Kapitel Vier
Ich weiß, dass ich eigentlich schlafen sollte. Der Morgen wird viel zu schnell kommen und es fällt mir ohnehin bereits schwer genug, aufzustehen. Aber ich kann nicht ins Bett gehen, nachdem ich so viel geschwitzt habe. Ich brauche eine kalte Dusche, um den salzigen Film abzuspülen, der mich wie eine Schlangenhaut umgibt.
Ich ziehe den Duschvorhang zur Seite und drehe den Hahn auf. Doch es kommt kein Wasser. Ich drehe den Hahn zu und erneut auf, als könnte das einen Unterschied machen, doch es bleibt trocken. Ich zahle hier keine Nebenkosten. Dadurch kann ich mir alleine eine Wohnung leisten. Doch es würde mich nicht im Geringsten überraschen, wenn Hans, der Vermieter, vergessen hat, die Rechnung zu bezahlen. Sein Name erinnerte mich immer an eine Figur aus Disney. Aber mit seinem fettigen, langen, grauen Haar und den vergilbten Zähnen wäre er definitiv der Bösewicht.
Was soll ich jetzt bitte machen? Meine Haut fühlt sich durch den getrockneten Schweiß eng an und ich fühle mich eklig. Ich begebe mich in die Küche und versuche es an der Spüle, aber auch hier kommt nichts. Ich öffne den Kühlschrank und nehme mir eine Flasche Wasser. Ich schnappe mir einen Waschlappen aus dem Schrank, benetze ihn mit dem Wasser aus der Flasche und wische mich in der Küche notdürftig ab.
Mir brennen die Augen vor Scham, auch wenn mich hier niemand beobachtet. Wie konnte ich zulassen, dass mein Leben so aussieht?
Ich lege mich ins Bett, schnappe mir mein Handy und gebe erneut Theos Namen ein. Als es nichts Neues gibt, suche ich auf allen möglichen Social-Media-Plattformen nach seinem Namen. Ich habe das alles schon mal gemacht. Natürlich. Aber es ist eine Art zwanghafter Tick. Ich kann nicht anders, als es immer wieder zu tun.
Sobald ich sicher bin, dass es nichts Neues zu finden gibt, lege ich mein Handy auf den Nachttisch und drehe mich auf den Rücken. Ich schließe die Augen und lausche dem dumpfen Tosen der Stadt, das durch die schlecht isolierten Wände dringt. Ich empfinde es als tröstlich, dass immer alles in Bewegung ist und ständig Geräusche zu hören sind. Sie füllen die Stille mit Leben. Zum Klang entfernter Sirenen schlafe ich ein.
***
Am nächsten Morgen stehe ich früh auf, um mich für die Arbeit fertigzumachen. Das Wasser ist immer noch aus und meine Haare sind fettig, also binde ich sie mir zu einem glatten Pferdeschwanz zusammen. Ich schminke mich und ziehe meine beste Jeans an, die ich normalerweise nicht zur Arbeit trage, damit ich sie mir nicht ruiniere.
Heute werde ich Theo nach seiner Nummer fragen. Wenn er vorbeikommt.
Trotz mangelnder Dusche und obwohl ich nur wenig Schlaf abbekommen habe, sprühe ich vor Energie. Am Ende des Tages könnte ich ein Date mit Theo ausgemacht haben.
Heute ist Jess hinter dem Tresen meine Kollegin. Mir ist endlich wieder ihr Name eingefallen. Mit gepressten Lippen schenkt sie mir ein flüchtiges Lächeln und nickt zur Begrüßung, als ich den vorderen Bereich des Cafés betrete. Ich erwidere das Lächeln und helfe ihr, alles vorzubereiten. Es gibt nicht viel zu tun. Das Café öffnet genau zu meinem Schichtbeginn, also ist beinahe alles bereits erledigt.
Die Stunden ziehen sich und ich behalte Tür und Uhr im Auge. Bisher ist Theo jedes Mal am späten Vormittag vorbeigekommen. Ich frage mich, ob er zu der Zeit eine Pause zwischen den Vorlesungen an der Universität hat. Um Punkt elf Uhr beginnt mein Herz zu rasen. Jeden Moment ist es so weit.
Ich versuche, ruhig zu bleiben, aber ich tigere dabei auf der Suche nach irgendeiner Ablenkung in dem beengten Raum hinter dem Tresen umher. Was, wenn ich es vermassele? Was, wenn ich stottere oder zu enthusiastisch wirke? Was, wenn ich etwas zwischen meinen Zähnen habe? Ich fahre mir mit der Zunge über die Zähne, in der Hoffnung, alles zu entfernen, was sich dort befinden könnte. Aber ich habe heute noch nichts gegessen, also sollte alles in Ordnung sein.
Die Tür geht auf und ich atme tief ein. Eine kleine blonde Frau betritt das Café. Ich lasse die Schultern hängen, doch dann sehe ich Theo hinter ihr und richte mich auf, wobei sich bereits ein Lächeln auf meinen Lippen breit macht. Die Frau kommt zuerst an den Tresen, also mache ich meinen Job und frage sie, was es sein darf.
„Einen kleinen Latte mit Vanille, bitte.“
„Klar. Welche Milch hätten Sie gern?“
„Einfach Vollmilch.“
Wow, ich wünschte beinahe, Donna wäre hier, um die erste Bestellung seit Ewigkeiten mit Vollmilch zu erleben. „Alles klar. Sonst noch etwas?“
„Oh, und einmal Dark Roast in Medium. Schwarz.“ Sie dreht sich um und wirft Theo einen Blick zu. Er lächelt sie an. Mir zieht sich der Magen zusammen.
„Das macht dann 15,53 Dollar“, verkünde ich mit einem Kloß im Hals.
Sie reicht mir ihre Karte und ich fahre mit dem Daumen über die Prägung ihres Namens. Astrid Connor.
Könnte sie eine Verwandte sein?
Ich ziehe ihre Karte durch.
Eine Schwester vielleicht?
Ich gebe ihr die Karte zurück. Sie nimmt sie mit der linken Hand entgegen. Ein großer Goldring mit weißem Diamanten starrt mich von ihrem Ringfinger an.
Eine Schwester, die verheiratet ist, aber ihren Nachnamen behalten hat?
Doch als ich Theo ansehe, weicht er meinem Blick aus und sieht stattdessen an ihr herab, seine Hand auf ihrem Rücken, und damit steht für mich fest, dass sie seine Frau ist.
Ich bin zu fassungslos, um etwas zu sagen. Um seiner schönen, zierlichen Frau gegenüber zu erwähnen, dass ihr Mann gerne mit der Barista flirtet, wenn sie nicht dabei ist. Um Theo zu fragen, um wie viel Prozent sich sein Tag heute verbessert hat. Die Worte bleiben mir im Hals stecken, heruntergezogen durch mein schweres Herz.
Jess stellt die Kaffeebecher auf den Tresen und wünscht den beiden einen schönen Tag, doch ich will nicht, dass sie einen schönen Tag haben. Ich will, dass sie direkt vor dem Café von einem Bus überfahren werden, damit ich es mit ansehen kann. Sie wenden sich ab, um zu gehen, und weil ich nicht wegschauen kann, sehe ich, wie Theo sich zu mir umdreht. Als er sieht, dass ich ihn ansehe, zwinkert er.
Mir bleibt der Mund offen stehen. Die Tür fällt hinter ihm zu und ich spüre Jess Augen auf mir, aber zum Glück sagt sie nichts.
Theo ist verheiratet.
Ich will wegrennen. Auf die Toilette, um mich dort zu verstecken. Oder nach Hause, um zu weinen. Doch ich stecke hinter diesem Tresen fest und verschränke die Arme vor dem Bauch. Wie konnte ich nur so dumm sein? Natürlich hat Theo jemanden. Und sie ist wunderschön. Im Vergleich dazu bin ich Abschaum. Es war albern von mir zu meinen, ich hätte eine Chance bei ihm.
Aber er hat mit mir geflirtet. Er hat mir gerade zugezwinkert, um Himmels willen. Was heißt das? Dass er auf der Suche nach einer Affäre ist? Dass er eine unglückliche Ehe führt? Sie sahen nicht unglücklich aus. Aber er hat sich nach mir umgesehen. Er hat sich nach mir umgesehen und gezwinkert.
Die Zeit zieht sich ewig hin und ich funktioniere auf Autopilot. Ich höre nur gerade genug zu, um die Bestellungen einzutippen und lasse Jess den Rest machen. Mehrmals gehe ich die Begegnung mit Theo und seiner Frau noch einmal durch. Immer und immer wieder wiederhole ich sie in meinem Kopf und frage mich, was das alles heißen soll.
Vielleicht hat es gar nichts zu bedeuten. Vielleicht denke ich zu viel darüber nach. Aber ich kann es nicht lassen.
Ich konnte nicht umhin zu bemerken, wie schön ihr Ring war. Wie teuer ihr schwarzes, fließendes Kleid aussah.
Theo ist der Mann meiner Träume. Er ist genau das, wonach ich schon immer gesucht habe. Mit ihm wäre ich nicht mehr allein. Erdrückend arm wäre ich auch nicht mehr.
Ich werde aus den Gedanken gerissen, als die Tür aufgeht. Ich positioniere mich an der Kasse. Doch es ist nur Jackson, der Besitzer. Ich unterdrücke den Drang, die Nase zu rümpfen. Er ist mir unheimlich. Er verschwindet durch die Tür in den hinteren Bereich, ohne Jess und mich auch nur eines Wortes zu würdigen.
Einen Moment später ertönt seine Stimme hinter mir und ich zucke zusammen. „Laura, kann ich dich kurz in meinem Büro sprechen?“
„Äh … ja. Klar.“ Ich folge ihm nach hinten. Ich hasse es im Hinterzimmer. Der Kontrast zum Café selbst ist stark. Statt altem Holz und natürlichem Licht gibt es hier Linoleum und Oberlichter in einem kränklichen Gelbton.
Vor Nervosität flattern mir Schmetterlinge wie wild im Bauch herum und ich muss würgen und gegen den Drang ankämpfen, mich zu übergeben. Ich setze mich auf einen schwarzen Klappstuhl, während er sich mir gegenüber an seinen Schreibtisch zwängt. Geht es um den Tag, an dem Brice vorbeikam und ich auf Toilette war?
Jackson atmet aus und ich starre die Schweißperlen an, die sich auf seiner rosa Stirn bilden. „Hören Sie, Laura …“ Ich hasse es, wenn Leute das sagen. Sie wissen doch, dass ich zuhöre. Sie brauchen mir keine Anweisungen zu geben. „Wissen Sie, in letzter Zeit wurde es knapp mit der Menge an Stunden, die zu vergeben sind. Zurzeit ist einfach nicht so viel los, wie zu Beginn des Jahres.“
Ich nicke und erinnere mich an Donnas Bemerkungen darüber, wie wenig in letzter Zeit los war.
„Na ja, die Geschäftsleitung hat beschlossen, dass es nicht fair ist, dass die alteingesessenen Angestellten während der Flaute ihre Stunden einbüßen. Deshalb müssen wir Sie leider entlassen.“
Sämtliche Schmetterlinge kippen tot um und plumpsen mir in die Magengrube. Wer zum Teufel ist die Geschäftsleitung? Jackson gehört doch der Laden. Meine Rippen scheinen sich eng um mein Herz zu schließen, als ich den Mund zum Sprechen öffne. „Was?“
Jackson wendet den Blick ab. „Wir haben die Stunden einfach nicht.“
„Ich arbeite seit drei Jahren hier. Können Sie nicht einfach Stunden kürzen?“
Er schüttelt den Kopf. „Das wäre nicht fair …“
„Aber es ist fair, mich zu feuern?“
Er gibt einen lauten Seufzer von sich. „Ihre Leistung war in letzter Zeit nicht besonders gut. Wissen Sie, Brice hat mir von dem Vorfall neulich erzählt.“
„Dem Vorfall? Sie meinen, als ich auf Toilette gegangen bin?“
„Sie waren lange weg und haben den Tresen unbeaufsichtigt gelassen.“
„Lange genug, um auf Toilette zu gehen! Donna macht alle fünfzehn Minuten Raucherpause. Feuern Sie doch sie!“
„Sie können jetzt gehen. Wir haben Ihre Adresse in den Vertragsdokumenten. Wir schicken Ihnen den letzten Scheck zu.“
Ich nicke und kämpfe gegen Tränen an. Es gibt nichts mehr zu sagen. Er hat sich bereits entschieden. Ich gehe nach vorne, um meine Sachen zu holen. Jess nimmt gerade eine Bestellung auf, aber sie sieht sich um, als ich meine Tasche aus dem Schrank hole und ihn zuschlage. „Hey, Jess, wie lange arbeitest du schon hier?“
„Etwas länger als ein Jahr“, antwortet sie schüchtern und verunsichert.
„Tja, du wirst gleich gefeuert. Sie haben nicht genug Stunden für uns Nicht-Alteingesessene.“ Ich gehe um den Tresen herum und stoße die Tür auf. Dann werfe ich einen Blick zurück über die Schulter und rufe: „Falls du nicht gefeuert wirst, pass bloß auf, dass du ja nie auf die verdammte Toilette gehst!“
Ich stürme durch die Tür und mein Brustkorb hebt und senkt sich schwer mit meinem Atem. Erst als ich in meinem Auto sitze, lasse ich den Tränen freien Lauf.
Wie kann er es wagen, mich zu feuern? Ich bin eine seiner besten Angestellten. Die „alteingesessenen“ Angestellten sind beschissen. Donna stinkt nach Rauch und weiß nicht, wie man eine Dusche benutzt. Aber sie darf bleiben, weil sie seit fast einem Jahrzehnt dort arbeitet.
Was jetzt? Kann ich mich arbeitslos melden? Ich weiß nicht, wie das alles funktioniert. Ich weiß nur, dass ich kein Einkommen mehr habe und schlussendlich meine beschissene Wohnung verlieren werde.
Meine Hände umklammern das Lenkrad und zittern vor Wut und so etwas wie Angst. Was bleibt mir jetzt? Das Café Rêvasser zahlt viel besser als die anderen Cafés in der Umgebung. Vielleicht kann ich kellnern? Der Job ist ähnlich. Vielleicht kann ich mal sehen, was ich mit meinem Abschluss machen kann?
Ich habe einen Master in Anglistik, aber ich wollte eigentlich nie etwas anderes werden als Autorin. Der Job im Café Rêvasser sollte nur für den Übergang sein. Damit ich bis zur Veröffentlichung meines ersten Buches über die Runden komme.
Mir ist schwindlig, als ich meine Wohnung betrete. Ich gehe zu meiner Spüle, nehme mir ein Glas und drehe den Wasserhahn mit zittrigen Händen auf. Nichts passiert. Das Wasser ist immer noch abgestellt.
Ich umklammere das Glas und schreie. Dann drehe ich mich um und schleudere es außer Atem gegen die gegenüberliegende Wand, wo es zerbricht.
Kapitel Fünf
Ich kann nicht schlafen. Meine Gedanken kommen einfach nicht zur Ruhe und warum auch? Ich bin beinahe dreißig Jahre alt und der Verlust eines bescheuerten Barista-Jobs hat mein ganzes Leben völlig aus der Bahn geworfen.
Ich hätte nie gedacht, dass ich mal in dieser Lage sein würde. Als ich mit achtzehn naiv optimistisch ans College ging, hätte ich mich über die Vorstellung lustig gemacht, eines Tages mit dreißig als Barista zu arbeiten, in einer maroden Wohnung zu leben und kein einziges Buch veröffentlicht zu haben.
Die Zeit vergeht einfach zu schnell. Gefühlt ist es erst ein Jahr her, dass ich achtzehn war, nicht über ein Jahrzehnt. Wie konnte ich all diese Zeit verstreichen lassen und nichts tun? Nichts erreichen?
Theos hübsche blonde Frau blitzt in meinem Kopf auf. Es muss schön sein. Hübsch und wohlhabend zur Welt zu kommen. Jemanden wie Theo zu heiraten und sich nie um irgendetwas sorgen zu müssen. Ich wette, sie hängt den ganzen Tag in Designer-Pyjamas in ihrer Villa herum und lebt vom Vermögen von Theos Familie.
Ich liege im Bett und beobachte, wie der Tag zur Nacht wird und die Nacht schließlich zum Tag. Es fühlt sich an, als wären Tage vergangen, als die Sonne endlich aufgeht und einen neuen Tag einläutet.
Meine Miete ist in einer Woche fällig. Und ohne diese Woche auf meinem letzten Gehaltsscheck wird es dafür nicht reichen.
Ich zwinge mich aus dem Bett und rufe Hans wegen meines Wassers an. Er schwört, dass er die Rechnung bezahlt hat und kündigt an, dass er heute vorbeikommen wird, um der Sache auf den Grund zu gehen.
Ich werde ihn um einen Aufschub meiner Miete bitten müssen. Allein bei dem Gedanken daran wird mir übel, aber ich beschließe, dass es besser wäre, das persönlich zu tun, wenn er vorbeikommt, um sich mein Wasserproblem anzusehen.
Hans ist mürrisch. Geradezu gemein. Ich habe gehört, wie er mich mindestens zweimal vor sich hinmurmelnd als „dumm“ bezeichnet hat, als ich ein paar Mal Erfolg damit hatte, ihn herzurufen, um etwas in der Wohnung zu reparieren. Einmal, als die Heizanlage ausfiel, ließ er zu, dass das gesamte Gebäude unbeheizt blieb, nachdem der Mann im ersten Stock ihn „Arschgesicht“ genannt hatte.
Ich kann nur hoffen, dass er lieber ein paar Wochen auf sein Geld wartet, als sich die Mühe zu machen, einen Nachmieter für mich zu finden.
Ich sitze am Rand meiner Couch und wippe mit dem Bein, während ich auf Hans warte. Ein Klopfen lässt mich aufspringen und zur Tür eilen. Ich atme tief durch und verdränge die Nervosität und Übelkeit, bevor ich die Tür öffne und ihn hereinlasse.
Als erstes rieche ich den Alkohol. Ich kann mir nicht verkneifen, einen Blick auf die Uhr am Herd zu werfen. Nicht einmal zwölf Uhr mittags. Sein Haar besteht aus zerzausten, fettigen Strähnen. „Im Bad läuft das Wasser?“, fragt er mit rauer Stimme.
„Nein. Es läuft nirgendwo in der Wohnung. Wissen Sie, ob die anderen Wohnungen Wasser haben?“
Er runzelt die Stirn. „Mit dem Wasser ist alles in Ordnung. Ich hab Ihnen doch gesagt, dass die Rechnung bezahlt ist“, antwortet er mit lauter Stimme und ich schüttle den Kopf. Zurückrudern, zurückrudern. Ich kann nicht gebrauchen, dass er sich noch mehr über mich ärgert.
„Nein, das weiß ich. Ich habe mich bloß gefragt, ob das, was damit nicht stimmt, nur meine Wohnung betrifft oder vielleicht auch andere.“
Er gibt einen spöttischen Laut von sich, der ihm tief aus der Kehle entspringt, während er sich vor den Schrank unter der Spüle kniet. Ich will ihn fragen, wie dieses spezielle Abflussrohr ihm etwas darüber sagen soll, warum meine ganze Wohnung kein Wasser hat, aber ich halte mich zurück.
Ich beobachte ihn ein paar Minuten lang schweigend beim Herumwerkeln, bevor er sich mühsam wieder aufrappelt. „Ich bin gleich wieder da. Lass die Tür offen stehen“, weist er mich an und deutet im Gehen mit dem Kopf auf meine Haustür.
In seiner Abwesenheit gehe ich im Wohnzimmer auf und ab und überlege, wie ich den bevorstehenden Mietrückstand ansprechen kann. Er schleppt sich zurück in die Küche und ich folge ihm nervös. Dann dreht er den Hahn auf und wie durch ein Wunder fließt Wasser.
„Wow, danke“, rufe ich. Ich verkneife mir zu fragen, was das Problem war, weil ich annehme, dass ihn das nerven wird.
Wortlos geht er zur Tür. Jetzt oder nie.
„Hans, ähm …“, stottere ich. Er dreht sich halb zu mir um, immer noch parat zu gehen. „Ich wollte fragen, ob du mir vielleicht einen kleinen Fristaufschub für die nächste Miete geben könntest. Ich habe meinen Job verloren, aber in ein paar Tagen habe ich einen neuen und dann kann ich die Miete zahlen.“ Die Worte purzeln nur so aus mir heraus, denn ich will ihn zugleich um den Aufschub bitten, ihm erklären, warum ich ihn brauche, und ihm außerdem versichern, dass er sein Geld bald bekommen wird, bevor er sich eine Reaktion darauf überlegen kann, dass ich nicht zahlen kann.
Eine Weile rührt er sich nicht und spricht kein Wort. Ich halte die Luft an.
„Ich gebe eigentlich keine Aufschübe“, antwortet er schließlich.
„Ich weiß, ich weiß. Und ich bitte eigentlich nicht um Aufschübe. Oder brauche sie. Ich schwöre, das ist eine einmalige Angelegenheit.“
In mir steigt ein genervtes, wütendes Gefühl auf, weil ich darum betteln muss, an einem Ort wie diesem zu bleiben. Ich flehe gerade darum, im Elend leben zu dürfen, aber was bleibt mir sonst?
Hans blickt zu Boden und zuckt mit den Schultern. „Wir können uns auf etwas einigen.“
Ich falte meine Hände unter meinem Kinn zusammen. „Wirklich? O mein Gott, danke. Ich schwöre, dass ich dir das Geld zukommen lasse, bevor die nächste Miete fällig ist.“
Er sieht immer noch nicht auf. „Ich habe Bedingungen.“
Ich nicke. „Klar. Ich kann extra zahlen. Vielleicht einen Hunderter als Versäumniszuschlag?“
Er schüttelt den Kopf und sieht mir endlich in die Augen. „Ne. Ich gewähre einen Aufschub nur, wenn es sich für mich lohnt.“ Sein Blick gleitet an meinem Körper hinab. Dann wieder nach oben. Mir dreht sich der Magen um.
Er kann doch nicht meinen, was ich denke, dass er meint.
Er geht einen Schritt auf mich zu.
Ich trete einen Schritt zurück.
„Zieh dein T-Shirt aus“, weist er mich an und zerstreut damit jegliche Zweifel an seiner Intention.
Ich weiche zurück und kann mir meinen angeekelten Gesichtsausdruck nicht verkneifen. „Nicht dein Ernst.”
„Doch. Zieh es aus und wir können über das mit deiner Miete sprechen.“
„Auf keinen Fall.“ Ich verschränke die Arme vor der Brust und gehe einen weiteren Schritt von ihm weg, wobei ich mich schnell im Raum umsehe und nach einer Waffe suche.
Er wird rot im Gesicht und vor Wut bilden sich Furchen in seiner schlaffen Gesichtshaut. „Du rufst mich an einem verdammten Samstag hierher, um dein scheiß Wasser zum Laufen zu bringen, und dann meinst du, mich um einen Mietaufschub zu bitten. Du kannst mich mal. Du bist eine fiese, fette Hure. Dich würde ich nie im Leben ficken, du Schlampe.“
Lallend kommt er auf mich zu und spuckt mir seine Tirade an üblen Wörtern entgegen.
„Raus!“, schreie ich und gehe hinter die Couch, um eine physische Barriere zwischen uns zu schaffen.
Er zeigt mit seinem dicken, schmutzigen Finger auf mich. „Selber raus! Dumme Schlampe. Du hast vierundzwanzig Stunden, ich will dich hier weghaben. Ich rufe die scheiß Polizei. Nimm deinen ganzen Mist mit.“ Er weist mich in einer ausschweifenden Geste auf meine Sachen hin. „Alles, was du dalässt, kommt in den Müll.“
Er geht auf die Tür zu. „Morgen komme ich wieder und dann bist du besser weg.“
Er knallt die Tür zu und ich sinke zu Boden. Adrenalin, Angst, Abscheu und Hoffnungslosigkeit durchströmen mich auf einen Schlag. Ich kann die Tränen nicht zurückhalten, doch ich springe auf und renne zur Tür, schließe ab, verriegle sie und schiebe das Kettenschloss zu. Als ich sicher bin, dass alles abgeschlossen ist, ziehe ich ein Fleischermesser aus dem Messerblock auf der Küchenzeile.
Was jetzt?
Kapitel Sechs
Ich habe keine Wahl mehr. Ich kann nirgendwo hin und habe keine Zeit, mir etwas zu überlegen. Obwohl ich bezweifle, dass es rechtmäßig ist, mich binnen vierundzwanzig Stunden rauszuschmeißen, traue ich mich nicht, ihn damit zu konfrontieren. Dementsprechend habe ich nicht vor, noch da zu sein, wenn er zurückkommt.
Ich halte mein Handy in der Hand und starre den Kontakt meiner Mutter an, mein Finger über der Anruftaste. Eigentlich will ich meinen Dad anrufen, aber meine Mutter trifft sämtliche Entscheidungen, also würde das die Antwort nur herauszögern.
Was mache ich, wenn sie mich abweist? Ich würde gerne glauben, dass sie das nicht tun würde, aber ehrlicherweise kommt es mir sogar wahrscheinlich vor.
Ich atme tief durch und tippe auf die Taste. Ich habe den Kiefer so fest zusammengepresst, dass es schmerzt.
Es klingelt und klingelt.
Ich erwarte, dass gleich ihre Mailbox anspringt, und will gerade auflegen, doch dann höre ich sie stattdessen außer Atem abnehmen.
„Hallo?“ Sie klingt genervt. Beschäftigt. Normalerweise würde ich es vermeiden, sie um irgendetwas zu bitten, wenn sie bereits gereizt wirkt, aber ich kann mir nicht leisten, abzuwarten, bis sich ihre Stimmung geändert hat.
„Hi, Mom. Was machst du gerade so?“ Ich halte meinen Ton locker. Freundlich.
„Ich versuche, unter dem Kühlschrank sauber zu machen. Was ist los? Was willst du?“
So viel zum Small Talk.
„Ich brauche deine Hilfe“, setze ich an und versuche, einen mütterlichen Instinkt in ihr auszulösen, den sie mir gegenüber nie gezeigt hat.
„Womit?“ Sie seufzt.
„Ich muss aus meiner Wohnung ausziehen … heute. Ich kann nirgendwo hin.“
Sie schweigt und mir pocht der Puls in den Ohren.
„Mom?“
„Willst du wissen, ob du hier schlafen kannst?“, fragt sie.
Wenn ich die Zähne noch fester zusammenbeiße, zermahle ich sie mir noch. Muss ich es wirklich ausbuchstabieren?
„Ja. Ich kann sonst nirgendwo hin. Ich muss heute raus.“
Eigentlich habe ich zwar bis morgen Zeit, aber ich weigere mich, noch eine Nacht hier zu schlafen.
Sie seufzt erneut und ich sehe sie vor Augen. Wie sie in der Küche steht, die Hand auf der Hüfte, ihr ergrauendes braunes Haar in ihrem charakteristischen Zopf auf dem Rücken und der ebenfalls charakteristische finstere Blick.
„Na gut, du kannst auf der Couch im Familienzimmer schlafen“, antwortet sie. „Wie lange musst du bleiben?“
Überall in mir glüht das Bedürfnis nach Widerstand. Der Drang, „vergiss es“ zu sagen und „du kannst mich mal“ und ihr zu verkünden, dass sie eine schreckliche Mutter ist und das auch schon immer war. Ich muss sämtliche Kräfte zusammennehmen, um meinen Stolz zu schlucken.
„Höchstens einen Monat“, erwidere ich und mir hämmert das Herz in der Brust.
„In Ordnung. Ich gebe deinem Dad und deiner Schwester Bescheid. Wann kommst du?“
„Zum Abendessen bin ich da.“
„Aha. Ich muss dann wohl mehr für heute Abend kochen, wenn du mitessen willst.“
„Das wäre nett“, antworte ich.
Sie fragt nicht, was passiert ist. Ob es mir gut geht. Ob ich Hilfe beim Packen oder beim Transport brauche. Mir steigen Tränen in die Augen und ich könnte mich ohrfeigen. Ihre Gleichgültigkeit mir gegenüber sollte mir nichts mehr ausmachen.
Nachdem wir aufgelegt haben, packe ich meine Sachen und bringe sie ins Auto.
Schlussendlich lasse ich sämtliche Möbel stehen. In mein Auto passen nur meine Kleidung, Bücher und ein paar Kleinigkeiten. Ich habe mir noch überlegt, ob ich mein Geschirr mitnehmen soll, aber wohin dann damit? Soll sich doch dieser widerliche Mistkerl selbst um alles kümmern.
Ich bin schweißgebadet und hechle, als ich mich schließlich im Auto ans Steuer setze. Die Sonne brennt und nur eine einzige Wolke blockiert ihre Intensität. Während mein Auto vorwärts rollt, zwinge ich mich, nach vorne zu schauen und nicht auf den Ort zurück, der beinahe sechs Jahre lang mein Zuhause war.
Es ist eine beschissene Bruchbude.
Die Vorstellung, wieder bei meinen Eltern zu leben, ist niederschmetternd. Ich habe mich in ihrem Zuhause nie willkommen gefühlt, selbst dann nicht, als ich noch mein eigenes Zimmer hatte. Jetzt werde ich auf die Couch im Familienzimmer verbannt, ohne Privatsphäre und ohne Platz für meine Sachen.
Da fällt es mir schwer, nicht in Selbstmitleid zu versinken. Ich weiß nicht, wie ich da wieder rauskommen soll. Wie ich da hinkomme, wo ich hingehöre. Ich habe so viel Zeit verschwendet.
Als ich endlich beim Haus meiner Eltern ankomme, beschließe ich, erst einmal ohne mein Hab und Gut reinzugehen. So kann ich mir ansehen, wie sie das Zimmer für mich eingerichtet haben, und mir überlegen, wo ich alles unterbringe.
Ich hebe die Faust, um an die Tür zu klopfen und zögere, strecke dann die Hand nach dem Türgriff aus, halte erneut inne. Ich seufze laut, klopfe an die Tür und warte.
Ich höre den Fernseher, der auf voller Lautstärke läuft, und die Stimme meiner Mom, die ihn zu übertönen versucht.
Der Drang, umzukehren, ist überwältigend. Irgendeine andere Möglichkeit als diese zu finden. Beinahe wende ich mich tatsächlich ab. Doch dann schwingt die Tür auf und ich erstarre. Shelby steht mit einem selbstgefälligen Grinsen im Gesicht in der Tür.
„O wie sind doch die Helden gefallen“, kommentiert sie, als ich mich an ihr vorbeidränge.
„Halt die Klappe.“
Sie lacht. „Was hast du angestellt, dass du rausgeworfen wurdest? Warum kannst du dir nicht einfach eine andere Wohnung suchen? Du wurdest doch nicht gefeuert, oder?“
Ich drehe mich zu ihr um. „Halt. Die. Klappe“, wiederhole ich.
Shelby gibt ein Schnauben von sich, das vermutlich ein Lachen darstellen sollte, aber ich lasse sie zurück und gehe in Richtung Familienzimmer.
Ich spüre, dass sie mir folgt und möchte mich am liebsten umdrehen und ihr eine verpassen wie in unserer Kindheit. Sie war schon immer eine Unruhestifterin und hat sich in der Schule ständig geprügelt. Irgendetwas an ihr bettelt um Schläge.
Ich gehe die vier Stufen hinunter ins Familienzimmer und halte auf der letzten inne. Der Raum ist mit Kartons zugestellt, einige offen und bis zum Bersten gefüllt. Auf der Couch stapeln sich Kleidungsstücke samt Bügeln.
„Was zur Hölle ist hier los?“, frage ich an niemand bestimmten gewandt.
„Bethany und Jeremy haben sich getrennt. Sie ist am selben Tag aus- und wieder eingezogen. Sie zieht also wieder in ihr altes Zimmer.“ Shelby kichert förmlich.
„Und was hat das damit zu tun, dass der ganze Mist hier im Familienzimmer rumliegt?“
Meine Mom stürmt die Treppe hinunter, direkt an mir vorbei zur hinteren Wand, wo sie mit ihrem Blick die Kartons abscannt, als könnte sie durch sie hindurchsehen. „Bethany ist gerade erst gekommen. Wir bringen das alles später dann weg. Sie will die Möbel in ihrem Zimmer umstellen, bevor sie ihre Sachen holt“, erklärt sie hastig, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen.
Seufzend gehe ich zurück nach oben und beschließe, mich einfach an den Esstisch zu setzen und allen aus dem Weg zu gehen. Shelby folgt mir und setzt sich weiter hinten an den Tisch.
„Es ist schön, die ganze Familie wieder unter einem Dach zu haben“, bemerkt sie.
„Mhm. Ja, klasse. Ich freue mich auf viel traute Familienzeit.“
„Du tust dir das selbst an, weißt du.“
„Was?
„Dich zur Außenseiterin zu machen. Du wolltest nie zu uns gehören.“ Shelby steht auf und verschwindet um die Ecke.
Meine Sicht verschwimmt, als ich frustriert ausatme, und ich verdrehe die Augen, während ich mir die unvergossenen Tränen wegwische. Warum sollte ich zu diesem ungebildeten, unkultivierten Abschaum gehören?
Ich stehe auf und gehe zur Haustür. „Ich komme gleich wieder. Ich muss noch ein paar Sachen besorgen“, rufe ich jedem zu, der in Hörweite ist.
In meinem Auto angekommen schlage ich mit den Handflächen gegen das Lenkrad. Mein Auto dröhnt, als ich den Motor anlasse und aus der Einfahrt fahre. In der Stadt gibt es ein Vierundzwanzig-Stunden-Diner. Es ist zwar kein Café Rêvasser, aber dort gibt es günstigen Kaffee, und ich brauche einen Ort zum Nachdenken.
Es stinkt nach Rauch, trotz des Rauchverbotsschildes an der Tür. Vielleicht setzen sie die Regeln hier nicht durch. Oder vielleicht hängt der Gestank noch in den Wänden, weil hier jahrelang jeder geraucht hat wie ein Schlot. Ein weiteres Schild weist mich an, mir selbst einen Platz zu suchen, also sehe ich mich zwischen den Reihen an Sitzecken um und beuge mich vor, um zu sehen, ob eine davon eine Steckdose hat.
„Suchst du einen Platz zum Laden?“, werde ich von hinten von einer tiefen Stimme angesprochen. Ich richte mich auf und drehe mich um.
„Ja. Habt ihr einen Tisch bei einer Steckdose?“
Ein Mann wendet sich von mir ab, nickt und fordert mich auf, ihm zu folgen. Er ist groß, hat breite Schultern und helles, sandbraunes Haar. Als er sich wieder zu mir umdreht, den Arm in Richtung einer Sitzecke ausgestreckt, fällt mir auf, dass er auf konventionelle Weise attraktiv ist. Er sieht aus, als könne er vor zehn Jahren der Football-Quarterback einer Kleinstadt gewesen sein, der nun aber in einem Diner kellnert, statt „dieser Stadt zu entfliehen“, wie es in Filmen immer so schön heißt.
„Danke.“ Ich rutsche auf den Sitz.
„Jep“, erwidert er und geht.
Ich ziehe meinen Laptop aus der Tasche und schließe ihn unter dem Sitz an. Mein Word-Dokument befindet sich am unteren Rand meines Bildschirms, immer geöffnet, aber immer nur im Hintergrund. Zum ersten Mal seit Monaten klicke ich es an.
Dieses Diner ist kein bisschen ästhetisch ansprechend. Einen Moment lang befürchte ich, dass die verblichenen grünen Polster der Sitzecken ausreichen, um meinen Kopf komplett auszuschalten.
Mein Dokument. Immer offen, aber nie im Einsatz. Benannt, aber leer. Der Cursor blinkt immer wieder spöttisch. Erinnert mich daran, dass ich in all den Jahren noch kein Manuskript fertiggestellt habe. Ich träume ständig davon, Bücher zu veröffentlichen und Literaturpreise zu gewinnen, aber bislang habe ich noch nicht einmal den allerersten Schritt getan, um meine Träume zu verwirklichen.
Mehr als ein Dutzend Bücher habe ich angefangen zu schreiben und dann abgebrochen. Aber nach ein paar tausend Wörtern erscheint die Geschichte mir zu flach, zu mittelmäßig, zu … schlecht, um weiterzumachen.
Mr. Heimatsheld taucht neben mir auf und ich schaue auf und sehe ein Namensschild an seiner Schürze, das ich vorher nicht bemerkt hatte. „Joe“, steht da.
„Hättest du gern etwas zu trinken? Zu essen?“
„Kaffee, bitte.“
„Alles klar.“ Er wendet sich ab.
„Oh, Joe. Habt ihr irgendwelche Kaffeekreationen? Latte macchiato? Irgendsoetwas?“
„Nnnein.“ Er streckt den „n“-Laut in die Länge. „Nur die Kanne Kaffee, die ich vor einer Stunde gekocht habe. Ich habe Kaffeesahne mit Haselnussgeschmack.“
Ich lasse die Schultern sinken. „Das passt. Danke.“
„Ich heiße übrigens Logan. Nicht Joe.“
„Warum trägst du dann ein Namensschild, auf dem Joe steht?“, frage ich. Ich weiß nicht genau, warum mich das überhaupt interessiert.
„Weil es Spaß macht, dieses Gespräch fünfmal am Tag zu führen“, antwortet er, bevor er weggeht.
Ich höre ihm den Sarkasmus an, aber ich verstehe nicht, was er damit bezwecken will.
Joe/Logan stellt meinen Kaffee und eine Handvoll kleiner Kaffeesahne-Behälter an den Rand meines Tisches. „Arbeitest du an etwas?“ Er deutet mit dem Kopf auf meinen Laptop und nimmt zu meinem Entsetzen mir gegenüber Platz.
Ich ziehe eine Augenbraue hoch. „Ja.“
„Was denn?“
Mir fällt die Kinnlade herunter, aber ich sammle mich schnell. Was läuft schief mit diesem Kerl? „Das ist mein Manuskript.“
„Für ein Buch, oder wie?“, fragt er, ohne zu zögern.
„Ja, für ein Buch.“
Er runzelt die Stirn und lehnt sich über den Tisch, um einen Blick auf den Bildschirm zu werfen. „Nichts zu sehen.“
„Weiß ich“, erwidere ich zähneknirschend. „Und das wird so lange der Fall bleiben, wie du mich ablenkst.“
Er hält beschwichtigend die Hände hoch. „Schon kapiert!“ Er steht auf und verschwindet.
Ich atme tief aus und versuche, einen klaren Kopf zu bekommen. Mein Kopf ist benebelt und ich rede mir bereits ein, dass es zwecklos ist, jetzt zu versuchen zu schreiben. Ich nehme einen Schluck von meinem Kaffee. Er verbrennt mir die Zunge und schmeckt billig und fad. Ich vermisse die Coffeeshops der Stadt.
Innerhalb einer Stunde schaffe ich es, ein paar Seiten zu schreiben. Und was noch besser ist: Ich hasse sie tatsächlich nicht mal. Ich ertappe mich dabei, wie ich Logan die getippten Wörter zeigen möchte. Ihm zeigen möchte, dass jetzt etwas in meinem Word-Dokument geschrieben steht. Doch eine kleine Rothaarige bringt mir die Rechnung.
Auf dem Weg nach draußen sehe ich mich beiläufig im Diner um, aber ich sehe ihn nicht. Seine Schicht muss wohl bereits zu Ende gewesen sein.
Die Sonne taucht allmählich hinter die Bäume und es wird zunehmend dunkel am Himmel. Die Hitze ist jetzt angenehmer. Vor allem jetzt, wo ich nicht mehr Kartons mit meinen Habseligkeiten drei Stockwerke hinunterschleppe.
Zu Hause angekommen kämpfe ich gegen das Unbehagen an, das mich überkommt, als ich die Tür aufdrücke und das Haus betrete. Meine Mutter huscht auf dem Weg zur Treppe an mir vorbei. Sie bleibt stehen, als ich nach innen gehe und wirft die Hände hoch, bevor sie in den zweiten Stock weitergeht. Ich beobachte sie und sie hält auf dem obersten Treppenabsatz erneut inne. „Weißt du, wir könnten deine Hilfe hier gut gebrauchen. Wir schleppen schon den ganzen verdammten Tag die Sachen deiner Schwester die Treppe rauf und runter und du haust stundenlang ab.“
Sie wartet keine Antwort ab. Stapft einfach den Flur entlang weg und keinesfalls kann ich hier länger als einen Monat bleiben. Niemand hat mir angeboten, mir mit meinen Sachen zu helfen. Und ich war gerade mal eine Stunde lang weg. Verdammt noch mal.
Kapitel Sieben
Um zehn Uhr beschließt Bethany, dass sie für heute durch damit ist, Kartons zu schleppen und auszupacken. Demnach ist der größte Teil des Familienzimmers weiterhin mit ihrem Kram zugestellt. Ich beiße mir auf die Zunge, weil ich hier in der Unterzahl bin. Die restlichen Kartons räume ich selbst von der Couch.
Ich hole meinen Schlafanzug, Waschzeug, mein Kissen und eine Decke aus dem Auto und mache mich bettfertig. Die Stille ist mir unheimlich. Ich habe mich an den Lärm der Autos und des Lebens außerhalb meiner vier Wände gewöhnt. Während ich versuche einzuschlafen, das Haus in einen seltenen Moment der Ruhe gehüllt, spiele ich mit einer grausamen Fantasie. Ich stelle mir vor, wie ich ein großes Feuer im ersten Stock lege. Beginnend an der Treppe, damit sie nicht entkommen können. Ich würde durch die Vordertür nach draußen schlüpfen und beobachten, wie das Haus in der Nacht lodert.
Am nächsten Morgen springe ich von der Couch auf. Ich will unbedingt aufstehen und losfahren, bevor meine Familie aufwacht. Zum Glück schlafen sie alle gern aus, also sollte das kein Problem sein. Auf Zehenspitzen schleiche ich mit meiner kleinen Badetasche ins Bad und mache mich so leise wie möglich frisch.
Als ich das Esszimmer betrete, fahre ich fast aus der Haut. Mein Dad sitzt am Tisch, seine Hände um eine Tasse Kaffee gelegt. Er sieht so erschrocken aus, wie ich mich fühle. Ich lege mir die Hand an die Brust und atme aus. „Du hast mich erschreckt.“
„Dito. Am Wochenende bin ich normalerweise bis mindestens elf Uhr allein.“
„Tut mir leid. Lass dich nicht weiter stören“, sage ich und gehe in die Küche, um mir eine Flasche Wasser zu holen.
„Nein, ich habe nur nicht damit gerechnet, dass schon jemand auf ist. Setz dich zu mir.“
Ich zögere. Ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal auch nur einen Moment mit meinem Dad allein verbracht habe. Er wird immer von den anderen belagert. Sie umkreisen ihn kreischend wie Tauben ein Picknick. Ich hole die Flasche Wasser aus dem Kühlschrank und setze mich an den Tisch, unsicher, was ich sagen soll.
„Tut mir leid wegen dem Zeug von deiner Schwester im Zimmer.“ Er nickt in Richtung des Familienzimmers. „Ich sorge dafür, dass sie den Rest wegräumt, wenn sie auf ist.“
Ich nicke.
Schweigend sitzen wir da, trinken und starren vor uns hin. Ich frage mich, ob er sich genauso unwohl fühlt wie ich.
Er durchbricht die Stille. „Musst du heute arbeiten?“
Ich habe niemandem erzählt, dass ich gefeuert worden bin. Das habe ich auch nicht vor. Die Lüge ermöglicht es mir zumindest, ohne allzu viele Fragen das Haus verlassen zu können. Die anstehende Hin- und Rückfahrt von insgesamt drei Stunden verschafft mir nur mehr Zeit, die ich nicht hier verbringen muss.
„Ja. Ich habe heute Nachmittagsschicht.“
Er nickt und nimmt einen Schluck von seinem Kaffee. Es wirkt, als wolle er etwas sagen, doch stattdessen trinkt er noch einen Schluck. Als er schließlich seine Tasse abgestellt hat, sagt er: „Ich weiß, dass es nicht ideal ist. So weit weg übernachten zu müssen. Aber das wird gar nicht so schlecht, weißt du. Dich … du weißt schon … dich ein bisschen länger hier zu haben. Das ist schön.“
Unerwartet brennen mir Tränen in den Augen. „Ja. Das ist wirklich schön.“ Ich stehe auf, weil ich diese seltsamen Gefühle nicht länger aushalten will. Denn es wird nicht schön. Nicht für mich. Nicht mit meiner Mutter und meinen Schwestern. Erst letzte Nacht habe ich fantasiert, sie alle am lebendigen Leib zu verbrennen. Aber ich muss zugeben, dass die Worte guttun. Es ist das erste Mal, dass jemand in meiner Familie den Wunsch geäußert hat, mich um sich zu haben.
„Ich muss los, Dad. Lange Fahrt und ich muss vor meiner Schicht noch ein paar Sachen erledigen.“
„Klar. Fahr schön vorsichtig.“
Ich nicke und eile zu meinem Auto.
Als ich sicher am Steuer sitze, überlege ich, wohin ich fahren soll. Gern würde ich nach Indy fahren. Aber ohne ein Einkommen habe ich nicht das nötige Spritgeld für die Hin- und Rückfahrt. Doch ich muss irgendwohin, wo mir meine Familie nicht über den Weg läuft und wo ich für eine Weile Zeit verbringen und mir einen Plan für mein Leben ausdenken kann.
Ich fahre durch die Stadt, doch mir fällt nichts ins Auge. Als ich der Suche leid bin, beschließe ich, zurück zu dem Diner von gestern zu gehen und darauf zu hoffen, dass meine Schwestern dort nicht essen gehen. Meine Eltern werden das Haus an einem Sonntag wahrscheinlich nicht verlassen.
Ich schleppe meine Laptoptasche mit und breite mich wieder in derselben Sitzecke aus, in der mir eine Steckdose zur Verfügung steht. Während ich auf die Bedienung warte, hole ich mein Handy heraus und checke meinen Kontostand. 107 Dollar. Und meine Handyrechnung wird in ein paar Tagen abgebucht.
In diesem Moment wird mir klar, dass mein letzter Scheck an meine Wohnung geschickt werden soll, in der ich gar nicht mehr wohne. Ich schnappe mir meine Sachen und sprinte an der Bedienung vorbei nach draußen und zu meinem Auto. Ich brauche den letzten Scheck. Auch wenn es nur ein halber Scheck ist, ist er mehr wert als der Sprit, den ich für die Hin- und Rückfahrt brauche.
Zuerst fahre ich zur Wohnung. Mir hämmert das Herz gegen den Brustkorb, während ich mich auf der Straße und am Bürgersteig nach Hans umsehe. Als er nicht plötzlich wie ein gespenstischer Superschurke aus dem Nichts auftaucht, steige ich aus und sprinte zu meinem alten Wohnhaus.
Es fühlt sich seltsam an, jetzt hier zu sein. Erst gestern noch war das mein Zuhause. Und obwohl ich wusste, dass es eine einzige Katastrophe war, hatte ich mich wohl an den Zustand gewöhnt. Wahrscheinlich war ich geblendet, weil ich dem ständig ausgesetzt gewesen war. Denn jetzt, wo ich hier in der Tür stehe, sehe ich die vergilbten weißen Wände, an denen oben die Farbe abblättert. Ich nehme den fleckigen braunen Teppich wahr und rieche die verschiedenen Kochgerüche, vermischt mit dem Gestank von Müll.
Hinter der Eingangstür sehe ich in den Briefkasten. Werbung. Kein Scheck. Ich werfe einen Blick die Treppe hoch und sammle mich, bevor ich in den dritten Stock gehe. Meine Hand schwebt an meiner Wohnungstür, bevor ich den Knauf drehe. Zu meiner Überraschung ist nicht abgesperrt und ich schiebe die Tür auf. Drinnen ist es ruhig. Und dunkel. Ich trete über die Schwelle und lasse den Anblick auf mich wirken.
Hans hat sein Wort gehalten. Nur die Couch ist noch übrig. Das Geschirr, das ich auf dem Tresen stehen gelassen habe, meine Kaffeekanne und selbst meine Pflanzen sind weg.
Den Rest will ich eigentlich gar nicht sehen. Das ist nicht nötig. Als ich durch die Eingangstür meiner ehemaligen Wohnung nach draußen schreite, fühlt es sich an, als würde ich eine Haut abstreifen. Ich verbinde keine Traurigkeit oder Nostalgie mit dem Ort, an dem ich mich verhielt wie eine Gefangene und in Elend lebte, ohne irgendetwas dagegen zu unternehmen.
Mein Nacken schmerzt vor Anspannung, als ich zum Café Rêvasser fahre. Unüberlegt fahre ich ins Parkhaus. Mir gefällt es nicht, jetzt, wo ich nicht mehr im Café arbeite, dafür zu zahlen. Die Parkplätze an der Straße sind allerdings zeitlich begrenzt, und jetzt, wo ich in der Stadt bin, würde ich gerne den ganzen Tag hier verbringen. Schließlich habe ich keine Verpflichtungen.
Das Café ist in Sicht und ich zwinge mich, aufrecht zu gehen. Ich nähere mich der Tür und spreche ein stilles Gebet: Bitte lass Donna nicht da sein, bitte lass Donna nicht da sein.
Ich betrete das Café und versuche, den Ort wie eine Kundin zu erleben. Ich arbeite nicht mehr hier. Ich muss mir keine Gedanken darüber machen, ob die Nachtschicht ordentlich sauber gemacht hat oder ob Brice daran gedacht hat, mehr Mandelmilch zu bestellen.
Donnas Blick begegnet meinem, sobald ich durch die Tür trete. Verdammt. Unmerklich atme ich tief ein und gehe zum Tresen. Sie zieht eine mitleidige Miene und ich möchte sie ihr am liebsten aus dem Gesicht klatschen.
Lass dich von diesen Kakerlaken nicht bemitleiden.
„Donna. Hi“, grüße ich sie, als sie gerade den Mund öffnet, um irgendetwas von sich zu geben. Vermutlich nur Mist. „Ist Jackson da, oder Brice?“
Ich spreche in neutralem Tonfall. Beiläufig.
„Brice ist hinten. Ich kann ihn für dich holen.“
„Das wäre nett. Danke.“
Sie trottet nach hinten und innerhalb von dreißig Sekunden kommen sie beide auf die Theke zu.
Brice runzelt unattraktiv die Stirn. „Was kann ich für dich tun, Laura?“
„Jackson meinte, mein letzter Scheck würde mir zugeschickt, aber ich bin umgezogen. Ich habe bei meinem alten Gebäude nachgefragt und da ist noch nichts angekommen, also dachte ich, ich schaue beim nächsten Zeitfenster mal vorbei.“
„Oh. Ich habe ihn im Hinterzimmer. Wir wollten ihn heute verschicken.“
„Perfekt. Dann nehme ich ihn mit.“
Er nickt und zieht sich in sein Büro zurück.
„Ich muss jetzt ein bisschen weiterschreiben. Donna, machst du mir einen Latte mit Vollmilch und Vanille?“
„Klar, Süße.“ Sie tippt ihn in den Computer. „Ich kann ihn dir nicht gratis geben.“
Mir wird heiß im Gesicht. „Natürlich“, erwidere ich und reiche ihr meine Karte. Meint sie, ich erwarte ein Gratisgetränk?
Sie zieht die Karte durch und gibt sie mir zurück. „Wenn er nicht da wäre, würde ich es machen.“
Ich antworte nicht und warte auf meine Rechnung und meinen komplett überteuerten Kaffee. Brice taucht mit einem weißen Umschlag in der Hand wieder auf. „Bitte sehr.“
Ich lächle höflich. „Danke.“
Donna reicht mir meinen Kaffee. Ich nehme ihn entgegen und bevor einer der beiden noch etwas sagen kann, gehe ich bereits Richtung Sitzbereich. Ich suche mir einen Tisch in der hintersten Ecke aus. So weit wie möglich vom Tresen entfernt.
Ich rede mir ein, dass ich mir weder um Donna noch um sonst jemanden Gedanken machen sollte, und hole meinen Laptop aus der Tasche. Während er hochfährt, nehme ich einen Schluck von meinem Kaffee und unterdrücke ein Seufzen. Es ist die neun Dollar wirklich wert.
Ich versuche, den ganzen Stress der letzten Tage loszulassen.
Doch er lässt sich nicht abschütteln. Er bleibt. Wie ein Fels in meiner Brust.
„Okay, Zeit, mein Leben in den Griff zu bekommen“, flüstere ich mir zu.
Ich öffne ein neues Dokument und beginne zu tippen. Auf die Art verarbeite ich alles. Und ich muss in meinem Leben viel verarbeiten.
Was ist mein Problem? Ich habe meinen Job verloren. Ist das alles? Nein. Mein ganzes Leben ist ein Problem. Vielleicht ist das hier etwas Gutes. Vielleicht hat das Universum gesehen, dass ich nachlässig wurde bei meinem Versuch, das Leben zu erreichen, das ich mir selbst versprochen hatte, und hat etwas unternommen, um mich aus dem Schlaf zu rütteln.
Okay, angenommen, das sei der Fall. Ich bin wach. Was mache ich als Nächstes? Ich muss mein Buch fertig bekommen, aber wie soll ich mich darauf konzentrieren, wenn mir doch das Geld ausgeht und ich bei meinen Eltern wohne?
Muss da noch mal darauf zurückkommen.
Ich lehne mich in meinem Sitz zurück und nehme einen weiteren Schluck von meinem Latte. Wie bringe ich Ordnung in mein Leben, das ein einziges Chaos ist?
Und dann, wie ein Zeichen Gottes, sehe ich es. Oder besser gesagt sehe ich sie.
Sie geht zielstrebig auf den Tresen zu. Ihr Haar, platinblond und perfekt glatt, steht im Kontrast zu ihrer schwarzen, ärmellosen Bluse. Ihre selbstbewusste Haltung, die Schultern durchgedrückt, den Blick geradeaus gerichtet, lässt sie größer erscheinen, als sie es eigentlich ist.
Ich packe meine Sachen so schnell zusammen, wie ich es kann, ohne aufzufallen. Ich nehme noch einen Schluck Kaffee, als sie gerade geht.
Dann stehe ich auf und folge Astrid Connor.