Leseprobe Hex Appeal – Verflucht verliebt | Eine Found Family Cosy Fantasy voller Magie und Hokus Pokus

Kapitel eins

Essie Winterscale war mit zwei Flaschen Wein und einem Becher Eiscreme auf dem Heimweg vom Dorfladen, als sie die Vision hatte, die die Welt beinahe für immer verändert hätte.

Wie die meisten Hexen-Vorahnungen war sie weder deutlich noch hilfreich und bestand hauptsächlich aus ‚einem wirklich seltsamen Gefühl bezüglich des vorbeifahrenden Taxis‘ gemischt mit einem ‚Oh, so werden wir also alle sterben‘.

Die Einkaufstasche fiel auf den Gehweg, und eine plötzliche Hitze überkam Essie, so als würde die Welt auf einmal brennen.

„Aber es ist September“, sagte sie laut. Am Rande des Ententeichs wuchsen die ersten Herbstzeitlosen, und das bedeutete, dass der Sommer so gut wie vorbei war.

Sie drehte sich um und betrachtete die Blumen, und als sie das tat, wuchsen den lilafarbenen Blüten lange gespaltene Zungen.

„Das ist neu“, sagte sie.

Sie schüttelte den Kopf, und die Blumen wurden wieder normal. Es war Ende September im Dorf Good Winter: Am Ententeich waren keine Sommerurlauber mehr unterwegs, alle Kinder waren wieder in der Schule, und hier und da drangen Holzrauchwolken aus den älteren Schornsteinen. Die Luft war frisch und trug eine Vorahnung auf den kühlen Herbst und die Ruhe mit sich, die Essie immer dann spürte, wenn die Erde sich in Vorbereitung auf den Winter zu verlangsamen begann.

Das Taxi war verschwunden.

Essie wischte sich den Schweiß von der Stirn. Der Tag war einfach nicht so warm.

„Geht es Ihnen gut, Liebes?“, fragte eine Stimme, und Essie drehte sich um und blickte in ein Gesicht, das nur aus Knochen bestand und von violettem Haar gekrönt wurde. „Essie, nicht wahr?“

Sie blinzelte, und die violetten Haare gehörten zu Mrs Sockburn, der Reinigungskraft, die nie gelernt hatte, mit der silbergrauen Haartönung richtig umzugehen. Ihre Haut war faltig und pudrig, und es war kein einziger Knochen mehr zu sehen.

Essie starrte zu den Blumen, die normal aussahen, und auf den Marktplatz, der normal aussah, und auf Mrs Sockburn, die … na ja … so normal aussah, wie sie es immer getan hatte.

„Äh, ja. Ja. Sehr gut. Wie geht es Ihnen, Mrs Sockburn? Wie kommt Ihr Sohn mit seinen Zwillingen zurecht?“

„Nun, ich sage es mal so, Liebes. Ein Anruf dann und wann würde gewiss nicht schaden. Er will irgendeine Zoom-Geschichte mit einem Computer-Pad oder so etwas machen. Damit kenne ich mich gewiss nicht aus.“

Essie dachte darüber nach, ihr Videoanrufe zu erklären, und entschied sich dann, dass ihr, selbst wenn sie noch weitere tausend Jahre leben würde, die Zeit dafür fehlte.

„Oh, und wissen Sie was? Erinnern Sie sich an die alte Agatha Cropley?“

Essie rief sich die gebrechliche Frau ins Gedächtnis, die die letzten Monate ihres Lebens in einem Pflegeheim verbracht hatte, in dessen Gästebuch Essies Name der einzige war. „Natürlich, ihre Beerdigung war wirklich schön“, log sie, weil so gut wie niemand außer Essie und ihrem Hexenzirkel in das seelenlose Krematorium gekommen war.

„Das war sie“, sagte Mrs Sockburn, die eindeutig nicht dort gewesen war. „Nun, wie auch immer, ihr Haus wurde verkauft oder vermietet oder so etwas. Es lebt ein neuer Kerl dort.“ Sie schnaubte und tätschelte ihr Haar, welches so steif war wie Kohlefasern. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass er bleiben wird. Das Haus ist in einem grauenhaften Zustand.“

„Ich dachte, Sie kümmern sich dort um den Haushalt“, sagte Essie.

„Ich tue eine Menge Dinge, Liebes“, entgegnete Mrs Sockburn schnell. „Nun, ich lasse Sie mal weitermachen“, fuhr sie fort und fügte, als sie sich abwandte, noch hinzu: „Sie haben dort etwas verschüttet.“

Essie blickte nach unten und sah das schmelzende Eis, das durch den Stoff ihrer Einkaufstasche tropfte. „Oh, Mist.“

Essie hob ihre Einkäufe auf, schloss den Deckel der Eisverpackung wieder und runzelte die Stirn. Sie hatte den Laden erst vor fünf Minuten verlassen, und der Tag war wirklich nicht besonders warm. Das Eis sollte nicht so schnell schmelzen.

Essie steckte beiläufig eine Hand in die Tasche, konzentrierte sich, und das Eis gefror unter ihrer Hand wieder. Ganz nebenbei kühlte sie auch den Wein.

Dann machte sie sich auf den Weg nach Hause und versuchte, nicht an die Blumen mit den mutierten Riesenzungen zu denken.

***

Josh Henderson stieg aus dem Taxi, jonglierte drei riesige Farbeimer und eine große Packung mit Pinseln und versuchte dem Fahrer dankend zuzuwinken, der jedoch ignorierte ihn und fuhr so zügig davon, dass hinter ihm kleine Kiesel aufgewirbelt wurden. Die Auffahrt sollte eigentlich geschottert sein, aber der Großteil davon schien bereits abgetragen zu sein, und der Rest wurde täglich vom einzigen örtlichen Taxiunternehmen aufgewirbelt.

Josh zuckte zusammen, als ein Kieselstein das Küchenfenster traf. Ein winziger Steinschlag, der beständig größer und größer werden würde … Er fragte sich, wie viel es kosten würde, die Auffahrt erneut schottern zu lassen. Vermutlich ein kleines Vermögen, und aufgrund der dummen Vorschriften in diesem Land würde er irgendeinen besonderen denkmalgeschützten Kies nutzen müssen.

Er warf erneut einen Blick auf das Angebot des Dachdeckerunternehmens. Kein normales Dachdeckerunternehmen, sondern eines, das auf denkmalgeschützte Gebäude spezialisiert war. Josh begann zu verstehen, dass ‚Denkmalschutz‘ in England ein kostspieliges Wort war.

Er schaute sich verzweifelt in der Küche um. ‚Küche‘ war an und für sich eine optimistische Beschreibung für den Raum, der aus einer kurzen Reihe von holzverkleideten Küchenschränken bestand, die vermutlich älter waren als Josh, einem großen Holztisch, der es definitiv war, und einem urzeitlichen Ofen, der vermutlich älter als sein Heimatland war.

Er hatte den Raum so gut wie möglich sauber gemacht, hatte ziemlich ausgiebig gefegt, gewischt und gebleicht. Der Kühlschrank und die Mikrowelle waren brandneu und sahen in der verschrammten und ausgeblichenen Umgebung sehr fehl am Platz aus. Josh erwartete schon beinahe, dass sie einen Elektrobrand auslösen würden, aber zumindest erschien ihm die Verkabelung solide genug. Unter dem aufgeplatzten und sich schälenden Linoleum hatte er einen ziemlich schönen Fliesenboden gefunden, den er, weil er nicht viel mehr zu tun gehabt hatte, so lange geschrubbt hatte, bis er glänzte.

Die Küche konnte vermutlich recht hübsch werden, wenn sie erst einmal eine anständige Ausstattung und Armaturen hätte. Der Rest des Hauses hingegen …

Ein Krachen von oben ließ ihn aufschrecken. Mist, hoffentlich war das kein weiteres Fenster gewesen. Es waren alles noch die ursprünglichen Einbauten mit den wackeligen Scheiben und den verrottenden Holzrahmen, und er wusste, ohne nachzufragen, dass ihr Austausch weit über seinem Budget liegen würde.

„Zieh nach England, haben sie gesagt“, murmelte er. „Es wird wie bei Miss Marple vor den ganzen Mordfällen. Sie erzählen dir aber nichts …“ Er führte seine Hand über eine Lücke im Geländer. „… von der Feuchtigkeit und den Vögeln im Dachstuhl und dem verfluchten denkmalgeschützten Kies.“

Am Tag zuvor hatte er die Frau im Dorfladen angelächelt, als sie ihm sein Wechselgeld gegeben hatte, und ihr einen schönen Tag gewünscht. Sie hatte ihn angeschaut, als hätte er sie bis in die Tiefen der Hölle verflucht. Dieses Dorf war seltsam. Ganz England war seltsam.

Er könnte nach Seattle zurückkehren. Vermutlich würde er wieder einen Job im Unternehmensrecht finden. Eine neue Wohnung mieten. In einem neuen Stadtteil. Wo Maya ihn nicht finden würde.

Vielleicht nicht in Seattle. Vielleicht an der Ostküste …

Er stapfte die Treppe hinauf, die wie tausend sterbende Seelen quietschte, und steckte den Kopf in eines der vielen freien Zimmer. Sie waren überwiegend leer gewesen, als er eingezogen war, und waren seitdem nur noch leerer geworden. Das Einzige, was sich noch in dem Zimmer mit Blick auf die Auffahrt befand, war eine Glaskugel, die in einem Netz vor dem Fenster hing. Er wusste nicht, wofür sie gedacht war, aber die Muster, die sie auf die Dielen warf, sahen schön aus, also hatte er sie hängen lassen …

„Verfluchter Mist“, sagte er und starrte auf das gerissene Netz und das zersprungene Glas auf dem Boden. Ein paar kleine braune Schatten huschten an den Fußleisten entlang, da es in diesem verfluchten Haus selbstverständlich Mäuse gab. Natürlich gab es die. Und nun schien sich eine durch das Netz geknabbert zu haben, und alles, was von der grünlichen Glaskugel noch übrig war, war ein Durcheinander auf dem Boden.

Und ein … Moment mal, war das ein Zettel? Josh ging mit knirschenden Schritten darauf zu, beugte sich hinunter und schob die Glassplitter mit dem Ärmel seines Karohemdes beiseite, bevor er den Zettel aufhob.

Es handelte sich dabei um ein Blatt linierten Papiers, das anscheinend aus einem Block herausgerissen worden war. Es war zweimal in der Mitte gefaltet und dann an den Ecken umgeknickt worden. Es sah aus, als hätte ein Schulkind versucht, eine geheime Nachricht weiterzugeben. Er faltete das Blatt vorsichtig auseinander und sah eine krakelige Schrift in ausgeblichener grüner Tinte und ein weiteres zusammengefaltetes Stück Papier, das zwischen den Glassplittern zu Boden fiel.

„Natürlich ist es grün“, murmelte er. Er wusste nichts über die weit entfernte Verwandte, die zuletzt in diesem Haus gelebt hatte. Er kannte mittlerweile lediglich ihre Vorliebe für billige, geschmacklose Möbel und ihre Abneigung gegen Reparaturen von Einrichtungsgegenständen, die noch mehr als fünfzig Prozent ihrer Leistung erbrachten. Aber vielleicht war sie eine verschrobene alte Dame gewesen, die … Nun, vielleicht hatte sie in ihrem Keller ein Vermögen versteckt – in irgendeinem Teil, für dessen Erkundung Josh der Mut gefehlt hatte –, und dies war der Beginn einer Schatzsuche?

Er starrte die Schrift an, konnte jedoch nur ein paar Worte entziffern. ‚Völliger Unsinn‘ schienen einige davon zu sein, und am Ende stand eine Unterschrift, die mit einem A begann und sich dann so schlängelte, dass sich darin vermutlich sowohl das gesamte englische Alphabet als auch mehrere weitere befanden.

Josh zuckte mit den Schultern, hob dann den zweiten Papierschnipsel auf und fluchte leise vor sich hin, als eine Glasscherbe sich in seinen Daumen bohrte. Dieser Zettel war viel älter und …

„Igitt! Bäh!“

Was aus dem gefalteten Stück Papier herausfiel, schien ein Büschel Haare zu sein und – igitt, waren das abgeschnittene Fingernägel? Was zur Hölle?

„Das ist wirklich ekelhaft“, sagte er und drehte sich um, um nach unten zu gehen und sich die Hände zu waschen, bevor er sich noch irgendeine alte Infektion einfing, aber irgendetwas hielt ihn davon ab, und er wusste beim besten Willen nicht, was es war.

Seine Finger strichen das altertümliche Pergament glatt, welches an den Knicken schon eingerissen und an den Ecken verfärbt war. Hier und dort befanden sich dunkle Flecke, die aussahen wie Fingerabdrücke. Die Schrift war so alt und verschnörkelt, dass sie unleserlich war.

Und dennoch konnte er sie lesen.

 

Ich, der gerechte und anständige Hopkins, gelobe feierlich, dem Teufel und allen, die ihn verehren, abzuschwören. Außerdem werde ich diese Hexen, die so gottlos sind, mit klarem Blick betrachten. Sie werden diese Türschwelle nie überschreiten oder vor meinem Kamin sitzen. Ich werde ihren Machenschaften und ihrer Schurkerei nie anheimfallen. Das schwöre ich.

 

Während Josh laut las, schien all der Staub, der zuvor durch die Luft gewirbelt war, stillzustehen, und dann blinzelte Josh, und die Staubpartikel tanzten im morgendlichen Sonnenlicht, und der Zettel in seiner Hand war wieder nur ein altes Stück Pergament mit unleserlicher Handschrift.

„Seltsam“, sagte er und legte ihn auf die Fensterbank, bevor er nach unten ging, um einen Besen zu holen.

Er hatte sich gerade die Hände gewaschen, als sein Laptop klingelnd einen Videoanruf ankündigte. Er zögerte. Die einzige Person, die ihn je auf diese Weise anrief, war seine Schwester.

Er hatte gerade ein Pflaster auf den kleinen Schnitt an seinem Daumen kleben wollen – aber der hatte bereits aufgehört zu bluten und war fast verheilt. Die Glasscherben konnten warten, und es wäre nett, ein halbwegs bekanntes Gesicht zu sehen.

„Hey, Trottel“, hauchte Siena, die an irgendeinem Flughafen zu sein schien. Ihr halbes Gesicht war hinter einer gigantischen Sonnenbrille versteckt, und sie trug einen riesigen Hut. „Warum so mürrisch?“

„Dieses Haus ist ein Fass ohne Boden“, sagte Josh.

Sie zuckte mit den Schultern, als wäre ihr das vollkommen gleichgültig. „Wenn du Geld brauchst, frag mich einfach.“

„Das hatten wir doch schon.“

Das Haus war ihm hinterlassen worden, nicht seiner Schwester. Es war so ziemlich die einzige Sache, die ihm in dem umfangreichen und komplizierten Testament seines Vaters zugesprochen worden war, und Josh nahm an, dass es dafür einen Grund geben musste. Er hatte ein paar Ersparnisse, er hatte während des Studiums einige Zeit auf dem Bau gejobbt, und das Haus und der dazugehörige Grundbesitz sollten laut dem örtlichen Notar ein Einkommen generieren.

„Offenbar sind die Mieten fällig“, sagte er, als Siena sich anscheinend selbst im Bildschirm anschaute und ihr makelloses Haar zurechtmachte.

Josh war sich ziemlich sicher, dass niemand jemals darauf kommen würde, dass er und Siena verwandt waren. Sie hatte luxuriöse blonde Haare und das ganze Jahr über eine perfekt gebräunte Haut, ihre Kleidung bestand aus Designerstücken und war maßgeschneidert, und sie ging überall in Stöckelschuhen hin. Josh hatte widerspenstige dunkle Haare, bekam leicht einen Sonnenbrand und wäre froh, wenn er nie wieder etwas auch nur ansatzweise Maßgeschneidertes würde tragen müssen.

„Ich dachte, dir gehört das Haus“, sagte Siena, die sieben Häuser und drei Jachten besaß.

„Nein, nicht die Miete für dieses Haus. Die von meinen Mietern. Ich habe Mieter.“ Er hatte Mieter. Josh war sein Leben lang selbst Mieter gewesen. Die Welt stand auf dem Kopf.

„Cool, und warum sorgst du dich dann um Geld?“

Josh seufzte und setzte sich an den Küchentisch. Er hatte bereits bei seiner Ankunft dort gestanden, reichlich staubig und wurmstichig, aber er war groß und stabil, und Josh besaß nicht gerade viele Möbel, die er hätte herüberschicken und mit denen er das Haus hätte füllen können. Er hatte ein Bett gekauft, und er wusste, dass er sich ein Sofa würde anschaffen müssen, da er sich ziemlich sicher war, dass das im Wohnzimmer Flöhe hatte.

„Nun“, sagte er und deutete auf den Papierkram, den der Notar ihm geschickt hatte. „Als Erstes gibt es da eine Dame namens Mrs Sockburn, die sich um dieses Haus kümmern sollte.“

Siena beäugte zweifelnd die Küche hinter ihm, an der Schranktüren fehlten und von deren Anrichte Josh gerade erst den Schimmel geschrubbt hatte. „Sie hat keine besonders gute Arbeit geleistet.“

Josh versuchte etwas Anständiges darauf zu erwidern und scheiterte. In den Jahren, in denen das Haus leer gestanden hatte, hatte Mrs Sockburn gelegentlich Staub gesaugt und gewischt und es dabei vollkommen versäumt, die fehlenden Dachziegel, die Fledermäuse auf dem Dachboden oder den tropfenden Wasserhahn in der Spülküche zu melden.

Meine Güte, wieso besitze ich ein Haus mit einer Spülküche?

„Na ja, als Gegenleistung für ihre Dienste zahlt sie eine ermäßigte Miete für ihr Cottage im Dorf. Offenbar besteht diese Vereinbarung schon seit Jahren und ist ihr zeitlich unbeschränktes Recht.“

„Also kannst du nichts daran ändern?“

„Das ist es, was ‚zeitlich unbeschränktes Recht‘ bedeutet“, erklärte Josh geduldig.

Siena zuckte mit den Schultern und frischte ihren Lippenstift auf. „Nicht alle von uns haben Jura studiert, Josh.“

„Es ist ein ziemlich geläufiger … Weißt du was? Vergiss es. Die Miete, die sie zahlt – und glaub mir, ich habe es mehrere Male gelesen und den Notar angerufen, bevor ich es geglaubt habe –, beträgt fünf Pfund im Monat.“

Siena starrte ihn ausdruckslos an. Für sie war Geld etwas, um das sich andere Menschen in ihrem Namen kümmerten. Sie schenkte den Beträgen, die ihr an der Kasse berechnet wurden, einfach keine Beachtung.

„Der Marktpreis für ein Cottage wie ihres beträgt vermutlich tausend, vielleicht sogar fünfzehnhundert Pfund pro Monat“, sagte Josh. Er hatte nachgesehen. Good Winter war ein begehrter Wohnort, und Cottages mit Charakter standen hoch im Kurs.

„Wow. Also haut sie dich vollkommen übers Ohr? Kannst du sie nicht verklagen oder so etwas?“

Das war eine ziemliche Standard-Antwort von Siena. Fairerweise musste man sagen, dass sie das von ihrem Vater gelernt hatte.

„Nein“, sagte Josh. „Einerseits weil sie eine mittellose alte Lady ist, die beruflich Häuser putzt. Andererseits besteht die Vereinbarung, wie ich bereits sagte, zeitlich unbeschränkt.“

„Nun, das ist übel. Wen gibt es noch?“

Er sah die Liste mit den Namen durch. „Drei der Cottages sind baufällig. Ich habe sie mir heute Morgen angesehen. An der Auffahrt zu diesem Haus steht eine Scheune mit einem Loch im Dach, durch das ein Flugzeug fliegen könnte. Eigentlich schulden sie mir vierzehn Shilling im Monat.“

„Vierzehn Shilling?“ Siena lachte. „Das ist lächerlich.“

Josh warf ihr einen finsteren Blick zu. „Dann gibt es da noch Mr Humble, der sieben Pfund im Monat bezahlt, weil er das Gras auf der großen Wiese mäht, und Familie Ditchbourne, die mir den Zehnt ihres ‚Bauernhofs‘ zahlt.“

Bei dieser Aussage hob Siena den Kopf. „Was ist ein Zehnt? Ist es ein profitabler Hof?“

„Ein Zehnt ist ein Zehntel des jährlichen Einkommens“, erklärte Josh, „und da dort seit 1974 keine Landwirtschaft mehr betrieben wird: Nein, ist es nicht. Vermutlich könnte ich behaupten, dass Mr Ditchbourne mir ein Zehntel seiner Einnahmen als IT-Berater schuldet, aber das wäre wirklich verrückt, Siena. Wie hat die alte Frau so gelebt?“

Siena zuckte mit den Schultern. Keiner von ihnen hatte Großtante Agatha je kennengelernt, die ohnehin nicht ihre Großtante, sondern irgendeine noch entferntere Verwandte gewesen war. Offenbar war das Haus Joshs und Sienas Vater hinterlassen worden, als sie vor Jahren gestorben war, und dieser hatte ihm so wenig Bedeutung beigemessen, dass er den Ort nicht einmal besucht hatte. Er hatte es einfach Josh weitervererbt, aus Gründen, die sie wohl nie erfahren würden.

„Ungeklärtes Mysterium. Hör mal, warum verkaufst du das Haus nicht einfach gewinnbringend? Oder du vermietest es. Die Leute würden für ein Ferienhaus wie dieses den Höchstpreis bezahlen. Oh, wir könnten auch die Scheunen und Ställe renovieren und Jurten in den Garten stellen. Das könnte so süß werden!“

„Du sprichst schon wieder von ‚wir‘“, bemerkte Josh und stapelte die Papiere übereinander. Er ging sie noch einmal durch, um sicherzugehen, dass er nichts übersehen hatte. Die beiden symbolischen Mieten des Haus- und Gartenpersonals, welches sich nicht um Haus und Garten kümmerte, die drei baufälligen Gebäude und der Zehnt des Bauernhofs, der kein Bauernhof mehr war. Und …

„Nun, ich dachte … Josh, vielleicht …“

Moment mal, was war das? Er hatte es zuvor nicht bemerkt, was seltsam war, da er diese Papiere bereits ziemlich häufig durchgegangen war. Und es war nicht nur eine Seite, sondern es handelte sich um mehrere aneinandergeheftete Blätter mit Notizen und durchgestrichenen Wörtern und verblasster Tinte, die er nicht entziffern konnte.

‚Beldam House‘ stand auf dem obersten Blatt. Mit einer Schreibmaschine geschrieben, nicht mit einem Computer. Und daran war eine Notiz befestigt, auf der stand, dass damit ein älteres Dokument ersetzt wurde, welches auseinandergefallen war. Er warf einen Blick auf das oben stehende Datum. 1954, und das war die neuere Version?

Beldam … Hexe …

„Josh?“

Josh las sich die oberste Seite durch, las sie sich erneut durch und bemerkte nicht, dass sein Mund aufgeklappt war, bis Siena sagte: „Du siehst aus wie ein Goldfisch. Und du hörst mir nicht zu.“

Er las sich die Seite erneut durch, die Tinte war braun auf dem vergilbten Papier. „Beldam House, in der Gallows Lane, Good Winter. Eingetragen ins Mietbuch für eine Guinee vierteljährlich im Jahre … 1746? Das kann nicht stimmen.“

„Ich wusste, dass du mir nicht zugehört hast. Was ist eine Guinee?“

Josh konnte nur hilflos mit den Schultern zucken. „Hier steht, dass seitdem mehrere Versuche unternommen wurden, die Miete einzutreiben, und dass der Mietpreis an die Inflation angepasst wurde …“ Er blickte auf die Textzeilen. „Mehrfach, auch im Zuge der Dezimalisierung, und jetzt liegt der Mietpreis bei …“ Er blätterte die Seite um und entdeckte eine weitere Notiz, die hinzugefügt worden war.

Er blätterte zurück. Er las erneut.

„Josh, das ist langweilig“, sagte Siena und drehte den Kopf, als eine Durchsage ertönte, die wie Französisch klang.

„Hier steht, dass die Miete sich im Bereich von zehntausend Pfund pro Monat bewegen soll.“

Das erregte ihre Aufmerksamkeit. „Du hast gesagt, dass das Haus der alten Frau höchstens fünfzehnhundert Pfund Miete wert ist.“

„Ja. Zehn Riesen pro Monat?“ Er las die Zahlen erneut, aber die Berechnungen hätten seinem Mathelehrer einen Herzinfarkt beschert, denn der Rechenweg war nicht aufgeführt. „Das kann nicht stimmen. Es muss ein verrutschtes Komma sein.“

„Selbst ein Tausender pro Monat wäre gut, oder nicht? Für das …“ Sie wedelte mit der Hand umher. „… Dach oder was auch immer.“

„Ja.“ Josh starrte in die Ferne. Nun, eigentlich starrte er auf die Wand neben dem Ofen, an der der Putz erneuert werden musste. Warum war es in fast dreihundert Jahren niemandem gelungen, die Miete einzutreiben? Welche Versuche waren unternommen worden? Für eine so beträchtliche Summe?

„Okay“, sagte er, „ich muss dieses Haus finden.“

***

An einem Ende der Gallows Lane befand sich ein Briefkasten. Niemand fragte sich je, warum er dort stand oder zu welchem Haus er gehörte. Kürzlich hatte Essie auch einen Paketkasten daneben errichtet, da es ein Albtraum war, sich etwas von Amazon zu einem Haus liefern zu lassen, das nicht offiziell existierte.

Sie war durch den Wald nach Hause gegangen, was schneller ging als über die Straße, und auf dem gesamten Rückweg hatte ihr Kopf gepocht.

Das Taxi. Die dämonischen Herbstzeitlosen. Die Hitze vom Ende der Welt.

„Geht es dir gut?“, fragte Blessing, als Essie das Eis in den Gefrierschrank stellte. „Du siehst ein bisschen käsig aus.“

„Kopfschmerzen“, erwiderte Essie kurz angebunden. „Komische Vision.“

„Ah.“ Auch wenn Blessing wie alle Hexen gelegentlich Vorahnungen über die Zukunft hatte oder zumindest von bestimmten Ereignissen nicht überrascht war, verspürte sie keine besondere Affinität dazu. Blessing ließ Dinge erblühen und wachsen. Sie musste nie weiter als etwa neun Monate vorausdenken. „Du solltest Maude davon erzählen. Vielleicht kann sie dir helfen.“

Essie verdrehte die Augen, was ihr wehtat. Maude würde ihr nicht helfen können. Sie würde kryptische Behauptungen aufstellen und dann etwas aus Zwirn, Stahlwolle oder Essies eigenen Haaren stricken und ihr auftragen, die Maschen zu lesen, als wäre das auch nur von geringstem Nutzen für irgendjemanden.

Maude strickte die Zukunft. Blessing nährte Dinge und ließ sie reifen. Avery manifestierte Ideen, bis sie wahr wurden. Lilith … Nun, Essie versuchte nicht zu viel über Lilith nachzudenken. Die Sache war die, dass jede ein Talent hatte, dass sie auf nützliche Weise einsetzen konnte.

Außer Essie. Essie hatte eine Sache, in der sie gut war. An einem Tag im Jahr. Und die restliche Zeit über hatte sie nichts zu tun, außer zu verhindern, dass ihre Hintergrundmagie durchsickerte und so mehr Chaos anrichtete als ein Superschurke auf Speed.

Und Kälte. O ja. Sie konnte Dinge kalt machen. Sie konnte Dinge gefährlich kalt machen.

„Lass nicht zu, dass Maude meine Haare verstrickt“, sagte sie.

Sie runzelte die Stirn. Maude war in letzter Zeit ein wenig … seltsam. Ruhiger als üblich. Sie strickte noch immer andauernd, aber wenn die Muster im Garn ihr etwas verrieten, behielt sie es für sich. Sie hatte Essie seit Ewigkeiten nicht mehr gebeten, für sie ins Wettbüro zu gehen.

„Geht es Maude gut?“, fragte Essie.

Blessing runzelte leicht die Stirn. „Nun, da du es erwähnst: Gestern hat sie die Racing Post nicht angerührt“, sagte sie.

Sie tauschten einen vielsagenden Blick aus. Maude war länger hier als sie beide. Die einzige Person, die älter war als Maude, war vermutlich Prudence, und die war eigentlich schon seit dreihundert Jahren tot.

Hexen alterten, genau wie alle anderen auch. Sie neigten bloß dazu, dies viel, viel langsamer zu tun als alle anderen. Und Maude sah alt aus, was bedeuten musste, dass sie geradezu uralt war.

„Ich werde Avery bitten, ihr etwas zuzubereiten“, sagte Blessing. „Übrigens, weißt du, wer das ist?“

Sie hielt eine kleine Puppe in die Höhe. Essie wusste genau, was das war: ein Püppchen, das dafür da war, eine Person zu beschützen und zu verteidigen. Das Haus war voll von ihnen. Manche waren aus Stroh, manche aus Stoff und manche aus Wachs. Manche waren so alt, dass Essie keine Ahnung hatte, wer sie hergestellt hatte, geschweige denn, wen sie darstellten.

Wie die meisten von Blessings Püppchen war dieses aus kleinen Stofffetzen gemacht, die so zusammengenäht waren, dass sie eine grobe Ähnlichkeit mit einem Menschen aufwiesen, und dann dekoriert und gekleidet wurden, um jemanden im Speziellen darzustellen. Dieses Exemplar hatte blassblondes Haar und unter einem kurzen roten Kleid und einer Lederjacke einen runden Bauch. Das Püppchen trug kniehohe Stiefel, die Blessing einige Zeit gekostet haben mussten.

„Eine deiner Patientinnen?“, fragte Essie.

Blessing zuckte mit den Schultern. Sie untersuchte die kleine Puppe mit einem leichten Stirnrunzeln. „Nein. Ich weiß nicht, warum ich sie gemacht habe.“

Essie seufzte und rieb sich die Schläfen. Es musste etwas Unheilvolles vor sich gehen, wenn Blessing Püppchen von Leuten herstellte, die sie nicht kannte. „Nun, ich bin mir sicher, dass sie auftauchen wird. Ich werde ein Nickerchen machen.“

Essie mochte Nickerchen. Wenn man an 364 Tagen im Jahr nichts zu tun hatte, waren Nickerchen eine hilfreiche Methode, die Zeit herumzukriegen.

„Cool. Oh, jemand von irgendeiner Fensterfirma hat angerufen. Er hat gesagt, dass du um ein Angebot gebeten hast.“

Essie blieb in der Mitte der Küche stehen. „Wegen des Lochs im Dach des Wintergartens?“

Blessing zuckte mit den Schultern. „Offenbar, ja.“

Essie wartete, nur für den Fall, dass Blessing sich dafür entschuldigen würde, dass ihre Venusfliegenfallen so groß geworden waren, dass sie das verdammte Dach durchstoßen hatten, aber sie begutachtete bloß ihre Nägel, die sie erst kürzlich mit floralen Motiven verziert hatte.

Essie gab auf. „Und?“

„Und er hat gesagt, dass er heute Nachmittag in der Gegend ist und vielleicht einmal vorbeischaut“, berichtete Blessing. „Ich habe ihm gesagt, er soll anrufen, wenn er am Briefkasten ist“, ergänzte sie, bevor Essie sie daran erinnern konnte. „Ist es nicht an der Zeit, dass wir den Wahrnehmungszauber aufheben?“

Essie ging wieder in Richtung Tür. „Erstens: Wüsste überhaupt jemand, wie?“, fragte sie. „Und zweitens: nein.“

„Wer ist gestorben und hat dich zur Chefin gemacht?“, rief Blessing, als Essie an der Treppe angekommen war.

„Das ist eine komplizierte Frage, und das weißt du auch“, rief Essie zurück.

Sie ging die Treppe zur Hälfte hinauf, blieb stehen, um die Mondphasen mit den Fingern abzuzählen, und übersprang die vorletzte Stufe. Sie öffnete die Tür zu ihrem Schlafzimmer, wartete zwei Sekunden und öffnete dann die andere Tür zu ihrem Schlafzimmer. Dann ließ sie sich auf ihr Bett fallen.

In ihrem Schlafzimmer war es immer sehr kalt. Essie drückte die Hände auf ihren schmerzenden Kopf – ihre Finger waren eisig – und stöhnte leise auf. Vielleicht brütete sie etwas aus? Außer dass sie nie etwas ausbrütete. Wenn sie sich auch nur ein bisschen kränklich fühlte, reichte üblicherweise ein Teller von Averys berühmter Suppe aus. Vermutlich war es nur die Sonne. Ein letztes Hurra des Sommers, bevor die wohltuenden kühlen, dunklen Wintertage kamen und ihr endlich ein wenig Linderung verschafften.

Schlaf würde helfen. Sie konnte die Vorahnung wegträumen, sie aufschreiben, und selbst wenn das keine Hilfe sein sollte, würde zumindest der Kopfschmerz verschwinden.

Sie hatte gerade die Augen geschlossen, als sie sich daran erinnerte, dass eine Hexe nur selten etwas vorhersehen konnte, was mit ihrem eigenen Schicksal zu tun hatte.

Kapitel zwei

Essies Träume ergaben zu der Zeit, zu der sie sie erlebte, nur selten Sinn. Vor dreißig Jahren war sie aufgewacht und hatte geschrien, dass das Haus brenne und die Subjekte die Objekte retten würden. Ein paar Monate später war auf Schloss Windsor ein Feuer ausgebrochen, und gewöhnliche Leute hatten dabei geholfen, die darin befindlichen unbezahlbaren Kunstwerke in Sicherheit zu bringen.

Im Teenageralter hatte sich viel um magische Äpfel gedreht. Ihre Mutter hatte ihr gesagt, sie solle Schneewittchen vergessen und sich auf ihre Kräuterkundebücher konzentrieren, aber Essie hatte darauf beharrt, dass irgendwann jeder ein wenig Hexerei in der Tasche haben würde. Niemand hatte es verstanden, bis das iPhone auf den Markt gebracht worden war.

Einmal war sie besessen von der Zahl zwölf, der Farbe Blau und großen, gepunkteten, unheilbringenden Katzen aufgewacht – Jahre bevor Mrs Finchley aus der High Street 12 von einem zu schnell fahrenden blauen Jaguar angefahren und getötet worden war.

Jedes Mal hatte Essie versucht, die Dinge zu einer Vorahnung zusammenzusetzen, die tatsächlich von Nutzen sein konnte, und jedes Mal war sie daran gescheitert. Als sie sich an diesem Septembertag also schlafen legte, erwartete sie nicht, dass sie mit einer hilfreichen Idee wieder aufwachen würde. Das einzig Hilfreiche würde wohl das Ende ihres Kopfschmerzes sein.

Drei Stunden später schrie sie: „Der Anwalt, Sohn des Hob!“ Sie schrie so laut, dass die im Dachstuhl nistenden Fledermäuse in einer Wolke flohen.

***

Die Schatten wurden bereits länger, als Josh es zur Gallows Lane geschafft hatte. Er war sich ziemlich sicher, dass er diesen Weg schon mehrere Male entlanggegangen war, aber aus irgendeinem Grund schien er die Abzweigung nie gefunden zu haben. Er blieb immer wieder stehen, um die Leute danach zu fragen, die ihn vage in eine Richtung lenkten und Dinge sagten wie: „Oh, wissen Sie, wo einst das Star Inn war? Es ist direkt dort drüben.“

Als er schon anfing zu glauben, dass es sich um einen Witz des Notars handeln musste, entdeckte er endlich einen großen Briefkasten von der Art, wie sie die Leute in Amerika am Ende ihrer Auffahrten aufstellten, die er hier jedoch noch nie gesehen hatte. Eine Frau schaute gerade hinein.

Auf dem Schild neben dem Briefkasten stand ‚Gallows Lane‘.

„Endlich“, sagte Josh laut. Er ging hinüber und sagte: „Entschuldigen Sie, Ma’am, wissen Sie, wo sich Beldam House befindet?“

Sie richtete sich mit einem Stapel Post in der Hand auf und musterte ihn. „Sie suchen Beldam House?“, fragte sie langsam.

„Ja! Kennen Sie es?“

„Das tue ich.“ Die Sonne schien von hinten gegen sie, weshalb er ihre Gesichtszüge nicht richtig erkennen konnte. Sie trug eine Latzhose, und sie hatte … Haare. Im Grunde war alles, was er mit Sicherheit sagen konnte, dass sie Kleidung trug und Haare hatte. Und dass sie verärgert war. Das strahlte sie in Wellen aus. „Sind Sie zu Fuß unterwegs?“

„Ja.“ Josh hielt das nicht für seltsam. Alle hier gingen zu Fuß. Es war ein Dorf. Kein Ort war wirklich weit entfernt von dem anderen, und außerdem fuhr der Bus nur einmal am Tag. „Ich hatte keinen weiten Weg. Ich komme von der Brook Manor Farm.“

„Oh.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Ja, ich habe gehört, dass jemand Neues eingezogen ist. Reparieren Sie dort auch die Fenster? Das Haus soll in grauenvollem Zustand sein.“

„Ja. Es ist wirklich eine Katastrophe.“ Josh folgte ihr, als sie die Gallows Lane in einer Geschwindigkeit entlangmarschierte, die üblicherweise zu Charakteren in Serien von Aaron Sorkin gepasst hätte. Der Weg war an beiden Seiten dicht mit Bäumen bewachsen, die sich über die eingefallene Straße wölbten und sie so in einen dunkelgrünen Tunnel verwandelten. „Sie kannten die vorherige Besitzerin also nicht?“

In der plötzlichen Dunkelheit war es ihm nicht möglich, ihr genaues Alter zu bestimmen. Sie war nicht besonders alt, so viel konnte er anhand ihrer Stimme sagen. Auch nicht besonders jung. Wenn sie ihn plötzlich ausrauben sollte, wüsste er nicht, was er der Polizei über sie erzählen sollte.

„Agatha Cropley? Ein bisschen. Sie sind Amerikaner.“ Sie sprach mit vorwurfsvoller Stimme.

„Schuldig im Sinne der Anklage.“ Josh dachte darüber nach, ihr zu verraten, dass er nur halber Amerikaner war, aber er wollte seinen alten Herrn nicht häufiger ansprechen, als er musste.

„Nun, jemand muss es ja sein. Hören Sie, es tut mir leid, ich bin schlecht gelaunt. Es war wirklich ein schrecklicher Tag.“

Während sie sprach, bogen sie links auf einen Weg ab, der einen Moment zuvor noch nicht dort gewesen zu sein schien. Die lichten Bäume verdichteten sich zu einem Wald, und das Licht veränderte sich.

„Ich … ähm … Es tut mir leid, was haben Sie gesagt? Sie hatten einen schlechten Tag?“

Etwas flog schnell und geräuschlos an seinem Kopf vorbei und erschreckte ihn. Josh fürchtete, aufgeschrien zu haben.

„Verfluchte Fledermäuse!“, rief die Frau neben ihm. „Es ist zu früh für euch! Geht wieder schlafen!“

Er beobachtete fasziniert, wie die Fledermaus flatternd in den Bäumen verschwand. „Das war eine Fledermaus? Ich wusste nicht … dass es hier Fledermäuse gibt.“

„Im Dachstuhl lebt eine ganze Kolonie. Ich fürchte, ich habe sie vorhin aufgeweckt.“

„Oh. Hätten Sie das tun sollen?“

Sie seufzte. „Vermutlich nicht“, gab sie zu. „Es war nicht mit Absicht“, fügte sie verteidigend hinzu. „Ich hatte nur einen schlechten …“ Sie verstummte und durchbohrte ihn plötzlich mit ihrem Blick.

Und Josh fühlte sich eindeutig durchbohrt. Wie ein Schmetterling in einem Schaukasten.

„Wie war noch gleich Ihr Name?“, fragte sie harsch.

Ihre Augen wirkten hinter ihrer Brille besonders groß. In dem dämmrigen Licht funkelten sie wie Smaragde.

„Äh, Josh“, sagte er. „Josh Henderson.“

„Henderson.“ Sie schien das Wort ein wenig durch ihren Mund gleiten zu lassen. „Gut. Und Sie sind kein …“ Sie blickte an ihm auf und ab, beäugte seine Jeans, sein Karohemd und seine Baseballkappe und sagte: „Nein. Vergessen Sie es. Wie lautet der Name Ihres Vaters?“

„Äh“, sagte Josh und kratzte sich am Nacken. „Warum?“

Sie konnte unmöglich wissen, wer er war. Er hatte kein einziges öffentliches Profil. Selbst sein Facebook-Profilbild war eine Karikatur.

„Ist sein Name Hob? Rob? Irgendetwas in der Richtung?“

„Äh, nein. Definitiv nicht.“

Sie entspannte sich sichtlich. „Nun, willkommen in Beldam House, Josh Henderson.“

Sie machte eine ausladende Geste, und als hätte es schon immer dort gestanden, erschien am Rande seines Sichtfelds ein großes Haus. Es zeigte sich als besonders effektive Ablenkung von ihren unglaublich seltsamen Fragen.

Josh wäre nie im Leben in der Lage gewesen, Beldam House zu beschreiben. Es war groß, und wenn er dazu gedrängt worden wäre, hätte er wohl eine Beschreibung wie ‚schaurig‘ oder ‚verflucht gruselig‘ verwendet. Die Dächer waren hoch und spitz, und es gab auf jeden Fall mehrere Dächer. Verschiedenste Schornsteine. Und Türmchen. Giebelfenster, schwarze Balken und diese geneigten oberen Stockwerke, die einige der älteren Häuser in dieser Gegend hatten.

Es sah aus wie ein Märchenschloss, das von einem betrunkenen Depressiven gezeichnet worden war.

Krähen versammelten sich auf dem Dach und den Bäumen neben dem Haus. Er hörte einen Hund bellen – ein lautes, tiefes Bellen –, und dann knurrte etwas, und Joshs Nackenhaare stellten sich auf.

„Marley!“, blaffte die Frau. „Hör auf damit. Es tut mir leid, die Tiere gehen sich im Moment alle gegenseitig an die Gurgel. Die Fledermäuse haben die Papageien aufgeweckt, und nun kommt niemand von uns auch nur eine Minute zur Ruhe. Ich sage Ihnen …“ Sie führte ihn den gepflasterten Weg zur Eingangstür entlang. „… das Abendessen wird heute eine absolute Katastrophe werden.“

„M-hm“, erwiderte Josh, während er ihr eine unnötig lange Treppe hoch zur Eingangstür folgte. Es war eine dieser massiven, dicken Türen aus dunklem Eichenholz, die Art, die er zuvor nur an mittelalterlichen Kirchen gesehen hatte. Das Holz war so fest wie Stein und mit Eisen beschlagen.

An einem großen Haken neben der Tür hing ein Kessel an einer Kette. Das rostige Metall knarzte und stöhnte leise, während der Kessel im Wind hin und her schwang.

Mit einer Hand auf der wuchtigen Türklinke hielt die Frau inne. „Es ist nicht immer so“, sagte sie. „Manchmal ist es ziemlich schön. Sie haben uns nur an einem …“

„… an einem schlechten Tag erwischt. Richtig. Hören Sie, Ms …“

Sie musterte ihn erneut auf eine Art, die ihm nicht gefiel. Vor ihm stand eine Frau, wie sie wohl nur in England vorkamen. Sie konnte unglaublich direkt sein, ohne ein einziges Wort zu sagen, und sie hetzte herum und erledigte Dinge, so als würde die Welt enden, wenn sie es nicht täte. Freundlich, aber nicht in übertriebener Weise, und mit nur begrenzter Geduld ausgestattet. Und sie verfügte über eine erschreckende Bandbreite an Gesichtsausdrücken, die genauso subtil wie intensiv waren und die die Eier eines Mannes auf dreißig Meter Distanz gefrieren lassen konnten.

Englische Frauen waren nicht wie amerikanische Frauen. Josh wusste nicht, ob sie das irgendwie weniger beängstigend machte.

Aber sie war eine Frau, die sich von Maya sehr unterschied. Das zumindest war vollkommen offensichtlich. Und er konnte nicht jeder Frau mit nur einem Hauch von Selbstbewusstsein misstrauen, oder?

Immerhin erkannte er sie nun deutlicher. Neben der Tür stand eine Laterne, die ziemlich viel Licht abgab. Die Frau war durchschnittlich groß, füllte ihre Latzhose gut aus und hatte rote Haare, die offenbar nicht in den Zöpfen bleiben wollten, zu denen sie sie geflochten hatte. Brille. Blaue Augen.

Moment mal, blau?

„Essie“, sagte sie. „Sie können mich Essie nennen.“

Josh blinzelte. „Essie?“

„Familientradition“, sagte sie knapp. „Kommen Sie.“

Sie schob die massive Tür auf, als bestünde sie aus Pappe, und Josh nahm all seinen Mut zusammen und folgte ihr hinein.

In ein Irrenhaus.

„Ignorieren Sie die Papageien, sie sind bloß verärgert“, rief sie. „Sie hören auf, wenn sie keine Aufmerksamkeit bekommen.“

Josh blickte sich um. Er sah …

… eine prächtig geschwungene Treppe, die sich um einen offenen Kamin herumwand, düstere, verstaubte Wandteppiche und im Schatten Geweihe und Hörner. Wankende Türme aus Möbeln, Schränken und Büchern sowie Uhren und Glashauben mit Dingen darunter, die er sich nur ungern aus der Nähe ansehen wollte. Kleine Türen in der Wandverkleidung, aus denen seltsame Geräusche drangen. Ein lebensecht wirkender Baum, der auf halber Treppe nach oben wuchs und in dem mehrere Fledermäuse hingen, beobachtet von einer großen getigerten Katze mit einer berechnenden Miene und einer Ziege, die am Laub knabberte …

… aber keine Papageien.

Er hörte sie jedoch in der Kakophonie aus Geräuschen von Katzen und Fledermäusen und tickenden Uhren und einer Ziege – einer verdammten Ziege –, die die Eingangshalle erfüllte.

„Du lieber …“, murmelte Essie. „Ich verlasse das Haus für fünf Minuten und … Bob! Lass die Fledermäuse in Ruhe. Geh und belästige die Mäuse in der Spülküche.“

Sie zeigte streng in eine Richtung, und die Katze warf ihr einen gekränkten Blick zu. Zu Joshs Erstaunen sprang sie dann von der Treppe auf einen Stuhl und von dort aus durch eine halb geöffnete Tür.

„Haben Sie der Katze gerade gesagt, was sie –“, begann er.

„Und du! Hör auf, die Weide zu fressen. Du bekommst mehr als genug Futter. Du bist zu gierig. Verschwinde. Verschwinde, sonst koche ich dich mit Reis und Erbsen.“

Die Ziege richtete ihre fremdartigen Augen auf sie und meckerte.

„Reis und Erbsen“, wiederholte Essie mit warnender Stimme und in die Hüfte gestemmten Händen. Ihr Haar leuchtete im Licht des Feuers rot.

Eine Frau schlenderte aus einer Tür, die Josh zuvor noch nicht bemerkt hatte, und sagte: „Essie, schrei sie nicht an. Sie ist sehr sensibel.“

Die Ziege starrte Josh und die Frauen auf diese irre, berechnende, für Ziegen typische Art an. Josh trat einen Schritt zurück.

Essie schnaubte. „Das ist keine Entschuldigung dafür, meine Weide zu fressen.“

„Es ist nicht deine Weide, es ist unsere Weide“, sagte die andere Frau gelangweilt.

„Sie frisst die Blätter.“

„Vielleicht hat sie Kopfschmerzen.“ Die andere Frau schlenderte die Treppe hinauf und streckte eine Hand aus, um die Ziege zu streicheln, die aufgehört hatte zu knabbern und sich stattdessen wie eine Katze oder ein Hund an sie schmiegte. Die Frau summte dem Tier beruhigende Laute zu.

Josh konnte sie nur anstarren. Sie hatte überall dort Kurven, wo eine Frau sie haben sollte, und über ihren Rücken fielen lange geflochtene Zöpfe. Lange Wimpern, rote Lippen und die Sorte schwingender Hüfte, der ein Mann über eine Klippe folgen würde.

Ein Geräusch lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf Essie, die mit den Fingern vor ihm schnipste. Sie blickte ihn schief an. „Möchten Sie Ihre Augäpfel wiederhaben?“ Sie tat so, als würde sie sie ihm entgegenhalten.

Josh spürte, wie seine Wangen heiß wurden. Er hatte gestarrt.

„Das ist Blessing. Machen Sie sich keine Sorgen. Sie hat auf jeden diesen Effekt.“

Blessings Augen waren groß und wunderschön. Sie sagte: „Nur auf die Gutaussehenden“, und Josh schluckte.

„Lass ihn in Ruhe‚ Bless. Sonst schaffen wir gar nichts.“

Blessing verdrehte die Augen. „Ist ja gut. Komm mit, Zicklein. Tante Essie ist schlecht gelaunt.“ Sie ging mit wiegenden Schritten davon, und die Ziege folgte ihr gehorsam. Josh war körperlich nicht dazu in der Lage, sich davon abzuhalten, sie anzuschauen.

„Ich bin nicht schlecht gelaunt, ich lebe einfach nur in einem Irrenhaus“, murmelte Essie. Und dann sagte sie zu Josh: „Folgen Sie mir und kommen Sie nicht vom Kurs ab. Das Haus ist heute unberechenbar.“

„Entschuldigung, was?“, fragte Josh und beeilte sich, mit ihr Schritt zu halten, als sie die Treppe hocheilte. „Das Haus ist unberechenbar?“

„Ja. Es reagiert auf unsere Stimmungen. Die Stimmung, mit der ich aufgewacht bin, hat alles andere beeinflusst. Normalerweise …“ Sie wandte sich auf der Hälfte der Treppe nach links, wo es, als Josh unten gestanden hatte, noch keine linke Abzweigung gegeben hatte. „… können wir mittwochs durch den Salon gehen. Aber heute scheint es das nicht zu wollen. Ich glaube, die Hunde kämpfen darin.“ Sie legte den Kopf schief. „Oder vielleicht vögeln sie auch. Blessing verhält sich immer so, wenn das Haus sich so aufspielt. Sie sorgt für Frieden und Liebe, indem sie all die Tiere ganz wuschig macht.“ Sie klopfte an eine große Holztür. „Schluss damit, ihr zwei!“ An Josh gerichtet fügte sie hinzu: „Sie wollen nicht zufällig einen Welpen, oder? Ich habe versucht, die kleinen Scheißer kastrieren zu lassen, aber das hat keinerlei Effekt gezeigt.“

„Einen Welpen? Ähm, nein, ich habe …“ Josh blickte sich in dem Flur um, in dem sie sich nun befanden. „… äh, genug zu tun. Das ist ja ein verdammt großes Gemälde.“

Es war riesig, der obere Rand des Rahmens war in der Dunkelheit kaum zu erkennen. Es füllte eine ganze Wand neben der Treppe aus und zeigte eine Frau in historischem Kleid, die sich im Sitzen so nach vorn beugte, als wollte sie den Betrachter herausfordern. Sie hatte rote Haare, die ihr über eine Schulter fielen, und einen sehr direkten Blick.

„O ja.“ Essie trat neben ihn. „Wann, glauben Sie, war das? Vielleicht in der Regency-Zeit?“

Josh konnte es nicht beurteilen, aber das Mieder mit der hoch sitzenden Taille zeigte einen Hauch von Bridgerton. Die Frau trug es mit einer roten Schärpe und einer passenden roten Schleife um den Hals, und in Josh stieg eine Erinnerung an eine Geschichtsstunde auf.

„Nein, warten Sie“, sagte er und zeigte auf den Hintergrund. „Das ist eine Guillotine. Es muss zu Zeiten der Französischen Revolution gewesen sein. Diese Kropfbänder trugen die Frauen, um ihre Hinrichtung darzustellen, oder nicht?“

Essie schielte darauf und seufzte. „Wenn Sie das sagen“, erwiderte sie bedrückt. „Vermutlich versucht sie Robespierre aufzuhalten.“

Das war eine seltsame Aussage. Josh blickte die gemalte Frau stirnrunzelnd an und fragte: „Sie wissen nicht, wer sie ist?“

Essie seufzte schwer. „Oh, ich weiß es genau. À bientôt, Mutter.“

Mutter? Josh starrte einen Moment lang geradeaus und verstand dann, was sie meinte. Ihre Mutter war vermutlich Schauspielerin. Das erklärte wirklich eine Menge. Die Exzentrizität des Haushalts. Vielleicht handelte es sich bei den Tieren um Showtiere?

Er hörte noch immer krächzende Papageien. Bisher hatte sich jedoch keiner von ihnen gezeigt. Er wandte sich von dem Gemälde der revolutionären Frau ab und folgte Essie den Flur entlang. Er war breit und lang, abgesehen von der Stelle, an der sich zwei Ecken beinahe in der Mitte trafen, und der Boden war mal nach oben und dann wieder nach unten geneigt. Außerdem gab es Stufen in offenbar willkürlicher Anordnung.

„Kommen Sie, hier entlang …“ Sie blieb mit der Hand auf der Klinke einer blauen Tür stehen. „Warten Sie, ist heute Mittwoch?“

„Donnerstag“, sagte Josh.

„Tatsächlich? Es ist zunehmender Sichelmond. Aber es ist nicht so, als würden wir wirklich etwas anfangen, oder? Kommen Sie, vermutlich ist es sicher.“

Nach dieser verwirrenden Aussage öffnete sie die blaue Tür, und ein plötzlicher Wirbelsturm wehte Bücher und Staub und Papiere in ihre Gesichter.

„Dann ist es nicht sicher!“, rief sie und kämpfte mit der Tür, um sie wieder zu schließen. Josh zog ebenfalls daran und stemmte sich kräftig gegen den Wind. Es war nicht kalt, denn der Raum schien vollständig umschlossen zu sein, nur … vollständig umschlossen um einen Wirbelsturm.

Die Tür schlug plötzlich zu, und sie landeten beide krachend auf dem Boden. Aus dem Raum hinter der Tür drangen keinerlei Geräusche eines Mini-Unwetters zu ihnen heraus.

„Was zur Hölle war das?“, fragte Josh und zog ein Stück Papier aus seinen Haaren. ‚… Molch weniger wirksam als Schlangenkopf …‘ stand in krakeliger Handschrift darauf.

„Die Bibliothek“, sagte Essie stirnrunzelnd. „Sind Sie sicher, dass heute nicht Mittwoch ist?“

Josh kramte sein Handy aus seiner Hosentasche und zeigte ihr Uhrzeit und Datum.

„Hm. Nun, Avery hat angekündigt, einen Sturm heraufzubeschwören …“

Sie stand auf und zog ihn mit überraschender Leichtigkeit ebenfalls wieder auf die Beine. „Kommen Sie. Wir sind fast da.“

„Sie hören sich an, als wäre es eine Wanderung durch die Sahara.“

Essie zuckte mit den Schultern. „Manchmal, bei Wolfsmond.“ Sie richtete sich auf und spähte in den Flur. Er wand und krümmte sich, und von diesem Blickwinkel aus sah es aus, als wäre er tatsächlich sehr kurz. Sie ging langsam auf verschiedene Türen zu. „Irgendwo hier gibt es eine Abkürzung …“

„Wohin?“ Josh sah eine Tür mit einem coolen Bild einer Eieruhr darauf und streckte die Hand aus, um die Klinke herunterzudrücken. Essie packte sein Handgelenk.

Nicht öffnen! Sie führt direkt ins achtzehnte Jahrhundert.“

„Haha“, sagte er, jedoch wenig überzeugend. Das war ein wirklich seltsamer Streich, den sie ihm da spielte. „Ähm, wohin gehen wir?“

Sie öffnete eine Tür, und Josh zuckte zusammen. Aber es war nur ein Schrank mit Handtüchern und Laken. „In den Wintergarten natürlich.“ Sie öffnete eine weitere Tür. Ein gemütlicher Leseraum mit einem offenen Kamin und einem Sessel. Eine rauchgraue Katze hatte sich vor dem Feuer zusammengerollt. „Oh, da bist du ja, Tomkin.“ Essie wollte die Tür schließen, öffnete sie dann aber erneut und fragte: „Der Wirbelsturm?“

Tomkin fauchte.

Essie nickte niedergeschlagen. „Ja, das habe ich mir schon gedacht. Wir müssen Avery wirklich davon abhalten, in Gammer Fidgets Kochbücher zu schauen. Zumindest im Haus.“

Sie schloss die Tür und versuchte es bei einer anderen.

„Süß“, sagte Josh.

„Was?“

Er wedelte mit der Hand. „Die Sache mit der sprechenden Katze.“ Ganz zu schweigen von dem Wirbelsturm. Vielleicht traten sie als Magier auf oder etwas in der Art.

Essie blickte ihn geduldig an. „Katzen sprechen nicht.“

„Nein, natürlich nicht, aber Sie haben sich mit ihr unterhalten. Das war süß.“

Essie hielt mit der Hand auf der Klinke einer salbeigrün lackierten Tür inne. „Tomkin“, sagte sie, „ist nicht süß. Tomkin hat einmal eine Todesfee in die Flucht geschlagen, indem er zurückgeschrien hat.“ Sie legte den Kopf schief. „Sie tat mir wirklich ein bisschen leid. Es ist nicht die Schuld einer Todesfee, wenn jemand stirbt. Sie ist nur die Warnsirene.“

„Richtig“, sagte Josh, weil er nicht wusste, was er sonst sagen sollte.

Sie öffnete ein wenig verhalten noch eine Tür und sagte: „Ah! Erfolg.“

Hinter der Tür zeigte sich eine geschwungene Wendeltreppe aus kunstvoll verziertem Eisen. Sie sah nicht so aus, als würde sie Tomkins Gewicht tragen können, geschweige denn ihres.

„Kommen Sie“, sagte Essie und machte sich auf den Weg nach oben.

Essie war – er versuchte es möglichst höflich zu verpacken – eine solide gebaute Frau. Und die Treppe schien ihr Gewicht ohne Probleme auszuhalten. Sie knarzte oder ächzte nicht.

Er stellte vorsichtig einen Fuß auf die unterste Stufe. Sie hielt. Nichts schwankte.

Josh blickte die Treppe hinauf. Sie war eigentlich ein Schrank, in den eine Treppe hineingequetscht worden war, und von ganz oben drang Licht hinein.

„Den Mutigen gehört die Welt“, sagte er zu sich selbst und folgte Essie nach oben.

Was vor ihm auftauchte, war ein Dschungel, von dem jeder Botaniker begeistert gewesen wäre. Um die Treppe herum und in jede Richtung, in die er blickte, erstreckte sich die grüne Üppigkeit. Jede Abstufung von Grün traf auf seine Netzhaut, glänzende Blätter pulsierten nur so vor Gesundheit und Lebendigkeit. Grüne Stängel schossen in die Höhe, gekrönt von prächtigen Blüten in Dunkel- und Karmesinrot.

Josh blinzelte Schweiß aus den Augen, auch wenn es in dem Raum nicht besonders warm war. Es herrschte einfach nur eine unglaubliche sexuelle Energie.

„Sie sollten froh sein, dass kein Frühling ist. Versuchen Sie eine hiervon.“ Essie reichte ihm eine Art trockene Waffel. „Avery hat sie vor einer Weile gebacken, als sie in einer schrecklichen Stimmung war, und sie zu essen, scheint alles ein wenig zu dämpfen.“

Josh biss hinein. Es war, als hätte jemand Kräcker aus purer Langeweile hergestellt. Immerhin schien das Gebäck seine Libido wieder unter Kontrolle zu bringen.

„Danke. Liegt hier … äh … liegt hier irgendeine Art Pheromon in der Luft oder …“

„Nein, das ist nur Blessing. Alles, was sich vervielfachen kann, vervielfacht sich auch. Die Fliegenfallen sind vollkommen außer Kontrolle geraten, und wir hatten beinahe eine Situation wie in Der kleine Horrorladen. Ich habe ehrlich gedacht, eine von ihnen würde Misty fressen, aber sie hat ihre Krallen eingesetzt und es rausgeschafft. Wie Katzen es nun mal tun. Ich musste sie eine Woche lang mit Räucherlachs füttern, damit sie das Erlebnis überwindet. Kommen Sie. Fassen Sie nichts an. Einige dieser Pflanzen sind gefährlich.“

Josh folgte ihr einen schmalen Weg entlang, und unter seinen Füßen knirschte feuchter Kies. Sie schienen in einem riesigen Dachgewächshaus zu sein, das viel größer war, als es von der Außenansicht des Hauses möglich erschien. Er war sich sicher, dass irgendwie mit Spiegeln gearbeitet werden musste.

In regelmäßigen Abständen gab es Laternenmaste und hängende Pendelleuchten, die alle wunderschön aus buntem Glas hergestellt waren wie Tiffanylampen. Sie hatten die Form von Papageien.

Papageien, die mit ihren Glasflügeln flatterten, ihre Glasschnäbel öffneten und krächzten: „Anwalt, Anwalt! Sohn des Hob! Sohn des Hob!“

„Das sind ja pfiffige … äh … Roboter“, sagte er und stolperte leicht, als er beobachtete, wie einer der Glasvögel sich putzte.

„Vorsicht.“ Essie ergriff seinen Arm. „Der Sonnentau ist besonders aktiv.“

Josh blickte nach unten und sah, dass der Ärmel seines Hemdes mit etwas Klebrigem bedeckt war. Neben ihm zog eine Pflanze eine lange, gewundene Ranke zurück, die mit kleinen Perlen irgendeiner im Licht glitzernden Flüssigkeit benetzt war. Während er sie anstarrte, schlängelte sie sich ihm verführerisch entgegen.

Eine Pflanze versucht mich zu verführen.

Vielleicht war er high. Vielleicht war in diesem Kamin unten irgendetwas verbrannt worden, wovon er high geworden war. Das erklärte eventuell die sprechenden Lampenschirme und die sexy fleischfressenden Pflanzen.

„Dieser Ort ist … gefährlich“, sagte er, und es klang etwas unzureichend.

„Ja, machen Sie sich keine Sorgen. Ich besorge Ihnen ein Amulett oder so etwas, damit Sie nicht von einer Pflanze verführt werden. Passen Sie besonders auf die Fliegenfallen auf.“ Sie blieb vor mehreren großen, weit geöffneten Fangblättern stehen. Sie sahen einladend aus, so als könnte er einfach in eines hineinklettern und ein Nickerchen darin machen – bis er bemerkte, dass sie mit Stacheln übersät und ihre Kanten mit Zähnen besetzt waren und dass ihr süßlicher Duft von der klebrigen Flüssigkeit darin ausging.

„Mein Mitbewohner im College hatte eine Venusfliegenfalle“, erzählte Josh gedankenverloren. „Sie zersetzen ihre Beute und trinken sie.“

„Ja“, sagte Essie schnell. „Nur tun sie das mit Fliegen, und diese hier könnte vermutlich einen Menschen verspeisen. Über mehrere Tage. Sie würden sich schlafen legen, und wenn Sie wieder aufwachen, hätten sich Ihre Beine aufgelöst. Nun. Blessing hat sie ein wenig zurückgeschnitten, und es ist beinahe an der Zeit, dass sie in Winterruhe gehen, aber sehen Sie das Problem, das sie verursacht haben? Hier oben. Das sorgt wirklich für chronische Zugluft in meinem Badezimmer, das kann ich Ihnen sagen.“

Josh folgte ihrem Blick an die hohe, kunstvoll gewölbte Glasdecke. Es war weniger ein Wintergarten als ein königliches Gewächshaus.

Mehrere der Scheiben waren gesprungen, und in zweien von ihnen befanden sich große Löcher. Außerdem war das sie verbindende Metall verbogen. Kalte Luft wehte herein, gemeinsam mit einem leichten Duft von Holzrauch.

„Sehen Sie das Problem? Sie sind gewölbt. Ich vermute, es handelt sich dabei um eine Aufgabe für einen Profi.“

„Vermutlich tut es das“, bestätigte Josh.

„Ist es etwas, was Sie erledigen können? Oder kennen Sie jemanden, der das könnte?“

Er runzelte die Stirn. Er blickte Essie an, dann das zerbrochene Glas und dann die Pflanzen. Dann wieder Essie.

„Sie möchten, dass ich das Glas repariere?“, fragte er langsam. Er trug Jeans und ein Karohemd. Vermutlich hätte er für einen Handwerker gehalten werden können, aber …

„Ja.“

„Äh.“ Er kratzte sich wieder am Nacken. „Nun, das ist jetzt unangenehm.“

Sie blickte ihn mit verengten Augen an. „Warum ist es unangenehm?“

„Weil … Hören Sie, ich weiß, dass es die Pflicht eines Vermieters ist, Dinge am Haus zu reparieren, aber das hängt vom Mietvertrag ab. Und ich weiß nicht einmal, wo ich danach suchen sollte, da er vermutlich auf Pergament geschrieben wurde, haha …“

Er merkte, dass er unter dem Druck ihres Starrens abschweifte. Na ja, mittlerweile war es mehr als nur ein finsteres Starren. Es war ein Starren, das sich vielmehr in eine Art durchbohrenden Blick verwandelt hatte. Er trat einen Schritt zurück.

„Aber … äh … die Sache ist die: Es gibt keine wirklichen … ähm … Aufzeichnungen darüber, dass Sie … äh … Ihre Miete bezahlen.“

Essies Augen verwandelten sich in Splitter hellgrauer Kieselsteine.

„Miete?“, fragte sie.

„Seit dreihundert Jahren. Fast.“

„Miete“, wiederholte sie.

Eine lastende Stille legte sich über den Dachwintergarten, durch den die Zugluft fegte. Oder vielleicht war auch die Klimaanlage angegangen oder so etwas, denn Josh zitterte leicht.

„Wer sind Sie?“, fragte Essie, und sie schien irgendwie größer geworden zu sein, ihr Gesicht erschien härter, und Josh wurde plötzlich daran erinnert, dass er von riesigen Pflanzen umgeben war, die in der Lage waren, Menschen zu verspeisen.

„Äh“, sagte er und schluckte. „Ich bin Josh Henderson. Ich bin gerade auf die Brook Manor Farm gezogen. Und ich … äh … Offenbar bin ich Ihr Vermieter.“