doch Fakt war, dass es keinen Puls und keine Atmung gab. Mr. Macellroy war tot und sie hatte nichts tun können, um ihm zu helfen. Selbst wenn der Krankenwagen nun eintraf und sie endlich aus diesem Riesenrad kommen würden, wäre es zu spät. Sie konnten nichts mehr tun.
Mina verspürte keine Erleichterung, als sich die Gondel endlich wieder in Bewegung setzte und die Horrorfahrt ein Ende fand. Es war zu spät. Der Mann war gestorben und Mina nun bereits zum zweiten Mal in Kontakt mit dem Tod gekommen. Es schien beinahe, als würde Green Hill sie auf die bekannte Art und Weise willkommen heißen wollen.