Leseprobe Lesungen, Lügen und eine Leiche | Der gemütliche Cosy Crime über mysteriöse Mordfälle

Kapitel 2

Es fing gut an. Mary Ruth Steinman trat aus dem Raum, dicht gefolgt von Hardy. Ich tat so, als würde ich die besitzergreifende Hand übersehen, die sie ihm auflegte, bevor sie wie eine Bienenkönigin am Tisch Platz nahm. Eine Atmosphäre stiller Erwartung erfüllte den Raum. Ich musste zugeben: Sie wusste, wie man wartete und das Publikum melkte. Der Lärmpegel stieg und sie schwieg, bis er zu leisem Flüstern abgeebbt war.

Harper war damit beschäftigt, sich zu vergewissern, dass alle Exemplare von Mrs. Steinmans neuestem Buch ordentlich auf einem Tisch direkt vor der Kasse gestapelt waren. Die Reihe Der strickende Chihuahua kam mir zwar etwas komisch vor, doch sie hatte eine treue Fangemeinde. Die Menschenmenge, die sich in meinem Laden drängte, zeigte, dass die Fangemeinde größer war als gedacht.

Als Mary Ruth Steinman zu sprechen begann, wandte ich meine Aufmerksamkeit anderen Dingen zu.

Hardy blieb noch eine Weile. Als er sich zum Gehen aufmachte, winkte er mich zu sich hinüber. Ich legte die Bücher ab, die ich gerade stapelte, und ging zur Tür. Mein Herz schlug ein wenig schneller, als ich mich ihm näherte.

Vor ein paar Tagen hatten wir uns ein Theaterstück von Agatha Christie angesehen. Es war zwar kein richtiges Date gewesen, aber ein bisschen so was wie ein Date. Ich hatte das Gefühl, als wollte Hardy damit vor allem den Frieden zwischen uns wiederherstellen, nachdem Cole wegen Mordes verhaftet worden war. Das hatte zwar funktioniert, aber jetzt lag eine Spannung zwischen uns, die vorher nicht da gewesen war.

Außerdem konnte ich nicht leugnen, was für ein gutaussehender Junggeselle er war, obwohl mir bewusst war, dass ich keine Beziehung eingehen wollte. Jedenfalls jetzt nicht.

Er beugte sich vor und sein Atem kitzelte mein Ohr. „Sie ist eine echte Nummer, nicht wahr?“

Seufzend sah ich zur Autorin hinüber. Sie wedelte lebhaft mit den Händen, während sie aus ihrem Buch vorlas. Die Zuhörermenge lachte. „Sie macht das gut.“

Er nickte. „Menschen, die andere gerne manipulieren, sind meistens gut.“

Ich hob den Kopf und sah ihn scharf an. „Das sind aber harte Worte.“

Hardy starrte Mary Ruth Steinman für eine kurze Weile mit zusammengebissenen Zähnen an. „Ich habe in meinem Job jeden Tag mit Menschen wie ihr zu tun. Sie umgibt sich mit Leuten, die ihr geben, was sie will. Sobald jemand sie hinterfragt, dreht sie den Spieß um und spielt das Opfer.“

Ich hatte einen ähnlichen Eindruck von ihr. „Sie ist nur heute da. Wenn das hier vorbei ist, werde ich sehr viel vorsichtiger auswählen, wen ich zur Signierstunde einlade.“

„Sicher keine schlechte Idee.“ Sein Blick schweifte über die Zuhörer, die um Mrs. Steinman herumsaßen. „Auch wenn Sie mit der hier heute ein volles Haus haben.“

Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen.

„Mrs. Steinman, ich bin Martha Hemming.“

Ich warf einen Blick auf die Frau. Sie war Stammkundin bei Tattered Pages. Ich hatte noch nie Ärger mit ihr gehabt und sie war immer nett. Heute hatte sie das dunkle Haar zu einem strengen hohen Dutt hochgesteckt und den Pony aus dem Gesicht gekämmt. Sie kniff die Augen zusammen und ihr Gesicht war so wütend, wie ich noch nie einen Menschen gesehen hatte. Sie ließ die Arme hängen und ballte die Fäuste. „Ich habe letztes Jahr ein Buch über einen strickenden Chihuahua geschrieben und es einer Alpha-Leserin für ihr Feedback geschickt.“

Für einen Moment wurde Mary Ruth Steinmans Gesicht kreidebleich. Doch sie fasste sich rasch wieder und setzte sich etwas aufrechter hin. „Ach, tatsächlich?“ Sie lächelte kühl, doch höflich.

Martha Hemming nickte. „Ja, das habe ich, wie Sie sehr wohl wissen. Ich finde es interessant, dass ich ein paar Monate später von einem neuen Cozy-Krimi über einen strickenden Chihuahua erfahren habe, der gute Kritiken bekam.“

Mary Ruths Lächeln verschwand. Die Zuschauer drehten sich auf ihren Sitzen um und sahen Martha Hemming an. „Ihnen sind doch sicher die Konsequenzen klar, die folgen werden, wenn Sie mich eines so schwerwiegenden Plagiats bezichtigen, oder?“

Martha Hemming blieb standhaft. „Außerdem finde ich es interessant, dass die Alpha-Leserin, der ich mein Manuskript geschickt habe, keine andere als Betty Jones ist.“

Mrs. Jones ließ kurz den Kopf sinken.

Martha Hemming lächelte triumphierend. „Ich glaube, Sie kennen Betty Jones persönlich, oder? Schließlich ist sie Ihre Assistentin, nicht wahr?“

Die Zuschauer atmeten kollektiv scharf ein, auch ich. Es klang, als hätte Martha Hemming schwerwiegende Beweise gegen Mrs. Steinman. Mary Ruth Steinman blinzelte einen Augenblick lang nervös und stand dann auf.

„Ich habe nie eine Kopie Ihres Manuskripts gesehen und hatte auch nichts mit Betty Jones’ Nebentätigkeit als Alpha-Leserin zu tun.“ Mrs. Steinman zuckte mit den Schultern. „Ich bin viel zu beschäftigt, um die Werke anderer Leute zu lesen, und tue das schon aus Prinzip nicht. Sonst können zu leicht die Grenzen überschritten werden.“

Martha Hemming verzog verächtlich das Gesicht. „Wollen Sie das im Ernst behaupten?“ Ihr Blick wanderte zu Betty Jones. „Haben Sie dazu etwas zu sagen?“

Mrs. Jones wich Martha Hemmings Blick aus. „Nein. Ich achte immer darauf, die Leseexemplare von anderen Leuten fernzuhalten. Ich habe das Manuskript keine Minute aus der Hand gegeben.“

„Hm, ja“, erwiderte Martha Hemming. „Finden Sie es denn nicht ein bisschen seltsam, dass mein gesamter Plot in Mary Ruth Steinmans neuem Buch zu finden ist?“

Hardy trat vor, doch ich legte ihm eine Hand auf den Arm. „Ich kümmere mich darum“, flüsterte ich. In dem Moment, in dem ich auf Mrs. Steinman zuging, stand sie auf.

„Sie beschuldigen mich bei meiner eigenen Signierstunde des geistigen Diebstahls?“, zischte sie. „Das ist sogar unter dem Niveau einer Hinterwäldlerin aus dem Norden.“

Die geschockte Stimmung im Raum schlug in Wut um. Die Einwohner von Silverwood Hollow mochten es nicht, wenn Fremde ihre eigenen Leute beleidigten.

„Wie bitte?“, kreischte Mrs. Hemming. „Die einzige Hinterwäldlerin aus dem Norden sind Sie, und Sie sind noch dazu eine Diebin!“

Martha Hemming und Mary Ruth Steinman gingen aufeinander zu, doch ich zwängte mich zwischen sie. „Entschuldigen Sie, meine Damen und Herren, es tut mir sehr leid, aber ich denke, es ist Zeit, das hier zu beenden.“

„Ich werde Sie verklagen!“, schrie Martha Hemming.

„Versuchen Sie es doch! Sie haben keine Chance!“, kreischte Mrs. Steinman zurück. „Ich werde Sie mit Anwaltskosten und richterlichen Verfügungen fertigmachen!“

„Ha!“, schrie Martha Hemming zurück. „Dann geben Sie es also zu!“

„Ich brauche Ihre Bücher nicht. Meine sind auch so erfolgreich!“ Mrs. Steinman stürzte nach vorne. Ich stolperte und streckte die Hände aus, doch im selben Moment hielt jemand mit eisernem Griff meinen Arm fest.

„Es reicht jetzt“, dröhnte Hardys Stimme über meinen Kopf hinweg.

„Sie beschuldigt mich des Diebstahls!“, kreischte Mary Ruth Steinman.

„Es ist keine Anschuldigung, wenn es wahr ist!“, kreischte Mrs. Hemming zurück. „Und es ist eine Tatsache!“

„Alle raus!“, bellte Hardy, der meinen Arm immer noch festhielt.

„Was ist mit unseren Büchern?“, rief jemand von hinten.

Hardy sah Mrs. Steinman scharf an. „Ich bin sicher, die Autorin wird so freundlich sein, alle Ihre Exemplare zu signieren, bevor sie uns verlässt. Wer ein signiertes Exemplar will, kann sich von Harper einen Klebezettel geben lassen und darauf seinen Namen und die Telefonnummer notieren. Bevor sie geht, lassen wir sie die Exemplare signieren und rufen Sie auf, wenn sie fertig sind.“

Die meisten Gäste murrten zwar, doch alle standen von ihren Plätzen auf und gingen zur Tür. Harper wurde sofort aktiv; sie verteilte Zettel und Stifte an die Leute, die ihre Bücher signieren lassen wollten. Mir fiel auf, dass nur wenige Leute Harper ihre Bücher aushändigten. Außerdem bemerkte ich, dass manche Gäste ihre Exemplare zurück in den Ständer legten. Ich schluckte einen frustrierten Seufzer hinunter.

Mrs. Jones, Martha Hemming und Mrs. Steinman blieben zurück. Betty Jones machte einen Umweg um uns herum und stellte sich hinter Mrs. Steinman.

„Mrs. Hemming“, sagte Hardy, „wenn Sie weitermachen wollen, dann müssen Sie sich draußen streiten.“

Martha Hemming wurde knallrot. „Sie hat mein Lebenswerk gestohlen!“

„Ein strickender Chihuahua ist Ihr Lebenswerk?“, höhnte Mary Ruth Steinman. „Das ist aber traurig. Er ist bloß ein Hund. Ohne opponierbare Daumen, um den Faden festzuhalten!“

Martha Hemming riss schockiert den Mund auf. Dann machte sie ihn wieder zu und verzerrte das Gesicht. „Sie haben ihn nur benutzt, um damit Geld zu machen!“ Sie kniff die Augen zusammen. „Sie finden ihn albern, aber Sie haben ihn trotzdem reingeschrieben, weil Sie gewusst haben, dass er sich vermarkten lässt.“

„Ich muss nichts aus Ihrem Manuskript klauen“, gab Mary Ruth Steinman bissig zurück. „Darauf hätte jeder kommen können!“

Martha Hemming zog ein Exemplar von Mrs. Steinmans Krimi hervor. Bunte Sticker zierten die Ränder. „Aber hätte sich auch jeder den Laden Die Verdrehte Stricknadel ausdenken können?“ Sie blätterte im Buch. „Oder den Java De-Lite?“ Tränen traten ihr in die Augen. „Das sind exakt die Orte in meinem Manuskript. Fehlt Ihnen denn jedes Schamgefühl?“

Mary Ruth Steinman drängte sich an mir und Hardy vorbei. „Ich brauche kein Schamgefühl“, zischte sie. „Ich brauche bloß täglich auf mein Bankkonto zu schauen, um zu wissen, dass ich gewonnen habe.“

Das Buch fiel Martha Hemming vor Schreck aus der Hand. Ich starrte Mrs. Steinman geschockt an. Hardy lockerte seinen Griff. Inzwischen hatten alle Leute den Laden verlassen. Harper stand mit weit aufgerissenen Augen ein paar Meter weiter weg.

Eine Träne lief Miss Hemmings Wange hinunter.

Ich drängte mich an ihnen vorbei, ging zur Tür und hielt sie auf. „Ich will, dass Sie gehen. Und zwar sofort.“

Martha Hemming funkelte Mary Ruth Steinman wütend an, doch kurz darauf verschwand sie mit erhobenem Kopf.

„Ich gehe erst dann, wenn ich mein Eigentum zurückhabe“, blaffte Mrs. Steinman.

Ich zählte im Stillen bis fünf, um nichts Unhöfliches zu sagen. Dann schritt Harper ein, damit ich es nicht tun musste.

„Es tut mir sehr leid, Mrs. Steinman. Wir haben kein Eigentum von Ihnen. Die Bücher wurden uns direkt von Ihrem Verlag zugeschickt.“ Ein breites, aufrichtiges Lächeln huschte über Harpers Gesicht. „Aber wir haben Kunden, die für Ihr Buch bezahlt haben.“ Stirnrunzelnd betrachtete sie den kleinen Stapel auf dem Tisch neben der Tür. „Auch wenn es nicht ganz so gelaufen ist, wie wir es uns vorgestellt haben, hätten Ihre Leser immer noch gerne Ihre Signatur.“ Sie reichte Mrs. Steinman ein Exemplar und einen Stift. „Es wäre sehr nett, wenn Sie das noch erledigen könnten, bevor Sie gehen.“

Die Autorin fletschte die Zähne und wollte gerade etwas erwidern, das höchstwahrscheinlich bissig war. Daher räusperte ich mich und schritt ein. „Wir haben mit Ihrem Verlag eine Vereinbarung über diese Bücher und die Signierstunde. In Ihrem Vertrag steht, dass eine Signierstunde stattfindet.“

„Sie haben die Signierstunde aber nicht abgehalten!“, gab Mrs. Steinman bissig zurück.

„In meinem Vertrag steht auch, dass ich das Recht habe, den Laden bei einem Ereignis zu schließen, von dem ich glaube, dass es meine Kunden gefährden könnte.“ Ich hielt ihrem Blick stand, bis sie wegschaute.

Mary Ruth Steinman sah Betty Jones fragend an. Ihre Assistentin zuckte mit den Schultern. „Dies ist die einzige Buchhandlung in dieser Stadt, und da Ihr Buch hier spielt, würde es mich nicht überraschen …“ Ihre Stimme verstummte.

„Ich werde so schnell wie möglich mit meinem Verleger sprechen“, knurrte Mrs. Steinman und riss Harper das Buch aus der Hand. Als Antwort nahm Harper den ganzen Stapel und legte ihn vor der Autorin hin.

Wir standen ein paar Minuten lang herum und schwiegen betreten, während sie alle Exemplare signierte. Es beruhigte und tröstete mich, dass Hardy hinter mir stand. Sobald Mrs. Steinman fertig war, lächelte Harper höflich. „Vielen Dank. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.“

„Ach, lassen Sie mich in Ruhe!“, schnappte Mary Ruth, während sie sich die Handtasche über die Schulter warf. Dann stürmte sie zur Tür hinaus. Betty Jones folgte ihr mit gesenktem Kopf.

Als die Tür ins Schloss fiel, eilte Harper hin, um sie abzuschließen, und lehnte sich dann ermattet dagegen.

„Ich glaub’s ja nicht, dass du so schlau warst, einen Vertrag mit dem Verlag abzuschließen.“

Ich grinste sie an, zog mir einen Stuhl heran und ließ mich darauf fallen. Dann streifte ich mir die Sandalen ab. „Das hab ich gar nicht.“

Harper riss die Augen auf. Hardy brach in überraschtes Gelächter aus.

Mir entfuhr ein müdes Glucksen. „Das werde ich sicher noch zu hören kriegen.“

„Aber nicht heute.“ Harpers Mundwinkel zuckten amüsiert.

„Nein, heute nicht mehr“, stimmte ich seufzend zu.

Kapitel 3

Am nächsten Morgen stand Cole vor meinem Laden, noch bevor ich überhaupt geöffnet hatte. Ich stieg aus meinem Rav4 und schüttelte den Kopf.

„Kein Kommentar“, sagte ich als Begrüßung.

Cole lächelte so breit, dass er Lachfältchen an den strahlend grünen Augen bekam. „Also wirklich. Behandelt man so einen Freund?“

„So behandle ich einen Reporter, der sich so früh am Morgen als mein Freund ausgibt.“

Sein Lächeln verkrampfte sich kaum merklich. Zu seiner Ehre ließ er das Notizbuch und den Stift wieder in die Tasche gleiten. „Ganz schön unhöflich, Dakota.“

„Ich habe noch nicht mal meine erste Tasse Kaffee getrunken, und schon stehst du mit einem Notizblock in der Hand und einer Kamera um den Hals auf meiner Matte. Also wer ist hier unhöflich?“

Cole wartete, bis ich die Tür aufgeschlossen hatte, und folgte mir in den Laden. „Ich versuche bloß, meinen Job zu machen.“

„Und ich versuche, meinen zu machen“, sagte ich, während ich Jacke, Schal und Mütze auszog und alles an den Ständer hängte. „Ich will nicht, dass Reporter hier herumlungern. Als Cole bist du hier immer willkommen. Aber wenn du versuchst, eine Story aus mir herauszulocken, dann fürchte ich, dass diese Quelle versiegt ist.“

Cole hob beschwichtigend die Hände. „Also gut. Ich ergebe mich.“ Auch er zog sich seine Jacke und den Schal aus, doch er legte sich beides über den Arm. „Sag mir, was passiert ist.“ Ich zog eine Augenbraue hoch. Cole verdrehte die Augen. „Unter vier Augen. Nur Cole und Dakota. Pfadfinderehrenwort.“

„Warst du denn je ein Pfadfinder?“

Cole gluckste. „Ja, und ich nehme den Eid ernst. Und jetzt erzähl es mir als ein Freund. Ist alles in Ordnung?“

Ich winkte ab. „Mir fehlt nichts. Es war nur eine Meinungsverschiedenheit, mehr nicht. Harper und ich hatten es innerhalb weniger Minuten geklärt.“

Cole warf mir einen Blick zu. „Bloß eine Meinungsverschiedenheit? Ich habe gehört, dass es viel mehr war. Martha Hemming hat doch die Frau des Plagiats ihres Romans beschuldigt, oder?“

Ich nickte. „Das stimmt. Und es klingt, als hätte sie auch einen triftigen Grund dazu.“

Er gab ein merkwürdiges Geräusch von sich. „Hmm. Ich glaube auch. Ich bin Miss Hemming gestern Abend zufällig begegnet. Sie hat mir erzählt, dass sie das Buch nicht nur an Betty Jones geschickt, sondern es auch Mary Ruth Steinmans Literaturagentin angeboten hat, um zu sehen, ob sie einen Verlagsdeal für sie bekommen könnte.“

Ich fuhr mir mit der Hand übers Gesicht. „Machst du Witze? Wie um alles in der Welt konnte Mary Ruth Steinman glauben, damit durchzukommen?“

Cole gluckste. „Manchmal vergessen die Leute, dass sie nur Menschen sind. Vielleicht ist ihr Ego zu groß geworden und sie hielt sich für unantastbar.“

„Das ist eine Katastrophe“, stöhnte ich. „Ich hoffe nur, mein Geschäft nimmt deswegen keinen Schaden.“

Ich hatte noch ungefähr eine Viertelstunde, bevor ich den Laden öffnete. Nach dem Desaster mit Mrs. Steinman hatte ich meine Bewertungen auf Google und Yelp überprüft, aber bisher waren meine Kunden gnädig. Kein einziger hatte eine schlechte Bewertung hinterlassen. Wahrscheinlich wäre ich nicht so glimpflich davongekommen, wenn ich Geld für die Signierstunde verlangt hätte, aber der Eintritt war kostenlos unter der Bedingung, dass die Gäste das Buch bei mir kaufen mussten, wenn sie es signiert haben wollten. Apropos … Ich runzelte die Stirn, als ich einen Blick auf den Tisch mit dem Stapel unverkaufter Bücher warf. Wenn ich heute nicht ein paar Exemplare davon verkaufte, musste ich sie vielleicht alle wieder einpacken und an den Verlag zurückschicken.

Vor meinem inneren Auge tauchte das Bild eines Geldbündels auf, das in Flammen aufging, und ich versuchte, es zu unterdrücken. Jetzt konnte ich nichts mehr dagegen tun, also hatte ich auch keinen Grund, mir darüber Gedanken zu machen. Auch wenn es schön gewesen wäre, etwas mehr Geld auf meinem Bankkonto zu haben … Ein Seufzer entfuhr mir.

„Keine Sorge. Alles wird gut. Jeder hier liebt dich doch.“ Cole stöberte im neuesten Stapel Thriller. „Aber ich denke, bei ihrem Verlag bist du durch.“

„Herzlichen Dank“, sagte ich und warf einen wütenden Blick auf seinen Rücken. „Es ist doch nicht meine Schuld, dass sie eine Betrügerin unter Vertrag genommen haben.“

„Es könnte Jahre dauern, bis alles geklärt ist. Das meiste davon wird wahrscheinlich auf Mary Ruth Steinman zurückfallen. Der Verlag schützt sich durch bestimmte Formulierungen in seinen Verträgen vor solchen Vorwürfen.“ Er schnaubte verächtlich. „Normalerweise“, fügte er hinzu. „Dir ist aber klar, dass ich etwas darüber in der Zeitung bringen muss, oder?“

„Ja.“ Meine Antwort war zwar nicht bissig, aber nahe dran. „Erwähne aber unbedingt, dass wir diese Woche dreißig Prozent Rabatt anbieten“, fügte ich als Nachgedanke hinzu.

Cole lachte. „Ich werde tun, was ich kann.“

Das Geschäft lief an diesem Tag gar nicht schlecht. Sobald ich die Tür aufschloss, strömten die Leute herein und gaben sich bis gegen drei Uhr nachmittags die Klinke. Um fünf war Ladenschluss, obwohl ich normalerweise die Tür offen ließ, wenn viel los war. Vermutlich würde ich pünktlich schließen können, was eine kleine Erleichterung war. Ich hatte eine Packung Lachs im Kühlschrank, die ich gestern Abend gekauft hatte, und ich wollte den Fisch räuchern, wenn ich die Gelegenheit dazu hatte.

Seit Kurzem schaute ich mir Kochsendungen an. Erst neulich hatte ich herausgefunden, wie man Lachs zubereitet, auch wenn ich die Kunst noch nicht ganz perfektioniert hatte. Weil Lachs so gesund war, wollte ich schon immer mehr davon essen, aber er gehört zu den fischigeren Fischsorten. Normalerweise bevorzuge ich Fisch mit weißem Fleisch. Wenn man ihn frisch genug kauft, hat er nur selten diesen starken Fischgeschmack.

Lachs war jedoch eine andere Geschichte.

Als ich gerade nach vorne ging, um den Laden abzuschließen, wurde ich von lauten Stimmen aufgeschreckt. Ich eilte zur Tür und erblickte Martha Hemming und Betty Jones, die direkt vor dem Laden in einen heftigen Streit verwickelt waren.

Seufzend öffnete ich die Tür. Keine von beiden sah mich an.

„Sie haben mein Leben ruiniert!“, kreischte Martha Hemming.

Betty Jones fuchtelte mit den Händen herum. „Lassen Sie mich in Ruhe, Sie verrückte alte Schachtel!“

Martha Hemmings Gesicht lief knallrot an. Sie biss die Zähne zusammen und ihre wütenden Augen waren weit aufgerissen. „Verrückte alte Schachtel?“, wiederholte sie. „Ich bin hier, damit Sie zugeben, was Sie mir angetan haben!“

Mrs. Jones versuchte, sich an mir vorbei in den Laden zu drängen, doch ich stellte mich ihr in den Weg. „Auf gar keinen Fall!“, knurrte ich. „Keiner von Ihnen kommt in meinen Laden, bis Sie Frieden geschlossen haben.“

Martha Hemming richtete den Blick auf mich. „Miss Adair! Wie können Sie sich auf ihre Seite stellen?“

„Ich stelle mich auf gar keine Seite. Ich führe ein Geschäft und will kein Drama und keinen Ärger in Tattered Pages. Dieser Laden ist meine Lebensgrundlage, die ich schützen muss. Also bitte. Entweder benehmen Sie sich anständig oder verschwinden.“

„Sie werden noch von Mary Ruth wegen der Art und Weise hören, wie Sie sie behandelt haben“, warnte Betty Jones mich.

„Ach, wirklich?“ Ich schüttelte den Kopf und wollte mich gerade umdrehen, um wieder hineinzugehen, als ein Streifenwagen mit eingeschaltetem Blaulicht vorfuhr. Die Sirene war ausgeschaltet, doch rote und blaue Lichter flackerten über den Marktplatz, als Hardy anhielt und ausstieg.

„Ist hier alles in Ordnung?“ Er trat hinter mich und starrte die beiden Frauen an.

Martha Hemming senkte den Blick. „Ich bin nur hier, um die Sache zu klären.“

Mrs. Jones verzog verächtlich das Gesicht. „Ach, wirklich? Es scheint, als wären Sie nur gekommen, um mich anzugreifen.“

„Sie anzugreifen?“, zischte Martha Hemming wütend. „Sie schuldet mir jeden Cent von dem Vorschuss, den Mary Ruth Steinman bekommen hat! Und Sie waren es, die ihr mein Buch gegeben haben!“

„Das habe ich nicht“, sagte Betty Jones hitzig, doch sie wandte den Blick ab.

„Ich muss Sie beide bitten zu gehen.“ Hardy trat näher an mich heran. „Dakota hat Sie schon dazu aufgefordert, also machen Sie es mir bitte nicht noch schwerer.“

„Ich bin hier, um mit Miss Adair zu reden“, sagte Betty Jones.

„Wir können hier draußen reden.“ Ich wollte keinen von beiden jetzt in meinem Laden haben.

„Unter vier Augen“, drängte Mrs. Jones.

Miss Hemming verdrehte die Augen. „Warum? Wollen Sie vielleicht auch eines ihrer Bücher stehlen, um es Mary Ruth Steinman zu geben, damit sie es als ihr Werk ausgeben kann?“

Hardy seufzte. „Also, meine Damen. Gehen Sie weiter. Mrs. Jones, ich schlage vor, Sie rufen Dakota an, bevor Sie wieder herkommen.“

Martha Hemming warf mir einen langen Blick zu, bevor sie sich umdrehte und wegging. Mrs. Jones war etwas widerspenstiger. Ich verschränkte die Arme und schüttelte den Kopf. „Rufen Sie mich an. Dann haben wir mehr Privatsphäre, und außerdem mache ich jetzt zu.“

Hardy rührte sich nicht, bis Betty Jones endlich davongestapft war. Wir sahen ihr nach, bis sie in ihr Auto gestiegen und weggefahren war.

„Ich glaube nicht, dass dies das letzte Mal war, dass Sie von ihr gehört haben“, sagte Hardy.

„Das glaube ich auch nicht.“ Ich hielt ihm die Tür auf, damit er hereinkommen konnte. „Kann ich irgendwas für Sie tun?“

Er folgte mir hinein. „Nein. Trudy hat mich angerufen und gebeten, hier vorbeizuschauen. Ich habe gerade ein paar Blocks von hier etwas erledigt, also war es kein Problem, vorbeizukommen, bevor ich zurück aufs Revier fahre.“

„Danke.“ Ich meinte es ernst. „Die beiden Streithähne sollten einen Abstand von mindestens dreißig Metern halten.“

„Ich hoffe, sie verklagt Mrs. Steinman. Ich kann nicht viel tun, da es sich um eine Zivilklage handelt. Ich kann die beiden zwar so gut es geht auseinanderhalten, aber ansonsten …“ Er zuckte mit den Schultern.

„Hoffentlich bleiben sie nicht mehr lange in der Stadt. Mrs. Steinman hat nur einen Termin in unserer Gegend, und der war hier in meinem Laden. Binders hatte schon eine andere Autorin gebucht, deshalb konnte sie nicht dahin gehen.“

Hardy ließ sich auf den Stuhl hinter der Kasse fallen. Er fuhr sich mit der Hand durchs dunkle Haar und stöhnte. „Hoffen wir es.“

„Einen harten Tag gehabt?“

Er hatte dunkle Ringe unter den Augen und seine Mundwinkel hingen leicht herab. Er wirkte erschöpfter als je zuvor.

„Eine harte Woche“, antwortete er. „Im Augenblick ist wegen dem Fall, in den Cole involviert war, viel los.“

Zwar war Cole mittlerweile aus dem Schneider, aber ohne es zu beabsichtigen, hatten er und ich Korruption im Rathaus und vielleicht sogar in der ganzen Stadt aufgedeckt. Seit ich bewiesen hatte, dass Cole nichts mit dem Mord zu tun hatte, hielt ich mich raus. Ich fand, dass ich Hardy durch mein ständiges Einmischen schon genug Ärger bereitet hatte. Er sollte den Korruptionsfall allein bearbeiten. „Das tut mir leid“, sagte ich, auch wenn sich meine Worte wenig hilfreich anfühlten. „Wollen Sie eine Tasse Kaffee?“

Er schüttelte den Kopf und stand auf. „Zu spät am Abend für mich. Wenn ich jetzt noch einen Kaffee trinke, bleibe ich die ganze Nacht wach. Aber trotzdem danke. Ich bin bloß vorbeigekommen, um mich zu vergewissern, dass mit Ihnen alles in Ordnung ist.“

„Mir fehlt nichts.“ Ich lächelte ihn an. „Hoffentlich kommen sie nicht wieder.“

Er ging zur Tür. „Lassen Sie es mich wissen, falls sie es doch tun.“ Sein Blick blieb einen Moment lang auf mir ruhen. „Dann noch einen schönen Abend, Dakota.“

„Ihnen auch, Hardy.“

Er ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen und ich sah ihm nach, bis er den Streifenwagen erreicht hatte.

Kapitel 4

Später an dem Abend klingelte mein Handy in dem Moment, in dem ich ins Bett steigen wollte. Stöhnend hob ich es vom Nachttisch auf.

Cole. „Hallo. Alles okay?“

„Ja, alles in Ordnung, aber rate mal, was ich herausgefunden habe?“

Ich stöhnte. „Es geht doch nicht schon wieder um Mrs. Steinman, oder?“

Cole lachte. „Na klar. Das ist die Story des Jahres!“

„Es gibt keinen Grund für mich, mich damit zu befassen“, erwiderte ich. „Und außerdem ist es schon spät.“

„Das hier wird dich interessieren“, versprach Cole. Dann wurde seine Stimme ernst. „Es sind keine guten Nachrichten.“

„Also gut. Was gibt es?“ Ich zog die Decke hoch und kuschelte mich tiefer ins Bett. Die Nächte waren deutlich kälter geworden als sonst. Ich trug einen Baumwollpyjama und dicke Socken. So wie ich mich kannte, würde ich um Mitternacht aufwachen und versuchen, sie abzustreifen, aber im Augenblick fror ich bis auf die Knochen.

Poppy hatte sich dazu entschieden, im Laden zu bleiben. Seit der Katastrophe mit Mary Ruth Steinman hatte ich sie nur noch selten gesehen, aber so war sie manchmal. Launisch und geheimnisvoll. Wenn sie nicht gefunden werden wollte, dann konnten wir sie auch nicht finden.

„Die hiesige Polizei hat einen Leichenfund in der Pension gemeldet, in der Mary Ruth Steinman übernachtet hat. Die Tote ist rothaarig.“

Ich setzte mich kerzengerade auf. „Nein.“ „Pfadfinderehrenwort“, sagte Cole. „Sie muss es sein. Ich weiß genau, dass Annies Pension diese Woche nicht ausgebucht ist. Es zieht ein Sturm auf und deswegen wollen die Leute jetzt nicht verreisen.“

„Ist Hardy vor Ort?“

Cole schwieg einen Moment. „Ich gehe davon aus, dass er dort ist. Wieso?“

„Er war heute im Laden. Trudy hat ihn angerufen, als Betty Jones und Martha Hemming vor meiner Tür einen Streit angefangen haben.“

„Und mich hast du nicht kontaktiert?“ Cole klang beleidigt.

„Es war keine Sensation.“

„Das kann ich selber entscheiden, Dakota“, erwiderte Cole verschnupft. „Und jetzt sag mir: Hast du Mrs. Steinman umgebracht?“

Ich rang nach Luft, doch gleich darauf schallte Coles herzliches Lachen durchs Telefon. „Ich mache bloß Spaß.“

„Du bist echt schrecklich. Immerhin ist gerade eine Frau gestorben.“

„Mag sein“, gab er zu. „Aber sie war nicht gerade ein netter Mensch und außerdem eine Lügnerin.“

„Das heißt noch lange nicht, dass sie den Tod verdient hätte.“

„Dein weiches Herz wird dich irgendwann noch selbst umbringen“, warnte Cole mich. „Wie auch immer, ich weiß, es ist schon spät. Ich wollte dir nur Bescheid sagen. Wahrscheinlich kommt Hardy morgen vorbei, um dir ein paar Fragen zu stellen. Es ist schon ziemlich seltsam, dass sie tot ist, nachdem Martha Hemming sie beschuldigt hat, ihr Manuskript gestohlen zu haben.“

Mir kam ein schrecklicher Gedanke. „Hat jemand geschaut, ob mit Miss Hemming alles in Ordnung ist?“

Das weiß ich nicht. Wenn überhaupt, dürfte sie eher in Untersuchungshaft sitzen.“

„Martha Hemming kann sie nicht getötet haben. Ich kenne sie schon lange. Sie ist keine Mörderin.“

„Jetzt spricht schon wieder dein weiches Herz. Mrs. Steinman hat ihr Lebenswerk gestohlen. Vielleicht hat das gereicht, um sie durchdrehen zu lassen.“

Ich schüttelte den Kopf, obwohl er mich nicht sehen konnte. „Nein. Sie hat jedes Recht, wütend auf Mrs. Steinman zu sein, aber sie hat sie nicht umgebracht.“

„Nun ja“, sagte Cole nachdenklich, „irgendjemand hat es getan. Und wenn die Polizei der Sache nicht auf den Grund geht, dann tue ich es vielleicht.“

„Ich mische mich da nicht ein“, schwor ich am anderen Ende der Leitung.

Cole kicherte. „Ich würde mal sagen, das sind legendäre letzte Worte. Aber falls du es schaffst, drei von drei Fällen noch vor der Polizei zu lösen, dann hast du wohl den falschen Beruf.“

„Nie im Leben.“ Ich warf einen Blick auf die Uhr und verzog das Gesicht. „Ich muss morgen früh raus. Also bis bald?“

„Na klar doch“, sagte Cole.

Ich legte auf und starrte lange an die Decke.

Noch ein Mord in Silverwood Hollow. Es fühlte sich unwirklich an.

Früh am nächsten Morgen stand Martha Hemming vor meinem Laden. Während ich einparkte, erblickte ich sie und zögerte, die Autotür aufzumachen. Als sie mich sah, zog sie die Mundwinkel herunter und senkte kurz den Kopf.

„Es tut mir leid“, formte sie mit den Lippen.

Ich straffte die Schultern und öffnete die Tür. „Hallo, Miss Hemming.“

Die dunklen Haare fielen ihr in matten Strähnen auf die Schultern. Ihre Augen waren blutunterlaufen und tränennass. Sie streckte mir die Hände entgegen.

„Ich war es nicht“, krächzte sie.

„Ich weiß.“ Ich drückte ihre Hände. „Kommen Sie in den Laden, Liebes. Möchten Sie eine Tasse Kaffee?“

Ich ließ sie los, um die Tür aufzuschließen, und legte dann den Arm um ihre Schultern. Ich spürte, wie sie am ganzen Körper zitterte und gar nicht mehr damit aufhörte. Vielleicht stand Miss Hemming unter Schock. Ich wartete, bis sich mein rasendes Herz beruhigt hatte, und führte sie zu einem der weicheren Sessel im Laden.

„Bleiben Sie hier. Ich hole Ihnen eine Tasse.“

Sie nickte und zog ein Taschentuch aus ihrer Handtasche heraus. Ihr entfuhr ein Schluchzen. Ich eilte hinüber zur Kaffeekanne und nahm eine Kapsel, anstatt zu warten, bis eine volle Kanne aufgebrüht war. Sobald die Tasse fertig war, gab ich etwas Sahne und Zucker dazu und kam damit zu ihr zurück.

Während sie die Kaffeetasse entgegennahm, streiften ihre eiskalten Finger meine Hand. „Danke.“ Sie schniefte und nahm zitternd einen Schluck.

Ich zog einen Stuhl heran und setzte mich neben sie. Der Laden öffnete erst in einer Dreiviertelstunde und ich hatte sowieso kaum etwas zu tun. Und selbst wenn Hochbetrieb wäre, bräuchte ich nur die Kasse zu öffnen.

Ich konnte also neben Miss Hemming sitzenbleiben. Sie brauchte jetzt ein wenig Freundlichkeit und ich war der nächste Mensch, der ihr das geben könnte.

„Erzählen Sie mir, was passiert ist.“

Sie schauderte. „Ich weiß nicht viel darüber. Aber es sieht nicht gut aus für mich.“ Tränen liefen ihr übers Gesicht. Martha Hemming und ich kannten uns nicht gut genug, um uns näher über unser Leben auszutauschen, doch ich wusste, dass sie alleinstehend war und keine Kinder hatte. Sie kam oft genug in den Laden, um mir zu zeigen, dass sie eine begeisterte Leserin war, und ich wusste, dass sie Krimis und harmlose Liebesromane mochte. Abgesehen davon war mir nichts über Miss Hemming bekannt.

„Ich habe herausgefunden, wo sie übernachtet hat.“ Sie riskierte es, mich kurz anzusehen, und ich achtete darauf, einen neutralen Gesichtsausdruck zu behalten, auch wenn ich am liebsten laut aufgeschrien hätte.

„Ich weiß“, gab sie zu. „Es war dumm von mir.“

„Schon gut. Ich habe ja mitbekommen, wie wütend Sie über das sind, was sie Ihnen angetan hat.“

Sie holte zitternd Luft. „Ich habe an ihre Tür geklopft und sie erneut damit konfrontiert. Es wurde … unangenehm. Mrs. Steinman hat mir eine geknallt.“

Ich blinzelte und betrachtete sie genauer. Tatsächlich hatte sie einen kleiner Kratzer im Gesicht und oben auf ihrem Wangenknochen bildete sich ein blauer Fleck. „Sie hatte einen Ring am Finger.“ Martha Hemming zeigte auf ihre Wange. „Es tut weh, wenn ich rede.“

„Haben Sie zurückgeschlagen?“

Ihre Augen weiteten sich. „Nein! Das schwöre ich. Als sie mich geschlagen hat, habe ich sie angeschrien. Dann hat irgendjemand gebrüllt, er würde die Polizei rufen.“ Martha Hemming schluckte schwer. „Und dann bin ich weggerannt.“ Sie schniefte. „Heute früh habe ich erfahren, dass sie tot ist.“

„Sind Sie sicher, dass sie die Tote ist?“

Sie nickte. „Betty Jones hat irgendwie meine Nummer rausgekriegt und mich angerufen und mir schreiend alles Mögliche an den Kopf geworfen.“

„Haben Sie Mrs. Jones aufgesucht?“

„Nein. Ich bin von zu Hause losgegangen und direkt hergekommen. Ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte.“

Es sah nicht gut aus für Martha Hemming. Sie hatte ein Motiv und noch mehr Gründe, und möglicherweise war sie die Letzte, die Mary Ruth Steinman lebend gesehen hatte. „War Mrs. Jones auf ihrem Zimmer, als das alles passiert ist?“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich habe sie überhaupt nicht gesehen. Ich glaube, Mrs. Steinman war die Einzige, die da war.“

„Die Polizei wird nach Ihnen suchen“, sagte ich sanft.

Sie nickte mit gesenktem Kopf. „Das ist mir klar. Ich habe solche Angst, Miss Adair.“

„Das weiß ich.“ Ich griff nach ihrer Hand und drückte sie.

Sie sah mich an; ihre blauen Augen waren weit aufgerissen und wirkten verzweifelt. „Können Sie mir helfen?“

Ich blinzelte. „Wie denn?“ Mir sank das Herz in die Hose, als mir klar wurde, was sie gleich sagen würde.

„Mir dabei helfen, herauszufinden, wer das getan hat?“

„Ich bin keine Ermittlerin, Miss Hemming. Ich wünschte wirklich, ich könnte Ihnen helfen, aber ich kann es nicht.“

„Natürlich können Sie es“, beharrte sie. „Sie haben vor einiger Zeit dieser Frau geholfen und Cole haben Sie auch geholfen. Er erzählt überall herum, dass er genau weiß, was Sie für ihn getan haben!“

Herzlichen Dank, Cole, dachte ich. „Die Polizei hat mich davor gewarnt, meine Nase in zukünftige Fälle zu stecken, Miss Hemming. Es tut mir wirklich unendlich leid, dass ich nicht mehr für Sie tun kann.“

Sie beugte sich vor; ihre Augen schimmerten verzweifelt. „Ich bezahle Sie auch dafür! Ich … werde alles tun. Brauchen Sie hier Hilfe?“ Sie sah sich im Laden um. „Aufräumen? Saubermachen?“

In diesem Moment tauchte Poppy auf und setzte sich direkt vor Martha Hemming hin. Ihr Schwanz schlug hin und her. „Die Katze versorgen?“, fragte sie. „Das werde ich tun, aber bitte helfen Sie mir. Und wenn es nur darum geht, Fragen zu stellen.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht, dass ich noch lange frei herumlaufen werde. Es sieht alles sehr schlecht für mich aus, deswegen glaube ich, dass sie mich verhaften werden. Sonst würde ich es selber tun. Ich brauche Hilfe, Miss Adair. Und ich weiß, dass Sie gut darin sind.“

Ich schluckte schwer. Poppy starrte mich erwartungsvoll von unten herauf an. Und war ihr Timing nicht merkwürdig? Hardy würde nicht gerade erfreut sein, wenn ich meine Nase wieder mal in eine seiner Ermittlungen steckte. Aber konnte ich wirklich tatenlos zusehen, wie sie eine unschuldige Frau verhafteten?

„Ich werde es versuchen“, sagte ich nach einem Moment Schweigen.

Martha Hemming holte atemlos Luft. „Also tun Sie es?“

Ich nickte. „Aber ich kann mich nicht zu sehr einmischen. Ich werde mich umhören und herausfinden, ob irgendjemand etwas gesehen hat. Mehr kann ich nicht versprechen.“

Martha Hemming stellte ihre Tasse ab. Sie schlang die Arme um mich und drückte das Gesicht an meine Schulter. „Danke“, flüsterte sie. „Ich danke Ihnen tausend Mal.“

In diesem Moment klopfte jemand an das Glas der Ladentür. Ich drehte mich um. Draußen stand Hardy, der ein missbilligendes Gesicht aufsetzte, als er sah, wer neben mir saß.

Das hier war offensichtlich ein Déjà-vu.

Wieder einmal.