Kapitel 1
„Hast du den Verstand verloren?“ Pat, die gerade einen Schoko-Cookie in den Mund nehmen wollte, hielt in der Bewegung inne und starrte mich mit großen Augen an.
Wenn Pat einen Keks vergaß, war die Sache wirklich ernst.
„Sie hat gefragt“, erwiderte ich sachlich. „Ich bin nur eine gute Freundin.“
„Du bist verrückt“, murmelte Pat, deren Hand ihre Reise endlich abschloss. „Ist dir klar, worauf du dich da eingelassen hast?“
„Natürlich“, sagte ich. „Ich habe mich bereiterklärt, Claire zur Verlesung des Testaments ihrer Großmutter zu begleiten.“
„In einem Spukhaus“, fügte Pat hinzu.
Ich warf ihr einen Blick zu. „Zunächst einmal wohne ich in einem Spukhaus, wie du weißt. Warum also sollte es mir etwas ausmachen, das Wochenende in einem anderen zu verbringen?“
„Und das bringt mich zum zweiten Problem“, sagte Pat und wedelte mit dem Cookie in der Hand durch die Luft. Dabei flogen so viele Krümel durch die Gegend, dass ich mir kurz wünschte, ich hätte einen Hund statt einer Katze. Ein Hund würde die Krümel in Windeseile beseitigen, während sich Nachtschatten, mein schwarzer Kater, keinen Deut darum kümmerte. „Warum soll eine Testamentsverlesung überhaupt ein ganzes Wochenende dauern?“
„Okay, da hast du recht, das ist schon etwas merkwürdig“, gab ich zu.
„Hat Claire dir irgendeinen Grund dafür genannt?“
„Nein, nicht wirklich.“
Pat hob erwartungsvoll die Brauen.
Ich seufzte. „Es gibt wohl einige … Probleme in der Familie.“
„Probleme?“, japste Pat. „Du verbringst freiwillig ein ganzes Wochenende in einem Spukhaus mit einer Familie, die ihre Probleme aufarbeitet?“
Ich zuckte zusammen. Wenn sie es so zusammenfasste, klang das definitiv verrückt. „Tatsächlich habe ich erst jetzt erfahren, dass es dort spukt“, erwiderte ich. „Das hat Claire vorher nicht erwähnt.“
„Aber die Probleme schon“, konterte Pat. „Und das hat dich nicht davon abgehalten, diesem Wahnsinn zuzustimmen?“
„Es ist ja nicht so, dass ihre Familie da die Ausnahme ist“, sagte ich und dachte an meine angespannte Beziehung zu meinen Schwestern. „Alle Familien haben Probleme. Das war auch einer der Gründe, warum ich mich entschieden habe, sie zu begleiten. Es ist ja nicht meine Familie, also wird das bei mir nichts auslösen. Es könnte ein bisschen unangenehm werden, aber was soll’s. Ich weiß, dass ich es überleben werde. Und Claire ist es wert. Wenn sie eine neutrale Person an ihrer Seite braucht, die ihr hilft, das durchzustehen, mache ich das gerne.“
Pat warf mir einen Blick zu, sagte aber nichts weiter. Ich war mir sicher, dass ihr die gleichen Gedanken durch den Kopf gingen wie mir.
Seit sie vor zweieinhalb Jahren mit Daphne schwanger geworden war, hatte Claire nicht mehr glücklich ausgesehen. Ich wusste zwar, dass das zum Teil auf Trauer zurückzuführen war – einige ihrer Kindheitsfreunde waren während ihrer Schwangerschaft spurlos verschwunden –, aber ich hatte das Gefühl, dass mehr dahintersteckte.
Da ging noch etwas anderes vor sich. Ich war mir nicht ganz sicher, was, hoffte jedoch, dass sich Claire mir anvertrauen würde, wenn ich sie zu diesem seltsamen Familientreffen begleitete.
„Ich weiß nicht, Charlie“, sagte Pat. „Irgendetwas an der Sache fühlt sich nicht richtig an.“
Claire war die erste Person, die ich in Redemption, Wisconsin kennengelernt hatte, als ich ganz zufällig hier gelandet bin, weil ich auf der Flucht vor meinem gewalttätigen Verlobten war und nur deshalb in Redemption Halt gemacht hatte. Denn ich hatte mich verfahren. Und nie hier bleiben wollen, mittlerweile jedoch erkannt, dass Redemption seine eigenen Vorstellungen davon hatte, wer blieb und wer ging. Bevor ich wusste, wie mir geschah, hatte ich ein Haus gekauft (und zwar nicht irgendein Haus, sondern das für die Einwohner „gruseligste“ Haus in einer Stadt, in der es ohnehin schon spukte). Und darin ein Teegeschäft eröffnet.
Pat war eine meiner ersten Kundinnen gewesen und wurde schließlich zu einer meiner besten Freundinnen, obwohl sie mehr als ein Jahrzehnt älter war als ich. Sie wurde gewissermaßen meine „Partnerin in Crime“, als ich ungewollt in die Aufklärung von Verbrechen im Zusammenhang mit meinen Kundinnen und Kunden gezogen worden war. Wie alles andere in Redemption war auch das nichts, was ich geplant hatte. Am liebsten hätte ich meine Tage damit verbracht, in Ruhe in meinem Garten zu werkeln sowie Teemischungen und Tinkturen herzustellen. Ich war gar kein Fan davon, in den Fokus anderer zu geraten und Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen, genau das war bei der Aufklärung von Verbrechen aber unglücklicherweise nicht zu vermeiden.
Doch leider hatte das, was ich wollte, wenig mit dem zu tun, was ich bekam. Wenigstens würde mich dieser Wochenendausflug, so unangenehm er auch werden mochte, für eine kurze Zeit aus der Verbrechensaufklärung heraushalten.
„Ich finde auch, dass sich etwas daran nicht richtig anfühlt“, sagte ich. „Dass ich anstelle von Doug mitfahre, ist nicht gerade hilfreich.“ Doug war Claires Ehemann und der Vater ihrer Tochter.
„Warum kommt Doug eigentlich nicht mit?“, fragte Pat und nahm sich einen weiteren Keks, obwohl sie sich hinterher zweifellos darüber beschweren würde, dass die zusätzlichen Kalorien ihrer derzeitigen Diät in die Quere kamen. Pat ließ sich am besten als „rund“ beschreiben – rundes Gesicht, runder Körper, runde schwarze Brille und kurzes braunes Haar, das langsam grau wurde.
„Claire meinte, das wäre wegen Daphne. Sie haben niemanden, der so kurzfristig über drei Tage auf sie aufpassen kann, und sie denken, dass sie noch zu jung ist, um sie mitzunehmen. Ganz zu schweigen davon, dass das Haus nicht gerade babysicher ist.“
Pat verdrehte die Augen. „Das ist eine Untertreibung.“
„Das ist logisch, sie hat es mir erklärt“, sagte ich. „Das Haus ist alt und wurde wohl nicht oft genutzt. Allerdings ist Claire nicht näher darauf eingegangen, warum.“
„Das kann ich dir sagen“, entgegnete Pat. „Weil es dort spukt, darum.“
Ich seufzte. „Also gut, ich will Details. Erzähl mir mehr.“
„Ich erinnere mich nicht mehr an alle Einzelheiten“, sagte Pat, und ich schüttelte entnervt den Kopf. „Hey, das hier ist Redemption“, fügte sie abwehrend hinzu. „Ich kann mich nicht mit allem Seltsamen beschäftigen, was in dieser Stadt vor sich geht. Dann hätte ich für nichts anderes mehr Zeit.“
„Du kennst also nicht alle Einzelheiten, aber doch zumindest ein paar, nehme ich an?“
Pat warf mir einen unbeeindruckten Blick zu. „Du bist echt nie um einen Spruch verlegen. Okay, Folgendes weiß ich: Vor etwa zwanzig oder dreißig Jahren …“ Sie runzelte die Stirn. „Vielleicht ist es auch länger her, ich kann mich nicht genau erinnern. Jedenfalls beschloss Florence, Claires Großmutter, ein paar Arbeiten am Haus durchführen zu lassen. Die Küche wurde renoviert … oder vielleicht war es auch der Keller. Jedenfalls ist etwas passiert, und der Bauunternehmer kam ums Leben.“
Meine Augen weiteten sich. „Er ist gestorben?“
Pat nickte. „Ja, es war ein tragischer Unfall. Er ist von einer Leiter gestürzt oder so. Bei den Ermittlungen stellte sich heraus, dass alle möglichen seltsamen Dinge passiert waren. Immer wieder wurden Dinge auf der Baustelle verschoben, obwohl alle Bauarbeiter schworen, nichts angefasst zu haben. Werkzeuge funktionierten nicht mehr und Batterien gingen leer, selbst wenn sie ganz neu waren. Sein Assistent weigerte sich, nach dem Tod seines Chefs ins Haus zurückzukehren. Er sagte, es sei zu unheimlich und er wolle nichts damit zu tun haben.“
„Wow“, sagte ich. „Wurden die Renovierungen überhaupt abgeschlossen?“
Pat runzelte die Stirn. „Ich bin mir nicht sicher. Ich weiß nur, dass das nicht einfach war. Die meisten Bauunternehmer wollten das nicht machen. Und die wenigen, die sich darauf einließen, sprangen nach kurzer Zeit doch wieder ab.“
„Was hat Florence dazu gesagt? Sie hat doch dort gewohnt, als das alles passiert ist, oder?“
Pat schüttelte den Kopf. „Nein, es war immer ein Ferienhaus. Ich bin mir nicht sicher, wie sie in dessen Besitz gekommen ist. Wenn ich mich recht erinnere, hat es die Familie ihres Mannes gekauft, und irgendwie wurde es dann auf sie überschrieben. Aber sie hat immer in der Stadt gelebt. Allerdings verbrachte sie gerne lange Wochenenden dort, sogar im Winter. Sie liebte Skilanglauf und Schlittschuhlaufen. Es war ihr nur zu abgelegen, um dauerhaft so weit draußen zu wohnen.“
„Ist sie immer noch zum Haus gefahren, nachdem das alles passiert war?“
„Eine Zeit lang schon“, sagte Pat. „Flo hat immer darüber gelacht. Über die Geistergeschichten, meine ich. Sie sagte, das sei nichts im Vergleich zu Helens … äh, also jetzt deinem, Haus.“
„Sie hat also nicht daran geglaubt?“
Pat zögerte. „Nein. Jedenfalls nicht damals. Obwohl ich vermute, dass das zu einem Zerwürfnis in der Familie geführt hat, da Claires Mutter, Daisy, sehr wohl an Geister glaubte. So genau weiß ich das alles nicht mehr. Geändert hat es sich erst, als Billy verschwand.“
„Wer ist Billy?“
„Flos einziger Sohn, Claires Onkel. Ich glaube, das war … Es muss inzwischen zwanzig Jahre oder so her sein, deshalb denke ich, dass die Renovierungsarbeiten früher angegangen wurden. Jedenfalls ist er verschwunden, und Flo war dermaßen erschüttert, dass sie sich fast völlig zurückzog. Sie ging nicht mehr in die Kirche, traf sich nicht mehr mit Freunden, fuhr nicht mehr zu ihrem Cottage, wie sie es nannte, obwohl es offenbar ein riesiges Anwesen ist – zumindest größer als die meisten Häuser. Verstehst du jetzt, warum ich es so merkwürdig finde, dass ihr Testament in einem Haus verlesen werden soll, in dem sie seit gut zwanzig Jahren nicht mehr gewesen ist?“
Jetzt, nachdem mir Pat die ganze Geschichte erzählt hatte, konnte ich ihre Reaktion durchaus verstehen. „Kanntest du Flo?“
Pat nickte mit trauriger Miene. „Aus der Kirche. Sie war eine der Lehrerinnen, die mich am Sonntag unterrichteten, und später waren wir gemeinsam in ehrenamtlichen Ausschüssen. Es ist nicht so, dass wir beste Freundinnen waren, aber ich mochte sie. Wenn sie dabei war, hat alles viel mehr Spaß gemacht.“ Pat nahm eine Serviette und betupfte sich die Augen. „Es ist schade, dass sie verstorben ist. Vor allem, da sie nie über Billys Verschwinden hinweggekommen ist.“
„Was ist mit Billy passiert?“
Pat runzelte die Stirn. „Das ist jetzt schon so lange her. Ich meine, mich zu erinnern, dass es Streitigkeiten innerhalb der Familie gab. Billy war wütend auf jemanden … womöglich Daisy?“
Ich musterte sie überrascht. „Claires Mom?“
„Ja, es gab Ärger zwischen Daisy und dem Rest der Familie. Auch mit Claire. Worum es ging, weiß ich allerdings nicht genau.“
„Auch mit Claire, was meinst du damit?“
Pat seufzte. „Darüber hat Flo auch nie viel gesagt. Aus dem, was sie mir erzählte, konnte man schließen, dass sowohl Daisy als auch Claire, na ja, vom Rest der Familie ‚entfremdet‘ sind. Obwohl das nicht ganz das richtige Wort ist, denn ich glaube, sie waren gelegentlich bei den größeren Familientreffen dabei.“
„Claire versteht sich nicht mit dem Rest ihrer Familie?“ Das war mir neu.
Pat warf mir einen „Hast du es jetzt kapiert?“-Blick zu. „Es fing mit Daisy an. Flo hat nie wirklich darüber gesprochen, aber es war klar, dass Daisy das schwarze Schaf in der Familie war. Als dann Claire und Amelia dazukamen, schlüpfte Claire ebenfalls die Rolle des schwarzen Schafs, wie ihre Mutter.“
„Amelia?“
„Claires Schwester.“
„Claire hat eine Schwester?“ Auch das war mir neu.
Pat lehnte sich mit einem „Ich hab’s dir ja gesagt“-Lächeln in ihrem Stuhl zurück und schüttelte den Kopf. „Hältst du es immer noch für eine gute Idee, Claire zu begleiten?“
„Ich denke, es ist ein bisschen zu spät, um doch abzusagen.“
Als ich zum ersten Mal nach Redemption kam, verloren und verwirrt, beschloss ich, in Aunt May’s Diner eine Pause einzulegen, einen Kaffee zu trinken und einen Happen zu essen. Ich hatte darauf gehofft, dass mir das helfen würde, einen klaren Kopf zu bekommen und herauszufinden, wie ich wieder auf die Hauptstraße kam. Claire war meine Bedienung. Eines führte zum anderen, und schließlich wurde sie eine meiner besten Freundinnen.
Deshalb fand ich es seltsam, dass sie mir nichts von ihrer Schwester erzählt hatte. Ich war zwar nie davon ausgegangen, dass sie mir jedes ihrer Geheimnisse anvertraute, aber dass sie eine Schwester hatte, konnte kaum einfach so untergehen.
Pat zuckte mit den Schultern. „Schaufel dir schon mal dein Grab.“
Ich verdrehte die Augen. „Ich muss sagen, das wirft ein ganz neues Licht auf ihre Familienprobleme. Eine Schwester, über die sie nicht spricht, und die Tatsache, dass sie und ihre Mutter die schwarzen Schafe der Familie sind … Warum hat sie mich gefragt, anstatt einfach mit ihrer Mutter hinzugehen?“
Pat rutschte auf ihrem Stuhl hin und her, bevor sie nach ihrem Tee griff. „Du weißt wohl auch nicht, dass Daisy an Demenz erkrankt ist.“
Ich schlug mir eine Hand vor den Mund. „O nein!“
Pat nickte traurig. „Ja, die ganze Situation ist tragisch. Sie lebt in einem Pflegeheim.“
Wieder drängte sich mir die Frage auf, wie gut ich meine Freundin überhaupt kannte. „Wann ist das passiert?“
„Oh, das ist lange her“, sagte Pat. „Mindestens ein Jahrzehnt, vielleicht länger. Lange, bevor du hierhergekommen bist. Sie ist früh daran erkrankt, sehr früh. Ich erinnere mich noch an die Zeit. Flo war außer sich vor Kummer. Erst verschwand Billy, dann wurde Daisy krank … Flo dachte, dass die Familie verflucht sein müsste. Jedenfalls hat Claire nie gern darüber geredet, deshalb wundert es mich nicht, dass sie es dir nie erzählt hat.“
„Wow“, sagte ich und versuchte, alles, was ich von Pat erfahren hatte, zu verarbeiten. So viele Tragödien in einer Familie. Ein Spukhaus, und obendrein noch eine Testamentsverlesung darin. Kein Wunder, dass Pat mich für verrückt hielt.
Einen Moment lang spielte ich mit dem Gedanken, einen Rückzieher zu machen, verwarf ihn aber gleich wieder. Claire brauchte mich, das hatte auch der verzweifelte Tonfall, in dem sie mich gebeten hatte, sie zu begleiten, deutlich gemacht. Damals verstand ich den Unterton in ihrer Stimme nicht, dachte, ich hätte ihre Trauer womöglich als Verzweiflung falsch verstanden, aber jetzt wusste ich, dass das nicht der Fall war.
Sie brauchte mich als Beistand. Nicht ihren Mann Doug, sondern mich.
Und ich konnte sie nicht hängen lassen.
„Willst du sie immer noch begleiten?“, fragte Pat und zog eine Augenbraue hoch.
„Ich glaube, es wäre richtig mies von mir, jetzt noch abzusagen“, erwiderte ich. „Außerdem ist es nur ein Wochenende. Das werde ich wohl überleben.“
Pat lachte laut auf.
„Du passt doch trotzdem auf Nachtschatten auf, oder?“
Als er seinen Namen hörte, öffnete mein Kater ein grünes Auge und sah mich an. Er hatte sich auf einem der Küchenstühle zusammengerollt, der natürlich dicht ans Fenster geschoben werden musste, damit er im Sonnenlicht baden konnte.
Pat sah ebenfalls zu ihm hinüber. „Ja, natürlich. Ein armes, unschuldiges Tier sollte nicht für die Fehltritte seines Menschen büßen müssen.“
Nachtschatten schloss sein Auge und schien sofort wieder einzuschlafen.
„Offensichtlich weiß er dein Mitgefühl zu schätzen“, merkte ich an.
Kapitel 2
„Also, willst du mir nicht ein bisschen mehr über diese Testamentsverlesung erzählen?“
Claire warf mir einen flüchtigen Blick zu, während sie den Wagen durch die überraschend belebten Straßen der Stadt lenkte. Es schneite, zwar nicht stark genug, um die Sicht zu beeinträchtigen, aber der Boden wurde ein wenig rutschig. „Was willst du wissen?“ Im Gegensatz zu ihrer knallroten Strickmütze war ihr Gesicht blass, und feine Fältchen der Anspannung hatten sich um ihre haselnussbraunen Augen gelegt.
„Na ja, das ist schon etwas seltsam, oder nicht? Eine Testamentsverlesung, die an einem Wochenende in einem abgelegenen Landhaus stattfindet? Das klingt eher nach einem Familienurlaub als nach etwas, das man normalerweise innerhalb einer Stunde in einer Anwaltskanzlei erledigt.“
Ein schwaches Lächeln umspielte Claires Lippen. „Das ist typisch für Grandma Flo. Sie musste immer aus der Reihe tanzen, ihr eigenes Ding machen.“ Das Lächeln verblasste, und sie stieß einen Seufzer aus. „Ich weiß, dass ich dir gewisse Dinge schon früher hätte sagen sollen. Es ist ja nicht so, dass du sie nicht wissen sollst, es fällt mir nur schwer, darüber zu reden. Aber ist das mit Familienangelegenheiten nicht immer so?“ Erneut warf sie mir einen flüchtigen Blick zu. „Was hat Pat dir erzählt?“
„Woher weißt du, dass Pat etwas gesagt hat?“
Sie hob die Brauen. „Ach, komm schon. Glaubst du wirklich, ich weiß nicht, dass du mit ihr darüber gesprochen hast?“
„Na ja, ich habe sie gebeten, auf Nachtschatten aufzupassen. Ich wollte nicht hinter deinem Rücken tratschen oder so“, begann ich, aber sie winkte ab.
„Ich weiß, das wollte ich damit auch nicht andeuten. Natürlich würdest du mich nie absichtlich hintergehen, das ist mir schon klar. Was glaubst du, warum ich dich gebeten habe, mitzukommen? Aber abgesehen davon kenne ich auch Pat.“
„Auch sie wollte dich nicht verletzen“, erwiderte ich in dem Bedürfnis, meine Freundin zu verteidigen.
Claire sah mich nachdenklich an. „Nein, bestimmt nicht. Ich weiß nur, wie gerne sie Geschichten über die Leute in ihrem Freundeskreis und ihrer Nachbarschaft … teilt.“
„Hm.“ Ich wusste nicht, was ich darauf entgegnen sollte. Claire hatte recht, Pat tratschte wirklich für ihr Leben gern. „Sie hat mich gewarnt … Angeblich soll es in dem Haus spuken.“
Beinahe rechnete ich damit, dass Claire lachte, stattdessen rümpfte sie konzentriert die Nase. „Ich würde nicht unbedingt sagen, dass es spukt, nicht wie bei dir. Aber irgendetwas geht in diesem Haus vor sich.“ Sie erschauderte und bog dann vorsichtig auf eine der Hauptstraßen ab, die aus der Stadt führten.
Ich warf ihr einen fragenden Blick zu. „Was meinst du damit?“
„Das ist schwer zu erklären. Anfangs schien alles in Ordnung zu sein. Während ich aufwuchs, besuchte ich das Haus regelmäßig, und die meisten Erinnerungen an meine Kindheit sind wirklich glücklich.“ Sie zögerte und kniff die Augen zusammen, umklammerte das Lenkrad fester.
„Die meisten?“
Sie schürzte die Lippen. „Kennst du diese Tage, die sonnig und klar beginnen, und dann zieht wie aus dem Nichts ein Unwetter auf? Plötzlich ist es dunkel, bewölkt und kühl, vielleicht donnert und blitzt es sogar. Und dann ist das Gewitter ebenso schnell wieder vorbei, die Wolken verziehen sich und die Sonne scheint wie zuvor. So ist es auch in dem Haus. Es gibt Augenblicke in denen alles einfach … dunkel erscheint. Als würde ein Schatten über das Anwesen fallen. Es wird düster und bedrückend, man kann sich kaum bewegen … sogar kaum atmen. Ich erinnere mich daran, wie ich einmal mit einer Freundin hingefahren bin. Sie hatte Asthma, und als dieser Schatten auf das Haus fiel, bekam sie einen heftigen Anfall. Es war so schlimm, dass wir sie schließlich ins Krankenhaus bringen mussten. Ich muss wohl nicht erwähnen, dass unsere Freundschaft danach beendet war. Wie dem auch sei … Diese Schattenmomente, wenn man sie so nennen will, kommen und gehen ebenso schnell wieder wie ein Sommersturm. Plötzlich verschwinden sie und alles ist so, wie es war. Da fragt man sich, ob man sich die Dunkelheit nur eingebildet hat. Aber im Herzen weiß man, dass dem nicht so war.“
Während ich ihr zuhörte, wurde mir immer mulmiger zumute. Vielleicht hatte Pat recht und es war ein Fehler, Claire zu begleiten. „Ist der Bauunternehmer vielleicht während einer dieser Schattenmomente verunglückt und gestorben?“
Claire presste die Lippen zusammen. „Wahrscheinlich. Ich war natürlich nicht dabei, deshalb kann ich es nicht mit Sicherheit sagen. Aber wenn ich raten müsste, dann ja.“
„Was hat es mit diesem Unfall auf sich?“
Der Schnee fiel immer stärker. Claire sah angestrengt auf die Straße und nahm den Fuß vom Gaspedal. „Im Laufe der Jahre beauftragte Grandma regelmäßig Handwerker mit kleineren Renovierungsarbeiten. Sie plante immer so, dass sie vor Ort war, wenn diese stattfanden, damit sie alles im Auge behalten konnte. Zumindest behauptete sie das. Aber ich glaube, dass es wegen der Schattenmomente war. Sie wollte dabei sein, um die Dinge wieder ins Lot bringen zu können, falls es zu einem dieser Momente kam.“
„Deine Familie wusste also von diesem schwarzen Zauber?“
Claire lächelte schief. „Das ist eine heikle Frage.“
„Inwiefern?“
„Natürlich wussten sie davon. Wie könnten sie auch nicht? Aber inwieweit sie sich darauf einlassen wollen, ist eine ganz andere Frage.“
„Das verstehe ich nicht.“
Sie warf mir einen gequälten Blick zu. „Das wirst du noch. Aber um deine Frage über Grandma zu beantworten: Ja, sie wusste von den Schattenmomenten. Doch wenn du sie danach gefragt hättest, hätte sie gesagt, das sei alles Unsinn – auch, dass es in dem Haus spukte. Sie glaubte nicht an Geister und meinte, mit dem Landhaus sei alles in Ordnung.
Wie dem auch sei, sie sorgte immer dafür, dass sie bei Renovierungsarbeiten dabei war, und sie plante nur kleinere Modernisierungen, damit sie diese zeitlich unterbringen konnte. Aber eines Tages beschloss sie, den Keller komplett umbauen zu lassen und ihn in einen riesigen Hobbyraum mit einer Bar zu verwandeln. Das sollte uns Kindern mehr Möglichkeiten bieten, uns drinnen zu beschäftigen, wenn das Wetter schlecht war. Besonders im Winter gab es Tage, an denen es zu kalt war, um lange draußen zu sein.
Allerdings war das Projekt zu groß, als dass sie die ganze Zeit über hätte dabei sein können. Und als der Bauunternehmer starb, war sie natürlich gerade nicht da.“
„Weißt du, wie er gestorben ist?“
Sie schüttelte den Kopf. „Es war ein tragischer Unfall, aber genau erinnere ich mich nicht daran. Ich weiß nur noch, dass der andere Bauunternehmer, der an dem Projekt beteiligt war, völlig ausgeflippt ist. Er war überzeugt, dass es in dem Haus spukte, und was auch immer es war, müsse gefährlich sein. Es hat mich nicht überrascht, dass er sich weigerte, die Arbeiten zu beenden. Ebenso wenig überraschte es mich, dass andere Bauunternehmer, die davon erfuhren, nichts damit zu tun haben wollten. Die wenigen, die mutig oder verzweifelt genug waren, sich der Aufgabe zu stellen, hielten nicht lange durch. Nicht unbedingt, weil ihnen etwas zugestoßen ist, sondern weil einfach ein Schatten über dem Haus lag, über den alle spekulierten. Deshalb wurde der Kellerumbau nie abgeschlossen.“
„Was ist mit dir? Hast du nach dem Tod des Bauunternehmers dort noch Zeit verbracht?“
„Anfangs ja. Meine Großmutter wollte nicht zugeben, dass etwas nicht in Ordnung war, und uns beweisen, dass sie recht hatte. Also ließ sie uns alle dort antanzen, als sei nichts geschehen. Aber …“ Sie hielt inne und biss sich auf die Lippe. „Irgendetwas stimmte nicht. Nach dem Tod des Bauunternehmers hat sich etwas verändert. Es ist schwer zu erklären, alles fühlte sich einfach … anders an. Vielleicht lag es daran, dass uns allen unbehaglich zumute war, weil wir wussten, dass kürzlich jemand in dem Haus gestorben war. Oder vielleicht spukte es auch wirklich. Auf jeden Fall schien dort niemand mehr so richtig Spaß haben zu können. Selbst Grandma fühlte sich unwohl. Also wurden unsere Besuche mit der Zeit immer seltener.
Vor allem meine Mutter wollte nie hinfahren, weil sie dort immer nervös wurde. Allerdings schien sie vor dem Tod des Bauunternehmers eher bereit gewesen zu sein, die Strapazen auf sich zu nehmen. Ich glaube, sie wollte den Frieden wahren, also hat sie den Mund gehalten und das getan, was von ihr erwartet wurde. Aber nach dem Unfall war es ihr wohl zu viel. Sie konnte es einfach nicht mehr ertragen, in dem Cottage zu sein. Ich war froh, dass wir nicht mehr hinfuhren, denn mir gefiel es dort auch nicht mehr. Als ich jünger war, bekam ich das nicht so mit, aber je älter ich wurde, desto unwohler fühlte ich mich in dem Haus. Trotzdem wollte meine Großmutter nichts davon hören. Sie behauptete immer, dass wir nur schlechte Stimmung machen wollten.“ Obwohl ihre Miene gleichblieb, ging eine Anspannung von ihrem Körper aus, die vorher nicht dagewesen war.
„Warum hat deine Großmutter so reagiert?“
Claire schüttelte den Kopf. „Ich bin mir nicht sicher. Als meine Mutter noch jünger war, muss etwas vorgefallen sein, aber sie hat nie darüber gesprochen. Sie sagte, das sei nichts, worüber sich ein Kind den Kopf zerbrechen solle. Und als ich alt genug war, um darüber zu reden, wurde sie dement. Damit hatte sich die Sache dann erledigt.“
„Das mit deiner Mutter tut mir leid“, sagte ich.
Claire nickte knapp. „Ich hätte es dir schon früher sagen sollen. Auch das mit meiner Schwester. Hat Pat dir von ihr erzählt?“
„Ja, aber ich weiß nur, dass du eine Schwester hast, sonst nichts.“
„Habt ihr auch über meine Mutter gesprochen?“
„Ja, allerdings erwähnte Pat keine Einzelheiten, nur, dass sie in einem Pflegeheim ist.“
„Das ist so ziemlich die ganze Geschichte“, sagte Claire. „Mit ihr ging es recht schnell bergab. Körperlich ist sie in guter Verfassung, aber mental ist sie eigentlich komplett weg. Gelegentlich hat sie noch Momente, in denen sie klar denken kann, doch die nehmen im Laufe der Jahre immer mehr ab.“
Ich legte eine Hand auf ihr Knie. „Das tut mir wirklich leid.“
Sie lächelte mich unter Tränen an. „Danke. Also, was hat Pat noch erzählt?“
Ich nahm meine Hand von ihrem Knie und lehnte mich zurück. „Dass es zwischen dir und deiner Mutter, und dem Rest der Familie, ein Zerwürfnis gab. Aber auch hier wusste sie nicht, warum.“
Claire konzentrierte sich wieder auf die Straße. „Das ist nett ausgedrückt.“
„Hast du mir deshalb nichts von deiner Schwester erzählt? Oder über den Rest deiner Familie?“
Nachdenklich runzelte sie die Stirn. „Die einfache Antwort wäre wohl ja, aber es ist komplizierter als das“, sagte sie schließlich. „Es liegt eher daran, dass ich nicht darüber nachdenken will. Ich spreche nicht gern darüber, denn dann muss ich mich damit beschäftigen, und das möchte ich nicht. Jetzt kann ich ohnehin nichts mehr daran ändern.“ Wieder warf sie mir einen flüchtigen Blick zu. „Was ich jetzt sage, darfst du nicht falsch verstehen, denn wir wären so oder so Freundinnen geworden, aber ich fand es einfach angenehm, dass du nichts über meine Vergangenheit gewusst hast. Jeder hier weiß darüber Bescheid, deshalb konnte ich ihr nie entkommen. Mit dir Zeit zu verbringen, war eine willkommene Abwechslung, weil ich nicht darüber reden musste.“
„Das verstehe ich“, sagte ich, während ich an die Vergangenheit dachte, vor der ich davongelaufen war. Mein Umzug nach Redemption bedeutete, dass ich nicht über das reden musste, was ich in New York zurückgelassen hatte. „Ich spreche auch nicht gern über meine Vergangenheit.“
Sie lächelte leicht. „Das stimmt. Was das angeht, bist du noch schlimmer als ich.“ Ihr Lächeln verblasste. „Aber im Ernst, es war eine schmerzhafte Zeit für mich. Meine Mutter war meine beste Freundin und größte Fürsprecherin. Als bei ihr Demenz diagnostiziert wurde, brach eine Welt für mich zusammen. Plötzlich hatte ich das Gefühl, ohne Familie dazustehen.“
„Das kann ich gut nachvollziehen“, sagte ich, und das stimmte auch. Niemand in meiner Familie verstand, warum ich New York Hals über Kopf verlassen hatte und in eine Kleinstadt in Wisconsin gezogen war. Keiner von ihnen hatte mir geglaubt, dass mein Verlobter gewalttätig gewesen war – sie dachten, ich würde übertreiben. Schlimmer noch, sie hatten mir deswegen immer noch nicht ganz verziehen.
„Ich weiß.“ Ihre Augen spiegelten den Schmerz wider, der mir wahrscheinlich ebenfalls ins Gesicht geschrieben stand.
„Also, was ist passiert? Wie kam es zu dem Zerwürfnis in der Familie?“
Sie atmete scharf aus. „Du hast doch mitbekommen, dass ich manchmal Dinge einfach weiß, oder?“ Sie warf mir einen nervösen Blick zu, als hätte sie Angst, dass ich plötzlich aus dem Wagen springen würde, anstatt mir anzuhören, was sie zu sagen hatte. „Oder dass ich manchmal ein Gespür für Dinge habe, die noch gar nicht passiert sind?“
Ich nickte.
„Bei meiner Mutter war es genauso, allerdings noch wesentlich stärker ausgeprägt. Jedenfalls sind wir die einzigen in der Familie. Der Rest behauptet, dass sie so etwas nicht haben.“
Ich wartete, während sie abbremste, um in eine noch schmalere Landstraße einzubiegen. Mittlerweile bildeten sich kleine Schneehügel am Straßenrand. „Und …?“, hakte ich nach, als sie nicht fortfuhr.
„Und, was?“
„Was noch? Es muss doch noch mehr geben.“
Claire seufzte. „Wahrscheinlich schon, aber mehr weiß ich nicht. Meiner Großmutter gefiel es nicht, wenn wir über diese Vorahnungen oder unser Gespür sprachen. Das ist einer der Gründe, warum sie nie etwas davon hören wollte, dass mit dem Haus etwas nicht stimmte. Ich habe keine Ahnung, was passiert ist, als meine Mutter noch ein Kind war. Was auch immer dort geschehen sein mag, weder meine Großmutter noch meine Tante Iris wollten ein Wort über das hören, was meine Mutter oder ich ahnten oder spürten. Bei mir fing das erst an, als ich etwas älter war, und es trieb einen Keil zwischen mich und den Rest der Familie. Vor allem zwischen mich und Amelia.“
„Deine Schwester?“
Sie nickte. „Wir standen uns als Kinder sehr nahe, aber als wir älter wurden und ich dasselbe erlebte wie meine Mutter, wollte Amelia nichts mehr mit mir zu tun haben. Sie verbrachte lieber Zeit mit Tante Iris und unseren Cousins und Cousinen als mit mir.“ Kurz ließ sie das Lenkrad los, um sich über die Augen zu wischen, aber nicht, bevor ich den Schmerz darin gesehen hatte.
„Das ist wirklich hart“, sagte ich.
„Ja, das war es. Genau zu der Zeit verschwand auch mein Onkel Billy, was die Sache noch schwieriger machte.“ Sie warf mir einen Blick zu. „Bestimmt hat Pat dir auch von ihm erzählt?“
„Ja, sie hat erwähnt, dass du einen Onkel hattest, der verschwunden ist.“
Claire nickte. „Das brachte das Fass zum Überlaufen. Anschließend besuchte niemand mehr das Landhaus, nicht einmal Grandma. Sie fuhr nur noch ein paar Mal im Jahr hin, um nach dem Rechten zu sehen. Einer der Nachbarn schaute regelmäßig vorbei. Wenn ich mich recht erinnere, hat er auch kleine Reparaturen und andere handwerkliche Arbeiten erledigt, aber das war’s.“
„Wenn niemand mehr das Haus benutzte, warum hat sie es dann nicht verkauft?“
Claire schnaubte. „Glaubst du, es ist einfach, ein Haus loszuwerden, in dem es spukt? Versuch’s mal mit deinem Haus und warte ab, was passiert.“
Damit hatte sie recht. „Sie hätte es doch an jemanden verkaufen können, der nicht von hier ist und die Schauergeschichten nicht gehört hat.“
„Ja, aber wenn diese Person den halb renovierten Keller gesehen und gefragt hätte, was vorgefallen ist, hätte der Makler denjenigen über den Tod des Bauunternehmers informieren müssen und dass sich niemand finden ließ, der die Arbeiten beendete. Damit hat sich die Sache ziemlich schnell erledigt, wie du dir vorstellen kannst.“
„Also hat deine Großmutter all die Jahre daran festgehalten?“
„Ja.“
„Wow.“ Das kam mir so merkwürdig vor. „Es überrascht mich, dass sie nichts dagegen unternommen hat. Kam ihr nie in den Sinn, den handwerklich begabten Nachbarn zu fragen, den Kellerumbau abzuschließen?“
„Ich bin mir nicht sicher. Aber ehrlich gesagt weiß ich nicht, ob sie es überhaupt verkauft hätte.“
„Warum nicht?“
Claire runzelte die Stirn. „Sie hatte eine … Verbindung zu dem Haus. So lässt es sich wohl am einfachsten erklären. Sie liebte es einfach so sehr, und selbst nach allem, was passiert war, konnte sie sich nicht davon trennen. Um fair zu sein, gab es auch viele schöne Erinnerungen, die mit dem Anwesen verbunden waren. Vielleicht klammerte sie sich an die Hoffnung, dass wir alle irgendwann wieder dorthin zurückkehren könnten, vor allem, falls Onkel Billy jemals wieder auftauchen sollte.“
„Das ergibt Sinn.“ Ich beobachtete, wie Claire erneut auf eine Straße abbog, die tiefer in den Wald führte. „Meine Güte, jetzt schneit es aber wirklich.“ In der Tat häufte sich der Schnee auf den Ästen der Bäume.
„Ja, um diese Jahreszeit war es immer am besten im Landhaus.“ Claire lächelte knapp. „Allerdings werden wir dieses Mal wohl kaum Schneeburgen bauen und Schneeballschlachten führen.“
„Was machen wir denn dann? Ich meine, ist es nicht ein bisschen verrückt, das Wochenende hier oben zu verbringen, wenn man das bedenkt, von dem du mir gerade erzählt hast?“
„Doch, schon. Aber irgendwie auch nicht. Wie ich bereits sagte, liebte Grandma das Haus einfach so sehr. Vielleicht wollte sie uns dazu bringen, ein letztes Mal so viel Spaß wie früher dort zu haben, bevor es verkauft wird.“
„Du glaubst also, dass es jetzt verkauft wird?“
„Es gibt niemanden in der Familie, der daran hängt.“
„Aber warum sollte es jetzt möglich sein, das Spukhaus loszuwerden, wenn das vor Jahren nicht ging?“
„Ich denke, wer auch immer es erbt, wird es verkaufen wollen“, erwiderte Claire. „Und tun, was immer dafür nötig ist. Wenn wir den Keller fertigstellen müssen, wird das auch irgendwie klappen. Wenn wir mit dem Preis heruntergehen müssen, dann werden wir das tun. In der aktuellen Situation kann ich mir nicht vorstellen, dass jemand aus der Familie um der alten Zeiten willen daran festhält.“
Ich studierte Claires entschlossene Miene. „Glaubst du, dass du es erben wirst?“
„Ich habe keine Ahnung, aber deshalb gehe ich ja hin“, erwiderte sie.
Ich musterte sie überrascht. Ich hätte sie nie für geldgierig gehalten.
Sie musste meinen Blick bemerkt haben. „Nicht wegen mir“, sagte sie. „Wegen Daphne.“
„Du glaubst, deine Tochter könnte es erben?“
„Daphne ist Grandmas einzige Urenkelin“, erklärte sie. „Weder meine Schwester noch meine Cousinen oder Cousins haben schon Kinder. Also ja, möglich wäre es. Und meiner Tochter zuliebe werde ich mit allem fertig, was auf mich zukommt. Allerdings …“ Sie hielt inne, und ihre Miene wurde nachdenklich. „Ich möchte mich auch verabschieden. Grandma war überglücklich, als Daphne geboren wurde. Sie hat sich so darauf gefreut, Urgroßmutter zu werden. Durch Daphne hatte ich die Chance, meine Beziehung zu Grandma wieder zu kitten, was einfach, na ja, wundervoll war.“ Sie schenkte mir ein schwaches Lächeln. „Mir wurde klar, wie sehr ich den Kontakt zu meiner Familie vermisste. Nachdem meine Mutter ins Pflegeheim kam, verdrängte ich diese Gefühle, weil sie zu schmerzhaft waren. Aber diese letzten paar Jahre mit Grandma … Die waren einfach nur schön.“
„Ich bin froh, dass du diese Zeit mit ihr hattest“, sagte ich.
Sie nickte. „Danke, das bin ich auch. Oh, schau, wir sind da!“ Abermals bog sie auf eine sehr schmale Straße ein. Eigentlich war es mehr ein Pfad als eine Straße. Die Reifenspuren darauf machten deutlich, dass wir nicht die Ersten waren, die eintrafen. Der festgefahrene Schnee knirschte unter den Reifen und Zweige scharrten über die Windschutzscheibe, während wir uns dem Anwesen langsam näherten.
„Hinter dem Haus gibt es einen größeren Parkplatz“, sagte Claire. „Hoffentlich ist er noch befahrbar. Grandma hat ihn anlegen lassen, damit wir bei unseren Treffen genug Platz für alle Autos haben. Vermutlich werden wir den heute auch brauchen.“
„Was denkst du denn, wie viele Leute kommen werden?“
Claire runzelte die Stirn. „Schwer zu sagen. Vielleicht zehn bis zwölf?“
„Zehn bis zwölf?“ Langsam wurde mir erst so richtig klar, worauf ich mich da eingelassen hatte. Die Vorstellung, ein Wochenende in einem kleinen, abgelegenen Landhaus mit lauter Unbekannten zu verbringen, erfüllte mich mit Unbehagen. „Wie groß ist das Haus denn? Wo sollen wir alle schlafen?“ Der Schnee fiel mittlerweile so stark, dass man kaum noch die kahlen Bäume sehen konnte. Pat hatte mich gewarnt, dass das Anwesen weit ab vom Schuss war, aber wie sehr, war mir bis zu diesem Augenblick nicht bewusst gewesen. Ich konnte mich nicht einmal daran erinnern, wann ich das letzte Mal ein anderes Haus gesehen hatte.
Claire grinste mich an. Es war das erste aufrichtige Lächeln, seit wir aufgebrochen waren. „Das wird kein Problem sein, glaub mir. Das Haus ist riesig. Es gibt fünf Schlafzimmer plus ein Wohnzimmer und einen Hobbyraum mit einer ausziehbaren Couch. Wir werden uns ein Zimmer teilen.“
„Weiß der Rest deiner Familie, dass ich dich begleite?“
„Sie wissen, dass ich einen Gast mitbringe, aber ich habe ihnen nicht gesagt, wen.“
Ich warf Claire einen Blick zu. Na toll. Was für ein perfekter Start in ein völlig verrücktes Wochenende. Ich wurde nicht einmal erwartet.
„Da ist die Hütte“, sagte sie und deutete aus dem Fahrerfenster. Außer der Holzverkleidung und dem schrägen Dach, das von Schneemassen bedeckt war, konnte ich nicht viel erkennen, als wir langsam daran vorbeifuhren.
„Der Parkplatz scheint befahrbar zu sein. Ich kann Autos sehen.“
Ich warf einen Blick durch die Windschutzscheibe und entdeckte einen schwarzen Pick-up, einen blauen Geländewagen sowie ein paar Mittelklassewagen, die bereits zu eingeschneit waren, als dass man ihre Farbe erkennen könnte. Vorsichtig fuhr Claire auf einen freien Parkplatz und stellte den Motor ab.
„Da wären wir.“
Kapitel 3
Claire hatte recht. Die Hütte bot problemlos Platz für ein Dutzend Erwachsene.
Wir kämpften uns mit unseren beiden Koffern sowie zwei Einkaufstüten durch die immer größer werdenden Schneewehen zur Veranda. Ich war erstaunt, dass Claire Essen mitgebracht hatte und sagte ihr, ich hätte nicht gewusst, dass ich mehr als meinen Tee hätte einpacken sollen. Sie bestand darauf, dass das vollkommen ausreichte – man würde es ihr ewig vorhalten, wenn sie nicht zur Verpflegung für das Wochenende beigetragen hätte.
Als wir das riesige Haus betraten, sah ich, dass es im Blockhüttenstil gehalten war, mit Hartholzböden, Kaminen und einem eher bedauerlichen Siebzigerjahre-Design. Das Wohnzimmer (oder besser gesagt, der enorme Hauptraum) hatte einen massiven Steinkamin, auf dessen hölzernem Sims Kerzen und gerahmte Fotos standen. Direkt gegenüber von uns befand sich eine offene Treppe, die im Zickzack in das obere Stockwerk führte. Ein orangefarbener Zottelteppich erstreckte sich über den Boden, die Sofas und Sessel waren olivgrün und mit senfgelben Kissen ausgestattet. Neben dem Kamin lag ein kastanienbrauner Sitzsack.
„Ich kann mich nicht mal daran erinnern, wann ich zuletzt einen Sitzsack gesehen habe“, sagte ich zu Claire.
„Das ist noch gar nichts“, erwiderte sie und nickte in Richtung einer der Zimmerecken. „Sieh dir nur mal unsere Lavalampe an.“
Ich folgte ihrem Blick, und tatsächlich, auf einem der Beistelltische stand eine Lavalampe.
„Glaubst du, die funktioniert noch?“, fragte ich.
„Bestimmt wird jemand sie einschalten, um das herauszufinden“, sagte sie.
Das Haus roch ein wenig merkwürdig. Oberflächlich lag der stechende Geruch von Desinfektionsmittel, Reinigungsprodukten und Zitronenpolitur in der Luft. Allerdings ließ sich der Hauch von Staub und Vernachlässigung, der allem anhaftete, dadurch nicht überdecken.
„Amelia hat wohl wieder geputzt“, merkte Claire resigniert an.
Bevor ich fragen konnte, was sie damit meinte, kam eine Frau um die Ecke. „Ich wusste doch, dass ich Stimmen gehört habe“, sagte sie in vorwurfsvollem Tonfall. „Schön, dass du endlich da bist.“
„Hallo, Amelia“, sagte Claire. „Ich freue mich auch, dich zu sehen.“
Selbst wenn Claire ihren Namen nicht erwähnt hätte, wäre mir sofort klar gewesen, dass sie miteinander verwandt waren. Amelias kastanienbraunes Haar war etwas dunkler als Claires rotblondes, aber ihre Augen hatten denselben Braunton wie die ihrer Schwester, nicht ganz haselnussbraun. Sie trug ihr Haar in einem kurzen Pixie-Schnitt, und ihr Make-up war makellos. Obwohl ihr Outfit leger war – ein hellbrauner Rollkragenpullover, Jeans und Goldschmuck –, sah sie elegant und zurechtgemacht aus.
Amelia schnaubte. „Wenigstens habt ihr es noch geschafft, bevor der Sturm ausartet. Wie schlimm war die Fahrt?“
„Nicht sehr angenehm“, erwiderte Claire und legte ihren Schal sowie ihre Mütze ab. Durch die statische Aufladung flogen ihr die langen Haare um das Gesicht. Im Gegensatz zu ihrer Schwester trug sie kein Make-up, und ihr roter Pullover hatte einen Fleck auf der Vorderseite. „Aber auch nicht allzu schlimm. Auf jeden Fall wird es immer rutschiger und dadurch schwieriger zu lenken.“
Amelia trat zur Seite und schaute aus dem Fenster. „Sieht so aus, als hätte der Wetterfrosch recht gehabt … Uns steht ein heftiger Sturm bevor. Deshalb wollte ich, dass alle rechtzeitig losfahren, um dem Schlimmsten zu entgehen. Natürlich hätten wir auch Hilfe gebrauchen können, um das Haus für die Besucher vorzubereiten.“
Claire verzog das Gesicht. „Ich wollte Daphne nicht länger als nötig allein lassen.“
Ruckartig wandte Amelia ihr das Gesicht zu. „Du hättest sie mitbringen können. Und Doug auch. Mir ist schleierhaft, warum du das nicht getan hast.“
„Ein Kleinkind hat in diesem Haus nichts verloren“, erwiderte Claire. „Außerdem hätte sie uns nur abgelenkt. Das hier ist übrigens meine Freundin Charlie.“
Amelia musterte mich mit kühlem, abschätzendem Blick. Ich spürte, wie mir die Hitze ins Gesicht schoss, und musste mir selbst versichern, dass an meinem übergroßen, dunkelgrünen Pullover und meiner Jeans nichts auszusetzen war. Da meine blond-brünetten Locken einen ihrer widerspenstigen Tage hatten, hatte ich sie einfach offen gelassen, was eventuell ein Fehler gewesen war. Wie Claire trug ich nur wenig Make-up – lediglich etwas Wimperntusche, um das Grün meiner haselnussbraunen Augen zu betonen, und Lipgloss.
„Das ist keine Party, Claire“, merkte Amelia missbilligend an. „Sondern ein Familientreffen.“ Sie kniff die Augen zusammen. „Allerdings könnte es schlimmer sein … Du hättest ein Date anschleppen können, wie eine gewisse andere Person.“
Claires Augen weiteten sich. „Jeremy hat ein Date mitgebracht?“
Amelia verdrehte die Augen. „Jeremy ist noch nicht einmal hier, aber wie ich ihn kenne, wird er garantiert ein Date im Schlepptau haben, vielleicht sogar noch ein paar andere Leute. Nein, ich spreche von Lucy.“
„Lucy? Ich wusste gar nicht, dass sie mit jemandem zusammen ist“, sagte Claire.
„Deshalb sollte man sich hin und wieder auf Familientreffen blicken lassen“, erwiderte Amelia, und Claire errötete. „In diesem Fall hätte das aber auch nichts gebracht“, fügte ihre Schwester mit einem Naserümpfen hinzu. „Niemand von uns wusste, dass sie jemanden datet.“
„Sprecht ihr über mich?“, trällerte eine helle, muntere Stimme, deren Besitzerin wenige Sekunden später erschien. Sie war klein und kurvig, was ihr enger, rosafarbener Pullover noch betonte, und hatte eine blonde Mähne, die gefärbt sein musste, da die Farbe nicht ganz zu ihren braunen Augen und ihrem Hautton passte. Sie hielt inne, als sie mich sah, und ihr rosa geschminkter Mund formte ein überraschtes O. „Siehst du, Amelia? Ich bin nicht die Einzige, die einen Gast mitgebracht hat“, sagte sie.
„Das heißt nicht, dass es richtig war“, erwiderte Amelia. „Wir sind hier, um Großmutter zu gedenken, nicht um zu feiern.“
Lucy schüttelte den Kopf und warf ihre Lockenmähne über ihre Schulter. „Natürlich sind wir hier, um zu feiern. Wenn Grandma eine traditionelle Bestattung gewollt hätte, hätte sie das Testament in der Kanzlei ihres Anwalts verlesen lassen, wie jeder andere auch. Dass wir das Wochenende auf ihren Wunsch hin zusammen hier verbringen sollen, bedeutet, sie wollte, dass wir ihrer gedenken, indem wir etwas tun, was ihr immer Freude bereitet hat: Zeit in diesem zugigen, alten Haus zu verbringen. Und wie du dich sicher erinnerst, war es nicht unüblich, dass wir Freunde dabeihatten.“ Mit einem Lächeln wandte sie sich mir zu. „Ich bin übrigens Lucy.“
Ich wollte gerade etwas erwidern, als eine weitere Stimme ertönte.
„Charlie?“
Sie war tief, und ich erkannte sie sofort. Bei ihrem Klang krampfte sich mein Magen zusammen.
„Wyle?“
Lucys Date – ein großer, schlanker Mann mit dunklen Haaren und dunklen Augen – betrat das Wohnzimmer. Officer Brandon Wyle. Mist.
Er trug einen marineblauen Pullover, der sich an seine breite Brust schmiegte, dazu Jeans und Timberland-Stiefel. Ich hatte ihn noch nie ohne seine Uniform gesehen und musste zweimal hinschauen, weil ich ihn fast nicht erkannt hätte. Unglücklicherweise sah er in Straßenkleidung sogar noch besser aus. Doppelmist.
Zumindest wirkte er bei meinem Anblick ebenso geschockt wie ich.
„Oh, ihr beide kennt euch?“, fragte Lucy.
„Wir hatten … miteinander zu tun“, erwiderte Wyle, der mich immer noch anstarrte.
So konnte man das natürlich auch ausdrücken. Wir waren des Öfteren aneinandergeraten, als ich ein paar meiner Kundinnen und Kunden dabei geholfen hatte, eine Mordanklage abzuwenden. Wyle war nicht gerade begeistert gewesen, dass ich mich einmischte.
Lucy stieß ein trällerndes Lachen aus. „Ich hoffe, das bedeutet nicht, dass wir jemand Kriminelles unter uns haben.“
„Soweit ich weiß, nicht“, erwiderte Wyle und musterte mich. Ich schenkte ihm ein unschuldiges Lächeln.
„Moment mal“, sagte Amelia und starrte mich an. „Bist du die verrückte Teeverkäuferin, die in Helens altem Haus wohnt?“
„Die bin ich“, bestätigte ich und warf einen Blick aus dem Fenster, um abzuschätzen, wie schlimm der Schneesturm war. Ob es zu spät war, die Flucht zu ergreifen? Ich könnte ja in ein paar Tagen zurückkommen und Claire abholen – vorausgesetzt, ich verfuhr mich nicht. Allerdings bestand dank meines grottigen Orientierungssinns wenig Hoffnung.
Außerdem schneite es mittlerweile noch heftiger. So viel zum Thema Flucht.
„Sie ist nicht verrückt“, sagte Claire. Wyle räusperte sich und hielt sich eine Hand vor den Mund, als versuchte er, ein Grinsen zu verbergen.
„Sie wohnt in einem Spukhaus“, erwiderte Amelia. „Wer, der bei klarem Verstand ist, macht das freiwillig?“
„Angebliches Spukhaus“, korrigierte ich sie.
Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts soll Martha Blackstone, die Ehefrau des Mannes, der das Haus gebaut hatte, verrückt geworden sein, erst ihr Dienstmädchen Nellie und dann sich selbst umgebracht haben. Den Geschichten zufolge suchte die meschugge Martha, wie die Einheimischen sie nannten, das Haus bis heute heim.
Ich hatte es ihrer Tochter Helen abgekauft, und obwohl in meinem neuen Heim einige, nun ja, merkwürdige Dinge vor sich gingen, war ich Marthas Geist bisher noch nicht begegnet.
„Stimmt es, dass du Tränke und Zaubersprüche verkaufst?“, fragte Lucy.
„Definitiv nicht“, erwiderte ich. „Ich verkaufe Tees und Tinkturen, die gesundheitsfördernd sein können, aber ohne Garantie.“
„Oh, ich verstehe“, sagte Lucy und zwinkerte mir zu.
„Nein, wirklich“, begann ich zu protestieren, als Amelia mich unterbrach.
„Genau das habe ich auch gehört. Und dass du eine Hexe bist.“
Meine Augen weiteten sich. „Eine Hexe? Im Ernst jetzt?“
Wyle hustete erneut und presste die Hand fester über seinen Mund.
„Amelia, was redest du da?“, fragte Claire. „Charlie ist keine Hexe. Sie stellt Kräutertees her, die sehr lecker sind. Außerdem helfen sie mir, endlich wieder durchzuschlafen, was ich nach Daphnes Geburt und der Hormon-Achterbahn dringend nötig hatte.“
„Ich habe welche mitgebracht, falls ihr sie probieren wollt“, sagte ich.
„Auf jeden Fall“, erwiderte Lucy, während Amelia ihrer Schwester einen entsetzten Blick zuwarf.
„Claire, ich kann nicht glauben, dass du diese … diese Frau mitgebracht hast. Das hier ist ein seriöses Familientreffen …“
„Was ist hier los?“ Eine ältere Frau betrat den Wohnbereich. Sie sah um die sechzig aus, hatte braune Augen und ihre Haare waren von demselben Kastanienbraun wie Amelias, allerdings wirkten sie schlecht gefärbt, vermutlich, um das Grau zu überdecken. Sie trug Perlenschmuck und eine rote Schürze über ihrem himmelblauen Pullover. „Oh, Claire. Wie schön, dass du gekommen bist.“ Allerdings klang sie nicht unbedingt begeistert, sondern eher enttäuscht darüber. „Hat jemand etwas von Jeremy gehört?“
„Noch nicht“, erwiderte Amelia.
„Das Wetter wird immer schlimmer. Ich wünschte, er würde endlich eintreffen“, sagte die ältere Dame besorgt und rückte ihre goldumrandete Brille zurecht.
„Tante Iris, ich möchte dir meine Freundin Charlie vorstellen“, meldete sich Claire zu Wort.
„Du hast also auch einen Gast mitgebracht“, sagte Iris und musterte mich kurz, bevor sie wieder aus dem Fenster blickte.
„Charlie ist diejenige, die Helens Haus gekauft hat“, erklärte Amelia.
„Ach ja?“ Diesmal wandte sich Iris mir mit wesentlich mehr Interesse zu. „Bist du die Frau, die Teemischungen herstellt?“
„Die bin ich.“
„Oh, ich wollte mich schon lange mal bei dir melden! Eine meiner Freundinnen, Ellen, schwärmt immer davon, wie sehr deine Tees ihr beim Einschlafen helfen.“
Amelia verdrehte die Augen. „Nicht du auch noch, Tante Iris“, stöhnte sie.
„Was? Gegen einen wohltuenden Kräutertee ist doch wohl nichts einzuwenden“, erwiderte Iris.
„Amelia hält Charlie für eine Hexe“, sagte Lucy.
„Wer ist eine Hexe?“, fragte ein älterer Mann, der sich in dem Moment zu uns gesellte. Er hatte den Ansatz einer Glatze und ein paar lange Strähnen über die kahle Stelle gekämmt. Außerdem trug er eine dicke Hornbrille, und die graue Weste über seinem karierten Pullover spannte über seinem beträchtlichen Wanst. Seine Wangen waren gerötet, und auf seinem Kinn sprossen ein paar spärliche Barthaare.
„Charlie, Claires Freundin“, sagte Lucy und zeigte auf mich.
„Hi, Onkel Martin“, begrüßte Claire ihn.
Martin rückte seine Brille zurecht und starrte mich an. „Bist du denn eine Hexe?“
„Nicht, dass ich wüsste“, erwiderte ich.
„Dann wäre das ja geklärt“, sagte er prompt.
„Nur, um das klarzustellen: Ich habe nie gesagt, dass ich sie für eine Hexe halte“, ereiferte sich Amelia. „Ich habe lediglich gehört, dass sie eine sein soll.“
„Warum denken die Leute das?“, fragte Iris.
„Wegen der Tränke und Zaubersprüche“, erklärte Amelia händeringend.
„Was für Tränke und Zaubersprüche?“, wollte ich wissen. „Damit habe ich nichts am Hut. Wie ich schon sagte, ich baue Kräuter und Blumen an und mache Tees und Tinkturen daraus. Das ist alles.“
„Und sie sind wunderbar“, sagte Claire mit einem strengen Blick zu ihrer Schwester. „Du solltest sie probieren.“
„Hmpf“, machte Amelia.
„War es das?“, fragte Wyle, der offensichtlich das Thema wechseln wollte. „Warten wir noch auf jemanden? Das Wetter wird immer schlechter.“
„Ich weiß“, sagte Iris und legte sich eine Hand auf die Brust. „Ich wünschte, Jeremy würde sich beeilen.“
„Es geht ihm gut, Mom“, sagte Lucy. „Du weißt doch, wie gerne er einen dramatischen Auftritt hinlegt.“
„Also fehlt nur noch eine Person?“, hakte Wyle nach und sah Lucy an. „Dein Bruder Jeremy?“
„Und George“, fügte Amelia hinzu.
„Wer ist George?“, fragte Wyle.
„Der Anwalt.“
Der Anwalt? Ich warf Claire einen Blick zu, die genauso verwirrt aussah wie ich.
„Warum kommt der Anwalt heute?“, wollte Claire wissen.
„Warum wohl? Jemand muss das Testament verlesen.“
„Ja, aber warum heute?“, fragte Claire. „Ich meine, die Verlesung findet doch nicht heute Abend statt, oder? Warum kommt er nicht erst kurz vorher?“
„Wie du sicherlich weißt, ist George ein langjähriger Freund der Familie“, erwiderte Amelia steif. „Er und Grandma kannten sich seit Ewigkeiten. Ich dachte, es wäre schön, wenn er sich auch von ihr verabschieden könnte.“
Claire starrte sie verblüfft an. „Du hast mir gerade eine Standpauke gehalten, weil ich Charlie mitgebracht habe, dabei hast du selbst jemanden eingeladen, der nicht zur Familie gehört?“
„Mit dem Unterschied, dass George Großmutter kannte“, sagte Amelia. „Er ist nicht irgendein Date und auch keine verrückte Teeverkäuferin, die Grandma nie begegnet ist.“
„Brandon hat Grandma getroffen“, mischte Lucy sich ein.
Amelia verdrehte die Augen. „Sein Date einmal zu einem Familientreffen mitzubringen, zählt wohl kaum.“
„Nein, so war es nicht. Brandon hat ihr mal einen Strafzettel verpasst“, erklärte Lucy und wandte sich an Wyle. „Stimmt’s nicht?“
Wyle blickte äußerst unbehaglich drein.
„Um Himmels willen“, brummte Amelia. „Der Sinn dieses Wochenendes ist es, Grandmas Leben an einem Ort zu feiern, den sie immer geliebt hat. Deshalb sollten nur Leute hier sein, die sie kannten und liebten. Ende der Geschichte.“
„Wo ist Elliot?“, fragte Claire plötzlich und sah sich um. „Ihn hast du doch eingeladen, oder?“
„Natürlich ist er hier“, erwiderte Amelia. „Er ist mein Mann. Elliot?“, rief sie mit schriller Stimme.
„Ich bin ja hier“, sagte Elliot, der zwischen Iris und Martin hervortrat. „Du musst nicht so schreien.“
Elliot war einer dieser Männer, die so durchschnittlich aussahen, dass sie sich nahtlos jeder Gruppe anpassten: durchschnittliche Größe, durchschnittlicher Körperbau, hellbraunes Haar, das etwas lichter wurde, Brille. Ein freundliches Gesicht, aber nichts, was herausstach, obwohl seine Wangen gerötet waren. Er schniefte laut und fischte ein Taschentuch aus der Tasche seiner braunen Hose.
„Wo warst du?“, wollte Amelia wissen.
„Draußen“, erwiderte er. „Ich habe den Holzhaufen gesucht, wie du es mir aufgetragen hast.“
„Hast du ihn gefunden?“
Er schüttelte den Kopf. „Noch nicht.“
„Welchen Holzhaufen?“, fragte Martin.
„Ich habe Hal gebeten, etwas Holz für uns dazulassen“, erklärte Amelia. „Ich dachte, wir könnten ein Feuer machen.“ Sie wandte sich wieder ihrem Mann zu. „Hast du im Holzschuppen nachgesehen?“
Elliot starrte sie ausdruckslos an. „Holzschuppen?“
Amelia öffnete den Mund, um zu antworten, aber in dem Moment ertönte draußen ein lauter Knall, dann sprang die Eingangstür auf und ein Schauer aus Schnee und kalter Luft wehte herein.
Eine in einen dicken Wintermantel gehüllte Gestalt, die einen Seesack trug, erschien, als hätte der Wind sie hereingetragen. Kurz rangelte sie mit der Tür, bevor es ihr gelang, sie zu schließen.
„Jeremy? Bist du das?“, fragte Iris.
„Höchstpersönlich“, ertönte die gedämpfte Antwort.
Jeremy drehte sich um, schüttelte den Schnee aus seinem Haar und wischte seine Schuhe stampfend auf dem Fußabtreter ab. „Mann, ist das ein Schneegestöber. Ich hatte schon Angst, dass ich es nicht herschaffe.“
Iris trat auf ihn zu, um ihn zu begrüßen. „Deshalb wollten wir ja, dass du früher aufbrichst“, sagte sie mit leicht vorwurfsvoller Stimme, während sie ihm die Wange für einen Kuss entgegen reckte.
Er küsste sie, bevor er seinen Mantel auszog und sich im Wohnbereich umsah. Selbst mit den feuchten Haaren, die ihm auf der Stirn klebten, war unschwer zu erkennen, wie attraktiv er war. Zwar konnte ich seine Haarfarbe wegen der Nässe nicht genau bestimmen, aber es musste in etwa von demselben Rotblond sein wie Claires. Seine Augen waren dunkelgrün, und sein Gesicht hatte etwas Elegantes, beinahe Fürstliches an sich.
Er hob eine Braue. „Was ist denn hier los? Warum steht ihr alle in Reih und Glied da, als wärt ihr auf einem Hochzeitsempfang?“ Seine Stimme war geschmeidig wie geschmolzenes Karamell, allerdings schwang eine Schärfe in seinem Tonfall mit, die ich nicht ganz deuten konnte.
„Claire ist auch erst vor ein paar Minuten angekommen. Wir haben sie gerade begrüßt“, erklärte Amelia.
Jeremys Blick wanderte über die Menge, bis er Claire entdeckte und ihr zunickte. Dann bemerkte er mich. „Wer ist das?“
„Meine Freundin Charlie“, sagte Claire.
Diesmal hob er beide Brauen. „Eine Freundin?“ Er drehte sich zu Iris um. „Du hast mir nicht gesagt, dass wir … Freunde mitbringen dürfen.“
„Sie ist nicht die Einzige“, erwiderte Iris und hängte seinen Mantel in den Schrank. „Deine Schwester hat ein Date mitgebracht.“
„Ein Date? Warum hat mir niemand Bescheid gesagt?“
„Weil niemand jemanden mitbringen sollte“, erwiderte Amelia. „Ich weiß nicht, warum Claire und Lucy nicht selbst darauf gekommen sind.“
„Wahrscheinlich, weil das hier ein freudiger Anlass sein soll“, sagte Lucy. „Wir wollen Grandmas Leben feiern.“
Jeremy klatschte in die Hände. „Das klingt nach einer Party! Wo sind die Drinks? Lasst uns loslegen.“
Amelia wandte sich in Richtung Küche. „Eigentlich sollten wir uns auf das Abendessen konzentrieren, vor allem wegen der zusätzlichen Gäste.“
„Brauchst du Hilfe?“, fragte Claire.
„Jeremy und du solltet zuerst eure Zimmer beziehen“, erwiderte sie. „Das haben wir anderen schon hinter uns. Ich sehe derweil in der Küche nach, was es gibt.“
Claire hob die Einkaufstüten auf. „Ich habe Essen mitgebracht“, sagte sie.
Amelia presste die Lippen aufeinander, antwortete jedoch nicht, sondern stapfte in Richtung Küche davon. Einen Moment lang blieb Claire mit beiden Einkaufstüten im Arm unschlüssig stehen und nagte an ihrer Unterlippe. Ich wollte ihr gerade eine abnehmen, als Elliot zu uns kam. „Ich übernehme die hier, Claire“, sagte er lächelnd. „Warum bringst du dein Gepäck nicht nach oben und zeigst deiner Freundin das Haus?“
Claire reagierte nicht, sondern verharrte reglos, die Tüten umklammernd.
„Sie wird sich schon wieder einkriegen“, sagte Elliot. „Du kennst doch deine Schwester, sie kann Überraschungen nicht ausstehen. Gib ihr ein paar Minuten Zeit, sich daran zu gewöhnen.“
„Ich glaube, es ist mehr als das“, erwiderte Claire.
„Sie kommt schon klar“, beteuerte Elliot. „Es war sehr umsichtig von dir, Essen mitzubringen. Jetzt geh und richte dich ein. Du wirst dieses Wochenende noch genug Zeit haben, mit Amelia zu reden.“
Claire zögerte noch einen Augenblick, dann übergab sie Elliot die beiden Tüten, als hätte sie eingesehen, dass seine Worte Sinn ergaben.
„Weißt du, welches Zimmer meins ist?“
„Die beiden am Ende des Flurs sind noch übrig.“
„Oh, die mit den Einzelbetten“, sagte Jeremy, der hinter uns auftauchte. „Na toll.“
Elliot schnitt eine Grimasse. „Würdest du lieber mit George in einem Bett schlafen?“
Jeremy starrte ihn an. „George? Der Anwalt? Ich soll mir ein Zimmer mit ihm teilen?“
„Wenn er überhaupt auftaucht.“ Elliot warf einen Blick aus dem Fenster. „So wie es schneit, wird er wohl erst später an diesem Wochenende eintreffen.“
„Ich kann nicht glauben, dass ihr mir den Anwalt aufhalst.“
„Komm, Charlie, ich zeige dir das Haus“, sagte Claire und nahm ihren Koffer.
Ich schnappte mir meinen eigenen und folgte ihr durch das Wohnzimmer und die Treppe hinauf. Auch der Rest der Familie zerstreute sich in andere Bereiche des Hauses – alle bis auf Jeremy, der weiterhin mit Elliot diskutierte. „Wer hat überhaupt den Anwalt eingeladen, das Wochenende mit uns zu verbringen?“, hallte uns seine Stimme hinterher.
Claire seufzte und schüttelte den Kopf.
Während ich ihr folgte, hielt ich den Griff meines Koffers fest umklammert und fragte mich zum hundertsten Mal, worauf ich mich da nur eingelassen hatte.
Kapitel 4
Die Treppe knarrte, als wir hinaufgingen. „Das klingt wirklich wie in einem Spukhaus“, murmelte ich Claire zu.
Sie unterdrückte ein Lachen.
„Wir nehmen einfach das Zimmer am Ende des Flurs“, sagte sie und führte mich einen langen Korridor mit Türen auf beiden Seiten hinunter. Die Hartholzböden und dazu passenden Eichenbalken an den Wänden wären durchaus eindrucksvoll gewesen, allerdings ruinierte der hässliche Teppichläufer den Effekt. Rot-gelb-orangefarbenes Paisley-Muster war an sich schon schlimm genug, aber zudem war er noch fleckig und schmutzig.
„Das Bad ist hier“, sagte Claire und deutete auf halber Höhe auf eine der Türen. Sie klopfte einmal und öffnete sie dann, damit ich einen Blick hineinwerfen konnte. Es war wirklich sehr schön, mit einer großen Badewanne auf Füßen, einer separaten Dusche und einem geräumigen Waschtisch.
„Gibt es nur ein Badezimmer?“
„Nein, zwei. Das andere gehört zum Hauptschlafzimmer.“ Sie zeigte auf das andere Ende des Flurs. „Außerdem gibt es eine Gästetoilette im Erdgeschoss, die zeige ich dir, wenn wir wieder nach unten gehen.“
„Trotzdem erscheinen mir drei Bäder für ein Haus mit fünf Schlafzimmern etwas wenig.“
„Ja, das war ein weiterer Grund, warum Grandma den Keller renovieren wollte. Sie hatte vor, dort unten noch ein Badezimmer einzubauen. Leider müssen wir uns mit drei begnügen.“ Claire ging weiter den Flur hinunter, bis sie die letzte Tür erreichte. „Da wären wir“, sagte sie und stieß sie auf.
Genau wie das Bad war auch dieses Zimmer größer als erwartet. Es gab zwei Einzelbetten, zwei Kommoden, zwei Nachttische und einen Kleiderschrank. Claire setzte ihren Koffer ab, trat in die Mitte des Zimmers und drehte sich mit ausgestreckten Armen im Kreis. „Home, sweet home. Gibt es eine Seite, auf der du lieber schläfst?“
Ich schüttelte den Kopf, als ich ihr hinein folgte. Leider war das Schlafzimmer von der Siebzigerjahre-Einrichtung nicht verschont geblieben. In der Mitte des Raumes lag ein goldgelber Zottelteppich, die Bettwäsche war olivgrün und orangefarbene Kissen bildeten Farbakzente.
„Wer war für die Inneneinrichtung verantwortlich?“, fragte ich, während Claire ihren Koffer auf eines der Betten hievte.
Sie kicherte. „Schrecklich, nicht wahr? Aber damals war das der letzte Schrei. Als Grandma das Haus renovierte, beschloss sie, auch die Einrichtung zu ‚modernisieren‘.“ Claire machte Anführungszeichen mit den Fingern. „Na ja, jedenfalls wurde seit der letzten Umgestaltung nichts mehr unternommen.“
Vorsichtig setzte ich mich auf das gegenüberliegende Bett, nicht sicher, was mich erwartete, immerhin lag die Matratze seit über zwanzig Jahren hier. In was für einem Zustand befand sie sich wohl? Zu meiner Überraschung war sie wesentlich bequemer als vermutet.
„Die Betten scheinen in Ordnung zu sein“, sagte ich.
Claire nickte. „Ja, und die Bettwäsche ist bestimmt sauber, dank Amelia.“
Im Schlafzimmer roch es genauso wie im Wohnbereich – eine merkwürdige Mischung aus Reinigungsmitteln und Moder. Aber das war mir egal, Hauptsache, es war sauber.
„Tut mir echt leid“, sagte Claire.
Ich sah sie überrascht an. „Was denn?“
„Na ja, alles: dass ich dich hierher eingeladen habe, dass du dir diesen unangenehmen Familienkram anhören musstest, dass du als verrückte Teeverkäuferin bezeichnet wurdest …“
„Nicht zu vergessen, als Hexe.“
Claire verdrehte die Augen. „Das peinliche Verhalten meiner Familie tut mir wirklich leid.“
„Muss es nicht“, erwiderte ich. „Als du mir erzählt hast, es gäbe Probleme in der Familie, dachte ich mir schon, dass es unbehaglich wird. Und was die verrückte Teeverkäuferin angeht …“ Ich zuckte mit den Schultern. „Vielleicht bin ich das ja.“
Sie lachte erneut. Plötzlich fiel mir auf, dass ich sie seit Monaten zum ersten Mal wieder lachen hörte. Das bestärkte mich in dem Gefühl, dass es richtig gewesen war, hierherzukommen, auch wenn es unangenehme Momente geben würde.
„Aber was ist mit dir?“, fragte ich.
„Was soll mit mir sein?“
„Wie fühlst du dich? Ich meine, wegen dem, was du mir auf der Fahrt erzählt hast, über die Schattenmomente. Hast du etwas in der Art gespürt, seit wir hier sind?“
Sie schüttelte den Kopf. „Allerdings ist das nicht überraschend. Ich glaube nicht, dass sie jemals direkt nach meiner Ankunft auftraten. Es dauerte immer ein paar Tage.“
Nun, das war gut zu wissen. Wir waren nur drei Tage hier, also würden wir hoffentlich längst wieder weg sein, bevor irgendetwas passierte.
Claire erhob sich von ihrem Bett und streckte sich. „Ich will mich ein bisschen frisch machen. Vielleicht trage ich sogar etwas Make-up auf.“
Ich machte große Augen. „Make-up? Bist du sicher, dass es dir gut geht?“
Sie grinste. „Mir war klar, dass ich wegen meiner Schwester das Bedürfnis verspüren würde, mich ein bisschen mehr … zurechtzumachen. Kommst du hier alleine klar?“
„Warum sollte ich das nicht?“
Claire bückte sich, um ihren Kulturbeutel aus ihrem Koffer zu holen. „Nur so. Du kannst gerne eine der Kommoden oder den Schrank benutzen, wenn du auspacken willst.“ Sie drehte sich um und ging aus dem Zimmer.
Auf dem Weg zum Bad knarrte der Boden unter ihren Füßen, und ich verzog das Gesicht. Hoffentlich gab es keine Nachtschwärmer in der Familie, die uns alle nachts wachhalten würden.
Obwohl ich wie üblich zu viel eingepackt hatte, dauerte es nicht lange, bis alles eingeräumt war. Gerade, als ich die Schublade schloss, hörte ich es wieder knarren.
„Claire, bist du das?“ Ich drehte mich um, aber es war niemand im Zimmer.
Seltsam. Ich war mir sicher, dass ich sie reinkommen gehört hatte.
War noch jemand hier oben? Mit einem unbehaglichen Gefühl, dessen Ursache ich nicht genau bestimmen konnte, ging ich zur Tür und steckte den Kopf hinaus.
Der Korridor war leer.
Was war da los? Ich hatte eindeutig Schritte gehört. Knarrte und ächzte das alte Holz des Hauses einfach nur? Oder war Claire aus irgendeinem Grund aus dem Bad nach unten gegangen? Nein, das erschien mir unlogisch. Die Schritte waren in Richtung unseres Zimmers gekommen.
„Claire?“ Vorsichtig näherte ich mich dem Badezimmer, wobei ich versuchte, Stellen zu finden, an denen der Boden nicht knarrte, aber es gab kaum welche. „Claire?“
Ich erreichte das Bad und lehnte mich näher an die Tür. Gerade wollte ich anklopfen, als ich das Geräusch von fließendem Wasser vernahm.
Sie war also immer noch da drin. Was hatte ich dann im Flur gehört?
„Charlie?“
Ich fuhr fast aus der Haut und wirbelte erschrocken herum. Wyle stand hinter mir.
„Sie haben mich zu Tode erschreckt“, keuchte ich und fasste mir an die Brust. „Warum schleichen Sie hier so herum?“
„Tue ich gar nicht. Ich war in meinem Zimmer.“ Er deutete auf die Tür hinter ihm.
„Sind Sie nicht gerade erst rauf gekommen?“
„Nein.“
Ich sah mich im Flur um, und erneut überkam mich dieses unbehagliche Gefühl. „Haben Sie hier draußen jemanden rumlaufen hören?“
„Ja, Sie. Deshalb bin ich raus gekommen. Ich wollte mit Ihnen reden.“
Ich schüttelte den Kopf. „Nein, jemanden, der vor mir hier war.“
Er sah mich verwirrt an. „Sie meinen, als Claire ins Badezimmer ging?“
„Nein, vor mir aber nach … Ach, egal. Worüber wollten Sie reden?“
Wyle verschränkte die Arme vor der Brust und musterte mich eindringlich. Seine Miene war ausdruckslos und gab nichts von dem preis, was in seinem Kopf vor sich ging. „Warum sind Sie hier?“
„Warum bin ich hier?“ Ich starrte ihn ungläubig an. „Dasselbe könnte ich Sie fragen. Sie gehören doch auch nicht zur Familie. Oder dürfen wir eine große Ankündigung erwarten?“
Wyle ignorierte meine Frage. „Mir wurde gesagt, dass sich die Familie trifft, um das Leben von Lucys Großmutter zu feiern“, erwiderte er. „Es ist nicht ungewöhnlich, dass Angehörige zu einem solchen Anlass eine Begleitung mitbringen.“ Er kniff die Augen zusammen. „Allerdings habe ich noch nie gehört, dass verheiratete Mütter eine Freundin einladen.“
„Wundert Sie das wirklich, nachdem Sie erlebt haben, wie Claire hier empfangen wurde?“, fragte ich mit gedämpfter Stimme. „Warum sollte sie ihrem Kind eine so dysfunktionale Situation zumuten?“
„Wo ist ihr Mann?“
„Der passt zu Hause auf das Kind auf“, erwiderte ich ungeduldig.
Er hob eine Braue. „Haben Sie niemand anderen gefunden, der auf die Kleine aufpasst?“
„So kurzfristig offenbar nicht“, sagte ich. Obwohl ich, jetzt, wo wir angekommen waren, mehr und mehr den Eindruck bekam, dass es weniger um Daphne ging und eher darum, dass Claire jemanden brauchte, der sie unterstützte. Claires Ehe war nicht besonders glücklich. Doug war ein fürsorglicher Vater und guter Versorger, aber emotional konnte er Claire nie wirklich unterstützen, und das war offensichtlich genau das, was sie brauchte. „Aber warum ist es Ihnen so wichtig, mit wem Claire hierhergekommen ist?“
Wyle runzelte die Stirn. „Vielleicht … vor allem wollte ich wissen, was Claire Ihnen gesagt hat, um Sie hierher zu bekommen. Wussten Sie, dass es eine Testamentseröffnung gibt?“
„Ja. Und ich gebe zu, es ist eine merkwürdige Bitte für eine Testamentseröffnung, aber laut Claire war dies der Lieblingsort ihrer Großmutter, als sie Kinder waren. Vielleicht hatte Lucy nicht ganz Unrecht damit, dass es der Wunsch ihrer Großmutter war, die Familie möge das Wochenende gemeinsam verbringen und ihr Leben feiern.“
„Vielleicht.“ Er drehte den Kopf und sah den Flur hinunter. Ich unterdrückte den Impuls, ihm zu sagen, dass es nichts mit Claire und mir zu tun hatte, wenn seine Freundin ihm nicht die ganze Wahrheit erzählte, aber ich hielt den Mund. Seine Beziehung ging mich nichts an, auch wenn ich sie ziemlich nervig fand. „Irgendetwas an der ganzen Sache fühlt sich einfach … merkwürdig an.“ Er sah mir fest in die Augen. „Fühlen Sie es nicht auch?“
Sein Blick war so intensiv, dass mir kurz der Atem stockte, und für einen Moment vergaß ich, was ich sagen wollte. Aber dann schüttelte ich mich und rief mir ins Gedächtnis, dass Wyle eine Freundin hatte, die irgendwo in diesem Haus war. Außerdem hatte kein Interesse daran, jemanden zu daten – erst recht keinen Polizisten. „Sie wissen, dass es in diesem Haus angeblich spukt, oder?“
Etwas flackerte in seinen Augen auf, und mir wurde klar, dass ich ihn überrascht hatte. „Es spukt? Im Ernst?“
„O ja. Tatsächlich ist hier sogar ein Bauunternehmer gestorben.“
„Wirklich?“
„Ja, er hat am Keller gearbeitet, als ein seltsamer Unfall passierte. Der Typ, der bei ihm war, hat behauptet, das Haus sei verflucht. Claires Großmutter konnte die Renovierung danach nicht mehr fertigstellen lassen.“
„Sie meinen also, das merkwürdige Gefühl kommt daher, dass es hier spukt?“ Wyle klang skeptisch.
Ich zuckte mit den Schultern. „Ich sage nur, wem der Schuh passt …“
Wyle warf mir einen Blick zu, aber bevor er etwas erwidern konnte, ging hinter mir die Tür zum Badezimmer auf.
„Oh“, sagte Claire. „Du hast mich erschreckt. Musst du ins Bad?“
Ich drehte mich zu ihr um. Obwohl sie immer noch den fleckigen Pullover trug, sah sie viel besser aus. Ihr Haar war gebürstet und zu einem ordentlichen Pferdeschwanz gebunden, und ihr Make-up verdeckte die Schatten unter ihren Augen. „Ich habe Wyle gerade erzählt, dass es in diesem Haus spukt.“
„Oh, spürst du wohl etwas?“, fragte sie und blickte zu Wyle, dem unbehaglich zu sein schien.
„Ich glaube nicht an Geister.“
Claire musterte ihn nachdenklich. „Ja, ich bin mir nicht ganz sicher, ob es wirklich ein Geist ist, der das Haus heimsucht. Aber da ist definitiv etwas, das sich merkwürdig anfühlt.“ Obwohl ich Wyle nicht ansah, spürte ich, wie er neben mir zusammenzuckte. Er hatte genau denselben Ausdruck benutzt, um das Haus zu beschreiben. „Jedenfalls wollte ich noch einen frischen Pullover anziehen und dann runter in die Küche. Amelia sagt immer, sie möchte keine Hilfe, aber eigentlich braucht sie sie.“ Claire presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. „Und dann müssen wir uns den ganzen Abend ihre passiv-aggressiven Sticheleien anhören. Außerdem haben sie den Wein bestimmt schon aufgemacht, und ich für meinen Teil könnte jetzt einen trinken. Treffen wir uns unten?“
„Klar, ich wollte sowieso gerade runtergehen“, sagte Wyle und trat einen Schritt zurück. „Wir sprechen uns später, Charlie.“ Der Unterton in seiner Stimme war eindeutig.
Unser Gespräch war noch nicht beendet.
Kapitel 5
„Möchtest du noch etwas?“ Jeremy stand mit einer Flasche Wein vor mir und grinste spitzbübisch.
„Danke, ich bin momentan gut versorgt“, sagte ich. Ich nippte noch an dem zweiten Glas, das ich mir zum Abendessen eingeschenkt hatte. Das war mehr, als ich normalerweise trank, aber dies waren außergewöhnliche Umstände.
Nachdem ich mehr Zeit, als mir lieb war, allein mit Amelia in der Küche verbracht hatte (Claire war irgendwann verschwunden, angeblich, um zu Hause anzurufen und mit Daphne zu sprechen, bevor diese ins Bett ging – ich vermutete jedoch, dass sie geflohen war, bevor sie Amelia noch ein Messer an den Kopf warf), und nach dem mächtigen Abendessen, bestehend aus Brathähnchen, Rinderbraten, Kartoffelpüree, Bratensoße, Brötchen und Butterkarotten sowie grünen Bohnen, war ich mehr als bereit für etwas Wein. Das erste Glas hatte ich allerdings ein wenig zu schnell geleert, weshalb ich das zweite nun langsam genoss.
Aber selbst wenn ich das erste Glas nicht so schnell getrunken hätte, musste ich trotzdem vorsichtig sein. Jeremys anzügliche Blicke bedeuteten schon genug Ärger, ganz zu schweigen von all dem Familiendrama. Nicht zu vergessen Wyle, der immer unglücklicher wirkte, je länger der Abend andauerte. Ich würde meine fünf Sinne beisammen brauchen, um das alles zu überstehen … oder zumindest so viele, wie nach zwei Gläsern Wein noch funktionsfähig waren.
Nach dem Abendessen hatten wir uns alle im Wohnzimmer versammelt, jeder mit einem Glas in der Hand. Na ja, bis auf Amelia, die noch beim Aufräumen war. Fast alle hatten mitgeholfen, sodass es schnell ging, aber es war auch ein bisschen chaotisch. Am Ende hatte Amelia uns aus der Küche gescheucht, weil sie „es richtig machen“ wollte. Sie sagte, sie müsse sicherstellen, dass alles an seinem Platz war, da bereits ein Fleischermesser verschwunden war und sie nicht wollte, dass noch mehr verloren ging.
Jeremy schwenkte die Flasche und wackelte mit den Brauen. „Bist du sicher?“
„Ganz sicher.“
„Ich hätte gerne Nachschlag“, rief Lucy, die auf dem Sitzsack lümmelte, und hielt ihr Glas hoch.
Jeremy warf mir einen letzten Blick zu, bevor er zu seiner Schwester hinüberschlenderte. „Ich wollte nur sicherstellen, dass genug für alle anderen da ist“, sagte er, während er ihr nachschenkte.
„Das musst du gerade sagen“, erwiderte Lucy. Ihr Gesicht war gerötet, und sie hatte Mühe, die Hand ruhig zu halten. „Ich habe gesehen, wie viel du beim Abendessen getrunken hast.“
„Ich versuche nur, mit dir mitzuhalten, Schwesterherz“, konterte Jeremy und warf einen Blick auf Wyle, der auf einem Stuhl in der Nähe saß. „Wie sieht’s bei dir aus?“
„Ich habe fürs Erste genug, danke“, sagte Wyle. Sein Ton war freundlich, aber seine Miene blieb neutral.
Jeremy zuckte mit den Schultern. „Wie du willst.“ Dann wandte er sich Iris zu, die ihm ihr Glas erwartungsvoll hinhielt.
„Der Schnee kommt ziemlich heftig runter“, sagte sie. „Ich hoffe, George geht es gut.“
„Mit ihm ist bestimmt alles in Ordnung“, versicherte Jeremy ihr, während er ihr Glas nachfüllte. „Er hat wahrscheinlich einen Blick nach draußen geworfen und beschlossen, es gar nicht erst zu versuchen.“
„Wenn das so ist, warum hat er dann nicht angerufen?“
„Vielleicht hat er die Nummer von der Hütte nicht gefunden“, sagte Jeremy. „Oder er hatte einen Notfall. Wahrscheinlich gibt es eine ganz logische Erklärung.“
„Du hast sicherlich recht“, sagte Iris und nahm einen Schluck aus ihrem nun volleren Glas. „Ich wünschte nur, er würde anrufen. Da draußen sieht es wirklich übel aus.“
„Ja, deshalb brauchen wir ein Feuer“, verkündete Amelia, die mit einem Glas Wein in der einen Hand und einem Tablett voller Schokoladenkekse in der anderen ins Zimmer kam. „Elliott, hast du das Holz hereingebracht?“
Elliott stand in einer Ecke und unterhielt sich mit Martin, aber als er seinen Namen hörte, hob er ruckartig den Kopf und blinzelte verwirrt. „Holz?“
„Ja“, sagte Amelia ungeduldig. „Hal sollte uns Holz dalassen, damit wir ein Feuer machen können. Genau wie damals, als wir Kinder waren. Erinnerst du dich?“
Elliott blinzelte noch ein paar Mal. „Ähm, wir haben uns doch als Kinder noch gar nicht gekannt.“
„Ich meinte nicht dich“, sagte Amelia und gestikulierte mit der Hand, in der sie das Tablett hielt. „Ich meinte die anderen. Erinnert ihr euch, wie wir am Kamin saßen, heiße Schokolade tranken und Kekse aßen?“
„Ja“, sagte Claire. „Wir hatten immer so viel Zucker intus, dass wir nicht ins Bett wollten. Wir blieben stundenlang wach.“
„Und wir erzählten uns Geistergeschichten, um zu sehen, wie sehr wir uns gegenseitig erschrecken konnten“, sagte Lucy.
„Genau!“, rief Amelia, als sie die Kekse auf den Tisch stellte. „So hatte ich mir den heutigen Abend auch vorgestellt. Wir sitzen am Feuer, essen Kekse und erzählen uns Geschichten über Grandma.“
„Was ist mit der heißen Schokolade?“, fragte Jeremy.
„Ich habe keine mitgebracht, weil ich dachte, jeder würde Wein bevorzugen“, sagte Amelia.
„Hast du noch nie von heißer Schokolade mit Baileys gehört?“, konterte Jeremy.
Amelia stemmte eine Hand in die Hüfte. „Weißt du was, Jeremy? Beim nächsten Mal kannst du für das Essen und den Alkohol verantwortlich sein, wenn du so unzufrieden mit meinen Bemühungen bist.“
„Ich habe Tee“, bot ich an.
Alle drehten sich gleichzeitig zu mir um. Ich wusste nicht, warum ich mich überhaupt in die Kabbeleien einmischte. Wahrscheinlich war es das zweite Glas Wein.
„Es ist meine eigene Mischung“, fügte ich hinzu.
Amelia presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf.
„Immerhin bin ich die verrückte Teeverkäuferin, da wäre es unverzeihlich, wenn ich keinen Tee dabei hätte.“
„Hast du auch Wodka dabei, um ihn interessanter zu machen?“, fragte Jeremy.
„Das leider nicht“, erwiderte ich.
„Ich will auf jeden Fall mal etwas probieren“, sagte Lucy. „Nur vielleicht nicht heute Abend.“
„Schluss jetzt“, sagte Amelia, sichtlich genervt. „Das ist doch alles nebensächlich. Wir sollten Erinnerungen über Grandmas Leben austauschen, statt über Tee, heiße Schokolade mit Baileys oder sonstigen Quatsch zu reden.“
„Du warst doch diejenige, die mit der heißen Schokolade angefangen hat“, begann Jeremy, doch dann flackerten plötzlich die Lichter und der Raum versank in Dunkelheit.
Ein Schrei ertönte, gefolgt von lautem Stimmengewirr, als alle gleichzeitig zu reden begannen.
„Ist eine Sicherung durchgebrannt?“
„Wo ist der Sicherungskasten?“
„Weiß jemand, wo Grandma die Kerzen aufbewahrte?“
„Gibt es Taschenlampen?“
„Was machen wir ohne Strom?“
„Sind da nicht Kerzen auf dem Kaminsims?“ Das war Claire. Im nächsten Moment hörte man Gepolter und „Aua“-Rufe, als alle begannen, sich in dem unbekannten Zimmer durch die Dunkelheit zu tasten.
„Es ist ein Wunder, dass der orangefarbene Teppich den Raum nicht erleuchtet“, bemerkte eine Stimme, die eindeutig als Jeremys zu erkennen war.
„Jeremy, das ist nicht sehr hilfreich.“ Das war Amelia, allerdings behauptete sie nicht, dass er unrecht hatte.
„Ja“, hörte ich Claire wieder. „Hier. Kerzen. Und hier, Streichhölzer.“
Einen Moment später flackerten die Kerzen auf dem Kaminsims.
„Gibt es noch welche?“, fragte Wyle. Als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnten, sah ich, dass er neben Claire stand.
„In der Küche, glaube ich“, sagte sie. „Irgendwo in den unteren Schränken.“
Wyle durchquerte den Raum in wenigen Schritten und machte sich auf den Weg zur Küche. Alle anderen diskutierten hitzig darüber, wo sich der Sicherungskasten befand.
„Müsste er nicht in der Garage sein?“, fragte Elliott.
„Nein, ich bin mir sicher, er ist im Keller“, sagte Martin. „In der Garage steht der Generator.“
„Es gibt einen Generator?“, fragte Elliott.
„Ja, aber ich weiß nicht, wie gut er gewartet wurde“, erwiderte Martin.
„Also passiert das hier oft? Dass der Strom ausfällt?“, erkundigte sich Elliott.
„Oft genug“, sagte Martin. „Vor allem bei Stürmen.“
„Vielleicht sollten wir den Generator anwerfen, statt uns Gedanken um den Sicherungskasten zu machen“, schlug Elliott vor.
„Wie gesagt, ich weiß nicht, wie gut er gewartet wurde“, erwiderte Martin. „Wir sollten ihn uns erst einmal anschauen, bevor wir ihn einschalten. Es wäre besser, wenn der Strom wieder läuft.“
„Wir sollten zuerst den Sicherungskasten prüfen“, sagte Iris. „Wenn es nur eine durchgebrannte Sicherung ist, müssen wir uns nicht mit dem Generator herumschlagen. Ich bin mir so gut wie sicher, dass er im Keller ist.“
Wyle kehrte zurück. „Ich habe mehr Kerzen, Streichhölzer und ein paar Taschenlampen gefunden. Warum sorgen wir nicht erst mal hier für mehr Licht?“ Er ging zum Couchtisch und stellte die Kerzen auf, um sie anzuzünden. „Ich nehme nicht an, dass eure Grandma noch eine Petroleumlampe oder so was hier hatte?“
„Jetzt wo du es sagst …“, erwiderte Iris. „Ich glaube, sie hatte tatsächlich eine. Ich weiß nur nicht, wo die ist. Vielleicht im Keller.“
Wyle richtete sich auf. Im Schein der Kerzen konnte ich die Gesichter der anderen wieder einigermaßen erkennen, und meine Augen gewöhnten sich langsam an das Halbdunkel. Die Kerzen verbreiteten ein sanftes, warmes, beinahe romantisches Licht, begleitet von dem weniger romantischen Geruch von versengtem Staub. „Okay, wir müssen sowieso in den Keller, um den Sicherungskasten zu überprüfen, also können wir auch gleich nach der Petroleumlampe suchen. Aber ich vermute, es ist etwas Ernsteres, wahrscheinlich durch den Sturm bedingt.“
„Sollten wir in dem Fall nicht einfach den Generator anschmeißen?“, fragte Elliott erneut.
„Mir wäre es lieber, wenn wir damit bis zum Morgen warten“, sagte Martin. „Dann ist es in der Garage hell genug, um ihn uns genauer anzusehen. Eine Nacht ohne Strom wird uns schon nicht umbringen.“
„Hoffentlich ist es nur eine Sicherung“, sagte Lucy.
„Hoffentlich“, wiederholte Wyle. „Da das hier ein altes Haus ist, ist es durchaus möglich. Obwohl ich mich nicht darauf verlassen würde.“
„Seht ihr, deshalb hätten wir ein Feuer machen sollen“, meldete sich Amelia zu Wort. „Mit einem Feuer im Kamin könnten wir hier drin viel besser sehen.“
„Das ist keine schlechte Idee, vor allem, wenn der Stromausfall doch nicht an der Sicherung liegt“, sagte Wyle. „Gibt es Holz?“
„Theoretisch schon.“
„Und wo?“
„Im Holzverschlag“, erklärte Amelia. „Elliott sollte eigentlich welches reinholen.“
„Ich habe keines gefunden“, erwiderte der.
„Hast du denn im Holzverschlag nachgeschaut?“, fragte Amelia, die immer entnervter klang.
Elliott hob hilflos die Hände. „Ich habe keine Vorstellung davon, was ein Holzverschlag ist. Da draußen gab es eine Art Geräteschuppen, aber darin befand sich nichts außer Angelgerätschaften und Rettungswesten.“
„Das ist das Bootshaus“, sagte Amelia.
„Bootshaus?“ Elliott starrte sie ungläubig an. „Wie viele Schuppen gibt es denn auf diesem Grundstück?“
„Drei“, sagte Jeremy. „Die Garage nicht eingeschlossen.“
„Was ist der dritte Schuppen?“, fragte ich, da ich das Gespräch gegen meinen Willen interessant fand.
„Ein Geräteschuppen“, meinte Jeremy grinsend. Oh, natürlich. Was auch sonst?
„Und wo ist jetzt dieser Holzverschlag?“, fragte Elliott.
„Ganz am anderen Ende“, sagte Claire. „Der Schuppen, der am weitesten vom Haus entfernt ist.“
Elliott blickte noch verwirrter drein. „Warum denn das? Würde man nicht wollen, dass das Holz in der Nähe des Hauses aufbewahrt wird, vor allem im Winter?“
„Weil er dort in der Nähe des Parkplatzes ist“, antwortete Claire. „Grandma hat das Holz immer bestellt, und für den Lieferanten war es einfacher, dort zu parken und es für sie zu entladen.“
„Deshalb hatte ich dich vorhin gebeten, es zu holen“, sagte Amelia. „Als es noch nicht so stark geschneit hat. Dann hätten wir jetzt welches hier und müssten uns keine Sorgen um die Witterungsverhältnisse und die Dunkelheit machen.“
„Oooh, jetzt habe ich es auch kapiert“, sagte Elliott und warf einen Blick aus dem Fenster. „Stimmt, ein Feuer wäre nett, aber das Wetter ist ziemlich übel. Vielleicht sollten wir es für heute auf sich beruhen lassen und uns morgen besser vorbereiten …“
„Na schön, dann gehe ich eben“, schnaubte Amelia und schnappte sich eine der Taschenlampen vom Couchtisch.
„Amelia, ich denke nicht, dass du …“, setzte Elliott an.
„Nein, lass nur, wenn du nicht willst, mache ich es selbst.“
„Elliott hat recht“, mischte sich Martin ein, der herübergekommen war und ihr eine Hand auf den Arm legte. „Du solltest bei dem Wetter nicht da rausgehen. Lass mich das erledigen.“
„Nein, schon gut“, erwiderte Amelia und schüttelte seine Hand ab. „Ich schaffe das.“
„Amelia, hör auf deinen Onkel“, sagte Iris. „Lass ihn und Elliott das Holz holen. Bleib du lieber hier.“
„Genau“, stimmte Martin zu. „Ich ziehe mir nur schnell meine Stiefel an und …“
„Nein!“, brüllte Amelia regelrecht, als sie herumfuhr und uns alle anfunkelte. Im Kerzenlicht glänzte etwas auf ihren Wangen, als hätte sie ein paar wütende Tränen vergossen. „Ich kümmere mich selbst darum. Niemand nimmt das hier ernst. Grandma ist tot. Tot! Dieses Wochenende sollten wir ihrer als Familie gedenken, doch stattdessen hat jeder Partner und Freunde mitgebracht, und niemand redet über Grandma, niemand unternimmt irgendetwas, um ihr Vermächtnis zu ehren. Alle tun so, als wäre das hier eine Riesenparty, aber das ist es nicht! Wir sollten Grandmas Leben feiern, nur bin ich die Einzige, die sich diesbezüglich Mühe gibt, und dafür ernte ich ständig Kritik. Grandma hat so gerne am Feuer gesessen, deshalb werde ich dafür sorgen, dass wir eines haben!“ Mit diesen Worten drehte sie sich um und stapfte in den hinteren Bereich des Hauses.
Ihre Standpauke wurde von betretenem Schweigen quittiert.
„Martin, du solltest etwas unternehmen“, murmelte Iris, aber Martin hatte sich bereits abgewandt.
„Amelia!“, rief er.
„Ich begleite sie“, bot Claire an, erhob sich und ging zur Garderobe hinüber, wo sie ihre Stiefel und ihren Mantel verstaut hatte.
Jetzt schaute Martin noch unglücklicher drein. „Nein, das ist doch verrückt. Du solltest ebenso wenig wie Amelia da rausgehen und Holz durch die Gegend schleifen.“
„Doch“, sagte Claire leise, aber bestimmt. Während sie ihre Winterkleidung im Arm hielt. „Das ist eine Sache zwischen Amelia und mir. Es gibt offensichtlich einiges, worüber wir reden müssen. Wir kommen schon klar.“
Martin sah aus, als wollte er protestieren, aber Claire tätschelte im Vorbeigehen seinen Arm, als sie sich auf den Weg zur Hintertür machte.
„Okay, während sich die beiden um das Holz kümmern, sollten wir mal nach dem Sicherungskasten schauen“, sagte Wyle. „Elliott, Martin, wollt ihr mitkommen und mir helfen?“
Keiner der beiden sah sonderlich erpicht aus, Wyle zu begleiten, aber man merkte ihnen an, dass sie nicht ablehnen wollten. „Ich denke wirklich, ich sollte den Mädels helfen“, sagte Martin.
Wyle reichte ihm eine Taschenlampe. „Ich glaube nicht, dass sie deine Hilfe wollen. Wie wäre es mit einem Kompromiss? Wenn sie in fünfzehn Minuten nicht zurück sind, gehen wir raus und suchen nach ihnen. Abgemacht?“
Martin seufzte und nahm die Taschenlampe entgegen. „Abgemacht“, erwiderte er resigniert.
Elliott hatte sich nach wie vor nicht von der Stelle gerührt. „Ich weiß nicht, ob ich eine große Hilfe wäre“, sagte er. „Ich war noch nie im Keller.“
„Ich auch nicht“, erwiderte Wyle kurz angebunden. „Aber je mehr wir sind, desto schneller finden wir den Sicherungskasten. Also, wo geht es zum Keller?“
„Hier entlang“, sagte Martin und führte sie aus dem Zimmer.
„Das war heftig“, sagte Jeremy und grinste mich schon wieder an. „Du wünschst dir bestimmt, du hättest dich nie auf diesen Wahnsinn eingelassen, was?“
„Jeremy, du kennst dich im Keller doch ziemlich gut aus“, sagte Lucy von ihrem Platz auf dem Sitzsack aus und ersparte mir dadurch glücklicherweise eine Antwort. „Warum hast du nicht angeboten, mit runterzugehen und ihnen bei der Suche zu helfen?“
„Dein Freund hat doch alles unter Kontrolle“, gab er zurück. „Außerdem verbringe ich aus Prinzip so wenig Zeit wie möglich in der Gesellschaft von Polizisten.“
„Was für eine Überraschung“, murmelte Lucy.
Mir fiel auf, dass Iris seit einer Weile nichts mehr gesagt hatte, also warf ich ihr einen Blick zu. Sie saß vornübergebeugt da, als wäre sie in sich zusammengesackt.
Plötzlich wurde mir bewusst, dass Grandma Flo Iris’ Mutter war. Wie konnte ich nur zulassen, dass mir das entfiel? Auch diese Unachtsamkeit schob ich auf das zweite Glas Wein.
Ich erhob mich und ging zu ihr hinüber, wobei mir wohl bewusst war, dass sich ihre beiden Kinder nach wie vor kabbelten. „Geht es dir gut?“
Sie nickte. „Ja. Es ist ja nicht so, dass der Tod meiner Mutter überraschend kam. Mit ihrer Gesundheit ging es schon länger bergab. Aber Amelia hat recht, wir sollten uns dieses Wochenende mehr auf sie konzentrieren. Und ich hätte mich aktiver an der Planung beteiligen sollen, anstatt ihr alles zu überlassen.“
„Ich habe den Eindruck, Amelia übernimmt gern die Kontrolle“, sagte ich. „Vermutlich hat es ihr nicht allzu viel ausgemacht.“
Iris schniefte. „Stimmt, sie gibt gern den Ton an. Und in vielerlei Hinsicht ist sie ein Geschenk des Himmels. Manchmal habe ich das Gefühl …“ Sie hielt inne und warf einen verstohlenen Blick in Richtung ihrer Kinder. „Sie ist eine gute Nichte“, schloss sie.
Ich fragte mich, was sie ursprünglich hatte sagen wollen. Wünschte sie sich, statt ihrer Kinder Amelia zur Tochter zu haben? Hatte sie das Gefühl, dass Amelia ihr mehr eine Tochter war als ihr eigenes Fleisch und Blut?
Sie holte tief Luft, als wollte sie noch etwas hinzufügen, kam jedoch nicht dazu. In diesem Moment ertönte ein lauter Knall, gefolgt von einem Schlag, als wäre eine Tür aufgeflogen, gegen die Wand geknallt und wieder zugefallen. Dann hörte man stampfende Schritte und panisches Keuchen.
Iris fasste sich an die Brust. „Was ist da los?“, flüsterte sie und erhob sich mühsam.
Ich war bereits aufgesprungen. Irgendetwas stimmte nicht. Als ich mich umsah, bemerkte ich, dass Jeremy ebenfalls aufgestanden war. Unsere Blicke trafen sich, und ich sah, dass er dasselbe Gefühl hatte wie ich.
„Mist“, sagte Lucy und betrachtete ihren rosafarbenen Pulli. „Jetzt habe ich meinen Wein verschüttet.“
Bevor jemand antworten konnte, erschienen Claire und Amelia, die immer noch ihre Stiefel und Mäntel trugen, im Türrahmen. Schnee fiel in kleinen Häufchen von ihnen herab und landete auf dem traumhaften Hartholzboden. Im schummerigen Licht wirkte der Ausdruck in ihren Augen wild.
„O Gott sei Dank. Charlie?“ Amelias Stimme klang schrill und atemlos, als stünde sie kurz vor einem hysterischen Anfall. „Charlie, du musst sofort mitkommen.“
„Warum?“
„Ich habe dir doch gesagt, dass Charlie nichts ausrichten kann“, sagte Claire, aber Amelia schüttelte energisch den Kopf.
„Nein, nein, Charlie, du musst auf der Stelle mitkommen. Du musst ihm helfen.“
„Wem soll ich helfen?“ War einem der Männer im Keller etwas zugestoßen? Aber wie sollte Amelia das wissen, wenn sie doch draußen beim Holzverschlag gewesen war?
„Amelia …“
„Du musst ihm helfen!“, brüllte sie. „Du kannst doch Leute heilen, oder nicht? Das ist es, was du mit deiner … deinen Tees machst, nicht wahr? Du heilst Leute damit.“
„Sie ist keine Ärztin“, warf Claire ein.
„Aber sie kommt jemandem, der Hilfe leisten kann, am nächsten“, erwiderte Amelia barsch. Du hast doch gesagt, dass du Tees dabei hast, oder? Da muss etwas dabei sein, das helfen könnte.“
„Claire hat recht, ich bin keine Ärztin“, sagte ich. „Und meine Tees mögen der Gesundheit förderlich sein, aber sie sind keine Medizin. Was ist denn los? Wer braucht Hilfe?“
„Wir verschwenden hier nur Zeit“, zischte Amelia und trat vor, um meinen Arm zu ergreifen. „Los, komm mit.“
„Amelia, selbst wenn Charlie eine medizinische Fachkraft wäre, ist sie nicht diejenige, die wir in diesem Fall brauchen, sondern Wyle. Wo steckt er?“
„Du meinst Brandon?“, fragte Lucy. „Er sucht im Keller nach dem Sicherungskasten. Wofür braucht ihr ihn denn?“
Sprachlos starrte ich Claire und Amelia an. Ich fühlte mich wie festgefroren, während mir ein eisiger Schauer über den Rücken jagte. Nach einem Polizisten zu verlangen, konnte nichts Gutes bedeuten.
Claires Augen waren geweitet, und trotz ihrer geröteten Wangen und Nase war ihre Haut kreidebleich. „Wir haben George gefunden.“
„Den Anwalt?“, hakte ich nach. Die Kälte breitete sich durch meinen ganzen Körper aus und erschwerte mir das Atmen.
„Gott sei Dank“, sagte Iris. „Also ist er gut angekommen. Wo steckt er denn?“
„Es geht ihm nicht gut“, verkündete Amelia. „Er braucht einen Arzt.“
„Wie bitte?“, keuchte Iris.
„Er braucht keinen Arzt“, korrigierte Claire ihre Schwester. „Er ist tot.“
Kapitel 6
„Tot?“, kreischte Iris. „Nein, das kann unmöglich sein!“
„Wir wissen nicht, ob er wirklich tot ist“, beharrte Amelia und warf Claire einen finsteren Blick zu. „Schließlich haben wir ihn nicht untersucht. Und selbst wenn, sind wir keine medizinischen Fachkräfte.“
„Er liegt draußen in der Kälte unter einer Plane“, erwiderte Claire. „Glaub mir, er ist tot.“
„Er ist unter einer Plane?“, hakte ich nach.
Claire nickte.
„Draußen im Schnee?“
„Nein, im Holzschuppen“, stellte sie klar.
„Im Holzschuppen?“, wiederholte Iris und wedelte sich nervös vor dem Gesicht herum. „Warum denn das? Was hatte er dort zu suchen?“
„Klingt so, als hätte ihn jemand dort abgelegt“, mischte sich Jeremy ein.
Iris taumelte einen Schritt zurück. „Was? Nein! Wer würde denn so etwas tun?“
„Ist nur so ein Gedanke, aber vielleicht die Person, die ihn getötet hat?“, erwiderte Jeremy.
„Wir wissen nicht, ob er tot ist“, wiederholte Amelia erneut.
„Wenn nicht, ist es ziemlich merkwürdig, dass er sich draußen unter einer Plane versteckt, anstatt ins Haus zu kommen, wo es schön warm ist“, gab Jeremy zu bedenken.
„Vielleicht konnte er das nicht, weil er zu schwer verletzt ist“, sagte Iris. „Amelia hat recht, wir müssen ihn reinbringen, bevor es zu spät ist.“
„Hat eben jemand geschrien?“ Wyle kam zurück ins Wohnzimmer, dicht gefolgt von Martin und Elliott.
„George ist im Holzverschlag“, erklärte Iris.
Wyle blinzelte. „George? Wer ist George?“
„Der Anwalt“, sagte Amelia. „Wir sollten ihn hereinholen, damit Charlie einen Blick auf ihn werfen kann.“
Jetzt wirkte Wyle noch verwirrter. „Charlie? Warum sollte sie das tun?“
„Weil er verletzt ist“, sagte Iris.
„Aber sie ist keine Ärztin“, erwiderte Wyle, bevor er mir einen Blick zuwarf. „Haben Sie ihnen etwa erzählt, Sie seien Ärztin?“
„Nein, habe ich nicht“, rief ich entnervt. „Warum denken Sie immer gleich das Schlimmste von mir?“
„Ihr müsst euch beeilen“, warf Iris ein.
„Nicht nötig“, erwiderte Claire tonlos. „Er ist nicht verletzt, sondern tot.“
„Tot?“ Wyle musterte sie scharf. „Ganz sicher?“
„Er ist nicht tot“, beharrte Amelia weiterhin. „Sondern verletzt.“
„Er liegt auf dem Boden des Holzschuppens unter einer Plane“, wiederholte Claire. „Klingt das nach jemandem, der noch lebt?“
Wyle war bereits auf dem Weg zum Garderobenschrank, um seine Stiefel und seinen Mantel zu holen. Ich folgte ihm und sammelte meine Kleidung ebenfalls zusammen.
„Was machen Sie da?“, zischte er mit leiser Stimme.
„Wonach sieht es denn aus? Ich begleite Sie.“
„Auf keinen Fall. Wenn das ein Tatort ist, wurde er schon genug verunreinigt.“
„Ich werde nichts verunreinigen“, erwiderte ich. „Aber wir haben hier zwei sehr unterschiedliche Versionen über Georges Zustand, und wenn er wirklich verletzt ist, werden Sie Hilfe dabei brauchen, ihn ins Haus zu schaffen.“
Er beäugte mich. „Und Sie wollen mir dabei helfen, einen ausgewachsenen Mann durch den Schnee zu tragen?“
Ich schlüpfte in meine Stiefel. „Ich bin stärker, als ich aussehe, und wenn wir Unterstützung brauchen, können Claire oder Amelia ein paar von den anderen Männern holen. Aber falls George noch lebt, sollten wir keine Zeit mehr verlieren.“
Wyle presste die Lippen zusammen, protestierte jedoch nicht weiter. „Mindestens eine von euch muss mitkommen und mir zeigen, wo sich George befindet“, sagte er zu Claire und Amelia, nachdem er sich seinen Mantel geschnappt hatte. Ich riss meinen vom Haken und warf in meiner Eile, ihm zu folgen, einen anderen zu Boden.
„Siehst du?“, sagte Amelia, an Claire gewandt. „Ich habe dir doch gesagt, dass Charlie helfen kann.“
Claire schüttelte den Kopf. „Ich komme mit“, sagte sie und durchquerte das Zimmer, dicht gefolgt von Wyle. Ich hastete ihnen hinterher, während ich mich damit abmühte, meinen Mantel anzuziehen.
Claire steuerte auf den Vorraum des Hinterausgangs zu, in dem sich Garderobenständer und niedrige Ablagen aneinanderreihten, die voll waren mit einem kunterbunten Mischmasch an Schuhen. Unter anderem sah ich Flip-Flops neben Wanderstiefeln und Gummischuhen. Claire griff nach dem Türknauf und drehte sich zu uns um. „Macht euch auf was gefasst“, sagte sie. „Da draußen ist es ziemlich übel. Man kann kaum die Hand vor Augen sehen, deshalb sollten wir dicht zusammenbleiben.“
„Bereit?“, fragte Wyle mich mit grimmiger Miene. Ich wickelte mir meinen Schal um den Hals und zog meine Handschuhe an.
„Auf geht’s!“
Claire drückte die Tür auf, und sofort schlug uns eisige Kälte entgegen. Mit gesenktem Kopf ging sie hinaus, Wyle und ich folgten ihr.
Augenblicklich versank mein Fuß in Schnee, der tiefer war als meine knöchelhohen Stiefel, und ich spürte, wie mir kalte, nasse Brocken hineinfielen. Meine Socken würden völlig durchnässt sein. Zum Glück hatte mein notorisches Überpacken diesmal einen Sinn – ich hatte mehrere Paare Ersatzsocken dabei, ganz ohne besonderen Grund. Jetzt erschien mir das wie die beste Entscheidung überhaupt. Der Wind peitschte um uns herum und trieb mir Schneeflocken ins Gesicht, die so hart wie kleine Kieselsteine waren. Es war stockfinster, doch der Schnee warf sein eigenes, geisterhaftes Licht. Man konnte sich hier draußen leicht verirren. Ich blieb so dicht wie möglich bei Wyle, um hinter seinem breiten Rücken Schutz zu suchen, während ich mich durch den Schnee kämpfte. Mit jedem Schritt wurden meine Füße kälter und nasser.
Die Situation war völlig absurd. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass George noch lebte, selbst wenn er irgendwo Unterschlupf gefunden hätte. Aber ich hatte mich darauf eingelassen, und umkehren kam jetzt nicht infrage. Ich hätte irgendwie Wyle und Claire auf mich aufmerksam machen müssen, um ihnen mitzuteilen, dass ich zurück zum Haus wollte – und bei meinem Glück hätten sie darauf bestanden, mich zu begleiten. Wie peinlich.
Es kam mir wie Stunden vor, bis wir endlich den Holzschuppen erreichten, obwohl es in Wirklichkeit wohl kaum mehr als fünf Minuten waren. Der Verschlag befand sich hinter einem weiteren Schuppen, den ich für das Bootshaus hielt. Den dritten Schuppen sah ich nirgends.
Claire kämpfte einen Augenblick mit der Tür, bevor sie sie aufbekam, und wir stolperten zu dritt hinein. Anschließend mühte sie sich damit ab, sie wieder zuzuschlagen.
Einen Moment lang standen wir einfach nur da und schnappten nach Luft. Draußen tobte der Wind, aber hier drinnen fühlte es sich fast warm an. Und es roch gut – nach frisch gespaltenem Holz.
Wyle fasste sich als Erster wieder. Er schaltete seine Taschenlampe ein und ließ den Lichtstrahl durch den Raum wandern. Direkt vor uns lag ein sauber gestapelter Haufen Holzscheite, einige waren auf dem Boden verstreut.
„Wo ist er?“
„Da drüben“, sagte Claire und richtete ihre Taschenlampe zur Seite. Eine blaue Plane lag auf dem Boden ausgebreitet, eine Ecke war zurückgeschlagen … und darunter kam Georges Kopf zum Vorschein.
Wyle murmelte etwas Unverständliches. „Ich nehme an, eine von euch beiden hat die Plane so zurückgeschlagen?“
„Ja, das war ich“, sagte Claire.
Wyle ging langsam auf die Leiche zu. „Ihr bleibt hier“, sagte er knapp. Er manövrierte vorsichtig um das Holz herum und ging dann neben Georges Kopf in die Knie. Ich konnte nicht genau erkennen, was er tat, aber er beugte sich vor, hielt das Ohr an Georges Mund, zog sich einen Handschuh aus und berührte seinen Hals – wahrscheinlich um nach einem Puls zu tasten. Schließlich richtete er sich auf und kam zurück.
„Definitiv tot“, sagte er.
Claire stieß einen tiefen Seufzer aus. „Ich hatte natürlich gehofft, mich zu irren, aber …“ Sie schüttelte den Kopf.
„Hast du den Leichnam berührt?“
„Nein, ich habe nur die Plane bewegt“, sagte sie. „Der Anblick seines Gesichts im Taschenlampenlicht hat mir gereicht.“ Sie sah aus, als wäre ihr übel.
Wyle nickte und ließ seinen Lichtstrahl erneut durch den Schuppen schweifen.
„Das hier dürfte die Tatwaffe sein“, sagte er und leuchtete auf ein Stück Holz, das nahe der Leiche lag. „Aber Genaueres wissen wir erst, wenn der Gerichtsmediziner kommt. Wird dieser Schuppen eigentlich abgeschlossen?“
Claire schüttelte den Kopf. „Keiner von ihnen. Nicht mal der Geräteschuppen, obwohl der wirklich ein Vorhängeschloss bräuchte, da … Na ja, da waren jedenfalls mal ein paar teure Werkzeuge drin. Aber soweit ich weiß, hatten wir nie Probleme mit Einbrüchen oder so was.“
„Gibt es irgendwelche Hinweise, dass jemand hier gewesen ist?“
„Außer George und dem Holz?“ Sie deutete auf die gestapelten Scheite. „Wir haben das nicht dort gestapelt. Das muss Hal gewesen sein.“
„Wer ist Hal?“
„Unser Nachbar. Er wohnt schon ewig hier, zumindest so lange ich zurückdenken kann.“
„Wo genau wohnt er?“
„Gleich die Straße runter.“
„Wie weit ungefähr?“
„Hm … nicht weit. Vielleicht eine Meile? Oder etwas mehr?“
„Und er bringt euch Holz?“
„Ja, und allerlei andere Dinge. Man könnte ihn als eine Art Hausmeister bezeichnen. Grandma hat ihn dafür bezahlt, dass er nach dem Rechten sieht, regelmäßig vorbeischaut, kleine Arbeiten erledigt … so was eben.“
„Hätte er irgendeinen Grund, George etwas anzutun?“
„Ich glaube nicht mal, dass er ihn kannte.“
Wyle nickte. „Okay, dann erzähl mir, was passiert ist.“
„Viel gibt’s nicht zu erzählen. Nachdem Amelia und ich hereinkamen, haben wir – wie du – unsere Taschenlampen angemacht und uns umgesehen. Ich bemerkte die blaue Plane und wunderte mich, warum Hal sie da hingelegt hatte, vor allem, weil sie in der Mitte irgendwie gewölbt war. Ich dachte, er würde den Schuppen vielleicht zum Lagern von Dingen benutzen.“
„Dinge?“, unterbrach Wyle sie. „Meinst du damit seine eigenen Sachen?“
„Ja. Das hat er hin und wieder gemacht, obwohl Grandma ihm mehrfach gesagt hat, dass er das nicht darf. Aber sein Haus ist deutlich kleiner als unseres. Jedenfalls wollte ich wissen, was er hier wohl lagert, also habe ich nachgesehen. Amelia meinte, ich solle es lassen. Es spiele keine Rolle, sagte sie. Es sei ja nicht so, als könnten wir ihn mitten im Schneesturm anrufen und ihn auffordern, sein Zeug zu holen – wir sollten uns lieber darauf konzentrieren, Holz für das Feuer zu beschaffen. Aber …“ Claire schüttelte kurz den Kopf. „Irgendetwas kam mir komisch vor. Ich wollte nachsehen, also habe ich die Plane zurückgeschlagen und … Na ja, den Rest habt ihr gesehen. Ich bin erschrocken zurückgesprungen. Amelia hat geschrien, das Holz fallen lassen, das sie in den Armen hielt, und ist gegen die Tür zurückgewichen. Sie stammelte wirres Zeug – wir müssten ihm helfen, Charlie herholen und so weiter. Ich habe ihr gesagt, dass George tot ist, aber sie wollte es nicht hören. Stattdessen riss sie die Tür auf und rannte zurück zum Haus. Also, ‚rannte‘ ist vielleicht übertrieben – in diesem Schnee geht das wohl kaum –, aber ihr wisst, was ich meine. Wie dem auch sei, ich hatte nicht vor, hier allein zu bleiben, also bin ich ihr hinterher.“
„Weißt du noch, was dich stutzig gemacht hat?“
Claire schüttelte den Kopf. „Nicht wirklich. Manchmal habe ich einfach so ein Gefühl. Und das war eben so ein Moment.“ Sie erschauderte.
Wyle bemerkte es und ließ seine Taschenlampe kurz über das Holz schweifen. „Es hat keinen Sinn, hier in der Kälte rumzustehen. Ein Feuer wäre jetzt wirklich hilfreich. Claire, gibt es noch einen Ort, wo wir Holz finden könnten?“
Claire schürzte nachdenklich die Lippen. „Wir könnten in der Garage nachsehen“, sagte sie schließlich. „Es ist gut möglich, dass Hal dort auch was für uns gestapelt hat. Ich meine, ich erinnere mich an eine Kiste oder etwas in der Art, in der Holz gelagert wurde, damit man nicht ständig raus in die Kälte musste, um nachzulegen. Andererseits – man sollte meinen, irgendwer hätte daran gedacht, bevor wir uns durch den Schnee hierhergekämpft haben. Aber es ist schon ewig her, dass einer von uns im Winter hier war. Vielleicht hat es einfach niemand bedacht.“
Wyle nickte mit zusammengepressten Lippen. „Das wird eine lange Nacht. Ein Feuer wäre sicher gut, um die Nerven zu beruhigen – und natürlich, um uns warmzuhalten, solange wir keinen Strom haben. Aber ich würde dieses Holz hier lieber nicht anfassen, bevor die Spurensicherung alles untersucht hat. Es sei denn, wir haben keine andere Wahl.“
Er verzog das Gesicht. „Ich bezweifle, dass heute Nacht überhaupt jemand schlafen wird.“