Leseprobe Hinter dem Haus | Der mitreißende Psychothriller, der dich an dir selbst zweifeln lässt

3

Das Abendessen mit Rainer glich eher einem Spießrutenlauf als einem geselligen Beisammensein. Ich hätte mir gerne noch ein Glas Rotwein gegönnt, aber ich hatte Angst davor, betrunken zu werden und dem Charme meines Ex-Freundes doch noch zu erliegen. Oder etwas Falsches zu sagen, wenn die Zunge lockerer sitzen würde.

Der Speisesaal des Hotels befand sich zwischen dem ersten Stock und dem Keller – im sogenannten Souterrain – und hatte eine beeindruckende Fensterfront, durch die man die Bäume ringsherum sah. Und es kam oft vor, dass wilde Hasen vor dem Fenster vorbeihoppelten oder eine Rehfamilie am Waldrand graste.

Das Restaurant fasste fünfzehn Tische, und auf jedem der Stühle, die mit weißen Stuhlhussen bezogen waren, saßen Gäste. Leise Gespräche wurden geführt. Und hin und wieder hörte ich ein Lachen. Mir war nicht zum Lachen zumute, und ehrlich gesagt hätte ich mir lieber die Bettdecke über meinen Kopf gezogen, als mit Rainer hier zu sitzen und Onkel Helmuts Speisen zu essen. Wobei das Essen wirklich vorzüglich war, nur der Gesprächspartner eben nicht so.

Rainer und ich waren schon einige Male hier im Hotel zu Gast gewesen. Natürlich. Ich hatte oft Sehnsucht nach meinem Zuhause gehabt. Dem einsamen Hotel. Dem Wald, der sich kilometerweit ringsherum erstreckte. Der Ruhe. In Wien hatte ich mit Rainer in einer Wohnung gelebt. Zwar mit Balkon und Dachterrasse, irgendwo im fünften Stock, mit Lift und nach Geld stinkendem Treppenhaus.

»Möchtest du das probieren?«, fragte Rainer und hielt mir seine mit Pilzen gefüllte Gabel hin. Immer, wirklich abends täglich, wenn wir hier im Hotel zu Gast waren, bestellte er sich das Schwammerlgulasch mit Serviettenknödel. Und das war schon in den letzten fünf Jahren so gewesen.

»Nein, danke.« Ich winkte ab und nippte an meinem leeren Weinglas. »Ich muss mich wieder an die Arbeit machen. War nett mit dir.« Es graute mich davor, weiter die Buchungs- und Reservierungslisten der nächsten Wochen durchzusehen. Sigi hatte sie mir vor knapp zwei Stunden auf den Tisch gelegt. Mit einem Lächeln und ihrem Hilfsangebot, das ich ablehnen musste, da sie schon Feierabend hatte und ich sie nicht noch länger mit meinem Unwissen belasten wollte. Ich stand abrupt auf und legte die Serviette, die bisher auf meinem Schoß geruht hatte, auf die weiße Tischdecke.

Rainer sprang so schnell auf, dass sein Stuhl fast umgefallen wäre, hätte der Kellner diesen nicht geistesgegenwärtig festgehalten und wieder ordentlich hingestellt. »Du kannst noch nicht gehen. Du musst unbedingt dein Essen aufessen. Mit Sicherheit hast du seit unserer Trennung drei Kilo abgenommen. Wenn du nicht aufpasst, bist du bald nur noch Haut und Knochen.«

Es stimmte sogar, was Rainer sagte. Ich hatte tatsächlich an Gewicht verloren. Allerdings lag das nicht am fehlenden Essen. Ich aß wie ein Scheunendrescher. Es lag an dem regelmäßigen Sport. Frühmorgens liebte ich es, durch die Wälder zu joggen. Auch im Regen, so wie es heute der Fall gewesen war. Allein der Geruch von nassem Holz erinnerte mich daran, ein waschechtes Landkind zu sein, in der Stadt fühlte ich mich wie Heidi damals bei Klara.

»Ich habe morgen einen Termin mit dem Architekten«, sagte ich. »Wir haben ab Montag eine kleine Baustelle im Garten. Ich werde hier meine Tierarztpraxis bauen lassen.« So bestimmt wie mein Tonfall war, fühlte ich mich leider nicht. Noch immer war ich unsicher, ob ich es wirklich tun sollte. Ich nahm mir fest vor, heute nochmals mit Papa darüber zu sprechen. Er sollte erfahren, wie wichtig es mir war und dass ich meinen Traum niemals aufgeben würde. Natürlich würde ich das Hotel leiten, bis Erik dazu wieder imstande war. Aber danach … danach würde ich mein eigenes Ding durchziehen. Und dafür musste ich jetzt schon meine Vorkehrungen treffen.

»Echt? Du willst hier eine Praxis für Tiere eröffnen? Mitten im Nirgendwo?«

»Es gibt genug Bauernhöfe in der Nähe, die eine gute Tierärztin brauchen. Und wir sind nicht im Nirgendwo, sondern auf dem Land. Umgeben von Wald, und bis zum nächsten Nachbarn sind es halt ein paar Hundert Meter. Aber das kannst du nicht nachvollziehen. Das ist mir klar.« Ich lächelte. Rainer war eben ein Stadtkind und kannte nicht einmal den Unterschied zwischen Heu und Stroh.

»Weit und breit ist hier nichts«, meinte er. »Es ist schön hier, um Urlaub zu machen, aber … Na, du wirst schon wissen, was du machst. Das heißt also, du willst dich hier niederlassen und wirst nicht mehr mit mir nach Wien in unser Penthouse kommen? Du willst auf den Luxus verzichten? Ernsthaft?« Er hob die rechte Augenbraue. Es war mir schon klar, dass Rainer dies nicht nachvollziehen konnte. Er liebte sein Geld, sein Aussehen und Ansehen, auf das er auch jeden anderen reduzierte. Er hatte nichts übrig für die Schönheit der Natur. Denn die konnte er sich mit Geld nicht kaufen, somit war sie auch nichts wert.

»Ich bleibe hier«, sagte ich. »Und Geld ist nicht alles im Leben. Das wirst auch du früher oder später begreifen. Ja, du hattest mit deiner Investition mehr Glück als Verstand und hast damit reichlich Kohle gemacht. Aber ich brauch das alles nicht. Verstehst du? Ich bin hier glücklich.« Ich zeigte auf die Fensterfront des Speisesaales. Die Sonne war schon lange untergegangen, und eigentlich sah man nichts außer Dunkelheit, wenn man durch die Glasscheibe blickte. Aber ich wusste, welch beeindruckenden Ausblick man von hier hatte, und auch Rainer kannte diese Aussicht. »Ich liebe das alles hier. Die Wälder, die Ruhe, die Tiere, die frische Luft. Einfach alles. Das macht mich glücklich. In Wien bin ich fast erstickt!«

»Ach, heute ist Madame ja mal wieder sehr zickig. Wobei bist du erstickt? Beim Schwimmen im beheizten Pool auf der Dachterrasse, als du auf halb Wien hinabgeschaut hast? Beim Abendessen auf unserem großen Balkon, gekocht von den besten Spitzenköchen? Beim Champagnerschlürfen mit unseren Freunden? Bei den unzähligen Shoppingtouren in Wien? In Paris? In Mailand? Bei unseren Fernreisen rund um die Welt? Wobei?« Rainer machte eine abwertende Handbewegung. »Vergiss es einfach. Ich hätte mich nie auf dich einlassen dürfen. Du bist und bleibst eine Landpomeranze. Ich hätte das gleich durchschauen müssen, aber Liebe macht ja bekanntlich blind.« Er schnaubte wie ein wildes Tier, schmiss seine Serviette auf den Tisch und verließ mit schweren Schritten den Speisesaal.

Es war eine Sache, von dem Ex-Freund mit diesen Worten stehen gelassen zu werden. Es war eine andere, als Hotelmanagerin vor seinen Gästen im eigenen Hotel mit diesen Worten blamiert zu werden. Ich konnte die Blicke der Gäste und der Mitarbeiter auf mir spüren. Es war mucksmäuschenstill geworden. Die berühmt-berüchtigte Nadel konnte hinunterfallen und würde eine gewaltige Explosion auslösen. Verdammte Scheiße! Wie löse ich diese …?

»Bravo!«, hörte ich auf einmal Onkel Helmut, und er klatschte dabei in die Hände. »Meine Damen und Herren. Darf ich vorstellen? Gwendolin Marscher. Obwohl sie Tiermedizin studiert hat, wollte sie Ihnen allen ihr schauspielerisches Talent vorführen. Haben sie und ihr Freund das nicht toll hingekriegt? Ich bin zutiefst beeindruckt, Gwen.«

Ich drehte mich zu den Gästen um, die mich mit gemischten Gesichtsausdrücken ansahen. Die einen wirkten leicht verwirrt, während die anderen leuchtende Augen hatten und begeistert in die Hände klatschten. Ich traute mich kaum, mich Onkel Helmut zuzuwenden. So sehr schämte ich mich für das alles. Obwohl ich eigentlich nichts dafürkonnte und nur meinen Traum verwirklichen wollte. Heute war wirklich nicht mein Tag! Ich verbeugte mich und hielt meine Hand vor den Bauch. Ein leichter Knicks folgte. Was hätte ich auch sonst machen sollen? Jetzt hieß es, Contenance zu bewahren und vor allem zu lächeln. Im nächsten Augenblick spürte ich eine Hand auf meiner Schulter.

»Wir müssen reden! Jetzt!«, zischte mir Onkel Helmut ins Ohr und an die Gäste gewandt: »Genießen Sie Ihren Abend, und ich hoffe, dass Ihnen das Essen gut schmeckt.«

Einige Gäste klatschten wieder, und Onkel Helmut zog mich unsanft mit sich in die Küche. Die Schiebetür öffnete sich mit einem Zischen, und ich hörte das Klappern der Teller und das Scheppern der Töpfe. Gleichzeitig fing mich der Geruch nach Essen ein, und obwohl ich gerade gegessen hatte, knurrte mein Magen. Ich hatte Mühe, Onkel Helmuts schnellen Schritten zu folgen, und es hatte nicht viel gefehlt, da wäre ich beinahe über meine eigenen Füße gestolpert.

»Onkel Helmut«, sagte ich, als er mich in sein Büro gezogen hatte und mich endlich aus seinem festen Griff ließ. Der Raum bestand aus einem kleinen Tisch, auf dem ein Bildschirm stand, und einem in die Jahre gekommenen Bürosessel. Regale hingen an den Wänden, die die verschiedensten Ordner in Größen und Farben beinhalteten. Er nannte es sein kleines Reich. Ich nannte es eine Abstellkammer. »Es tut mir leid. Ich hatte keine Ahnung, dass Rainer so ausflippt.«

»Du hattest Glück, dass mich der Oberkellner geholt hat. Er hat erzählt, dass ihr beiden einen lautstarken Streit über deine Praxis habt. Mitten im Restaurant beim Abendessen. Und nicht nur das. Was weiß ich noch nicht? Welche Praxis? Was läuft hier ab? Ich dachte, zwischen dir und Rainer ist es aus.« Seine Halsschlagader trat deutlich hervor, und sein Gesicht nahm eine tiefe Röte an. Onkel Helmut hatte schon von jeher mit hohem Blutdruck zu kämpfen, aber wenn er sich aufregte, war er sprichwörtlich bei einem Puls von zweihundert. Und das sah man ihm auch an.

»Ich habe das mit der Praxis mit Erik schon vor Monaten besprochen«, entgegnete ich. »Ich bleibe in Eisenberg und lass meine Tierarztpraxis hier bauen. Aber das hat Rainer natürlich nicht gefallen, als ich ihm das gesagt habe. Er hat mir heute Mittag sogar einen Heiratsantrag gemacht. Er will, dass ich mit ihm wieder in Wien in seinem Penthouse wohne und weiter seine Sex-Eskapaden ertrage. Okay, so hat er es nicht ausgedrückt, doch bin ich mir sicher, dass er mir nicht treu bleiben kann. Ich hab aber keine Lust auf eine Dreiecksbeziehung. Davon abgesehen muss ich jetzt ja sowieso hierbleiben.«

»Er hat dir einen Antrag gemacht? Was hast du geantwortet? Nein?« Onkel Helmuts Augenbraue schob sich nach oben.

»Na ja, eigentlich hab ich gar nichts gesagt, außer dass es im Moment wohl der schlechteste Zeitpunkt ist, mir die Frage der Fragen zu stellen.«

»Das heißt also, er glaubt, dass du noch Ja sagen könntest?«

»Nein, das denke ich nicht. Zumindest nicht nach dem Streit gerade eben. Und ich will nicht heiraten. Ihn schon gar nicht. Ich will mein eigenes Leben leben und hierbleiben.«

»Und du bist dir wirklich sicher, dass du dich hier niederlassen willst?«, fragte Onkel Helmut. »Nicht dass du wieder das Weite suchst, wie schon einmal. Auf jeden Fall klingt dein Vorhaben schön. Gibt es schon Pläne? Kann ich dir in irgendeiner Art und Weise helfen? Und um Rainer mach dir mal keine Sorgen. Ich werde gleich mit ihm ein ernstes Gespräch führen. So von Mann zu Mann. Okay? Du schaust einfach nur, dass du und er nicht mehr gemeinsam bei den Gästen seid. Also kein gemeinsames Dinner oder dergleichen. Versprichst du mir das?«

»Ja, ich verspreche es dir. Danke, Onkel Helmut. Ich muss jetzt aber wirklich noch mal zu Papa. Immerhin will ich mich nicht über ihn hinwegsetzen.«

»Wie meinst du das?«

»Papa hat mir verboten, dass ich meine Praxis beim Beerengarten bauen lasse. Aber genau dort eignet es sich doch am besten. Ich will mich mit ihm nicht streiten. Verstehst du?«

»Beim Beerengarten also. Dann würde ja auch mein Kräutergarten wegkommen, oder?«

»Den und auch den Beerengarten können wir doch am Hang anlegen. Meinst du nicht? Aber ich kann meine Praxis nicht am Hang bauen lassen.«

Onkel Helmut verzog seine Mundwinkel. »Nein, der Kräutergarten und auch alles andere muss so bleiben, wie es jetzt ist. Du darfst da nicht irgendwas hinbauen. Klar? Ich werde nicht die Küchenkräuter quer durchs ganze Hotel schleppen, nur weil du es dir einbildest.«

Wie von selbst verschränkten sich meine Arme vor meiner Brust. »Du tust glatt so, als müsstest du dann mehrere Hundert Meter laufen. Ich darf dich daran erinnern, dass wir ein kleines Hotel haben und deine Küche nur wenige Schritte von der Haupteingangstür entfernt ist, und zukünftig hättest du deinen Garten fast direkt bei der Küchentür. Im Schatten. Dort, wo ein Kräutergarten hingehört.«

»Ich bin dagegen. Aber mach dir das am besten mit deinem Vater aus. Wenn er zustimmt, stimme ich auch zu. Jetzt mach, dass du zu ihm kommst. Aber bitte reg ihn nicht auf und mach ihm auf keinen Fall Vorwürfe, dass er dir den Unfall verheimlicht hat, ja? Versprichst du mir das?« Er schaute mich mit einem ernsten Blick an, der sich durch die Falte auf seiner Stirn verstärkte.

»Bis später.« Ich nickte. Schnurstracks ging ich durch die Küche, und einen Augenblick später sah ich, dass im Speisesaal wieder Ruhe eingekehrt war und die Gäste dieses kleine Schauspiel hoffentlich vergessen hatten.

Ich stapfte die sieben Stufen hinauf und stand in der kleinen Empfangshalle, in der zu dieser Zeit das Licht bereits gedimmt war. Es klickte, und die kleinen Leuchten an den Wänden sprangen an und verbreiteten genug Helligkeit, dass man sich im Raum gut zurechtfand. Schon vor Jahren hatte mein Bruder ihn umbauen lassen. Ich konnte mich noch gut an meine Jugend erinnern, in der das ganze Hotel zu jeder Tages- und Nachtzeit hell erleuchtet gewesen war. Bei den heutigen Strompreisen war das ein wahrer Luxus und schon lange nicht mehr zeitgemäß.

Einen Moment lang dachte ich, dass ich einen Schatten in der Ecke vor dem Lift gesehen hatte, aber auch wenn es so gewesen wäre … Natürlich waren hier Gäste unterwegs, die vielleicht jetzt erst ins Restaurant gingen oder vielleicht von auswärts …

Genau in diesem Augenblick erklang wieder dieses Summen. Es wurde lauter, eindringlicher, schriller.

»Ich wünschte, du wärst hier!« Ein Flüstern, gefolgt von einem Kinderlachen, brachte mein Blut in Wallung. Mir wurde heiß und kalt zugleich. Augenblicklich blieb ich stehen und atmete tief durch.

Gwen, du siehst und hörst Gespenster. Der heutige Tag war einfach viel zu viel für dich, und ehrlich gesagt gehörst du nur mehr ins Bett.

Ich durchquerte schnell die Lobby, ließ die unbesetzte Rezeption hinter mir und schloss mit meinem Schlüssel die Tür zum privaten Bereich auf. Es dauerte nur einen Atemzug, bis ich leise an Vaters Zimmertür klopfte.

»Herein«, erklang es gedämpft. Allerdings war es nicht Vaters Stimme.

Ich öffnete und sah den Pfleger an Vaters Bett sitzen. Wir hatten ihn eingestellt, als sich Vaters Zustand vor zwei Monaten rapide verschlechtert hatte. Keiner von uns konnte vierundzwanzig Stunden für ihn da sein, ohne seine eigentlichen Aufgaben zu vernachlässigen. Patrick war ein paar Jahre jünger als ich, gerade mal einundzwanzig, und kam frisch aus der Ausbildung. Er sah so aus, als wäre er noch keine achtzehn, was seinem Milchbubigesicht geschuldet war. Dafür hatte er Oberarme, die jeden Bodybuilder neidisch machen würden. Rainer eingeschlossen.

»Hallo, Patrick«, flüsterte ich. »Wie geht es ihm?«

»Heute nicht so gut. Er ist erst vor wenigen Minuten eingeschlafen. Vielleicht ist es besser, Sie wecken ihn jetzt nicht mehr auf. Immerhin hat er schon seine Schmerzmedikation für heute aufgebraucht, und ich fürchte, dass ich heute noch den Arzt anrufen muss, damit die Dosierung erhöht wird. Tut mir leid wegen Erik. Das hat Ihrem Vater schwer zugesetzt.«

Das Sauerstoffgerät zischte leise, und mein Blick fiel auf Papa. Sein Gesicht war eingefallen, seine Hände waren auf dem Brustkorb gefaltet. Das, was in dieser Szene noch fehlte, war ein Pfarrer und ein Rosenkranz in Vaters Fingern. Ja, er war bereits mehr tot als lebendig. Das musste ich mir eingestehen. Und es war nicht das erste Mal, dass sich meine Gedanken um seinen Tod drehten. Aber heute … Nein, ich konnte darauf keine Rücksicht nehmen.

Es könnte ihm jede Minute die Luft zum Atmen ausgehen. Trotz Sauerstoffgerät waberten die Worte des Arztes durch mein Hirn. Auf keinen Fall wollte ich, dass etwas so Wichtiges zwischen uns unausgesprochen bleiben würde, nur weil ich ihn nicht geweckt hatte. Nur weil ich meinen Mut nicht zusammengenommen hatte, für etwas, das mir wichtig war, um voll und ganz dafür einzustehen. Ich wollte nicht, dass er stirbt, bevor ich dieses Thema mit ihm hatte klären können. Patrick verließ den Raum und schloss leise die Tür hinter sich.

»Papa?«, flüsterte ich und nahm seine Hand. Sie war kalt. Sofort kontrollierte ich, ob er atmete. Ich sah einen leichten Nebel, der sich in der Maske bildete. Er holte Luft, er lebte … noch. »Papa! Ich muss nochmals mit dir reden. Es tut mir leid, dass ich dich wecken muss.«

Er brauchte einige Anläufe und mehrere Minuten, bis er seine Augenlider offen halten konnte. Dann drückte er sanft meine Hand. »Alles gut, Gwen. Ich bin doch immer für dich da, mein Liebes.« Die Worte kamen stockend und lallend über seine Lippen. Vermutlich lag es an dem Schmerzcocktail, den er von Patrick bekommen hatte.

»Papa, ich wollte mit dir noch einmal über meine Praxis sprechen. Ich werde den Beerengarten einfach in den Hang hinuntersetzen. Ich werde ihn hegen und pflegen. Ich habe das alles auch mit Onkel Helmut besprochen. Er ist damit einverstanden, wenn du es bist. Bitte sag ja.«

»Gwen. Die Beeren … sind verhext. Mach das nicht, ansonsten … wird ein Unglück … über die ganze Familie … hereinbrechen.« Es dauerte lange, bis er alles mühsam über die Lippen gebracht hatte, aber es verlor dadurch nicht an Aussagekraft.

»Papa, an Hexen habe ich noch nie geglaubt. Sei nicht albern.«

»Bitte, Gwen. Mach das nicht!« Dann sank er kraftlos zusammen. Sein Brustkorb hob und senkte sich. Seine Augenlider waren geschlossen. Seine Kraft war aufgebraucht, und ich stand mit all den Fragen, die in meinem Kopf umherschwirrten, allein da. Die Beeren sind verhext. Das kann nur ein schlechter Scherz sein.

»Gwendolin!« Patrick drängte mich von meinem Vater weg und kontrollierte den Sitz der Sauerstoffmaske. Ich erschrak, weil ich nicht gehört hatte, dass er wieder hereingekommen war. Dann wandte er sich wieder an mich mit einem flehenden Blick. »Bitte, lassen Sie Ihren Vater jetzt schlafen. Vielleicht ist morgen ein besserer Tag für ihn. Ich würde es ihm wünschen.«

Ich stimmte ihm nickend zu, verließ das Zimmer und schlüpfte durch die linke Tür am Ende des kleinen Flures. Mein Zimmer!

Mein Kinderzimmer war zu einem modern eingerichteten Gästezimmer umgebaut worden. Dank Mamacita Nona bestand es aus weißen Möbeln mit grauen Akzenten durch die Deko und nicht aus einer Ansammlung von Dingen aus meiner Teenagerzeit. Sie hatte immer gesagt, dass sie es albern finden würde, wenn ich nach Jahren wieder nach Hause käme und an den Wänden noch irgendwelche Poster von Teenagerbands hingen. Auch meine damalige Bierdeckelsammlung war in Kisten gepackt und auf den Dachboden gestellt worden. Falls ich wieder Lust zum Weitersammeln bekäme, hatte sie mir gesagt und dabei gelacht. Ich weiß gar nicht mehr, wie oft sie mir das erzählt hatte. Vermutlich hatte sie insgeheim gehofft, dass ich deswegen wieder zu Hause einziehen würde.

Allerdings wohnte Nona schon seit knapp zwei Jahren nicht mehr im Hotel. Sie war weit über siebzig und Erik und ich längst erwachsen. Ihr Dienst als Mamacita in unserem Haus war abgeschlossen. Wobei, so ganz stimmte das nicht. Sie kam mindestens zweimal die Woche bei Vater vorbei und versorgte ihn mit einem seiner Lieblingsgerichte, die sie für ihn in der privaten Küche zubereitete. Schon damals hatte Vater die benötigten Gewürze und Zutaten extra aus Lateinamerika importieren lassen. Deswegen waren Nonas Empanadas zum Niederknien. Dagegen konnte Onkel Helmut mit seiner Sterneküche einpacken. Als ich Nona gestern hier getroffen hatte, versprach sie mir, dass sie am Sonntag wiederkommen und mir mein Lieblingsgericht kochen würde. Ceviche mit Maiskörnern und Süßkartoffeln mit traditionellen lateinamerikanischen Gewürzen und Zutaten. Mir lief jetzt schon das Wasser im Munde zusammen.

4

Es klopfte. Lauter. Immer lauter. Der Regen prasselte aufs Dach. Und dann sah ich sie, in ihrem hellgelben Sommerkleidchen mit den weißen Rüschensöckchen und den gelben Schuhen. Wie immer war sie für mich zum Greifen nah. »Gwen!«, hörte ich ihre Stimme, doch ihre Lippen bewegten sich nicht. Sie streckte mir ihre Hand entgegen, und wir rannten gemeinsam den Berg hinunter. Die hohen Grashalme peitschten gegen unsere Beine. Es roch nach Regen, aber die Sonne brannte auf meiner Haut. Immer schneller und schneller wurden wir. Hand in Hand. Immer schneller den Hügel hinab. Ich spürte einen Windhauch, der sich warm auf meiner Haut anfühlte. Ein dunkler Nebel zog auf, der aus dem Nichts zu kommen schien. Ich konnte nicht einmal mehr meine Hand vor Augen erkennen. Schwere Eisenketten rasselten. Ein schriller Schrei, der nicht enden wollte. Und plötzlich war ich gefangen in einer Stille, die mir den Kehlkopf zuschraubte.

Ich stand vor Schreck in meinem Bett, zitterte am ganzen Körper und umfasste den Zipfel der Decke, sodass meine Fingerknöchel weiß wurden. Der Pyjama klebte auf meiner Haut. Schon wieder dieser Traum. Mal weniger real und mal so, dass ich einen Moment brauchte, um zu begreifen, wo ich gerade war. Der Schweiß tropfte von meiner Stirn, obwohl ich im Schlafzimmer kaum achtzehn Grad hatte. Ein Blick auf die Uhr. 2:23. Wie immer um dieselbe Uhrzeit, fast derselbe Traum. Manchmal veränderten sich Kleinigkeiten. Mal regnete es noch, mal schien nur die Sonne.

Die Träume hatten angefangen, als ich fünfzehn wurde. Vielleicht einen Tick früher. So genau konnte ich das nicht sagen. Je älter ich wurde, desto detailreicher wurden meine Albträume. Und realer. Und angsteinflößender.

Meine Knie schlotterten so stark, dass ich mich hinsetzen musste, bevor ich aus dem Bett kraxeln konnte. Ich betätigte den Lichtschalter und goss mir ein Glas Wasser ein. Es wäre eine Meisterleistung, sofort wieder einschlafen zu können. Ich wusste, dass zuallererst mein Adrenalin wieder auf einen normalen Stand kommen und mein Herz damit aufhören musste, wie wild gegen meinen Brustkorb zu hämmern.

Somit öffnete ich das Fenster und ließ die kalte Aprilluft ins Zimmer strömen. Ich nahm einen Atemzug, noch einen, da hörte ich ein Summen. Ein leises, aber beständiges Summen. Ich konnte nicht hören, ob es sich um einen menschlichen oder tierischen Laut handelte. Ich wunderte mich, woher das wohl kam, und beugte mich über den Fensterrahmen hinaus. Doch ich sah nichts außer der Wiese und dem Waldrand, der vom Mondlicht angestrahlt wurde. Mein Zimmer lag auf der Seite zum Hang hinaus, direkt über dem Restaurant, am weitesten entfernt vom Eingangsbereich. Ein Uhu rief laut. Das Summen wurde lauter. Es waren menschliche Laute, die ich wahrnahm. Eine Melodie, die mir bekannt vorkam. Sie berührte mich tief in meinem Herzen. Allerdings konnte ich nicht zuordnen, woher ich sie kannte. »Ich wünschte, du wärst hier.« Wieder dieses Flüstern. Die Worte klangen so bedrohlich, als hätte man sie mir entgegengeschrien. Erinnerungen prasseln auf mich ein. Ich kannte diese Worte. Aber woher?

Auf einen Schlag war es still. Die Luft wirkte dichter, stickiger, obwohl das Fenster geöffnet ist. Kein Wind, der durch die Blätter rauschte, kein Tier, das einen Laut von sich gab. Kein Brechen von kleinen Ästen. Stille, einfach nur Stille war eingekehrt. Drückende, angsteinflößende Stille. Das Summen war weg. Der plötzlich aufkommende eiskalte Wind ließ die Blätter im benachbarten Wald rascheln, Zweige knackten laut, Flügel schlugen wild, ein Fauchen. War das gerade ein Kinderlachen? Dann wieder trügerische Stille. Als hätte jemand die Welt auf »Pause« gesetzt. Mein Puls raste, und ich glaubte, dass mein Herz sogar einige Male stolperte. Ein unsichtbares Seil hatte sich um meinen Hals gelegt. Panisch rang ich nach Luft. Ich kauerte mich in Embryostellung auf dem Echtholzboden zusammen und atmete vier Sekunden ein, dann hielt ich den Atem für sieben Sekunden an und atmete acht Sekunden aus. Die Gedanken rasten durch mein Hirn, denn so stark hatte ich diese Angst lange nicht mehr gespürt. Hatte dieser Uhu meine Angst ausgelöst? War es das Rascheln gewesen? Das Summen?

Ich hatte mir all das mit Sicherheit nur eingebildet. Es ist alles nur in deinem Kopf, Gwen! Alles nur in deinem Kopf. Beruhige dich.

Ich atmete wieder ein. Bewusst. Tief. Langsam. »Ich bin ganz ruhig.« Diesen Satz murmelte ich immer wieder wie ein Mantra. Irgendwann schaffte ich es, mich selbst zu beruhigen. Irritiert setzte ich mich auf die Bettkante und trank mein Wasser Schluck für Schluck. Panikattacken. Zumindest war das bei mir diagnostiziert worden, als ich ein Teenager war. Kurz nachdem das mit den Träumen angefangen hatte. Und in meinem Leben nichts mehr war wie vorher. Die kindliche Unbeschwertheit war weg, das Erwachsenenleben hatte mich mit meinen fünfzehn Jahren voll im Griff. Ich war verloren, noch bevor mein Leben richtig begonnen hatte. Verzweifelt war ich mit meiner Angst zu Nona gegangen. Vater wollte und konnte ich davon nichts erzählen. Er hatte genug zu tun. Ich wollte nicht seine Prinzessin sein, die einen psychischen Knacks hatte. Für ihn wollte ich immer perfekt sein.

»Angst ist eine menschliche Reaktion.« Das hatte mir die Psychologin damals erklärt, zu der mich Nona gebracht hatte. Für diesen Schritt war ich ihr heute noch dankbar. »Sie tritt auf, wenn du bedroht wirst. Aber je öfter du deine Angst zulässt, desto mehr Angst wirst du bekommen. Du hast Angst vor der Angst. Verstehst du? Du musst lernen, jedes Gefühl von Angst richtig zu bewerten. Es ist wichtig für dich, den Unterschied zwischen Angst und deiner Gefühlsstörung zu begreifen. Ausreichend Schlaf, Sport und eine gesunde Ernährung werden dir dabei helfen.«

Noch heute hörte ich ihre Worte in meinem Schädel widerhallen. Und ich wusste genau, wie viel ich ihr verdankte – sie hatte mir geholfen, viel schneller aus meiner Situation auszubrechen. Aber den wirklichen Grund für meine Störung konnte sie leider nicht herausfinden. Es war einfach da. Ein Teil meines Lebens. Und ich hatte es zu akzeptieren. Die Psychologin hatte Nona hinter verschlossener Tür erklärt, dass ich vermutlich unter einer Angststörung mit mangelnder emotionaler Kontrolle litt, weil meine Mutter mich zu früh verlassen hatte. Und dass es deswegen zu dieser Gefühlsstörung gekommen war. Mir war es gleich gewesen, woher mein Problem kam. Für mich war es wichtig, dass ich es schnell unter Kontrolle bringen konnte. Was ich auch nach zahlreichen Fehlversuchen geschafft hatte.

Ein Seufzen entfuhr meiner Kehle. Ich fühlte mich müde und ausgelaugt. Trotzdem stand ich erneut auf und schloss das Fenster. Obwohl niemand von draußen ohne Leiter hätte einsteigen können. Und schon gar nicht unbemerkt. Aber eine innere Stimme riet mir dazu.

Ich ließ den Kopf auf das Kissen sinken und dachte daran, dass ich vor zehn Jahren hier ausgezogen war, um mir meinen Traum zu erfüllen. Tierärztin – meine Berufung. Schon alleine der Gedanke daran beruhigte mich ungemein. Ein Lächeln zauberte sich wie von selbst auf mein Gesicht, da ich unwillkürlich an Rainer denken musste. In Wien hatte ich mein Studium absolviert und ja … eben auch Rainer kennengelernt. Wobei Rainer nicht studieren wollte, aber musste, weil sein Vater ihn sonst dazu verdonnert hätte, in der Firma mitzuarbeiten. Stahlbau, Brückenbau, Stahlhochbau – davon verstand ich genauso wenig wie Rainer. Deswegen hatte sich Rainer ausgerechnet für ein Studium in der Tiermedizin angemeldet. Er war nur wenige Monate bei den Vorlesungen anwesend gewesen. Mehr, um mir zu gefallen und in meiner Nähe zu sein, als wirklich etwas zu lernen. Nachdem er mit seiner Investition von wenigen Tausend Euro in irgendeine Kryptowährung mehrere Millionen verdient hatte, war jegliche Ausbildung vergessen gewesen und er tat nur noch, was er wollte. Frei sein von allen dachte. Es dauerte nicht lange, bis ich in einen traumlosen Schlaf fiel.

***

Das Klingeln des Handyalarms weckte mich pünktlich um fünf Minuten vor sieben. Ich liebte es, das Handy auf Snooze stellen zu können, um mich ein weiteres Mal in die Bettdecke zu kuscheln. Doch heute verzichtete ich darauf. Immerhin wollte ich noch duschen, bevor ich zum Frühstück und anschließend zum Treffen mit Gerry, dem Architekten, gehen würde.

Ich holte frische Kleidung aus dem Schrank und schlurfte im Pyjama ins Badezimmer. Ich fühlte mich noch sehr müde und schlapp, als ich mich auszog und die Armatur der Dusche aufdrehte. Es dauerte nur wenige Momente, bis das warme Wasser in Verbindung mit meinem Lieblingsduschgel meine Sinne belebte. Frisch geduscht, angezogen und zumindest ein wenig wacher als vorhin stand ich zehn Minuten später im Angestelltenbereich, der sich direkt neben dem Restaurant befand. Schon von jeher gab es hier ein Selbstbedienungsbüfett. Frühstückssemmeln oder leckeres Körnerbrot. Müsli mit Joghurt, Früchtekompott, weich gekochte Eier. Schinken, Salami, Käse. Hier war wirklich für jeden des zwölfköpfigen Teams etwas dabei.

Ich holte mir eine kleine Schüssel, gefüllt mit Müsli und Joghurt, kleckste Früchtekompott darauf, nahm zwei Scheiben Käse und eine Semmel, dazu ein Schälchen Frischkäse, und wanderte damit zum Tisch. Als ich mir einen Kaffee aus der Thermoskanne einschenkte, hörte ich Onkel Helmuts Stimme draußen auf dem Gang.

»Ja, bitte für morgen die Lieferung. Heute habe ich noch genug im Haus.« Gleich darauf öffnete sich die Tür und er trat in den Raum. Kurz erstarrte er, als er mich sah. »Hallo, Gwen.«

»Guten Morgen, Onkel Helmut. Wieso erschrickst du bei meinem Anblick?« Ich lächelte ihn an und nahm an einem der Tische Platz.

»Ich war gerade so in Gedanken und habe schlecht geschlafen diese Nacht. Ich fühle mich, als hätte mich ein Lkw überrollt.« Er füllte eine Tasse mit Kaffee und drehte mir dabei den Rücken zu.

»Ja, ich auch. Ich hab dieses Mädchen wiedergesehen. Du weißt schon, dieser Traum. Und … sag mal, kann es sein, dass da nachts jemand durch unseren Garten schleicht und Lieder summt?«

»Was?« Onkel Helmut drehte sich so abrupt um, dass sein Kaffee über den Rand schwappte und einen Fleck auf dem Boden hinterließ. »Wer ist herumgeschlichen? Wovon sprichst du?«

»Ach, vergiss es einfach.« Ich biss in meine mit Käse belegte Semmel. Wieso sollte ausgerechnet Onkel Helmut mir das beantworten können? Er wohnte gar nicht im Hotel, sondern im angrenzenden Dorf in einer schnuckeligen Wohnung. Seit der Trennung von seiner Ehefrau vor vier Jahren lebte er dort allein. Ich schaute auf die riesige Uhr über dem Türrahmen. »Ich muss mich beeilen. In zwanzig Minuten kommt Gerry. Da sollte ich, wenn möglich, keine Krümel mehr auf meiner Jeans haben. Und danach möchte ich zu Erik ins Krankenhaus fahren, um nach ihm zu sehen.«

»Gwen, beantworte mir meine Fragen! Wer schleicht hier nachts herum? Muss ich mir Sorgen machen? Soll ich die Videoaufzeichnungen kontrollieren?«

Natürlich, hier ist doch alles überwacht. Wieso ist mir das nicht eingefallen? »Nein, schon gut. Ich schau das später selbst durch. Du hast genug zu tun. Ich hab mir das wahrscheinlich nur eingebildet. Aber Papa hat mir gestern gesagt, dass der Beerengarten verhext ist. Vielleicht ist mir dadurch in den Sinn gekommen, dass ich plötzlich glaube, was zu hören.«

»Und dieses Summen kam vom Beerengarten?«, fragte Onkel Helmut, runzelte die Stirn und setzte sich zu mir an den Tisch.

»Ich weiß nicht. Ich kann ja von meinem Zimmerfenster aus nicht zum Beerengarten sehen. Ich sehe die Wiese hinter dem Haus und den Waldrand. Also eigentlich das, was jeder Gast auch aus dem Restaurantfenster sehen kann. Es hat sich so angehört, als käme es aus dieser Richtung.«

»Merkwürdig. Aber ich glaube, das hast du dir wirklich nur eingebildet. Wer soll denn mitten in der Nacht im Garten herumschleichen und dabei Lieder summen?« Er schüttelte leicht den Kopf. »Aber sag mal, was hat dir dein Vater über diesen verhexten Beerengarten erzählt? Es ist zwar schon meine dritte Tasse Kaffee heute, aber anscheinend habe ich für das Gespräch mit dir noch immer zu wenig Koffein intus.« Er lächelte und zwinkerte mir zu.

»Ich denke mal, es liegt an mir, nicht an dir. Wir haben eben beide nicht gut geschlafen. Also, Vater hat gesagt, wenn ich die Beeren entferne, dann wird ein Unglück über unsere Familie hereinbrechen. Aber was, wieso … keine Ahnung. Er war gestern auch viel zu müde, um sich mit ihm unterhalten zu können. Onkel Helmut, es tut mir leid, aber ich muss jetzt leider schnell mein Frühstück essen. Wie gesagt, ich hab doch gleich den Termin.«

»Natürlich, Gwen. Falls du was brauchst, du weißt, wo du mich findest. Und über diesen verhexten Beerengarten sprechen wir noch, ja?«

»Danke dir. Für alles. Ich hab dich lieb.«

»Ich dich auch, mein Schatz.« Er stand auf, drückte mir einen Kuss auf die Stirn und verließ mit seiner Kaffeetasse in der Hand den Aufenthaltsraum.

Ich aß zu Ende und fünf Minuten vor meinem Termin ging ich ins Büro – in Eriks Büro –, um meine Unterlagen für das Treffen zu holen. Gestern Nachmittag hatte ich bereits meinen Laptop und meinen Notizblock auf dem Schreibtisch abgelegt.

Nachdem ich die Lobby durchquert und den kleinen Gang zum Büro hinter mir gelassen hatte, schob ich die Schiebetüren zum Büro auseinander. Für einen Moment blieb mir im wahrsten Sinne des Wortes die Spucke weg. Ich konnte kaum glauben, was hier passiert war.

Als ich gestern das Büro verlassen hatte, hatte noch alles am rechten Fleck gestanden. Jetzt lagen die meisten Ordner aus den schweren Eichenregalen geöffnet auf dem Boden. Papiere, Rechnungen, Lieferscheine – alles, was gestern noch ordentlich in den Ablagefächern gesteckt war, befand sich nun verstreut überall im Zimmer. Und dann sah ich etwas, das meinen Herzschlag aussetzen ließ.

»Mein Laptop!«, rief ich entsetzt und schaute auf die auf dem Schreibtisch liegenden kleinen Plastikteile, die allesamt von dem Gehäuse abgesprungen waren. Vermutlich hatte jemand den Laptop mehrmals auf die Tischkante geschlagen. Das Gerät selbst steckte im Papierkorb, der direkt neben dem Tisch stand. Ich befreite den Laptop und klappte ihn auf. Einige Tasten sprangen mir entgegen. Ernüchtert stellte ich fest, dass ich mir wohl einen neuen kaufen musste, da der Bildschirm einem Spinnennetz glich. Frustriert stellte ich den Laptop auf den Tisch und wühlte mich weiter durch das Chaos.

Gut, es schmerzte, weil der Laptop ein Heidengeld gekostet hatte, allerdings war alles, damit meine ich wirklich alles, auf einer Cloud gespeichert. Wie gut, dass ich für den Notfall auf meinem Handy die App installiert hatte, damit ich auch von unterwegs auf meine Dateien zugreifen konnte. Das hatte ich mir damals in Wien angewöhnt. Als Studentin war ich gerne in der Bibliothek gewesen und hatte von dort aus gearbeitet, wegen der angenehmen Ruhe und dem kostenlosen WLAN. Da war eine Cloud einfach praktischer als ein USB-Stick.

Ich atmete tief aus und war zumindest dahingehend beruhigt. Dann suchte ich in dem Saustall mein Notizbuch, in dem alle Fragen standen, die ich heute dem Architekten stellen wollte. Aber ich fand es nirgends. Ein Blick auf die Uhr ermahnte mich, dass ich mich sputen musste, denn Gerry war vermutlich schon da und würde mich für meine Miniverspätung tadeln. Er hasste nichts mehr als Unpünktlichkeit. »Punkt um ist schon zu spät«, pflegte er zu sagen.

Im Augenwinkel sah ich etwas unter den Papieren hervorblitzen. Ich wischte die Blätter zur Seite und entdeckte ein buntes Freundschaftsarmband mit Perlen, die zu Pfeilen angeordnet waren. Es sah benutzt und getragen aus. Außerdem konnte ich gut erkennen, dass die Fäden wohl mit einem scharfen Gegenstand durchgeschnitten worden waren. Der Schnitt war gleichmäßig. Ich nahm es in die Hand. Damals hieß es immer, dass die Freundschaft beendet war, wenn man das Armband vom Handgelenk schnitt. War es in diesem Fall auch so gewesen? Was hatte das hier alles zu bedeuten? Zu welchem Zweck wurde dieses Armband hier hinterlassen? Und vor allem: Wer um Himmels willen hatte es hier hingelegt?

Da erinnerte ich mich an ein Foto meiner Mutter. Sie hatte wie der Sänger Wolfgang Petry ein Faible für diesen Armschmuck gehabt und ihn gerne getragen. War das eines von ihren? Mir kam es so vor, als ob ich dieses Freundschaftsarmband schon einmal gesehen hatte. Aber wer hatte es mir auf den Tisch gelegt? Oder hatte es schon zuvor auf Eriks Schreibtisch gelegen und ich hatte es nur nicht bemerkt?

Ich hatte jetzt keine Zeit und vermutlich auch noch nicht den Mut, darüber nachzudenken, dass mir jemand Böses wollte, deswegen schob ich in Windeseile die Bürotüren hinter mir zu. Das war alles nur ein blöder Scherz. Eine Art Willkommen in der Hotelfamilie. Wie bei einer Hochzeit, bei der dem Brautpaar in der Hochzeitsnacht auch böse Scherze gespielt wurden. Böse war dies hier, gar keine Frage. Mein Eigentum war zerstört worden. Das hatte nichts mehr mit einem Witz zu tun.

Ich hastete zur Rezeption und atmete erleichtert aus, als ich Gerry nirgendwo entdeckte. Wobei mich dies auch stutzig machte, denn ich war wenige Minuten zu spät dran. Irgendwas lief hier derzeit gewaltig aus dem Ruder. Es war eine Vorahnung, ein mulmiges Bauchgefühl, das immer besorgniserregender wurde, das täuschte mich niemals. Angst ist einfach nur die kleine Schwester von Panik. Und Panik schien hier bald angebracht.

»Sigi?«, fragte ich außer Atem. Wie immer stand sie hinter dem Rezeptionstresen. Wie immer war sie in ihre Arbeit am Computer vertieft. Sie war nicht nur Rezeptionistin, sondern auch Sekretärin und kümmerte sich außerdem ums Marketing des Hotels. Als ich sie ansprach, sah sie vom Bildschirm auf. »Hast du Gerry gesehen? Hat er sich bei dir angemeldet?«

»Gerry? Der Architekt?«, fragte Sigi nach und weitete ihre Augen.

»Ja, natürlich.« Ich schaute durch die Fensterfront nach draußen, entdeckte ihn aber nicht. Dabei müsste er schon längst hier sein. War ihm etwas passiert?

»Gwen? Ist alles okay bei dir?« Sigis besorgter Blick traf mich.

»Ja, klar. Ich bin nur etwas müde. Wieso fragst du? Ist was mit Papa?« Natürlich wurde mir gleich schwer ums Herz, als ich an ihn dachte. Er war mein wundester Punkt. Dann durchfuhr es mich eiskalt. »Oder mit Erik? Ist was mit ihm? Hat das Krankenhaus angerufen?«

»Nichts von alledem. Es ist so …«, sagte sie und zögerte einen Moment, bevor sie weitersprach. »Du hast mir gestern eine Mail geschrieben, dass ich den Termin mit dem Architekten heute absagen soll. Das habe ich auch gemacht. Gwen? Ist wirklich alles in Ordnung?«

»Ich habe was? Was hast du gerade gesagt? Zeig mir bitte die Nachricht, die ich angeblich geschrieben habe.« Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte, was ich denken sollte, was ich dazu sagen sollte. Ich war vollkommen perplex.

Sigi drehte sich zu ihrem Bildschirm um und tippte auf die Tastatur. Dann scrollte sie mit der Maus. Wieder tippte sie etwas. Ihre Bewegungen wurden von Sekunde zu Sekunde hektischer, bis sich ihr Brustkorb so aufblähte, dass ich dachte, ihre riesigen Brüste würden im nächsten Augenblick aus der Dirndlbluse heraushüpfen. »Hier. Ich hatte das gestern schon in den Papierkorb verschoben. Keine Ahnung, wieso. Mach ich normalerweise nie.«

»Sigi«, las Sigi von ihrem Bildschirm ab. »Bitte sag den morgigen Termin bei Gerry Trinster ab. Schreib ihm einfach, ich bin krank. Danke, Gwen. Das stand in der Mail, die von deiner Mailadresse kam. Schau selbst.« Sie drehte den Bildschirm so um, dass ich direkt meine angebliche Nachricht mit eigenen Augen sehen konnte.

»Aber ich habe das nicht geschrieben!«

»Es tut mir leid, aber das konnte ich nicht wissen.« Sigi hob ihre Handflächen, als würde ich sie mit einer Pistole bedrohen. »Ich habe nur gemacht, was du … also was hier drin stand. Erik hat mir ja auch immer solche Aufgaben übertragen, dass ich jemanden anrufen soll oder dergleichen. Es war für mich nichts Ungewöhnliches. Es tut mir wirklich sehr leid, dass ich den Termin abgesagt habe.«

»Dich trifft keine Schuld. Du hast nur deinen Job gemacht. Nicht mehr, nicht weniger.« Mir fehlten die Worte. Zuerst dieses ständige Summen, dann die geflüsterten Worte. Jetzt die Verwüstung in meinem Büro, mein Laptop kaputt, meine Notizen weg, der abgesagte Termin … Das war doch mehr als bloßer Zufall. Der Beerengarten ist verhext, waberte es durch mein Hirn. Oder du bist komplett verrückt!

»Ich hol dir ein Glas Wasser. Du bist so weiß wie die Wand hinter dir.« Sigi schlüpfte in den Raum hinter der Rezeption, in dem sich die kleine Teeküche befand. Ich starrte noch immer auf die Worte in der Mail. Verdammt, was ist hier bloß los?