Kapitel 1
Leise summend lief Delia Becker, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf. Ihr Ziel war die Wohnung ihres Freundes Marc im dritten Stock. Eine volle Einkaufstasche baumelte an ihrer linken Hand, während sie sich mit der rechten am Geländer hochzog.
Sie stellte sich das überraschte Gesicht von ihm vor, wenn er von der Arbeit käme, die Tür aufschließen würde und ihm der Duft von Lasagne, seinem Leibgericht, in die Nase stiege. Sie musste grinsen; damit würde er bestimmt nicht rechnen. Einerseits konnte sie gerade mal ein Spiegelei braten und selbst das würde wahrscheinlich anbrennen, andererseits lag ihr jüngster Streit erst einen Tag zurück, sodass Marc bestimmt nicht erwarten würde, dass sie ihn mit seinem Lieblingsessen überraschte.
In letzter Zeit hatten sie sich oft gezankt – er fand, dass sie ihren Frust an ihm ausließ und sich zu wenig um ihn kümmerte. Er fühlte sich vernachlässigt von ihr. Delia hingegen meinte, dass er ihre Sorge, arbeitslos zu werden, nicht ernst nahm, sondern nur auf sein Wohlbefinden bedacht war.
Die kleine Pension, in der sie gelernt und seitdem gearbeitet hatte, schloss in wenigen Wochen aus finanziellen Gründen und Delia hatte bislang keine neue Stelle gefunden. Doch darüber wollte sie jetzt nicht nachdenken. Schließlich war sie hier, um Marc eine Freude zu bereiten und ihre negative Art der letzten Tage wiedergutzumachen.
Heute Morgen war sie aufgewacht und wusste, sie musste etwas ändern, wenn sie ihre Beziehung ins Lot bringen wollte. Als hätte diese Erkenntnis einen Schalter umgelegt, besserte sich ihre Stimmung schlagartig. Seitdem schwirrte ihr ein Lied von Taylor Swift im Kopf herum, zu dem sie schon als junges Mädchen in ihrem Kinderzimmer getanzt hatte.
„Shake it off, I shake it off“, sang sie leise vor sich her. „I, I, I shake it off!“ Mit Schwung nahm sie die letzte Stufe und suchte in ihrer Handtasche nach dem Schlüssel. Noch immer leise vor sich hin summend öffnete sie die Tür und ließ sie hinter sich ins Schloss gleiten. Ihre Schuhe zog sie im Flur aus, stellte ihre Tasche daneben und tänzelte zu dem Lied in ihrem Kopf in die Küche. Sie hob die Tüte auf die Arbeitsfläche, streifte sich mit einer schwungvollen Drehung die Jacke ab und warf sie auf einen Stuhl am Küchentisch. Ihr Fuß wippte im Takt des imaginären Songs und ihr langer, brauner Pferdeschwanz schaukelte dabei hin und her.
Beschwingt öffnete sie die Tüte und packte ihren mitgebrachten Schatz aus. In der Pension gab es heute Lasagne und sie hatte den Koch überzeugen können, ihr etwas mitzugeben.
Vorsichtig stellte Delia eine Aluschale auf die Arbeitsplatte und zog die Abdeckung ab. Eine dicke Schicht geriebener Käse kam zum Vorschein. Gerne hätte sie Marc selbst eine Lasagne zubereitet, aber wahrscheinlich hätte sie dann die halbe Küche abgefackelt. Delia öffnete die Ofentür, als sie ein Poltern hörte.
Überrascht lief sie zur Küchentür, um zu lauschen. War Marc zu Hause? Soweit sie wusste, sollte er erst in einer halben Stunde Feierabend haben. Als sie nichts weiter hörte, zuckte sie mit den Schultern. Bestimmt war es das Nachbarskind; die Wände waren in dem Mietshaus so dünn wie Pappe. Es krachte und polterte oft, wenn das Kind in der Wohnung über ihnen tobte. Delia schlenderte zurück. Sie wollte gerade ein Backblech aus dem Ofen nehmen, als ein leiser Schrei erklang.
Erschrocken drehte sie sich um. Das kam definitiv nicht von den Nachbarn. Das Gute-Laune-Lied in ihrem Schädel verstummte abrupt. Erneut gellte ein Schrei durch die Wohnung, diesmal deutlich lauter. Es war keiner dieser Hilferufe, bei denen man sofort wusste, dass jemand heftige Schmerzen litt. Im Gegenteil. Das Blut wich aus Delias Wangen und ihr wurde flau im Magen.
Das würde er nicht tun, nicht ihr Marc.
Langsam schritt sie aus der Küche, durch den Flur und blieb vor der geschlossenen Schlafzimmertür stehen. Leises Stöhnen drang durch das Holz und das ungute Gefühl in ihrem Magen sorgte dafür, dass ihr schlecht wurde.
Als sie nach der Klinke griff, zitterte ihre Hand. Sie atmete tief ein und aus, gab sich einen Ruck und stieß die Tür auf.
Bei dem Bild, das sich ihr bot, keuchte sie auf und schlug entsetzt die Hand vor den Mund.
Marc lag nackt auf dem Bett, die Handgelenke an die Pfosten gefesselt. Eine nur mit BH bekleidete Frau saß rittlings auf ihm. Und es war nicht irgendeine Frau, sondern Julia, ihre beste Freundin.
In dem Moment, als Delia aufkeuchte, schreckten die beiden hoch und blickten erschrocken zu Tür.
Für Delia lief alles wie in Zeitlupe ab. Sie sah, wie der Schrecken sich in den Augen ihrer Freundin in Entsetzen wandelte. Bei Marc war es eher Panik, die sich auf seinen Zügen ausbreitete. Julia sprang auf und zog die Bettdecke mit sich, um ihre Blöße zu bedecken. Das knallige, rote Kondom an Marcs halbsteifem Penis leuchtete wie eine Warnlampe zwischen seinen bleichen Beinen auf. Wenigstens haben sie verhütet, schoss es Delia durch den Kopf.
Marc versuchte aufzustehen, doch seine Fesseln hinderten ihn daran und er fluchte laut. „Delia, es ist nicht so, wie es aussieht!“, stammelte er.
In ihren Augen sah es jedoch eindeutig aus. Mit einem Ruck sprang die Zeit in ihren eigentlichen Rhythmus zurück. Ihr wurde eiskalt und das Gefühl, sich übergeben zu müssen, machte sich in ihr breit. Sie musste sofort hier raus. Wortlos drehte sie sich um und lief zurück in die Küche.
„Delia! Delia, warte!“, rief Marc, aber sie ignorierte ihn. „Verdammt, Julia, jetzt mach doch die scheiß Knoten auf!“
Auf keinen Fall wollte sie mit ihm oder Julia reden, am besten nie wieder. Hastig griff sie nach ihrer Jacke und kehrte zurück in den Flur.
„Delia! Scheiße, Julia, was dauert das so lange! Delia!“ Sie zog sich halb stolpernd, halb gehend die Schuhe an, schnappte sich ihre Tasche und verließ fluchtartig die Wohnung.
In ihrem Kopf herrschte nur ein Gedanke: Weg! Weg! Weg!
So schnell sie konnte, hastete sie die Treppe herunter, so dass sie strauchelte. Im letzten Moment griff sie nach dem Geländer und konnte verhindern, dass sie stürzte. Nur vage erinnerte sie sich hinterher daran, wie sie das Treppenhaus verließ, zu ihrem Auto lief und einstieg.
Mit zittrigen Fingern versuchte sie, den Schlüssel in die Zündung zu stecken – es klappte nicht. Mit einem Aufschrei warf sie den Schlüsselbund auf den Beifahrersitz und hieb mit beiden Händen auf das Lenkrad. Ohne dass sie es verhindern konnte, kamen die Tränen. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie heulend im Auto saß. Schließlich wandelte sich das Schluchzen in den typischen Schluckauf nach einem Heulkrampf und ihre Augen blieben trocken. Delias Smartphone vibrierte, stand still und vibrierte erneut. Sie atmete tief ein und fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. Hicksend fischte sie ihr Telefon aus ihrer Handtasche. Fünf verpasste Anrufe und zwölf Nachrichten aus zwei verschiedenen Chats. Für einen Moment lehnte Delia sich zurück, um sich zu sammeln.
Unvermittelt klopfte es an ihrer Fensterscheibe. Sie zuckte zusammen und schrie vor Schreck auf. Als sie sich mit aufgerissenen Augen zum Fenster drehte, stand dort Marc. Nur in Jeans und mit nacktem Oberkörper lag seine Hand an der Scheibe. Er winkte und machte Anstalten, die Tür zu öffnen. Hektisch drückte Delia den Knopf für die Zentralverriegelung und verschloss das Auto. Sie würde nicht mit ihm reden, schon gar nicht hier und jetzt. Erneut klopfte er und sie sah, wie sich seine Lippen bewegten. Sie griff hastig nach dem Schlüssel. Was vorhin nicht geklappt hatte, funktionierte diesmal ohne Probleme. Sie rammte ihn in die Zündung und der Motor heulte auf. Hektisch deutete Marc immer wieder auf die Tür, doch sie ignorierte ihn.
Delia gab Gas und fuhr los. Im Rückspiegel wurde Marcs Silhouette immer kleiner, bis Delia um eine Kurve jagte und er gänzlich aus ihrem Gesichtsfeld verschwand.
Als sie endlich zurück in ihrer Einzimmerwohnung war, ließ sie ihre Sachen auf den Boden fallen und schleppte sich bis zu ihrer Couch. Sie nahm die Wolldecke von der Lehne, rollte sich mit angezogenen Beinen zusammen und zog sich den weichen Stoff über den Kopf. Die Übelkeit hatte sich gelegt, dafür schmerzte alles andere an ihrem Körper. Insbesondere der Verrat bohrte sich wie ein stumpfes Messer in ihr Herz. Ihre beste Freundin und ihr Freund. Wie konnten beide sie nur so hintergehen? Die Personen, denen Delia am meisten vertraut hatte.
Ihre Gedanken kreisten um das Bild von Marc und Julia – wie sie zusammen im Bett lagen, beziehungsweise wie Julia auf ihm gesessen hatte. Angewidert schüttelte Delia den Kopf und versuchte, den Gedanken zu vertreiben.
Hatte sie die Anzeichen übersehen? Ihr Hirn gab keine Ruhe und durchlief jede einzelne Situation, bei der sie zu dritt zusammen gewesen waren. Spieleabende, Discogänge oder das gemeinsame Bummeln durch die Stadt. Hatten sich Julia und Marc an dem Samstag vor einem Monat länger angelächelt? Oder letzte Woche beim Shoppen? Marc hatte Julia am Arm berührt, hatte es da angefangen?
Umständlich befreite Delia sich aus der Decke und schlurfte von der Couch zu ihrem Bett. Sie war erschöpft und kraftlos, aber ihre Gedanken raubten ihr den Schlaf. Immer wieder kamen ihr die Tränen, bis sie glaubte, völlig leer und ausgetrocknet zu sein. Ihr Hals brannte, aber ihr fehlte die Energie, um in die Küche zu gehen. Zum Glück stand auf ihrem Nachttisch ein halbvolles Glas Wasser von der letzten Nacht, das sie leerte.
Es dauerte lange, bis die Erschöpfung überhandnahm und sie in einen unruhigen Schlaf, geplagt von Alpträumen, fiel.
Kapitel 2
Die nächste Woche war für Delia die Hölle.
Tagsüber musste sie arbeiten und es fiel ihr schwer, nett zu den Gästen zu sein, wenn es in ihrem Inneren nach Zerstörung aussah.
Ständig gingen neue Nachrichten auf ihrem Smartphone über unbeantwortete Anrufe und Sprachnachrichten ein. Weder rief sie zurück, noch hörte sie es sich an. Delia hatte nicht das geringste Interesse, sich die Ausreden und Entschuldigungen anzuhören. In ihren Augen hatten sie etwas Unverzeihliches getan und davon gab es kein Zurück. Nur Julia schickte sie eine Nachricht, in der sie ihr mitteilte, dass sie für sie als Freundin gestorben sei. Im Anschluss blockierte sie ihre Nummer. Bei Marc konnte sie sich noch nicht dazu durchringen, immerhin hatte er noch Sachen von ihr.
Mit Mühe und Not schleppte sie sich durch die Tage, um abends auf die Couch zu fallen und wie im Klischee Eiscreme zu löffeln. Es half, wenn auch nur kurzfristig. Selbstzweifel plagten sie, die sie nicht loswurde. War es ihre Schuld gewesen, hatte sie sich tatsächlich nicht genug um Marc gekümmert? Er brauchte immer viel Aufmerksamkeit und in letzter Zeit hatte sie ihm die nicht geben können. Wobei das niemals seinen Verrat rechtfertigte.
Alles um sie herum erinnerte sie an die beiden. In der ganzen Wohnung und gefühlt in der halben Stadt waberten kleine Erinnerungswolken vor ihren Augen. Also kippte sie Wein in sich hinein, bis die Wolken stumpf und verzerrt wurden und sie verheult auf dem Sofa einschlief.
Ihre kleine Wohnung, die sie immer geliebt hatte, engte sie nun ein. Mit all den Erinnerungen konnte sie nur schwer abschalten, allerdings wusste sie nicht, wo sie sonst hinsollte. Bedauerlicherweise fiel ihr erst jetzt auf, dass sie außer den beiden nicht viele Vertraute besaß. Natürlich gab es da einige alte Freundinnen aus der Schulzeit, aber die hatten, als sie vor vier Jahren mit Marc zusammengekommen war, von der Beziehung nicht viel gehalten. Angeblich hätte Delia sich in kurzer Zeit verändert und sie gaben ihm die Schuld daran. Im Nachhinein betrachtet hatten sie möglicherweise nicht ganz unrecht gehabt, als sie meinten, sie hätte sich Marc und seinen Interessen untergeordnet. Mittlerweile hatte Delia zu ihren früheren Freundinnen kaum mehr Kontakt und würde sich jetzt nicht die Blöße geben und heulend zu ihnen zurücklaufen.
Julia hatte sie erst später durch Marcs Freundeskreis kennengelernt. Die enge Freundschaft mit ihr hatte sich vor etwa drei Jahren entwickelt. Ob die beiden damals schon etwas miteinander gehabt hatten?
Dann waren da noch Delias Eltern, die nur fünfzehn Minuten mit dem Auto entfernt wohnten, doch bei ihnen würde sie sich auf keinen Fall ausweinen. Ihre Mutter würde zur Glucke mutieren und Delia nicht mehr aus den Augen lassen. Das wäre keine Hilfe, im Gegenteil, das würde ihr den Rest geben. Also wählte sie das in ihren Augen geringere Übel und kämpfte sich allein durch die nächsten Tage. Zwar ebbte der erste Schmerz langsam ab, doch der Vertrauensbruch saß tief, wie ein Splitter, der sich nicht herausziehen ließ. Oft spürte man ihn nur dumpf, bis man dagegenstieß, dann stach er wie die Hölle.
Die Arbeit lenkte Delia zwar ab, aber zu Hause hatte sie viel Zeit zum Nachdenken, insbesondere über ihre Beziehung. Und sie musste feststellen, dass sie in den letzten Jahren vieles in ihrer Partnerschaft hingenommen hatte.
Ihre Wünsche und Interessen waren Marc weitestgehend egal gewesen, in der Regel machten sie das, was ihn begeisterte. Meistens waren es nur Kleinigkeiten, die er bestimmte, wie die Filme, die sie schauten, oder dass Delias Brettspiele nach und nach verschwanden und gegen Konsolenspiele ausgetauscht wurden. Sie trug die engen Kleidungsstücke, die ihm gefielen, obwohl sie sich darin nicht wohl fühlte. Aber auch größere Entscheidungen, wie Urlaubsziele, wurden im Grunde von Marc festgelegt. Sie wäre so gerne mit ihm in eine größere Stadt wie London gefahren, doch am Ende musste es der All Inclusive Urlaub sein, wo man kaum das Hotel verließ. Delia hatte sich angepasst und gedacht, dass sie das gerne für einen Mann tat, den sie liebte und sie dadurch eine glücklichere Beziehung führen würde. Offenbar hatte sie sich geirrt.
In einer schlaflosen Nacht, in der ihre Gedanken kreisten, fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Sie setzte sich abrupt auf: Er hatte sie manipuliert, und das die ganze Zeit über. Immer wenn es Streit gegeben hatte oder sie etwas tun wollte, was ihm nicht gefiel, stellte er ihre Liebe zu ihm infrage und sie hatte nachgegeben. Nur in letzter Zeit nicht. War sie so leicht zu beeinflussen gewesen?
Heiße Wut bahnte sich einen Weg durch ihren Körper und sie sprang aus dem Bett. Der Zorn galt hauptsächlich ihr selbst - wie hatte sie so dumm sein können?
Sie warf sich auf die Knie und zog schwungvoll eine Pappschachtel unter ihrem Bett hervor. Gleich zu Beginn hatte sie alle Fotos, Erinnerungsstücke und Sachen von Marc in die Box geworfen und mit dem Deckel verschlossen versteckt. Bisher war sie nicht bereit gewesen, sich davon zu lösen. Bis jetzt. Delia schleppte den Karton ins Badezimmer, schüttete den Inhalt in die Badewanne und griff nach einem Päckchen Streichhölzer, das neben einer Duftkerze lag. Mit einem Vergnügen, das ihr unheimlich war, ließ sie ein Zündstäbchen aufflammen und warf es zu den Sachen in die Badewanne. Doch es passierte nichts, außer dass ein Foto sich braun verfärbte und wellte.
In ihr wuchs die Wut. Nicht nur über Marc und sich selbst, sondern auch über diese blöden Hölzchen, aber so schnell gab sie nicht auf. Delia wickelte einen Haufen Klopapier ab und warf ihn auf die Bilder. Anschließend entzündete sie ein Dutzend Streichhölzer nacheinander und schmiss sie in die Wanne. Das Papier fing an zu glühen und einige Flämmchen züngelten daran entlang. Die Glut breitete sich nach unten aus und ein beißender Geruch stach ihr in die Nase. Plötzlich schoss eine Flamme empor und Delia zucke zurück. Schlagartig verflog ihre Wut. Sie griff nach der Brause und löschte schnell das Feuer.
Nachdem sie die Sauerei entfernt hatte, wusch sie sich den Dreck von den Händen und betrachtete sich in dem schmalen Spiegel über dem Becken. Ihre dunklen Haare hingen ihr strähnig ins Gesicht und unter ihren braunen Augen lagen schwarze Schatten.
Was war nur mit ihr los? Warum hatte sie das gemacht? So etwas Extremes war untypisch für sie, aber was war denn überhaupt typisch für sie? Was entsprach ihrem Charakter und was kam von Marc?
Ihr war nur klar, dass sie so nicht sein wollte, weder unbeherrscht reagieren, noch erbittert über eine Beziehung sein, die sowieso vorbei war. Und deren Ende zugegebenermaßen wahrscheinlich besser für sie war. Es wurde Zeit, dass sie herausfand, wer sie in Wirklichkeit war.
In dieser Nacht konnte sie das Geschehene zur Seite schieben. Es schmerzte zwar, aber das Wissen, dass jetzt ein neuer Abschnitt ihres Lebens begann, ließ sie zur Ruhe kommen. Seit langem schlief sie wieder ruhig und ohne verwirrende Träume bis zum Morgen durch.
***
Auch wenn Delia einiges über ihre Beziehung klar geworden war und sie sich mental von Marc gelöst hatte, konnte sie nicht endgültig mit dem Betrug abschließen. Immer wieder versuchte er, sie zu kontaktieren, doch Delia reagierte nicht darauf. Er hatte noch Sachen von ihr, von denen sie hoffte, dass sie nicht das gleiche Ende wie seine Habseligkeiten in ihrer Wanne nehmen würden.
Doch er war nicht der Einzige, der sie mit Nachrichten bombardierte. Da sie nicht ans Telefon gegangen war, hatte Marc Delias Mutter angerufen.
Wie konnte er so hinterhältig sein? Aber sie hatte ja auch nicht gedacht, dass er sie betrügen würde. Er wusste genau, wie anstrengend ihre Mutter war. Und dieser Mistkerl hatte ihr nur die halbe Wahrheit erzählt. Von seiner Fremdvögelei hatte er ihr nicht ein Wort gesagt. Er stellte es als einen kleinen Streit dar und dass Delia jetzt seine Anrufe nicht mehr beantworten würde. Er hatte mächtig auf die Tränendrüse gedrückt, weil er sich angeblich Sorgen machte – das zog bei ihrer Mutter jedes Mal. Der Gedanke, ihrer einzigen und heißgeliebten Tochter könnte etwas passiert sein, war für sie kaum zu ertragen. Somit hörte Delias Telefon nicht mehr auf, zu klingeln, bis sie endlich ranging.
Auch wenn ihre Mutter ihr oft auf die Nerven fiel und ein antiquiertes Frauenbild besaß, liebte sie sie, und als Delia ihr erzählte, was Marc getan hatte, war sie sofort auf ihrer Seite. Das Einzige, was er damit erreicht hatte, war, dass ihre Mutter wie ein Helikopter um sie herumschwirrte. Seit Marcs hinterlistigem Kontaktversuch rief sie jetzt mindestens zweimal am Tag an. Sie hatte jene Art von liebevollem Verhalten, das Delia an eine Boa constrictor erinnerte, die einen einwickelte und langsam zu ersticken drohte.
Nicht nur, dass ihr einsames Töchterchen bald arbeitslos sein würde, nein, sie war jetzt auch noch ganz allein und hatte keinen Mann, der sich um sie kümmerte. So ein Schwachsinn! Sie konnte sich ausgezeichnet um sich selbst kümmern – wenn sie einen neuen Job gefunden hatte. Eine leise Stimme in ihrem Kopf flüsterte ihr zu, dass sie sich in den letzten vier Jahren erheblich nah an dem veralteten Frauenbild ihrer Mutter bewegt hatte, doch Delia gab ihr Bestes, das Wispern in ihren Gedanken zu verdrängen.
Auch an diesem Tag läutete schon früh am Morgen ihr Smartphone. Anhand der heulenden Sirene, die sie extra für ihre Mutter als Klingelton hinterlegt hatte, wusste sie sofort, wer anrief.
„Hallo, Mama.“
„Guten Morgen, mein Schatz, hast du gefrühstückt?“
„Mama!“ Delia stöhnte, aber aus Erfahrung wusste sie, dass ihre Mutter keine Ruhe geben würde, bevor sie nicht ihre Antwort hatte. „Ja, ich habe was gegessen“, log sie.
„Ich hoffe, etwas Richtiges.“
„Mama, bitte. Ich muss gleich los zur Arbeit, hast du nur wegen meines Frühstücks angerufen?“
„Also, Papa und ich haben uns unterhalten.“
„Aha.“ Delia zog die Brauen hoch. Das hieß, ihre Mutter hatte geredet und ihr Vater nickend zugehört.
„Ja, also, wenn alle Stricke reißen, kannst du hier wieder einziehen. Dein altes Zimmer steht jederzeit für dich bereit. Ich würde mich freuen, mein kleines Mäuschen wieder um mich zu haben.“
„Danke, Mama, aber ich habe eine Wohnung und möchte diese auch behalten.“
„Aber wo ist denn das Problem, wieder zu uns zu ziehen?!“
„Ich bin erwachsen und stehe auf eigenen Füßen.“ Dass ihre Mutter sie sonst in den Wahnsinn treiben würde, erwähnte sie lieber nicht.
„Du bist dreiundzwanzig Jahre alt, das ist noch lange nicht erwachsen. Dir fehlt noch so viel ...“
„Sagst du nicht immer, dass andere in meinem Alter schon verheiratet und schwanger sind?“
„Ja, eben drum.“
Delias Nasenflügel bebten, als sie ein Schnaufen unterdrückte. Es ergab keinen Sinn, mit ihr zu diskutieren. „Du, ich muss los zur Arbeit. Hab dich lieb.“ Schnell nahm Delia das Telefon vom Ohr und beendete das Gespräch, bevor ihre Mutter etwas sagen konnte. Komme, was wolle, sie würde dafür sorgen, dass sie nicht wieder bei ihren Eltern einziehen musste.
***
Die Stunden auf der Arbeit zogen sich wie Kaugummi und die Aussicht auf ein einsames Wochenende verbesserte die ganze Sache nicht. Mit Mühe brachte sie den Tag hinter sich und hatte nur ihre Couch und eine Pizza mit immens viel Käse im Sinn, während sie eine Serie streamte, am besten etwas Blutrünstiges.
Längst war ihr Feierabend verstrichen, als sie endlich die Übergabe an den Nachtdienst erledigte und sich ausstempelte. Sie zog sich an und verließ über den Hintereingang die Pension, um zu ihrem Auto zu gelangen, das im Hof parkte. Doch der Traum von einem entspannten Abend verpuffte, als sie Marc an ihrem Wagen lehnen sah. Er entdeckte sie, richtete sich auf und kam zwei Schritte auf sie zu.
Innerlich wappnete sich Delia. Sie hatte gewusst, dass sie ihm eines Tages gegenübertreten musste, spätestens, wenn sie ihre Sachen aus seiner Wohnung holte. Aber dass er bei ihrer Arbeit auftauchte, daran hatte sie nicht gedacht. Wenigstens war er nicht reingekommen und hatte ihr vor den Gästen eine Szene gemacht. Ihre Handtasche umklammernd trat sie auf ihn zu.
Zaghaft lächelte er ihr entgegen. „Schön, dich zu sehen.“
„Das kann ich nicht gerade zurückgeben“, entgegnete sie mit zittriger Stimme. Lautlos verfluchte sie sich dafür, dass sie so verunsichert klang.
„Ich vermisse dich.“
„Das hättest du dir überlegen sollen, bevor du fremdgehst und dazu mit meiner ehemals besten Freundin“, erwiderte sie, diesmal mit festerem Ton. Delia versuchte, an ihm vorbeizugehen, doch er trat ihr in den Weg. Ihr Herz pochte.
„Bitte höre mir zu, es tut mir leid. Das hätte nie passieren dürfen! Ich weiß das und es tut mir unendlich leid.“ Er hob entschuldigend die Hände. „Aber du musst verstehen, dass es mir nicht gut ging. Wir haben uns ständig gestritten und du warst immer schlecht gelaunt.“
„Dir ging es nicht gut? Also war es meine Schuld, dass du deinen Schwanz nicht in der Hose behalten konntest? Nur weil ich wegen meines Jobs mies drauf war und weniger Lust auf Sex hatte?“ Fassungslos starrte sie ihn an.
„Nein, das habe ich so nicht gemeint. Obwohl da schon etwas Wahres dran ist, wenn du mich mehr ...“
„Du hast doch einen Knall“, fuhr Delia aufgebracht dazwischen. „Du meinst, ich wäre dafür verantwortlich? Hast du sie noch alle? So funktioniert eine Beziehung nicht. Nur weil ein Partner mal keine Lust hat, heißt das noch lange nicht, dass der andere fremdvögeln darf. Du widerst mich an“, zischte sie und konnte kaum glauben, dass er ihr die alleinige Schuld gab. „Geh mir aus dem Weg!“
Marc blieb stehen. „Bitte bleib bei mir!“
„Warum, wenn du mit mir so unglücklich warst?“
„Weil ich dich liebe.“
Delia lachte bitter auf. „Das ist ja eine seltsame Art, es mir zu zeigen. Meine beste Freundin zu vögeln ist also ein Ausdruck von Liebe? Du hast mich die ganzen Jahre manipuliert und nennst das LIEBE?“
„Bitte, Delia! Zusammen bekommen wir das wieder hin, das weiß ich. Das war ein einmaliger Ausrutscher, ich schwör es dir, bei allem, was mir heilig ist.“
„Also bei deiner Playstation? Egal, was du sagst, das kann ich dir nicht verzeihen! Komm nicht wieder her, es ist aus! Endgültig.“ Sie versuchte, ihn zur Seite zu drängen, doch er griff nach ihrem Arm und hielt sie fest.
„Delia. Ich bitte dich. Du kannst das, was wir hatten, nicht einfach wegwerfen.“
„Nicht ich habe es weggeworfen, sondern du – und jetzt lass mich los, oder ich ruf nach meinem Chef.“
Ihr Arbeitgeber, so groß und breit wie ein Bär, hatte Marc nie gemocht und das wusste er. Sollte ihr Chef rauskommen, würde Marc den Kürzeren ziehen, das war beiden klar.
Er zögerte, doch nach einer gefühlten Ewigkeit ließ er ihren Arm los. Hoch erhobenen Hauptes lief Delia an ihm vorbei und umrundete ihr Auto. Sie öffnete die Tür und hielt inne.
„Stell meine Sachen unter den Carport bei meinen Eltern und wage es nicht, erneut bei ihnen anzurufen oder zu klingeln.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, stieg sie ein und startete den Motor. Sie legte den Rückwärtsgang ein und Marcs Gesicht leuchtete im Schein des Rücklichts auf. Er stand hinter ihrem Auto und machte keine Anstalten, aus dem Weg zu gehen. Sie ließ den Motor aufheulen und fuhr los – sie würde ihn nicht gewinnen lassen. Im letzten Moment sprang er zur Seite und sie rollte an ihm vorbei, wendete, bog auf die Hauptstraße und ließ ihn diesmal für immer zurück.
Im Grunde war sie ihm für sein plötzliches Auftauchen dankbar, denn ihre Gefühlslage hatte sich seitdem von niedergeschlagen und nachdenklich zu entrüstet und angestachelt verschoben. Was erlaubte sich dieses Arschloch? Gab ihr die Schuld und glaubte, dass es kein Problem wäre, wenn sie weiter zusammenblieben.
Keine Frage, sie war nicht unschuldig an den Streitereien, die sie in letzter Zeit gehabt hatten. Das wusste sie, aber zu so etwas gehörten immer zwei. Und es war vor allem kein Freifahrtschein, sie zu belügen und zu betrügen, auch wenn sie dadurch im Nachhinein einiges über ihre Beziehung gelernt hatte. Wie es geendet hatte, war beschissen, aber womöglich für sie von Vorteil.
***
Zuhause schob sie eine Pizza in den Ofen und schenkte sich ein großes Glas Wein ein. Ihr Blick fiel auf die leeren Flaschen, die neben der Spüle standen. Sie sollte langsam ihren Alkoholkonsum reduzieren – aber erst ab morgen, entschied sie und nahm einen Schluck von der roten Flüssigkeit.
Anstatt den Fernseher einzuschalten, holte sie ihren Laptop aus dem Schrank und setzte sich mit dem Weinglas und dem Computer an den Esstisch. Während der Rechner hochfuhr, nippte sie an ihrem Getränk. Die Wut half, die Niedergeschlagenheit und damit einhergehende Lustlosigkeit zu vertreiben. Seit Tagen fühlte sie sich endlich wieder dazu in der Lage, sich Stellenausschreibungen anzusehen.
Eine Pizza und zwei Gläser Wein später scrollte sie nach wie vor durch die verschiedensten Anzeigen, wobei die meisten nicht für sie in Frage kamen. Angefangen von schlecht bezahlten Jobs, über Gasthäuser mit miesen Bewertungen und Annoncen, die deutlich machten, dass leichte Kleidung erwartet wurde.
Die Hotels mit für sie ansprechenden Ausschreibungen speicherte sie ab. Doch bei so gut wie allen stand in der Beschreibung, dass Arbeitserfahrung nötig war, die sie mit ihrer Ausbildung in der Pension nicht bieten konnte. Zwar musste man bei so einem kleinen Betrieb überall mitanpacken, doch in der Pension wurden keine Events, Hochzeiten oder Seminare abgehalten. Dort gab es normale Gäste, gemütliche Zimmer und ausgezeichnetes Essen. Aber das reichte heutzutage offenbar nicht mehr aus, sonst wäre die Pension nicht in Geldnot geraten. Delia würde sich trotzdem bewerben, vielleicht konnte sie ja überzeugen, auch wenn sie nicht recht daran glaubte.
Falls es bei den ausgesuchten Stellen nicht klappte, müsste sie sich bei Zeitarbeitsfirmen bewerben und dazu hatte sie wenig Lust. Delia schüttelte frustriert den Kopf und leerte das Glas. Als sie die Suchmaschine schließen wollte, entdeckte sie am Ende ihrer Suchliste eine Anzeige, die sie übersehen hatte.
Arbeiten an Norwegens schönstem Fjord, lautete der Titel. Verwundert öffnete sie den Link. Sie hatte in den Suchkriterien gar keine Auslandsstellen ausgewählt.
Gesucht wurde eine Aushilfskraft für drei Sommermonate in dem Wellness Hotel Fin Utsikt am Geirangerfjord. Sie gab das Hotel in eine Internetsuchmaschine ein. Und stellte überrascht fest, dass es zu einer großen Hotelkette gehörte, die international vertreten war. Auch in Deutschland gab es mehrere Niederlassungen in den großen Städten. Übersetzt bedeutete der Name schöne Aussicht und sie verstand sogleich, warum. Die Bilder von dem Ort und der Aussicht von dem Gasthaus waren malerisch und luden zum Träumen ein. Eine Weile betrachtete Delia die grünen Berge und das leuchtende Wasser und stellte sich vor, wie sie dort am Hang stehen und die Vögel zwitschern hören würde. Es wäre bestimmt toll, an so einem sagenhaften Ort zu arbeiten. Und Erfahrung könnte sie dabei ebenfalls sammeln. Aber was sollte sie ganz allein in Norwegen? Trotzdem speicherte sie die Anzeige, gähnte ausgiebig und schloss den Laptop. Zeit, schlafen zu gehen.
***
Das Wochenende nutzte Delia, um Bewerbungen zu schreiben und abzusenden. Etwas zögerlich und ohne wirkliche Überzeugung schickte sie auch eine an das Hotel in Norwegen, auch wenn sie nicht glaubte, dass sie eine Chance hätte.
In den nächsten Tagen füllte sich ihr Postfach mit Absagen. Wenn überhaupt eine Begründung genannt wurde, was in mindestens der Hälfte der Fälle nicht passierte, wurde auf ihre mangelnde Arbeitserfahrung verwiesen. Bei jeder Absage wurde Delia schwerer ums Herz. Ihr blieben nur sieben Wochen, um eine neue Stelle zu finden, sonst würde sie ihre kleine Wohnung nicht halten können, außer sie nahm staatliche Unterstützung in Anspruch, und das wollte sie nicht. Sie hatte sich immer selbst finanziert, etwas anderes kam für sie gar nicht in Frage, doch leider hatte sie es verpasst, Rücklagen zu bilden. Sollte sie für längere Zeit arbeitslos werden, müsste sie wahrscheinlich wieder zu ihren Eltern ziehen. Ein Schauer lief ihr über den Rücken und sie schüttelte sich. Das durfte nicht passieren.
Als sie an diesem Abend von ihrer Schicht nach Hause kam, warteten erneut drei Nachrichten in ihrem E-Mail-Postfach. Die ersten beiden waren Absagen. Die dritte stammte aus einem Hotel, das sie anfangs nicht zuordnen konnte. Einige Sekunden verharrte ihr Cursor über dem Zugangslink, bis sie ihn öffnete.
Wir freuen uns, Ihnen mitteilen zu können, dass Sie in der engeren Auswahl sind.
Delias Herz machte einen Satz. Das war eine Einladung zu einem online Bewerbungsgespräch! Und das schon morgen.
Delia sprang auf und führte einen kleinen Freudentanz auf. Sie freute sich unglaublich, obwohl es keine Zusage war, aber zum ersten Mal gab es eine positive Reaktion auf ihre Bewerbungen. Endlich. Sie wusste, dass sie gut in Gesprächen war, sie würde die Personaler schon von sich überzeugen.
Abrupt hielt sie inne. Moment, irgendetwas hatte sie übersehen. Sie setzte sich wieder und beugte sich vor, bis ihre Nase nur wenige Zentimeter vom Bildschirm entfernt war und las die ganze E-Mail.
Das war das Hotel in Norwegen. Ihre Freude wich Enttäuschung. Die Einzigen, die sie haben wollten, saßen über 1000 Kilometer entfernt im Ausland. Frustriert biss sie sich auf die Unterlippe.
Ohne große Motivation las sie sich die Bedingungen genauer durch.
Ab dem nächsten Monat könnte sie für zwölf Wochen im Hotel als Servicekraft arbeiten. Um die Anreise würde sich der Arbeitgeber kümmern, außerdem waren Kost und Logis inbegriffen. Die Bezahlung ließ sie nicht in Jubelsprünge ausbrechen, aber konnte ihre Unkosten zu Hause decken. Und sie somit erst mal ihre Wohnung behalten. Bisher war das die einzige Einladung zu einem Gespräch und mehr Bewerbungen hatte sie nicht mehr offen. Auf der Unterlippe kauend, fragte sie sich, was sie tun sollte. Die Sprache dürfte nicht das Problem sein, sie konnte zwar kein Norwegisch, aber ihr Englisch war gut und sie wusste, dass man in der Tourismusbranche mit Englisch immer weiterkam.
Sie las sich die Mail dreimal durch und fing dann an, im Internet zu recherchieren. Das hätte sie vor der Bewerbung tun – und am besten den Wein weglassen - sollen.
Den ganzen Abend suchte sie im Netz nach Informationen rund um den Geirangerfjord. Und je mehr sie darüber las, umso mehr zog sie die Gegend in ihren Bann.
Viele Artikel berichteten über einzigartige Wanderwege und jede Menge Outdoor Aktivitäten. Auf den meisten Bildern sah sie eindrucksvolle Berge, leuchtend blaues Wasser und unheimlich viel Wald. Es war das genaue Gegenteil von ihrem Zuhause mit den hohen Mehrfamilienhäusern, breiten Straßen und wenig Grünflächen. Das Gebiet außerhalb des Ortes Geiranger war nur dünn besiedelt und die Stadt selbst besaß kaum mehr als zweihundertfünfzig Einwohner.
Mit jedem weiteren Foto wuchs in ihr eine Sehnsucht, an genau diesem Ort zu sein. Weg von dem Stadtlärm, der Hektik und ihrem tristen Leben.
In diesem Moment wollte sie nichts anderes, als sich den Geirangerfjord mit eigenen Augen anzusehen. Aus einem Impuls heraus bestätigte sie den Online-Termin für den nächsten Tag. Sie hatte bisher nicht viele Vorstellungsgespräche geführt und falls es nicht gut lief, sammelte sie trotzdem Erfahrungen. Warum sollte sie es nicht probieren? Sie hatte nichts zu verlieren.
***
Umringt von schroffen Felsen, paddelte Delia in einem kleinen Boot über das Wasser, legte den Kopf in den Nacken und schaute in den strahlend blauen Himmel. Nur der Wellenschlag gegen den Bug war zu hören und ihr Herz fühlte sich so leicht an, so ...
Abrupt riss der schrille Ton des Weckers Delia aus ihrem Traum. Sie blinzelte. Sie konnte nach wie vor das sanfte Schaukeln des Bootes spüren und meinte das Salz der Meeresbrise auf ihrer Zunge zu schmecken. Mit beiden Händen rieb sie sich über die Augen und wünschte sich zurück. Doch das Rauschen der Hauptstraße vor ihrem Fenster verdrängte jeglichen friedlichen Gedanken.
Gähnend richtete sie sich auf. Es kostete sie einige Mühe aufzustehen und sich für die Arbeit fertig zu machen. Trotz ihrer Müdigkeit hatte sich eine seltsame Unruhe in ihr ausgebreitet, die sich den ganzen Tag nicht vertreiben ließ. Und dieser sonderbare, behagliche Traum ging ihr nicht mehr aus dem Kopf.
Abends saß Delia an ihrem Computer und starrte auf den Bildschirm. Sie hatte per Mail eine Einladungslink zu einem Chatroom gesendet bekommen, doch noch hing sie im Wartebereich fest, bis ihre Gesprächspartner sie in den Chat holten. Ihr Magen zog sich unangenehm zusammen und sie musste feststellen, dass sie aufgeregt war. Gestern begeisterte sie die Idee, nach Norwegen zu gehen, noch, doch jetzt war sie sich nicht mehr sicher. Warum also schwitzten ihre Handflächen? Delia wischte die Finger an ihrer Hose ab, straffte die Schultern und zog ihren Pferdeschwanz zurecht. Erst einmal musste sie das Gespräch hinter sich bringen, dann würde sie weitersehen.
Der Schriftzug auf dem Zugangsbutton verwandelte sich von Bitte warten Sie zu Bitte treten Sie ein.
Sie atmete tief durch und setzte ihr bestes Lächeln auf, bevor sie auf den Link klickte. Jedoch konnte sie nicht verhindern, dass ihr Fuß hektisch auf- und abwippte.
Ein weiteres Fenster öffnete sich und ein länglicher Konferenztisch wurde sichtbar. Zwei Frauen, eine dunkelhaarige in den Dreißigern und eine ältere mit glatten grauen Haaren, die zu einen Bob geschnitten waren, begrüßten Delia auf Englisch.
„Hi, ich bin Agnes Larsen, Assistentin im Hotelmanagement vom Hotel Fin Utsikt. Und das neben mir ist Maria Olsen, unsere Personalreferentin.“ Sie lächelte Delia an.
„Freut mich sehr, ich bin Delia Becker.“ Den Namen der Personalerin vergaß Delia sofort, doch Agnes Larsen prägte sie sich ein, denn selbst über den Bildschirm strahlte die Frau eine Authentizität aus, die Delia beeindruckte. Im Vorfeld hatte sie im Internet recherchiert, wie in Norwegen Einstellungsgespräche abliefen, daher war sie nicht überrascht, dass Agnes schon nach wenigen Minuten Fragen zu ihren Eltern und ihrem Privatleben stellte. Wobei die Personalerin kaum etwas sagte und sich weitestgehend aus dem Interview heraushielt. Trotz der ungewohnten Themen für eine Bewerbung empfand Delia das Gespräch als entspannt und angenehm und ihre Nervosität legte sich innerhalb kürzester Zeit.
„Wir haben bereits mit deinem aktuellen Arbeitgeber gesprochen, und er war sehr von deiner Arbeit und deinem Einsatz angetan“, sagte Agnes und kam damit zum eigentlichen Thema. „Aber mich interessiert, was du denkst. Warum sollten wir dich für die Stelle in Betracht ziehen?“
„Ich möchte mehr Erfahrung sammeln und mich reizt die Herausforderung, in einem anderen Land zu arbeiten“, begann Delia und alles, was sie je über gute Selbstdarstellung gelernt hatte, sprudelte aus ihr heraus. „Daher denke ich, dass ich besonders gut für diese Stelle geeignet bin.“
Auf der anderen Seite der Kamera lehnte Agnes sich vor. „Das klingt alles wunderbar, und jetzt würde ich gerne den Grund erfahren, warum du dich nach Norwegen beworben hast.“
Delia schluckte. Sollte sie ehrlich sein? Sie mochte Agnes vom ersten Moment an und hielt sie für eine aufrichtige Person, daher fasste sich Delia ein Herz. „Der Arbeitsmarkt in meiner Heimatstadt ist nicht leicht und da ich keine Erfahrung in großen Hotels vorweisen kann, ist es schwierig für mich, eine Stelle zu bekommen.“ Die Sache mit Marc ließ sie lieber weg, zuzugeben, dass sie keinen Job fand, war für sie schon schwierig genug.
Agnes nickte und lehnte sich wieder zurück. „Danke für deine Offenheit. Wir müssen uns intern beraten und würden uns in Kürze bei dir melden.“
Sie verabschiedeten sich voneinander und Delia schloss das Fenster für die Konferenz, unschlüssig, was sie von dem Interview halten sollte. Sie hatte ein gutes Gefühl, doch wenn man sein Gegenüber nur über eine Kamera sah, war es schwierig, einzuschätzen, was der andere dachte. Dabei war sie sich ja nicht mal sicher, ob sie die Stelle wollte. Nur warum hatte sie sich dann solche Mühe gegeben?
***
Am nächsten Tag blieb ihr bei der Arbeit kaum Zeit, um richtig Luft zu holen. Erst in der Mittagspause schaffte sie es, ihre E-Mails zu checken.
Ihr Herz machte einen Satz, als sie eine Nachricht aus Norwegen entdeckte. Mit zittrigen Fingern öffnete sie die Mail.
Ihr stockte der Atem. Das war eine Zusage! Sie hatte den Job. Los ging es am ersten Juli, also in vier Wochen.
Sie schlug sich die Hand vor den Mund, um nicht laut aufzuschreien. Ihre Freude dauerte nur Sekunden, bis sie sich wieder im Griff hatte und ihre Zweifel zurückkehrten.
Den Rest des Tages haderte sie mit sich. Bisher war sie nie so lange von zu Hause weg gewesen, und schon gar nicht in einem Land, in dem sie noch nie war und dessen Sprache sie nicht konnte. Aber was hatte sie zu verlieren? Nichts hielt sie zu Hause, keine Arbeit, kein Partner oder Freunde. Norwegen. Und es war ja nicht für immer, nur für zwölf Wochen und im Anschluss hätte sie gegebenenfalls genug Erfahrung gesammelt, um daheim bessere Chancen auf dem Jobmarkt zu haben.
Unvermittelt traf Delia eine Entscheidung.
Nachdem sie ihre Antwort abgeschickt hatte, stellte sie erstaunt fest, dass es sich durch und durch richtig anfühlte. Allein sein konnte sie auch am Geiranger Fjord. Sie grinste über das ganze Gesicht, als ihr Verstand realisierte: Ich fliege nach Norwegen.