Leseprobe Die Schwestern der Tuchfabrik & Das Erbe der Tuchfabrik

1

Berlin, Mai 1923

„Dann gehe ich jetzt packen“, verkündete Edith enthusiastisch. Wendig wie ein Wiesel stand sie auf und schob den Holzstuhl schwungvoll an den Tisch, obwohl die Mittagstafel noch nicht aufgehoben war. Mit einem schelmischen Grinsen, umrahmt von der neuen Frisur, einem frechen brünetten Bubikopf, lehnte sie sich vornüber und griff sich mit lang gestrecktem Arm einen Apfel aus der Obstschale. Dabei fiel ihre lange, mehrlagige Perlenkette mit dumpfem Klackern auf das frisch gestärkte Tischtuch, welches das Eichenholz bedeckte. Den empörten Blick ihrer nur zwei Jahre älteren Schwester Ursula erwiderte Edith dabei mit einem kecken Zwinkern.

„Bis später!“ Edith biss genüsslich in die goldgelbe Frucht. Gut gelaunt und sichtbar vor Selbstbewusstsein strotzend, verließ sie das Esszimmer.

„Papa …“, begehrte Ursula auf, die nicht hinnehmen wollte, dass sich die jüngere Schwester, neuerlich und ungestraft, wie eine Wilde aufführen durfte. Aber ihr Vater, der angesehene Mediziner Ziegler, zog nur müde die Augenbrauen hoch. Mit abwesendem Blick räusperte er sich, dann sah er auf seine goldene Taschenuhr.

„Das wird sich schon legen“, murmelte er mit Blick auf das Zifferblatt und schob seine Brille mit den kreisrunden Gläsern unnötigerweise auf der Nase zurecht. „Ich werde in der Praxis erwartet. Ihr entschuldigt mich …“ Er stand auf, ohne eine Antwort zu erwarten, strich mit der flachen Hand über seine Weste und zog das Jackett glatt. Dann verließ er ebenfalls den Raum.

Ursula schnaufte verärgert. Wie so oft in letzter Zeit war von ihrem Vater kein Beistand zu erwarten. Also wandte sie sich mit fragendem Blick an ihre Mutter. Doch auch Henriette Ziegler, eine schlanke Frau mit geradem Rücken und von strengem Wesen, schien heute noch weniger Interesse an einer Diskussion über das rebellische Verhalten ihrer Zweitgeborenen zu haben als sonst. Die Idee, dass Ediths Verhalten nur eine Laune wäre, der nicht allzu viel Aufmerksamkeit geschenkt werden durfte, weil sie bald vorüber wäre, hielt sich hartnäckig.

„Wenn der Sommer vorbei ist, wird sie die Flausen los sein. Komm, zeige mir lieber deine Handarbeit. Derlei Benehmen kannst du dir noch viel weniger leisten.“ Henriette stand auf und bedeutete Ursula, mit ihr zu den beiden Sesseln am großen Fenster hinüberzugehen und dort Platz zu nehmen.

Das Dienstmädchen brachte sogleich ein Tablett mit edlem Porzellangeschirr, dazu Milch, Zucker und Kaffee. Im Hause Ziegler wurde der Haushalt mit Sorgfalt geführt und so fehlte es auch jetzt an nichts. Darauf legte Henriette großen Wert, auch wenn sich die Haushaltsausgaben unerwartet rasch erhöht hatten.

Gehorsam setzte Ursula sich und reichte der Mutter ihr aktuelles Strickwerk, einen Handschuh aus feiner grauer Wolle. Während Henriette die Arbeit ihrer Tochter akribisch begutachtete, konnte Ursula nicht umhin, das Dienstmädchen Anna bei seiner Arbeit zu beobachten.

Anna war vierundzwanzig Jahre alt, wie sie wusste, und somit nur ein Jahr jünger als sie selbst. Doch es steckte so viel Anmut in diesem Wesen, dass Ursula sie bei jeder Gelegenheit mit heimlichen bewundernden Blicken bedachte. Annas Bewegungen waren flink, ihr Körperbau trotz des geringen Gewichts ansehnlich, das zusammengesteckte rabenschwarze Haar dick und glänzend. Annas Wangen leuchteten in einer natürlichen Röte und lenkten den Blick von ihren müden Augen ab. Sie stellte einfach alles dar, was Ursula nie würde sein können.

Selbst diesem einfachen Mädchen gegenüber schämte sie sich für ihr unzureichendes äußerliches Erscheinungsbild. Manchmal dachte Ursula, es wäre dienlicher gewesen, sich als Vierjährige im Winter einen Zeh abgefroren zu haben, als an Krupp zu erkranken. Ihre lästigen Defizite ließen sich dadurch zwar erklären, als Entschuldigung galten sie jedoch nicht.

Ihre Mutter ließ keinen Tag verstreichen, an dem sie nicht Anstoß an ihrer Tochter nahm. Unnötigerweise. Ursula wusste nur zu gut, dass sie viel zu hager war. Selbst wenn sie sich schminkte, stachen ihre schmale Nase und die durch den Überbiss hervorstehenden Zähne ins Auge. Ihr Gesicht war markant, wies einen hohen Wiedererkennungswert auf, allerdings nicht in der Art, wie es ihr lieb gewesen wäre. Auch ihr Haar wuchs viel zu dünn und aschfahl. Die zierlichen Schnecken, die sie täglich mit viel Mühe hineinflocht, baumelten wie blanker Hohn rechts und links an ihrem Kopf.

„Trenne ihn auf. Die Maschen sind noch nicht gleichmäßig genug.“ Henriette sprach leise, legte aber eine besondere Schärfe in ihre Worte, die Ursula zusammenzucken ließ. Sie gab ihrer Tochter das Strickzeug mit einem strengen Blick zurück.

„Bis zu eurer Rückkehr im September solltest du wenigstens ein einziges ordentliches Paar gestrickt haben.“

Ursula nickte tonlos und begann augenblicklich damit, die bis dahin so mühsam und in ihren Augen akkurat gestrickten Reihen aufzutrennen. Die Wolle hatte sich bereits an ihre neue Form gewöhnt und nun kringelte sich der schier endlose Faden in zartem Grau auf ihrem Schoß. Abwechselnd zog sie die Maschen auseinander und wickelte den Faden zurück aufs Knäuel.

Nachdem ihre Mutter die Kaffeezeit beendet hatte, begab sich auch Ursula in ihr Zimmer, um ihr Reisegepäck für die kommenden Wochen zusammenzulegen. Sie fügte sich, machte sich zeitgleich jedoch große Sorgen. Einem Mann zu gefallen und ihn zu heiraten, stellte sich in Abwesenheit als noch schwierigeres Unterfangen dar, als es ohnehin schon war.

Aber es war beschlossene Sache im Hause des Doktor Ziegler und Ursula wusste so gut wie ihre Schwester, dass die Entscheidungen ihres Vaters, wenn sie erst einmal gefällt und ausgesprochen waren, nicht zurückgenommen wurden. Die Töchter Ursula und Edith würden also über den Sommer in den Westen des Landes zu seinem entfernten Cousin reisen und einige Wochen in dessen Tuchfabrik arbeiten.

Natürlich würden die jungen Damen keine richtige Arbeit verrichten, allenfalls einfache Bürotätigkeiten in dessen Kontor erledigen. So viel wusste Ursula bereits. Es ging eher darum, die Töchter aus der Hauptstadt zu schaffen, bis die Unruhen in der Bevölkerung sich gelegt hatten und endlich eine stabile Regierung an der Macht war. Falls dies nicht gelang und Zieglers Finanzen nicht ausreichten, so musste mit vorausschauendem Blick in die Zukunft der Mädchen investiert werden.

Das alles hatte Ziegler seinen Töchtern gegenüber nicht erwähnt, aber Ursula wusste es, denn sie hatte einen Brief auf seinem Schreibtisch entdeckt und verbotenerweise gelesen. Selbstredend sollten sich die Töchter aus gutem Hause nicht um die Tuchmacherei scheren, sondern viel lieber etwas Landluft und den Sommer genießen. So hatte es Ziegler seinem Cousin mitgeteilt.

Ursula hatte nicht mit ihrer Schwester darüber gesprochen. Aber sie wusste, dass die Sorgen ihres Vaters berechtigt waren. Angesichts der politischen Lage und der jüngsten wirtschaftlichen Entwicklungen war es unmöglich abzusehen, ob und wie sich die junge Republik in einem halben Jahr präsentieren würde. Im Moment herrschten Sorge und Ungewissheit in der Hauptstadt und im nahen Umland.

Die ausbleibenden Bestrebungen Ediths, sich um eine gesicherte Zukunft zu bemühen, schmerzten Ursula. Noch hatten Zieglers, und vor allem die Patienten ihres Vaters, Vermögen. Doch wie sie bereits bei einigen Bekannten der Familie beobachtet hatte, konnte es sich innerhalb weniger Zeit in Luft auflösen. Diese Themen waren nicht für die Ohren der Medizinertöchter bestimmt, aber Ursula hatte die Nachrichten verfolgt und machte sich ihre Gedanken dazu.

Der Großteil der Berliner Arbeiter belagerte in Ermangelung einer Anstellung die Straßen. Die ehemaligen Munitionsfabriken fertigten nun Rohre oder Töpfe. Insgesamt war die Produktionskapazität auf einen Bruchteil zurückgefahren und ein Hauptteil der Belegschaft entlassen worden. Der Krieg war gerade erst vorbei und die junge, übergeschnappte Republik steckte bereits in einer tiefen Krise.

Henriette pflegte Gespräche, die in jene Richtung steuerten, sorgfältig im Keim zu ersticken. Also blieb Ursula mit ihren Gedanken allein und Edith amüsierte sich im Nachtleben, denn sie war hübsch, eine Spur zu vorlaut und fand immer jemanden, der Dollars in der Tasche hatte und sie einlud.

Ursula legte ein Kleidungsstück nach dem anderen auf ihr Bett und versuchte die trüben Gedanken zu verjagen. Es würde schon gutgehen, es musste einfach, und vielleicht spielte ihr die Zeit in die Karten. Sie würden den Sommer auf dem Land genießen und es sollte ihnen an nichts mangeln. Vielleicht begegnete sie dort sogar einem Gentleman, dem sie genügte und der sie heiratete.

Ziegler verbrachte immer häufiger Zeit in seiner Praxis im Erdgeschoss der Villa. So auch jetzt, außerhalb der Sprechzeiten. Er suchte die Ruhe und wollte nachdenken. Wenn er ehrlich war, in sich hineinhörte, konnte er eine gewisse Beunruhigung nicht leugnen. Sie saß versteckt hinter der sachlichen Miene eines Naturwissenschaftlers. Wann immer sie sich in den Vordergrund drängte, schluckte Ziegler sie hinunter. Aber auf diese Weise verschwand sie nicht. Sie lag ihm unhandlich wie ein Stein im Magen. Wie würde es in Zukunft weitergehen?

Seine Patienten, mittlerweile etwas weniger an der Zahl, sicherten ihm noch immer Beschäftigung und Einkünfte. Krank wurden die Menschen jederzeit, auch die reichen, unabhängig vom politischen Geschehen. Darauf konnte er sich verlassen. Doch die Sorgenfalten auf seiner Stirn waren in den letzten Monaten tiefer geworden. Einige Familien, die er über viele Jahre hinweg betreut hatte, steuerten in die Armut. Wenn sich nicht bald etwas tat, sah auch er schwarz.

Ziegler trommelte mit den Fingerkuppen auf seinem Schreibtisch herum. Deutschland brauchte eine harte, konsequente Führung. So ging es nicht weiter und er hoffte inständig auf baldige Änderung. Notfalls auch mit Gewalt. Lieber ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende. Das Ende würde es zweifellos geben, da war er sich sicher. Deshalb sah er seine Töchter lieber weitab auf dem Land.

Ziegler nahm den Apfel, der seit gestern auf seinem Tisch lag, und ließ ihn immer wieder von einer Hand in die andere fallen. Er hatte Leopold Geldermann nur wenige Male in seinem Leben gesehen. Die Verwandtschaft bestand über mehrere Ecken und in den letzten Jahren hatten Ziegler und er nie viel miteinander zu tun gehabt. Zuletzt hatte er ihn und seine Frau Luise vor dem Krieg besucht. Zu Kindertagen hatten sich ihre Wege häufiger gekreuzt und so konnte Ziegler sich an illustre Erlebnisse aus ihrer Zeit als Knaben erinnern, die ihm an so manchen schweren Tagen ein heiteres Zucken um die Mundwinkel bescherten. Zudem war aus Leopold ein erfolgreicher Geschäftsmann geworden. Er betrieb eine angesehene Tuchfabrik im Westen, nahe der Grenze zu Belgien. Weit fort, wo seine Töchter vermutlich am besten aufgehoben waren, wenn sich der politische Paukenschlag ereignete, auf den Ziegler hoffte. Danach, wenn Edith und Ursula zurückgekehrt wären, sähe die Zukunft wieder klarer aus. Sie alle würden zu einem normalen Leben zurückkehren. Es würden einige gesellschaftliche Empfänge folgen und dank ihrer Herkunft sollte es sich nicht problematisch gestalten, die Mädchen angemessen zu verheiraten.

Edith besaß eine besondere Schönheit und Ausstrahlung. Ursula glich ihr Defizit zumindest im Ansatz mit Fleiß und Gehorsam aus. Alles war nur eine Frage der Zeit und die verschaffte er ihnen bei Leopold Geldermann.

Ziegler nahm die Brille ab, ließ seinen Blick aus dem Fenster wandern und besah sich den prächtig grünenden Vorgarten. Er würde seine Töchter zweifelsohne vermissen, aber so war es besser. Seine kleine, aufmüpfige Edith hätte genug Zeit, sich endgültig ihrer Flausen zu entledigen und in angemessenem Sinne gehorsam zu werden. Nicht zu vergessen, sie mochten ihren Onkel Leopold, auch wenn sie ihn nur selten zu Gesicht bekommen hatten. An die früheren Reisen ins Rheinland erinnerte man sich in der Familie Ziegler noch heute gern.

Bruno Ziegler rieb sich nachdenklich den Nacken. Leopold hatte geschrieben, dass es an Rhein und Ruhr ebenfalls vereinzelt Zwischenfälle mit Franzosen und Belgiern gegeben hätte.

Die verdammten Gauner, hatte Leopold unlängst in einem seiner Briefe gewettert, drängen auf unerhörte Reparationszahlungen. In einem Brief zu Beginn des Jahres hatte Leopold aber auch geschildert, dass die Situation in der Tuchfabrik selbst wenig beeinträchtigt war. Die Maschinen liefen täglich und die Fabrik produzierte uneingeschränkt. Stoffe waren schließlich keine Waffen und wurden immer gebraucht. Leopold bezog sogar Rohstoffe aus Belgien. Diese Informationen waren es schließlich gewesen, die Ziegler in seiner Entscheidung bestärkt hatten. Im Rheinland schienen ihm die Tage trotz allem in ruhigen und geordneten Bahnen zu verlaufen. Dort gab es eben nicht jeden Morgen eine neue Hiobsbotschaft, schien die Inflation weniger Schaden anzurichten, gingen die Menschen nicht aufeinander los.

Hier bestand gewiss keine Gefahr für die Töchter. Leopold übertrieb sicherlich. Er hatte, soweit Ziegler sich erinnerte, schon immer einen Hang fürs Dramatische gehabt, aber selbst wenn er recht hatte, konnten seine Geschichten mit der Stimmung in Berlin nicht mithalten.

Nun ja, für den Ernstfall, falls die deutsche Wirtschaft tatsächlich in sich zusammenbrach, sollte es nicht schaden, wenn Ursula und Edith eine gewisse Berufserfahrung in ihren Lebensläufen vorweisen konnten ‒ wenn auch nur auf dem Papier. Diese wollte ihnen Leopold vorsorglich bescheinigen. Man kann nie wissen, welchen Bock die Herren der neuen Demokratie als Nächstes schießen, wenn sie noch dazu kommen, wiederholte er in Gedanken die Worte, die kürzlich einer seiner Patienten formuliert hatte. Ziegler nickte unwillkürlich. In letzter Zeit häuften sich zwar die Todesfälle, teils unter ungeklärten Umständen, aber an inkompetenten Nachrückern mangelte es nicht. Im Falle seines Ruins sollten seine Töchter zumindest theoretisch auf Berufserfahrung zurückgreifen können. Die Zahl der arbeitenden jungen Frauen, auch in besseren Kreisen, nahm zu seiner Besorgnis stetig zu. Edith und Ursula sollten nicht ins Abseits geraten.

Eine plötzliche Bewegung vor dem Haus störte Zieglers Gedanken und erregte seine Aufmerksamkeit. Beinahe hektisch stand er vom Schreibtisch auf, setzte noch schnell seine Brille auf die Nase und entdeckte eine junge Frau, die mit einem Bündel auf dem Arm den Weg zur Eingangstür entlangschlich. Sie schien nervös, unentschlossen, und blickte sich immer wieder um, als wollte sie vermeiden, gesehen zu werden. Mit schnellen Schritten lief Ziegler zur Tür. Als er sie öffnete, wollte die junge Frau sich gerade entfernen. Das Bündel aus Zeitungen noch immer an ihre Brust gepresst.

„Halt! Warten Sie!“

Die junge Frau blieb abrupt stehen und hob erschrocken den Blick. In ihren Augen flackerte Angst. Sie sah aus wie ein verängstigtes Reh, wagte aber nicht, sich weiter zu entfernen.

Ziegler blickte prüfend in ein schmutziges, tränenüberströmtes und verzweifeltes Gesicht. Die Frau war um einiges jünger als seine Töchter und er ahnte, was sich in ihrem Zeitungsbündel befand. Er zeigte mit dem Finger auf das emaillierte Praxisschild am Gemäuer.

„Sie brauchen einen Arzt. Kommen Sie herein.“ Er sprach nun etwas leiser, sanfter und hielt die Tür auf. Im Behandlungszimmer angekommen, zeigte er auf den Tisch und wartete, bis die Frau das kleine Bündel abgelegt hatte. Vorsichtig öffnete er die Zeitung und hob einen unbekleideten Säugling, ein Mädchen im Alter von vielleicht sechs oder sieben Monaten heraus. Beide, Mutter und Kind, waren erbärmlich anzusehen. Das Kind hatte erhöhte Temperatur, schien aber, bis auf sein geringes Gewicht und die Druckerschwärze auf der Haut, eine verhältnismäßig gute Konstitution zu haben. Die junge Frau wies eine deutliche Mangelernährung auf. Ebenfalls nicht ungewöhnlich. Sie schwieg und beobachtete jeden seiner Handgriffe, als er das Kind untersuchte.

„Sie sind die Mutter?“ Er hob den Blick.

Sie nickte bestätigend. Mit Sicherheit war sie nicht auf der Suche nach einem Arzt in dieser Gegend gewesen.

„Wie heißt sie?“ Ziegler gab der Frau den nackten Säugling zurück auf den Arm.

„Ruth.“ Mit kratziger Stimme brachte die Frau den Namen des Kindes über die Lippen.

„Sie hat leichtes Fieber.“

Die junge Frau nickte abwesend. Ziegler war sich sicher, dass sie ihr Kind jemandem vor die Tür hatte legen wollen. Sie wäre nicht die Erste gewesen, aber eine der Wenigen, die sich in diese Wohngegend gewagt hatten. Die meisten Kinder landeten bei den Bauern vor den Toren der Stadt.

Ziegler beobachtete die junge Frau. Es herrschte eine eigentümliche Stimmung zwischen ihnen. Was tat er hier? Sie hatte ihn um nichts gebeten, würde ihn nicht bezahlen. Verloren und nervös zitternd stand sie vor ihm, das kleine Wesen schützend im Arm. Er lief zum Waschbecken, wusch sich die Hände und ging hinüber an seinen Metallschrank. Dort holte er einige Leinentücher und Verbandrollen hervor und trat wieder an den Behandlungstisch zurück.

„Wie heißen Sie?“

Die junge Frau hüllte sich weiter in Schweigen und senkte den Blick. Er zuckte mit den Achseln und fragte nicht weiter.

„Na, ist schon gut. Hier.“ Er reichte ihr die Tücher. „Wickeln Sie die Kleine ein.“ Dann holte er eine Papiertüte mit Lindenblüten, für die ihn die Fremde genauso wenig bezahlen konnte wie für die Untersuchung und nahm auch den Apfel von seinem Schreibtisch.

„Kochen Sie Tee daraus. Er wird das Fieber senken. Und achten Sie auf ihre Ernährung.“ Er übergab der Frau den Apfel und die Teemischung, dann nickte er und signalisierte, dass es Zeit war, zu gehen.

Ziegler begleitete die Frau bis hinaus auf den Bürgersteig. Während er dort stand und ihr eine Weile nachschaute, wärmte ihm die Frühlingssonne angenehm das Gesicht. Wer wusste es schon, vielleicht schafften die beiden, Mutter und Tochter, es sogar bis über den Sommer. Dennoch – hoffentlich sprach sich seine Hilfsbereitschaft nicht unter ihresgleichen herum.

2

Pünktlich um eins sollte der Zug abfahren. Henriette Ziegler verabschiedete ihre beiden Töchter höchstselbst am Potsdamer Bahnhof. Der D-Zug würde die jungen Damen in nur neun Stunden nach Köln bringen. Sie hatte selbstredend erster Klasse buchen lassen, obwohl sie dies mehrere tausend Mark gekostet hatte.

„Ich wünsche euch eine gute Reise. Vergesst nicht, rechtzeitig in den Speisewagen zu wechseln. Hoffentlich wird ein anständiges Menü serviert. Für einen Zeitvertreib während der Fahrt habt ihr eure Handarbeiten, nicht wahr?“

Henriette verlor nie die Contenance. Immer war sie ernst und gefasst. Sie hauchte beiden Töchtern zum Abschied einen vornehmen Kuss auf die Wange, ohne eine Antwort abzuwarten.

„Ich lasse gleich nach der Ankunft telegrafieren“, erklärte Ursula eifrig und zog ein spitzenbesetztes Taschentuch aus dem kleinen blauen Samtbeutelchen, das an ihrem dürren Handgelenk baumelte.

Henriette nickte und beobachtete ihre Ältere dabei, wie sie sich umständlich ein paar Krokodilstränen aus den Augenwinkeln wischte. Die hagere Ursula war stets und ständig bemüht, eine Vorzeigetochter zu sein. Es verging kaum eine Minute, in der sie nicht danach strebte, zu glänzen und allen Anforderungen gerecht zu werden. Doch so sehr sie sich auch mühte, immer einen Schritt voraus zu sein und keinen Grund zur Klage zu liefern, neben ihrer Schwester Edith blieb sie oft unsichtbar. Edith strebte nach einem selbstständigen Leben in Freiheit, wie sie es nannte, und sprach sich trotzig gegen die Ehe aus, obwohl sie reihenweise Verehrer hatte. Ursula dagegen sehnte sich nach einem Leben als Ehefrau und Mutter und würde, wenn Henriette nicht Fingerspitzengefühl und Klugheit bewies, doch leer ausgehen. In Anwesenheit der jüngeren Schwester lösten sich Ursulas Chancen, von der Männerwelt wahrgenommen zu werden, unwiderruflich in Luft auf. Trotz oder wegen ihres vorlauten Mundwerks konnte Edith an jedem Finger mindestens zehn Verehrer abzählen, doch sie trieb nur ihr Spiel mit ihnen und wies jeden einzelnen schamlos zurück. Egal wie sehr Ursula sich auch mühte, ihre Schwester wurde durch ihre pure Anwesenheit zum unüberwindbaren Hindernis.

Bei aller Ungerechtigkeit liebte Henriette ihre Kinder und sie wusste, dass sich die Mädchen, so nannte sie sie immer, auch wenn sie bereits das zwanzigste Lebensjahr überschritten hatten, auch liebten.

Gerade in diesem Augenblick registrierte ihr aufmerksamer Blick, wie Edith einem jungen Mann auf dem Bahnsteig kokette Blicke zuwarf, anstatt sich angemessen von der Mutter zu verabschieden.

Fritz, der Hausdiener, trat nun aus dem Eisenbahnwaggon und klopfte sich etwas Staub aus der Kleidung.

„Die Reisekoffer der Damen sind im Gepäckwagen untergebracht. Die Handtaschen habe ich im Abteil platziert.“ Fritz trat beiseite und wartete einige Schritte entfernt auf dem Bahnsteig, als plötzlich ein gellender Schrei ertönte.

„Hilfe! Polizei! Polizei!“

Henriette blickte erschrocken auf und entdeckte einen Mann in zerschlissener Kleidung. Er bahnte sich rempelnd den Weg durch die Passagiere und hielt eine Tasche an die Brust gepresst, die offenbar nicht ihm gehörte. Mit einigem Abstand folgte ein wütender Schutzpolizist. Die Wartenden auf dem Bahnsteig machten Platz und so konnte er schnell zu dem Flüchtenden aufschließen. In der einen Hand schwang er seinen Knüppel, mit der anderen hielt er seine Trillerpfeife am Mund, der er, trotz der wilden Verfolgung, alarmierende Töne entlocken konnte.

Die Anwesenden gafften neugierig und hielten ihre Habseligkeiten etwas fester, ließen sich ansonsten jedoch nicht aus der Ruhe bringen. Als der Polizist den Dieb zu Fall brachte, stießen einige Männer grobe Flüche aus. Der Rest der Menge nahm die unfreiwillig unterbrochenen Gespräche wieder auf.

Henriette stieß einen leichten Seufzer aus und richtete den hellen Fellkragen ihrer Jacke. Der Pöbel verrohte, verlor täglich mehr Anstand und Manieren und bildete sich zur ernsthaften Gefahr für Hab und Gut heraus. Es war an der Zeit, dass die einfachen Leute endlich wieder in ihre Schranken gewiesen wurden und ihre Töchter bis dahin die Vorzüge des Landlebens genießen konnten.

„Nun, ich werde jetzt nach Hause fahren. Hier scheint mir nicht der geeignete Ort für einen langen Aufenthalt. Seht zu, dass auch ihr in den Zug kommt. Hier draußen lauern üble Gestalten.“

Im nächsten Moment fuhr Henriette erschrocken herum. Die laute, schnarrende Stimme des Schaffners erklang in unmittelbarer Nähe, sodass sie sich für einen Moment ans Ohr griff, als könnte sie es durch diese Geste schützen.

Der Schaffner bestätigte immerhin ihr Ansinnen. „Einsteigen bitte!“

Der darauffolgende schrille und lang gezogene Pfiff ließ ihr für den Bruchteil einer Sekunde die Gesichtszüge entgleisen. Es folgten letzte hektische Umarmungen, dann bestiegen ihre Töchter den Zug.

Henriette wartete nicht darauf, bis sich das Schienenfahrzeug endlich in Bewegung setzte. Sie schritt, ohne sich noch einmal umzusehen, mit erhobenem Kinn über den Bahnsteig und trat den Heimweg an.

„Dann wollen wir mal!“, rief Edith munter und sah sich ein letztes Mal im Bahnhof um. In der Folge drängelte sie sich wenig damenhaft an ihrer Schwester vorbei und stieg behände in den Waggon. Sie hatte offensichtlich vor, als Erste ins Zugabteil zu gelangen, welches ausschließlich für die Töchter des Doktor Ziegler gebucht worden war. Sie schob die Tür auf und ließ sich wenig graziös auf eine der gepolsterten Sitzbänke plumpsen.

„Meine Seite“, stellte sie lachend fest und hatte sich ihren Platz in Fahrtrichtung gesichert. Ursula fügte sich und nahm die gegenüberliegende Seite in Anspruch. Sie lächelte nachsichtig und holte, noch bevor sich der Zug in Bewegung setzte, ihre Stricknadeln hervor.

Edith dagegen zog eine Ausgabe der Volkszeitung aus ihrer Tasche, faltete das Papier demonstrativ auseinander und begann ungeniert darin zu lesen. Sie ahnte, welch strafenden Blick ihre Schwester ihr zuwarf und grinste daher amüsiert in sich hinein.

„Lege die Zeitung lieber weg und kümmere dich um deine Stickerei.“ Der mahnende Ton war nicht zu überhören.

„Warum?“ Edith blätterte langsam um und las weiter. Es bereitete ihre sichtlich Freude, die ältere Schwester zu provozieren. „Es stehen allerhand interessante Dinge drin. Du solltest dich auch informieren. Vor allem, solange wir es uns noch leisten können.“

„Darüber macht man keine Scherze, Edith.“ Ursula runzelte die Stirn. Edith sah es nicht. Doch sie kannte ihre Schwester zu gut und sah schon beim Klang von Ursulas Worten deren Gesicht klar vor ihrem inneren Auge.

„Ich mache keine Scherze. Ich will nur wissen, woran ich bin“, entgegnete Edith ruhig und blätterte weiter.

Ein Ruck ging durchs Abteil und der Waggon setzte sich langsam in Bewegung. Bis sie den Bahnhof verlassen hatten, saßen sich die Schwestern schweigend gegenüber. Edith blickte in die Zeitung, Ursula aus dem Fenster.

„Leg doch das Blatt beiseite, bitte.“ Ursula versuchte es nun in sanfterer Tonart, aber Edith hatte keine Lust, nachzugeben. Es gefiel ihr, ihre Schwester aufzuziehen und zu schockieren.

„Geht nicht. Ich lese gerade etwas sehr Interessantes über den Magistrat.“

„Du weißt doch, dass dieses politische Gehabe Parteisache ist und nichts für Frauen. Die Stickerei dagegen schon. Wie willst du dich später um deinen Haushalt und deinen Mann kümmern?“

„Ach Ursi, du armes Ding, wenn du doch wüsstest, wie sehr du dich irrst.“ Edith sprach nüchtern und machte sich nicht einmal die Mühe, aufzublicken.

„Was soll das denn nun schon wieder heißen?“

„Erstens geht es hier nicht um politisches Gehabe, sondern um unparteilichen Journalismus. Zweitens ist es sehr wohl etwas für Frauen. Drittens hängt mir diese blöde Stickerei schon zum Halse heraus und viertens …“ Edith faltete die Zeitungsseiten nun doch vorsichtig für einen Moment wieder zusammen und beugte sich ein Stück vor, um Ursula fest in die Augen zu sehen. „Viertens werde ich niemals heiraten. Ich bin doch nicht verrückt. Vielleicht gehe ich stattdessen in die Politik, wenn wir zurück sind.“

Ursula presste die Lippen aufeinander, sodass nur noch eine schmale Linie zu sehen war. Es schien Edith, als zählte sie innerlich bis zehn, bevor sie weitersprach.

„Wirst du nicht, das werden unsere Eltern nicht erlauben. Mutter würde dir eher den Hals umdrehen. Du kannst nicht ewig allein bleiben. Du hast eine Aufgabe oder willst du als arme, alte Jungfer enden?“

„Das, meine Liebe, lass nur meine Sorge sein.“

Edith lehnte sich zurück, schlug die Zeitung wieder auf und las weiter. Zumindest versuchte sie es. Ursulas Bemerkung über die Durchsetzungsfähigkeit ihrer Mutter war nicht besonders weit hergeholt. Bisher hatte Edith sich erfolgreich gegen die Regeln gestellt. Dennoch sollte ihr schleunigst etwas einfallen, womit sie ihre Zukunft langfristig gestalten konnte ‒ unabhängig, ohne Heirat. Die aufsteigende Unsicherheit schluckte sie wie ein knorpeliges Stück Fleisch hinunter und würdigte Ursula, die hin und wieder verständnislos in ihre Maschen seufzte, in der nächsten halben Stunde keines weiteren Blickes mehr.

Sie verstand das Streben ihrer Schwester nach einem Mann, Familie und Haushalt, nach Sicherheit ‒ aber sie teilte es nicht. Es würde sich mit Sicherheit jemand finden, den Ursi lieben und dem sie Kinder schenken konnte. Für Edith kam dieser Weg nicht infrage. Sie wollte keinesfalls verheiratet werden, wollte sich nicht unterordnen, sondern sehnte sich nach einem selbstbestimmten Leben. Der Gedanke, andere Kleidungsstücke, außer ihre eigenen, zu flicken oder darauf zu achten, dass die Köchin das Geld nicht zum Fenster hinauswarf, war ihr ebenso zuwider, wie der, sich einem Mann zu fügen, weil es sich so gehörte. Was sich gehörte, wollte sie selbst entscheiden.

Sie zog die Unterlippe leicht zwischen die Zähne und las weiter, wenngleich sie nicht allen Artikeln gleichermaßen Aufmerksamkeit schenkte.

„Berlin bekommt jetzt einen Flughafen“, nahm sie nach einer Weile das Gespräch wieder auf.

„Ich habe davon gehört“, erwiderte Ursula, ohne aufzublicken. Edith beschloss, sie noch ein kleines bisschen mehr zu reizen. „Vielleicht werde ich Fliegerin, wenn wir zurückkommen. Das könnte mir gefallen. Dann drehe ich hoch oben am Himmel meine Runden und winke zu dir hinunter, während du mit deinem Ehemann und den fünf Kindern unter der Paradepappel beim Picknick sitzt. Was hältst du davon?“

Ursula blieb ruhig und strickte eine Masche nach der anderen.

„Ich weiß, was du versuchst. Aber ich werde weder mit dir streiten noch mich darüber aufregen. Nein, stattdessen wünsche ich dir gutes Gelingen und alles Glück der Erde auf deinem Weg, Fliegerin zu werden.“ Seelenruhig wechselte Ursula die Stricknadeln und strich den Faden glatt.

Edith hielt für einige Sekunden den Atem an. Ursulas Worte, vielmehr die mitklingende Gleichgültigkeit, hatten sie unerwartet hart getroffen. Es war ihr nicht länger möglich, in der Zeitung zu lesen. Wäre es nicht das Mindeste, dass Ursula ihr die Unmöglichkeiten und Nachteile aufzählte und versuchte, ihr die Idee madig zu machen?

Sie starrte auf die Buchstabenreihen. Die Konzentration hatte sie gänzlich verlassen. Während ihr Blick an den Textblöcken und Bildern haftete, lauschte Edith dem eintönigen Rattern des Zuges. Schließlich faltete sie enerviert die Zeitung zusammen und verstaute sie wieder in ihrer Tasche. Trotzig zog sie Schuhe und Hut aus, legte ihre Beine angewinkelt neben sich auf den Polstersitz und blickte sehnsüchtig aus dem Fenster.

Ursula schwieg und strickte konzentriert. Neben dem Geräusch der klackernden Nadeln gab es nur das gleichmäßige Rattern des Zuges. Edith genoss den Anblick der vorbeiziehenden Landschaft, der sich ihr bot. Das Wintergetreide stand schon auffällig hoch auf den Feldern. Saftig grüne Wiesen und Wälder wechselten sich ab. Aus den ihr so vertrauten Kiefernwäldern mit den schlanken, hellen Stämmen und kleinen Baumkronen wurden nach und nach dunkle Laubwälder. Der Zug passierte kleine und größere Ortschaften, ließ Magdeburg und Braunschweig hinter sich.

Wie es wohl bei Onkel Leopold und Tante Luise aussah? Der letzte Besuch bei ihnen lag über zehn Jahre zurück. Elf oder zwölf Jahre war Edith damals alt gewesen. Lange bevor die Engländer und Franzosen Krieg geführt hatten. Die Erinnerungen waren zwar zum Teil verschwommen, andere Einzelheiten zeigten sich in Ediths Kopf aber plötzlich sonderbar genau. Sie erinnerte sich an die rege Betriebsamkeit im Fabrikgebäude, das direkt neben dem Wohnhaus gestanden hatte. An die seltsamen Gerüche und den riesigen Kohlenberg, der immer im Hof aufgeschüttet lag und auf dem sie nicht hatten spielen dürfen. Die Schwestern hatten sich zum Schlafen immer ein Zimmer geteilt und den lieben langen Tag auf der Veranda des Hauses verbracht. Sie hatten gelesen, Handarbeiten angefertigt und manchmal waren sie ausgebüxt. Dann hatte der Weg sie am Bachlauf entlanggeführt. Sie hatten den kleinen Ort Kerchheim, der sich in unmittelbarer Nähe der Fabrik befand, ausgekundschaftet. Abends, wenn die Arbeiter heimgegangen waren und Ruhe auf dem Gelände eingekehrt war, hatten sich die Mädchen bei Tante Luise und Onkel Leopold zum Essen eingefunden. Karamellpudding zum Nachtisch hatte immer auf dem Speiseplan gestanden.

In diesem Sommer würden sie nicht mehr durch das Dorf streifen. Natürlich nicht. Sie waren keine kleinen Mädchen mehr. Ursula würde gewiss all ihre Freizeit dafür aufwenden, so viele graue Handschuhe zu stricken, wie sie nur konnte. Etwas, das sie ohne Weiteres auch in Berlin hätte tun können. Sie hingegen hoffte auf eine umfangreiche Bibliothek und darauf, Einsicht in die Arbeit ihres Onkels zu bekommen. Er könnte ihr so vieles beibringen. Ehe sie sich versah, hing sie ihren Träumen nach. Sie sah sich geschäftliche Korrespondenz verfassen, Warenbestellungen entgegennehmen und mit Lieferanten abrechnen. Sie entschied über die Farbauswahl der neuesten Produktion und entwarf sogar neue Muster für die Stoffe. Vielleicht konnte sie nicht Politikerin oder Fliegerin werden, aber vielleicht Fabrikantin? Die Zeiten änderten sich rasant. Das konnte jeder sehen. Alles wurde teurer und ob sich Ursulas Traum von einer angemessenen Heirat noch erfüllen würde, stand in den Sternen. Vielleicht bot sich ihr just in diesem Moment die Chance, ihre Geschicke zu wenden, für sich selbst einzustehen und unabhängig zu werden. Jeden Augenblick wollte sie nutzen, Onkel Leopold in der Fabrik über die Schulter zu schauen. Sie würde Zeit mit den Arbeiterinnen verbringen und sich jeden Handgriff genau von ihnen erklären lassen. Dass auch Frauen in der Fabrik arbeiteten, hatte sie schon längst in Erfahrung gebracht.

Edith wollte alles wissen. Wer wusste schon, was das Schicksal für sie bereithielt. Vielleicht konnte sie Onkel Leopold von ihren geschäftlichen Qualitäten überzeugen. Dann musste er sie einfach anstellen.

Vorfreude und Hoffnung flossen durch Ediths Körper. Hier lauerte die Chance auf ein Leben mit einem Beruf, in dem es sich nicht nur um Heirat, Hauswirtschaft und Kinder drehte. Und vor allem nicht um einen Ehemann, der sämtliche Entscheidungen für sie traf.

Ediths Herz schlug von Minute zu Minute euphorischer. Es konnte der Sommer ihres Lebens werden! Weitab von der Familie in Berlin eröffnete ihr das Leben die Chance, sich selbst zu verwirklichen.

Wie ahnungslos ihr Vater den Weg geebnet hatte. Ediths Lippen verzogen sich zu einem erleichterten Lächeln und sie stieß einen glücklichen Seufzer aus.

„Was ist los?“ Ursula hob den Blick von ihrer Handarbeit und sah ihre jüngere Schwester fragend an.

„Ich glaube, unser Sommer wird herrlich.“ Mit neuem Schwung nahm Edith ihre Beine vom Polster, zog die Schuhe wieder an, umarmte ihre Schwester mit Rücksicht auf ihr Strickzeug sehr vorsichtig und öffnete die Tür des Abteils. Die neuen Gedanken hatten sie so sehr aufgewühlt, dass sie sich nun Bewegung verschaffen musste. So schritt sie den langen Gang im Waggon einige Male auf und ab. Sie passierte die Abteiltüren, die allesamt geschlossen waren. Die innen angebrachten Vorhänge wehrten jeden neugierigen Blick ab und so schenkte sie ihre Aufmerksamkeit den vorbeiziehenden Landschaften.

Als der Zug die Stadt Hameln passiert hatte, begaben sich die Schwestern in den Speisewagen, um das Mittagessen einzunehmen. Der reservierte Tisch war vorbereitet und es wurden zügig drei Gänge serviert. Zunächst eine dünne Rindfleischbrühe, dann ein Stück Rehkeule mit Salat und den Abschluss bildete ein Schälchen mit Apfelkompott.

„Ich hoffe, es hat Ihnen gemundet.“ Der Kellner wandte sich ausschließlich an Edith. Wie immer, wenn die Schwestern gemeinsam unterwegs waren. Immer war sie es, die alle Aufmerksamkeit auf sich zog, ohne auch nur das Geringste dafür zu tun. Ursula glaubte manchmal, sie könne daneben in Flammen aufgehen und niemand würde es bemerken.

„Es war in der Tat vorzüglich“, schmeichelte Edith dem Kellner, einem sehr freundlichen Mann mittleren Alters, als sie sich erhoben. Sie schenkte ihm einen ungebührlich langen Blick und hätte zum Leidwesen ihrer Schwester gern weiter geplaudert. Doch das reservierte Zeitfenster war bereits vorüber und der Tisch musste für die nächsten Fahrgäste vorbereitet werden.

Zurück im Abteil holte Edith ihre neueste Errungenschaft, eine sehr lange Zigarettenspitze hervor. Sie rauchte genüsslich, während Ursula die Augen schloss und ein wenig zu schlafen versuchte.

Am Abend, als die jungen Frauen endlich den Hauptbahnhof in Köln erreichten, war es bereits dunkel. Sie nahmen das Handgepäck und traten auf den Bahnsteig. Dort erblickten sie in nicht weniger als sechs Metern Entfernung zwei Männer. Einer von ihnen stand neben einem Gepäcktransportwagen und hielt ein großes Pappschild in die Höhe, auf dem in großen Buchstaben ZIEGLER geschrieben stand. Der andere, ein etwas größerer, graubärtiger Mann mit nach vorn gewölbtem Bauch trug einen dunklen Mantel und einen Filzhut. Es handelte sich unverkennbar um Onkel Leopold.

Beide Damen verloren augenblicklich das gute Benehmen und warfen sich ihrem Onkel an den Hals. Er roch noch genauso besonders und seltsam, wie Edith es in Erinnerung hatte.

Nach einer ausgiebigen, herzlichen Begrüßung trieb Leopold seine Nichten, denn das waren sie für ihn, obgleich Bruno und er keine Brüder waren, jedoch zur Eile an.

„Kommt, wir haben noch ein gutes Stück Weg vor uns. Emil wird eure Koffer holen und uns zum Wagen folgen.“

„Guten Abend“, begrüßte Edith den jungen Mann freundlich.

„Zu Ihren Diensten“, erwiderte Emil sichtlich nervös. Er zog die Mütze vom Kopf und hielt sie gegen die Brust geklemmt, während er sich zur Begrüßung verbeugte.

Auf dem Weg zum Automobil sah sich Edith erstaunt auf dem Bahnhof um. Es herrschte trotz später Stunde reges Treiben. „Können wir uns noch schnell den Dom ansehen, Onkel Leopold?“

„Ich bedaure, heute nicht. Es ist zu dunkel, ihr seht ihn sowieso nicht.“ Er zeigte mit dem Finger irgendwo in den schwarzen Himmel. „Außerdem wartet eure Tante bereits ungeduldig. Sie würde es mir nie verzeihen, wenn ich euch nicht auf direktem Wege nach Hause brächte. Aber keine Sorge, meine Lieben. Als guter Gastgeber habe ich diesen Ausflug in den nächsten Wochen bereits für euch eingeplant. Wenn ich zu meinem nächsten geschäftlichen Termin hier bin, kommt ihr mit und ich zeige euch die Stadt. Also wenigstens einen Teil davon“, setzte er hinzu.

„Wir nehmen dich beim Wort“, erwiderte Edith.

Die Schwestern hakten sich von je einer Seite bei Leopold ein. Langsam bewegte sich das Trio vorwärts. Auf dem Weg aus dem Bahnhofsgebäude hinaus gähnte Edith einige Male ausgelassen und ungeniert.

Einige Minuten später erreichten sie den Parkplatz vor dem Gebäude, auf dem eine Vielzahl unterschiedlicher Automobile ordentlich nebeneinander aufgereiht stand.

Mit großem Erstaunen entdeckten sie Emil. Wie auch immer er es bewerkstelligt hatte, er stand bereits an einem der Wagen und lud die Taschen und Koffer hinein. Während Leopold die hinteren Türen öffnete und die jungen Frauen einsteigen ließ, nahm Emil auf dem Fahrersitz Platz und ließ den Motor an.

Die Fahrt zur Tuchfabrik dauerte über eine Stunde. Edith unterdrückte mit aller Kraft das neuerliche gewaltige Bedürfnis, zu gähnen. Den Oberkörper in die Mitte der Rückbank geneigt, konnte sie den gelben Lichtkegel, der sich durch dichte Nebelbänke arbeitete, beobachten. Emil steuerte den Wagen schließlich durch ein massives Eisentor in den Hof der Fabrik und hielt direkt neben der Eingangstür des Wohnhauses. Hinter einigen Fenstern brannte Licht, eine einzelne Laterne über der Tür beleuchtete in geringem Radius den Eingangsbereich. Als Leopold die Wagentür neben Edith öffnete, schlug ihr ein unangenehm kühler und feuchter Wind entgegen. Sie stieg aus und blickte sich um.

In der Dunkelheit ließ sich nicht viel erkennen. Die Fabrik, nur wenige Schritte über den Hof vom Eingang entfernt, zeichnete sich als mächtiger Kasten vor dem nachtschwarzen Himmel ab. Edith lauschte, aber die Maschinen standen still. Natürlich, es war spät am Abend. Nur das gleichmäßige Rauschen des kleinen Bächleins, das in unmittelbarer Nähe vorbeifloss, durchbrach die Stille und belebte weitere Erinnerungen. Nun, Edith würde sich noch eine Nacht gedulden können, bis sie sich ausgeschlafen in ihr neues Leben stürzte.

Eine Frau mittleren Alters, eingewickelt in eine dicke Strickjacke, trat aus dem Haus und begrüßte die späten Gäste. „Da seid ihr ja endlich! Lasst euch umarmen!“, rief sie aus und eilte zu ihnen. Tante Luise umarmte die Mädchen herzlich.

„Seht euch an, wie die Zeit vergeht. Junge Damen seid ihr geworden. Man glaubt es nicht, wenn man es nicht mit eigenen Augen sieht. Kommt schnell herein. Ihr seid gewiss todmüde. Ich zeige euch euer Zimmer und dann essen wir ordentlich zusammen.“

Das Haus hatte sich in den vergangenen zehn Jahren nicht sehr verändert. Sofort erinnerte sich Edith an die beigefarbenen Steinfliesen im Eingangsbereich. Einst war sie mit Vorliebe barfuß darüber spaziert. Luise hatte sogar dasselbe Zimmer im ersten Stockwerk für die Schwestern herrichten lassen.

„Richtet euch ein und dann treffen wir uns unten“, ordnete die Tante freundlich an, öffnete die Zimmertür und ließ die beiden Frauen umgehend allein.

Edith trat als Erste ein. Der Tür gegenüber befand sich ein großes Fenster, davor ein Tisch mit einer blauen Vase, in der Zweige mit prächtigen rosafarbigen Blüten arrangiert waren. Links und rechts standen je ein Bett und ein Schrank. Mit wenigen Schritten war sie im Raum und besetzte keck das Bett zu ihrer Rechten.

„Meins!“, tönte sie.

Eine unnötige Erklärung. Ursula war ihr auf dem Fuß gefolgt und hatte bereits ihren Hut auf der Tagesdecke des anderen Bettes abgelegt. Diese Frage war also geklärt und wich nicht von der früheren Aufteilung ab.

„Ah, riechst du das?“ Edith hielt ihre Nase in die Luft und sog genüsslich den würzigen Duft von Erbsensuppe und Mettwurst ein. „Jetzt merke ich erst, was für einen Mordshunger ich habe.“ Sie sprang auf und lief, ihrer Schwester voraus, die Treppe hinunter.

Im Speisezimmer war bereits alles fürs Abendessen vorbereitet. Eine große weiße Terrine aus Porzellan stand auf dem Tisch. Neben den Tellern lagen blütenweiße Servietten.

„Setzt euch, Mädchen. Euer Onkel wird gleich bei uns sein.“ Tante Luise wies ihnen einladend die Plätze zu. Edith lief das Wasser im Mund zusammen.

„Wo ist er denn?“, platzte sie ungeniert heraus und erntete dafür eine geflüsterte Zurechtweisung von Ursula.

„Halt dich zurück. Du bist hier Gast.“

Edith seufzte theatralisch und griff sich mit der rechten Hand ans Herz.

„Du lieber Himmel, gut dass du es mir sagst. Kann ich mich darauf verlassen, dass du mir den lieben langen Sommer über solch besonders wertvolle Ratschläge geben wirst? Es wäre mir eine große Freude und Erleichterung.“

Ursula kniff die Augen zusammen, doch bevor ihr eine passende Erwiderung einfiel, betrat Leopold das Speisezimmer. Also begnügte sie sich damit, ihrer Schwester einen leichten Tritt unter dem Tisch zu verpassen und zischte: „Du bist unmöglich.“

„Ich weiß“, erwiderte Edith mit einem frechen Grinsen, richtete ihre Aufmerksamkeit dann aber auf die Terrine und ihre Tante.

Luise hatte eine große Suppenkelle in der einen Hand, die andere streckte sie Ursula entgegen. „Deinen Teller bitte.“ Überrascht reichte diese ihren Teller hinüber, öffnete den Mund einige Male, als wollte sie etwas sagen, überlegte es sich dann jedoch anders und sah sich verstohlen im Zimmer um. Von einem Dienstmädchen war nichts zu sehen.

3

Durch ein gleichmäßiges Dröhnen wurde Ursula in ihrem Schlaf gestört. Die dicken Vorhänge waren noch zugezogen und ließen kaum Tageslicht hinein. Sofort saß sie aufrecht im Bett. Dabei stieß sie mit dem Arm gegen die Nachtkonsole, sodass ihr Wasserglas ins Wanken geriet und überschwappte.

„Ein Erdbeben? Los, komm, wir müssen aufstehen“, versuchte sie, noch schlaftrunken und vollkommen überfordert, die Situation zu erfassen.

Doch Edith gab nur ein knurrendes Geräusch von sich und rollte sich wieder in ihre Bettdecke ein. „Sag Bescheid, wenn es vorbei ist.“ Desinteressiert stopfte sie sich ihr Kopfkissen zurecht.

Einige Sekunden lang saß Ursula unschlüssig im Bett, aber das dumpfe Brummen ließ nicht nach. Erst jetzt ahnte sie, dass ein Erdbeben sich wohl nicht so anfühlen würde. Es musste eine andere Ursache dafür geben.

Argwöhnisch verließ sie das Bett und schlich auf zittrigen Beinen zum Fenster hinüber. Als sie mit einer schnellen Bewegung die Vorhänge aufzog, drang grelles Tageslicht in das Zimmer der Mädchen.

„Iieeh! Soll dich der Teufel holen!“, schimpfte Edith und verzog das Gesicht angewidert zu einer Grimasse. Nur einen Augenblick später schob sie aber neugierig das Kissen beiseite und stützte sich müde auf die Ellenbogen. Das halblange Haar stand ihr wild vom Kopf ab. Sie zog die Nase kraus und blinzelte in die helle Morgensonne.

„Das Brummen kommt von der Fabrik, erinnerst du dich nicht mehr?“ Edith gähnte und rieb sich die Augen. „Das war früher schon so und ist nicht im Ansatz so laut wie der Stadtlärm zu Hause. Kein Grund, in Panik zu verfallen.“

Ursula ging nicht darauf ein. Sie hatte sich schnell wieder beruhigt und war nun von den ausgesprochen hübschen Blüten an den Zweigen verzaubert. Ganz langsam beugte sie sich hinab, so dicht, dass ihre Nasenflügel die zarten Blütenblätter berührten. Sie sog den angenehm frischen Duft ein.

„Eben noch wolltest du Hals über Kopf die Flucht ergreifen und nun schnupperst du in aller Seelenruhe an dem Strauß. Dein Zukünftiger wird eine wahre Freude an deiner Wankelmütigkeit haben.“

„Sei nicht albern.“ Ursula machte sich nicht die Mühe, die Augen zu öffnen.

„Bin ich nicht. Ich stelle lediglich fest. Du weißt, dass ich eine ausgezeichnete Beobachtungsgabe habe.“

Ursula lächelte mit geschlossenen Augen über Ediths Kommentar und ließ es sich nicht nehmen, angemessen darauf zu reagieren.

„Diese Gabe ist leider bei Weitem nicht so stark ausgeprägt, wie dein vorlautes Mundwerk.“ Sie seufzte ergeben und richtete sich wieder auf.

„Nun, ich habe eben viele Vorzüge.“ Edith grinste und setzte sich auf.

„Ich habe auch ein hervorragendes Gedächtnis. Den Lärm hat es früher schon gegeben. Du wirst sehen, in wenigen Tagen haben wir uns daran gewöhnt.“

„Im Ernst? Ich kann mich nicht im Geringsten daran erinnern.“ Ursula trat zurück an das Nachttischchen, hob das Glas, das sie beim überhasteten Aufstehen angestoßen hatte, hoch und tupfte mit dem Ärmel ihres Nachthemds die kleine Wasserlache auf.

„Nun, da wir jetzt wach sind, sollten wir den Tag beginnen und uns die Fabrik einmal von innen ansehen. Findest du nicht auch?“ Edith, nun hellwach, plapperte drauflos.

„Wenn Onkel Leopold eine Besichtigung für uns geplant hat, wird er uns sicherlich rechtzeitig in Kenntnis setzen. So lange übst du dich besser in Zurückhaltung. Das ist eine Tugend, die deinen Zukünftigen sicherlich erfreuen wird.“

„Von welchem Zukünftigen du nur immer sprichst. Fort mit deinen Hirngespinsten.“ Edith warf ihrer Schwester erst ein schelmisches Grinsen, dann ihr Kissen zu und stand auf.

Geschickt verbarg sie das Unwohlsein, das die Bemerkung Ursulas in ihr hervorgerufen hatte. Ihre Situation war nicht die beste. Denn auch wenn Edith sich nicht in gesellschaftliche Konventionen zwingen lassen wollte, so stand ihr Plan, wie sich ihr Leben weiter gestalten sollte, doch auf wackeligen Füßen. So enthusiastisch, wie sie noch gestern angereist war, so ernüchtert war sie nun über Nacht geworden. Stundenlang hatte sie wach gelegen und über ihre kaum vorhandenen Möglichkeiten, Politikerin, Fliegerin oder Fabrikantin zu werden, nachgedacht ‒ und über den Gegenwind, den sie zwar gewohnt war, der aber doch seine Spuren hinterließ. Edith war eben nur eine Frau. Ihre Chancen waren mehr als begrenzt, an ein Studium war gar nicht erst zu denken. Oder vielleicht doch? Sie wollte etwas Besonderes, Sinnvolles und Bleibendes mit ihrem Leben anfangen. Aber wie?

Wenig später betraten die Schwestern das Wohn- und Speisezimmer. Still und aufgeräumt lag es vor ihnen. Von Onkel und Tante keine Spur.

„Seltsam, schon gestern habe ich kein Hauspersonal gesehen.“ Ursula sprach ihre Gedanken leise aus. „Vielleicht läuft die Fabrik doch nicht so gut?“

Edith ging nicht darauf ein. Stattdessen marschierte sie zielstrebig in die Küche und sah sich um. Hier standen Töpfe auf dem kalten Ofen. Sie hob die Deckel hoch und fand darin Kartoffeln und Gemüse, bereits fertig geschnitten und mit Wasser bedeckt.

Im nächsten Moment drangen Stimmengewirr und Gelächter durch das angelehnte Fenster. Neugierig schob Edith die Gardine ein Stückchen zur Seite und entdeckte einige Arbeiter auf dem Hof. Einer von ihnen, ein riesiger Kerl mit Vollbart, schaufelte Kohlen in eine Karre. Die anderen transportierten einen enormen Stoffballen auf ihren Schultern, sodass Edith deren Gesichter nicht sehen konnte. Aber sie lachten und schienen Spaß bei der Arbeit zu haben. Nicht zu vergleichen mit dem wütenden und demonstrierenden Arbeitervolk in Berlin. Wie konnte das sein?

Neugierig beobachtete Edith die Männer, wie sie den schätzungsweise drei Meter langen Ballen aus blauem Stoff über den Hof schleppten, bis sie aus ihrem Sichtfeld verschwunden waren.

Ursula hatte sich mittlerweile neben ihre Schwester gestellt und äußerte ihre Gedanken nochmals etwas präziser.

„Kann es sein, dass es um Onkel Leopolds Vermögen anders bestellt ist, als er Vater weismachte?“

„Nun, auch ihn treffen die Veränderungen, aber ich glaube nicht, dass wir uns ernsthaft sorgen müssen. Hier ist alles ordentlich und friedlich.“ Edith gab sich unbeeindruckt und linste weiter durch den schmalen Spalt neben der Gardine. Das Treiben auf dem Hof der Fabrik interessierte sie weit mehr als die halbgaren Gedanken ihrer Schwester. Das gegenüberliegende Fabrikgebäude, aus dem der gleichmäßige Maschinenlärm drang, zog sie an.

„Woher willst du das wissen? Wir sind doch erst gestern Abend hier angekommen.“ Ursula gab das Thema noch nicht auf.

„Ich weiß es nicht, aber ich kann es mir kaum vorstellen. Wenn Onkel Leopold tatsächlich Geldsorgen vor seinem Cousin hätte verstecken wollen, wäre er ziemlich dumm, die geschwätzige Ursula bei sich aufzunehmen, die alle Neuigkeiten sofort brühwarm weitererzählt.“

„Du bist ein Scheusal!“, entrüstete sich Ursula und stand einige Sekunden unschlüssig neben dem Fenster. Sie schien darauf zu warten, dass Edith auf ihren Vorwurf reagierte, wandte sich dann aber ab und strich ihren Rock glatt. „Natürlich bin ich ein Scheusal. Dass dich das immer noch überrascht …“ Edith ließ die Gardine los und lief ihrer Schwester, die darüber nur die Nase rümpfte, lachend hinterher.

Sie fanden Tante Luise im großen Garten, der fast schon als Feld zu bezeichnen war, wo sie mehreren Arbeiterinnen Anweisungen gab, die Gemüsebeete zu bearbeiten. Aus dem Schatten der überdachten Veranda beobachteten die Schwestern das Treiben eine Weile. Tante Luise wirkte dabei weniger kühl und herrisch als ihre Mutter. Sie zeigte sich vielmehr fürsorglich, hingebungsvoll und zufrieden. Als sie die beiden erblickte, winkte sie und kam den Hauptgartenweg zur Veranda zurück.

„Guten Morgen, meine Lieben. Wie habt ihr geschlafen?“

„Danke, sehr gut.“ Ursula machte einen höflichen Knicks und sorgte dafür, dass Ediths Augenbrauen ein Stück hinaufwanderten.

„Ja, ich habe auch gut geschlafen, bis Ursula plötzlich, wie von allen guten Geistern verlassen, aus dem Bett sprang und das Mobiliar verrückte. Sie hatte wohl Angst vor einem Erdbeben oder einem ähnlich gearteten Unglück, als sie der Lärm der Maschinen aus ihren süßen Träumen riss.“

Im Augenwinkel nahm Edith wahr, wie ihre Schwester die blassen Lippen zu einem schmalen Strich zusammenpresste, aber auf eine Erwiderung verzichtete. Sie musste also noch etwas draufsetzen, um ihre Schwester an diesem Morgen aus der Reserve zu locken.

„Beinahe wäre Ursula im Nachtzeug aus dem Haus gelaufen.“ Mit diebischer Freude sah sie nun, wie deren Augen sich weiteten.

„Ist es so gewesen?“ Luise lächelte milde.

„Natürlich nicht. Edith übertreibt maßlos, um sich wichtig zu machen und mich zur Weißglut zu bringen.“ Ursula antwortete, sichtlich um Haltung bemüht, und ihre Gesichtszüge entspannten sich erst, als Edith ungeniert zugab, dass es nicht stimmte. Luise, die diesen kurzen verbalen Schlagabtausch mit einigem Interesse verfolgte, beendete ihn nun sanft.

„An den Krach gewöhnt ihr euch schnell. Ich höre ihn kaum noch. Habt ihr Hunger?“

Beide Schwestern nickten und folgten ihrer Tante zurück ins Haus. Dort schlüpfte gerade ein Mädchen, vielleicht zwölf oder dreizehn Jahre alt, mit einem leeren Korb aus dem Wohn- und Speisezimmer. Mit gesenktem Blick lief es in die Küche.

„Wer war das?“, wollte Ursula wissen.

„Marie, unser Dienstmädchen. Sie wohnt in der Kammer hinter der Küche.“

Edith warf einen neugierigen Blick durch die Tür und beobachtete Marie dabei, wie sie eilig eine frische weiße Schürze überzog. Sie wirkte nicht wie dreizehn, war groß und hatte überraschend ausgeprägte weibliche Rundungen.

Der Tisch im Speisezimmer, das zugleich auch als Wohnzimmer diente, war nun für vier Personen eingedeckt. Es gab Wecken, Butter, Wurst und Marmelade. Die große Standuhr an der kurzen Wand des Zimmers zeigte acht Minuten vor zehn.

„Um zehn ist Pause für alle und euer Onkel kommt dann ebenfalls zum Frühstück zu uns. Setzt euch doch und erzählt mir solange etwas von Berlin. Was gibt es zu berichten?“ Tante Luise zeigte auf die hoch gepolsterten Stühle am Esstisch und wartete, bis sich die Mädchen gesetzt hatten.

Ursula und Edith nahmen einander gegenüber an den längeren Seiten des Tisches Platz, Tante Luise am Kopfende, nahe der Standuhr.

„Da gibt es nicht viel zu erzählen. Ursula lernt, wie sie einen Haushalt führt und eine demütige Ehefrau wird. Mutter wartet wie ein Geier darauf, dass sich einer der gutbetuchten Herren erbarmt und Ursi heiratet. Ich plane Politikerin oder Fliegerin zu werden oder irgendeinen anderen aufregenden Beruf zu ergreifen, um mein unabhängiges Auskommen zu sichern.“ Edith hatte in belanglos anmutendem Ton gesprochen, dabei ihre lange weiße Perlenkette vor ihrem Kinn kreisen und sie dann geräuschvoll auf die Tischplatte fallen lassen, als wollte sie damit ihre Aussage bekräftigen. Nun blickte sie interessiert auf und versuchte herauszufinden, welche Reaktion sie wohl mit ihrer kleinen Vorstellung bei Luise ausgelöst hatte.

Erneut presste Ursula die Lippen aufeinander und legte die Hände in den Schoß. Edith kannte diese Geste nur zu gut. Sie wollte sich wie immer unbeeindruckt geben und sich nicht aus der Reserve locken lassen.

Zu Ediths Verwunderung blieb Tante Luise ebenfalls vollkommen gelassen. Sie strich sich die Bluse glatt und machte ein freundlich-interessiertes Gesicht.

„Wie genau sehen deine Pläne denn aus, wenn ich fragen darf?“

„Ach, da bin ich recht aufgeschlossen und lege mich noch nicht fest. Ich gehe aus, lese Zeitungen, unterhalte mich über aktuelle Themen, bilde mir meine Meinung und jage die Herren, die mir den Hof machen wollen, mit Vergnügen zum Teufel.“

Während Edith sprach, spielte sie ausgelassen mit ihrer Kette. Sie ließ es absichtlich an Ernsthaftigkeit fehlen. Die Idee, Fabrikantin zu werden, war noch zu frisch, als dass sie diese mit jemandem teilen und sich eine Abfuhr einholen wollte.

Ursula zog hörbar die Luft durch die Nase ein. An ihrer Haltung hatte sich nichts geändert. Sie saß steif wie eine Puppe auf ihrem Stuhl.

Tante Luise lächelte freundlich und strich mit dem Handrücken über eine der Frühstücksservietten. „Nun, das klingt aufregend und kurzweilig. Hoffentlich hast du den einen, den du hättest lieben und mit dem du hättest glücklich gemeinsam alt werden können, nicht schon übereilt davongejagt.“

Edith blinzelte und öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, aber sie schien nicht die richtigen Worte zu finden. Stattdessen richtete sie Messer, Teller und Tasse vor sich auf dem Tisch neu aus.

Tante Luise sah ihre Nichte einige Sekunden lang an und wartete unnachgiebig, sodass Edith sich nach einer sehr langen Pause zu einem heiseren Nein durchrang.

„Gut, dann ist doch alles in Ordnung“, gab sich die Tante zur Überraschung beider Schwestern zufrieden und wandte sich dann mit der gleichen offenen Herzlichkeit an Ursula.

„Und wie geht es dir mit deinen Zukunftswünschen? Findest du Gefallen an Hand- und Hausarbeit?“

„Ja, sehr. Ich habe meine Strickarbeit dabei. Mutter hat ein strenges Auge. Ich hoffe, dass ich wenigstens ein makelloses Paar Fingerhandschuhe zurück nach Berlin bringen werde. Wenn sie erst sieht, dass ich alle meine Pflichten ohne Probleme erfüllen kann, wird sie stolz sein und sich mit Freude um meine Aussteuer kümmern.“

„Warum glaubst du, dass sie es im Moment nicht möchte?“

Ursula sah an sich herunter, schluckte und erklärte leise: „Tante Luise, du musst nicht zurückhaltend sein. Die Wahrheit ist offensichtlich und ich kann sie ertragen.“

Luise runzelte die Stirn. Offenbar verstand sie nicht, was Ursula meinte, deshalb setzte diese zu einer ausführlichen Erklärung an.

„Ich weiß, dass ich keine Schönheit, ach, schlimmer noch, die hässliche Tochter bin. Aber all das, was mir an Anmut fehlt, gleiche ich durch Fleiß und Benehmen wieder aus.“

Luise räusperte sich, doch bevor sie etwas sagen konnte, ergriff Edith bereits das Wort.

„Du darfst nicht alles glauben, was Mutter dir erzählt. Du wirst dich mit Sicherheit gut verheiraten. Jeder Mann, der nicht sieht, was für ein wunderbarer Mensch du bist, hat dich einfach nicht verdient. Du bist hübsch und liebenswert ‒ genauso wie du bist.“

Ursula schenkte ihrer Schwester einen warmherzigen Blick und ein dankbares Lächeln.

„Das denke ich auch, meine liebe Ursula. Nur die Ruhe, gut Ding braucht Weile“, fügte Tante Luise hinzu und suchte gleich darauf Ediths Blick. „Ich denke, das gilt ebenso für dich, auch wenn du dich gerade hinter deiner rauen Schale verstecken möchtest.“

Edith fühlte sich ertappt. Sie rutschte nervös auf dem hohen Sitzpolster herum und begann gleich darauf, sich zu rechtfertigen. „Ich verstecke mich keineswegs, ich mische mich unters Volk, gehe hinaus in die Welt. Ich sehe mir das Leben an und pflege Freundschaften. Da kann von Verstecken nun wirklich nicht die Rede sein.“

„Auf eben diese Weise lässt sich ein schüchternes Herz am besten verbergen.“

Tante Luise sprach sanft und zum zweiten Mal innerhalb kürzester Zeit fehlten Edith die Worte. Das plötzlich einsetzende, schrille Klingeln, das die Pause für die Belegschaft einläutete, kam ihr mehr als recht.

Wenige Augenblicke, nachdem das Klingeln verstummt war, wurde die Hauseingangstür geöffnet und fiel krachend wieder ins Schloss. Zunächst war ein Räuspern zu vernehmen, dann ein Rascheln an der Garderobe. Schließlich stand Onkel Leopold im Türrahmen. Er trug eine feine Anzughose, ein weißes Hemd, das über seinem Bauch spannte. Die dunkle Fliege saß etwas schief an seinem Hals und wurde von ebenfalls dunklen Hosenträgern eingerahmt. Trotzdem sah er sehr fein und vornehm, um nicht zu sagen stattlich aus.

„Dann wollen wir mal, meine Damen. Arbeit macht hungrig und für mich gab es heute schon viel Arbeit zu erledigen.“ Er grinste und nahm seinen Platz am freien Kopfende des Tisches ein. Nur Sekunden später kam Marie aus der Küche geeilt und brachte die Karaffe mit dem frisch gebrühten Kaffee.

Nach dem Frühstück nahm Leopold die Damen auf einen Rundgang mit in die Fabrik. „Ihr seid schließlich hier, um etwas zu lernen. Das habe ich eurem Vater versprochen“, erklärte er. Das Funkeln in seinen Augen verriet jedoch, dass er sich selbst am meisten darüber freute, den Mädchen die Fabrik zu zeigen. Sie war offensichtlich sein ganzer Stolz.

Als die drei aus dem Wohnhaus traten, hatten die Männer und Frauen ihre Arbeit längst wieder aufgenommen. Rhythmisches Aufeinanderschlagen von Holz und dumpfes Rattern verschmolzen mit den lauten Stimmen der Belegschaft und drangen durch die geöffneten Fenster ins Freie. Die Sonne wärmte angenehm. Auf die dünnen Strickjacken hätten die Schwestern getrost verzichten können. Eine milde Brise trug den Geruch von Farbe und Öl über den Hof. Ob die Vögel in den üppigen grünen Kronen der umstehenden Bäume mit einem Frühlingslied gegen die Maschinen ansangen, blieb ein Geheimnis. Vor den Bäumen ragte ein großer, schlanker, aus roten Ziegeln gemauerter Fabrikschlot in den Himmel. Unablässig quollen dunkle Rauchwolken aus ihm empor und zogen wie ein langer Teppich über die Felder davon.

Leopold führte seine Nichten am Kontor vorbei über den Hof und nahm Kurs auf den aus ebenfalls roten Ziegeln gemauerten Gebäudeteil nahe der Einfahrt zum Fabrikgelände. In diesem befand sich das Wolllager. So stand es zumindest auf dem angerosteten Metallschild.

„Wir beginnen mit der Anlieferung. Gerade wurde Rohwolle aus Kapstadt gebracht“, erklärte er und zeigte auf einen Lastwagen, der vor dem offenen Holztor stand. Ein Mann, wohl der Fahrer, trat gerade in diesem Moment aus dem Gebäude und machte sich eilig daran, eine Plane über der leeren Ladefläche auszubreiten und zu befestigen.

„Du meinst Kapstadt in Südafrika?“ Das Erstaunen in Ediths Frage war nicht zu überhören. Abrupt blieb Leopold stehen, musterte sie einen Augenblick, nickte dann und warf ihr ein zufriedenes Lächeln zu. Dann setzte er seinen Weg zum Lastwagen fort. Der Fahrer war gerade hinter der Ladefläche verschwunden. Edith hielt Schritt mit ihrem Onkel, während Ursula etwas zurückfiel.

„Die Wolle legt einen langen Weg zurück, bis sie bei uns verarbeitet wird.“

„Hier gibt es doch auch Schafe. Warum kaufst du nicht die einheimische Wolle der Bauern?“

Wieder blieb Leopold stehen und musterte Edith etwas eindringlicher als zuvor, sodass diese bereits befürchtete, er könne sie für ihre dummen Fragen schelten. Doch nichts dergleichen geschah. Leopold setzte in würdevollem Ton und nicht ohne Stolz zu seiner Erklärung an. „Weil wir bestes Tuch herstellen. Die Wolle der hiesigen Schafe kann mit der Qualität der Kapstadt-Wolle nicht mithalten. Das fängt schon mit der Wolle selbst an. Es ist von besonderer Wichtigkeit, dass von Anbeginn sorgfältig, ach was sage ich, akribisch gearbeitet wird. Ich selbst werde am Nachmittag die Lieferung genau unter die Lupe nehmen und alles Weitere vorbereiten.“

„Darf ich mitkommen?“ Mindestens genauso überrascht wie Edith selbst über ihre vorlaute Bitte, sah Leopold sie an und zog die Augenbrauen nach oben.

„Also gut, wenn du möchtest, nehme ich dich gern mit und zeige dir alles. Es ist jedoch eine ernste Angelegenheit. Das Mischbett für unsere Produktion erfordert absolute Genauigkeit. Raum für Albernheiten oder Schabernack gibt es da nicht. Wenn du es ernst meinst, darfst du mich gern begleiten und mir zur Hand gehen.“

„Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst, Onkel, aber ich meine es sehr ernst und begleite dich ausgesprochen gern.“

Die Freude stand Edith ins Gesicht geschrieben. In die Prozesse der Fabrik einzutauchen, praktische Erfahrungen zu sammeln, war der erste Schritt.

„Was sagst du, Ursula? Wirst du uns nachher ebenfalls begleiten?“

„Nein, danke.“ Sie hob die Hand und lehnte das Angebot höflich ab. „Ich habe bereits meine feine Strickwolle, die mir exaktes Arbeiten abverlangt. Damit bin ich ausgesprochen gut beschäftigt und werde mir auf angenehme Weise den Nachmittag vertreiben.“

„Dann eben nur wir zwei“, stellte Leopold voller Tatendrang fest. Er klatschte in die Hände und rieb sie kurz ineinander, dann setze sich das Trio wieder in Bewegung.

Als sie nur noch wenige Schritte vom Eingang des Gebäudes entfernt waren, trat ein weiterer Mann ins Freie. Die Ärmel seines Hemds waren bis zu den Ellenbogen hochgekrempelt. Mit einer schnellen Bewegung lockerte er seine Krawatte. Er lehnte sich selbstgefällig gegen die Mauer, schob seine Mütze in den Nacken und blätterte oberflächlich einige Papiere durch, die auf einem Klemmbrett befestigt waren. Edith schätzte ihn auf Mitte dreißig. Als er die Herannahenden erblickte, drückte er sich lässig von der Wand ab, warf das Klemmbrett durch die geöffnete Seitenscheibe des Lastwagens auf den Beifahrersitz und trat ihnen entgegen.

„Ist alles in Ordnung?“, wollte Leopold wissen.

Der Mann nickte und antwortete mit tiefer Stimme. „Wie man's nimmt. Die haben schon wieder was draufgeschlagen.“ Dann tippte er sich mit dem Zeigefinger gegen die Mütze und begrüßte die jungen Frauen.

„Tag, die Damen.“

Leopold schnalzte mit der Zunge, dann entgegnete er nüchtern: „Wen wundert's. Wir können froh sein, dass sie noch geliefert haben. Nächste Woche wird es nicht besser aussehen. Da ist jeder Warenbestand Gold wert.“

Der Mann nickte und gab ein griesgrämiges Brummen von sich.

„Nun denn, kommen wir zu den erfreulichen Angelegenheiten des Tages. Ich mache euch mal miteinander bekannt. Das sind Ursula und Edith, meine Nichten aus Berlin und das ist Hubert Dietrich. Vorarbeiter und meine rechte Hand.“

„Guten Tag!“ Hubert musterte sie ungeniert, nahm mit den Augen äußerst genau Maß, sodass zumindest Ursula die Schamesröte ins Gesicht stieg.

Doch Leopold schien davon nichts mitzubekommen. „Ich führe die Mädchen jetzt durch die Fabrik. Du hältst weiterhin die Stellung.“

„Natürlich.“ Hubert zog eine Zigarette hinter dem Ohr hervor und steckte sie sich an. Er war groß gewachsen, von kräftiger Statur und strahlte eine unangenehme Kälte aus. Unbewusst starrte Edith auf seine entblößten Unterarme und beobachtete, wie die Muskulatur sich deutlich unter seiner Haut abzeichnete. Sie zweifelte keinen Augenblick an der Kraft dieses Mannes. Das Klicken von Huberts Feuerzeug ließ Edith zu ihm aufblicken. Auch er starrte sie an, allerdings auf eine weniger neugierige Art und Weise, sondern noch eine Spur anzüglicher als zuvor. Er hielt inne und fixierte die Stelle an ihrem Oberkörper, wo sich die glänzenden Perlen zwischen ihrem wohlgeformten Busen aneinanderreihten. Ohne den Blick abzuwenden, sog er an seiner Zigarette und blies den Rauch in feinen Kringeln aus. Dieser Kerl hatte ausgesprochen schlechte Manieren.

Edith verschränkte demonstrativ die Arme vor der Brust und räusperte sich, woraufhin Hubert aufsah. In seinen grauen Augen entdeckte Edith ein lüsternes Funkeln, aber auch kühle Berechnung. Er war mit Sicherheit kein angenehmer Zeitgenosse, der gewiss hin und wieder Händel suchte und diesen höchstwahrscheinlich auch noch für sich entschied.

Sie starrten sich einige Sekunden fest in die Augen, ein Kräftemessen. Edith sah nicht ein, den Blick zu senken und diesem Kerl nachzugeben.

„Wo bleibst du, Edith?“, hörte sie die Stimme ihres Onkels aus einiger Entfernung. Ursula und er waren bereits ins Gebäude gegangen.

Sie warf Hubert einen letzten kühlen Blick zu und folgte in die Lagerhalle.

Das Dröhnen der Maschinen war hier drin um einiges lauter zu hören. Vor einer Wand aus dicken Glasbausteinen, befanden sich ein schwerer aufgeräumter Schreibtisch und drei Holzstühle ohne Polsterung. Rechts davon stand eine beeindruckende Materialwaage. Dahinter entdeckte Edith ein imposantes Tor, das an seinem oberen Ende mit Rollen in eine dicke Metallführung eingehängt worden war, um den Durchgang auf- und wieder zuschieben zu können. Auf der anderen Seite des Lagerraumes waren große, in Stoff gewickelte und zusammengeschnürte Würfel aufgetürmt. Edith schätzte auf den ersten Blick vierzig Ballen. Einer von ihnen war aufgerissen und gab den Blick auf seinen grauen zerzausten Inhalt frei. Leopold ging hinüber und befühlte die Fasern.

„Das ist sie. Rohwolle aus Kapstadt, die beste Grundlage.“ Edith trat zügig neben ihn. „Darf ich auch mal?“ Sie gab sich keine Mühe, ihre Neugier und Aufregung zu verbergen.

„Bitte, nur zu“, munterte Leopold sie auf.

Edith rieb die Wolle zwischen Daumen und Zeigefinger. „Ich hatte sie weicher erwartet“, gestand sie nach einer Weile.

„Nur die Ruhe, du wirst überrascht sein, auf welche Reisen die Wolle hier geht und wie weich das Resultat ist.“

Die sanfte und liebevolle Art, wie Leopold über die Arbeit in der Fabrik sprach, gefiel Edith. Er zeigte sich als Kenner und Praktiker. Seine tägliche Arbeit erfüllte ihn sichtlich mit Stolz und Freude. Der Gedanke, ihm dabei über die Schulter schauen zu dürfen und vielleicht sogar einmal unterstützen zu können, erfüllte Edith für den Bruchteil einer Sekunde mit Glück, doch dann mischte sich dieser Hubert in ihre Gedanken. Onkel Leopold hatte bereits eine rechte Hand, eine sehr unangenehme noch dazu. Der würde ihr mit Sicherheit nicht den Schmutz unter ihren Schuhen gönnen, wenn sie ihm das Revier streitig machte.

„Ursula, möchtest du auch mal fühlen?“ Leopolds Worte holten Edith aus ihren Gedanken. Sie sah zu ihrer Schwester hinüber, aber Ursula stand mit verschränkten Armen in sicherem Abstand da und schüttelte den Kopf.

„Ich bevorzuge die fertige Strickwolle oder ein zartes Tuch für Stickarbeiten.“

„Dann kommt, ich zeige euch den Rest der Fabrik. Dort geht es hoch her und Ursula wird auch auf ihre Kosten kommen.“

Eine knappe Stunde später hatten die Schwestern unter Leopolds Führung bereits die Färberei, die Krempelei und die Spinnerei erkundet. Letztere hatte, in bescheidenem Maße, auch Ursulas Interesse geweckt.

Schließlich waren sie in der Weberei, die sich unter dem Dach befand, angekommen. Hier oben war es besonders heiß, stickig und nochmals lauter. Ursula musste für einen Moment verschnaufen, doch dann beobachteten alle drei mit heller Freude das exakte und wahnsinnig schnelle Treiben an den Webstühlen.

Insgesamt standen vier Weber an vier Webstühlen. Sie arbeiteten hochkonzentriert an ihren Maschinen und blickten nicht einmal auf, als ihr Arbeitgeber den Raum betrat. Auf wundersame Weise fertigte ein hagerer kleiner weißbärtiger Mann mit Mütze aus blauen und weißen Webfäden ein kariertes Muster. An einem anderen Webstuhl entstand ein hübsches Streifenmuster in Beige und Rosa. Die beiden hinteren Maschinen arbeiteten sogar doppelt. An ihnen produzierten die Weber dunkelgrünen und weißen Stoff. Edith hätte noch ewig zuschauen können, wie sich die verschiedenen Teile der Webstühle und die unzähligen Fäden schnell und präzise bewegten. Allein die bestückten Webstühle mit abertausenden dünnen Fäden sahen bereits aus wie Kunstwerke. Der Entstehung der Stoffbahnen Millimeter für Millimeter mit den Augen zu folgen, war vor allem Edith eine reine Freude. Sie hätte trotz des Lärms gern weiter zugesehen. Doch Leopold drängte darauf, weiterzugehen. Er musste ordentlich schreien, damit die Mädchen ihn verstanden.

„Kommt mit, die letzte Station ist das Tuchlager. Dort sind wir ungestört. Ihr könnt dort die fertigen Stoffe in aller Ruhe bestaunen und anfassen.“

Er ging wieder voran, führte die Frauen über eine schmale ausgetretene Holztreppe zurück ins Obergeschoss und von dort aus über eine kleine Außentreppe zurück in den Hof. Sie waren einmal durch das Fabrikgebäude gelaufen und nun am anderen Ende des Innenhofs wieder angekommen. Bis auf den Heizer, der schon wieder Kohle in seinen Karren schippte, war nun jedoch niemand mehr zu sehen.

Schnurstracks ging es über den Hof ins Kontor. Dort fanden sie Hubert lässig am Schreibtisch sitzend. Über eine Zeitung gebeugt, markierte er einzelne Textstellen, indem er sie einkreiste. Ihm gegenüber saß eine Frau in einem schlichten Kostüm, die Haare zu einem grauen Dutt hochgesteckt und tippte auf einer Schreibmaschine.

„Dies ist unsere Verwaltungszentrale. Hubert Dietrich kennt ihr ja schon. Hier drüben sitzt Fräulein Dahmen. Sie hat einen hervorragenden Sinn für Ordnung. Ohne sie wäre ich manchmal heillos verloren.“

Fräulein Dahmen lächelte dankbar und etwas beschämt, was nicht so recht zu ihrem Alter passte, wie Edith befand, und tippte mit überraschend flinken Fingern ein Schriftstück auf ihrer Schreibmaschine. Überraschend deshalb, da das liebe Fräulein Dahmen, um es einmal höflich auszudrücken, schon recht betagt war.

„Seht euch ruhig um. Wenn ihr in ein paar Wochen nach Berlin zurückkehrt, könnt ihr von euren Eindrücken berichten.“

„Wo werden wir arbeiten?“, fragte Edith geradeheraus. Das Büro des Kontors war nicht sehr groß. Platz für einen weiteren Tisch gab es darin nicht. Leopold runzelte verständnislos die Stirn.

„Es gibt doch bestimmt jede Menge zu erledigen, wobei wir dir behilflich sein können. Ich freue mich schon, mehr über das Fabrikleben zu erfahren“, fuhr Edith munter fort.

„Wenn ich euren Vater richtig verstanden habe, wollt ihr euch doch nur etwas umsehen und Eindrücke sammeln. Ich denke, den größten Teil haben wir erledigt.“

Edith entfuhr ein unangemessenes Schnauben.

Leopold sah sie irritiert an. „Habe ich ihn missverstanden?“

„Nein“, brachte sich Ursula, die bisher zurückhaltend danebengestanden hatte, ins Gespräch ein. „Nichts anderes ist vorgesehen.“

„Aha.“ Leopold nickte wissend.

„Ja, Vater wollte uns einen ruhigen Sommer bescheren, aber ich hatte gehofft, dass wir uns trotzdem einbringen und mehr über dein Geschäft lernen dürfen. Gerade jetzt kannst du doch bestimmt jede Hilfe gebrauchen, oder nicht?“ Edith unterstrich ihr Anliegen mit einem atemberaubenden Augenaufschlag.

Hubert schnaubte amüsiert und Fräulein Dahmen unterbrach ihr emsiges Tippen auf der Schreibmaschine.

Bis auf das entfernte, gleichmäßige Brummen der Maschinen war es für einen Augenblick still im Kontor. Doch gleich darauf richtete Leopold seine Hosenträger mit den Daumen und erklärte: „Von mir aus. Da wird sich wohl was machen lassen, Mädchen. Aber Eile mit Weile und eins nach dem anderen. Zunächst zeige ich euch das Stofflager. Darauf wartet ihr zwei doch schon sehnsüchtig, nicht wahr?“ Er wartete keine Antwort ab, sondern setzte sich umgehend in Bewegung.

Hubert räusperte sich, widmete sich wieder der Zeitung und Fräulein Dahmen tippte unbeirrt weiter, als das Trio das Büro durchgequerte. Leopold immer voraus, die Schwestern folgten ihm auf dem Fuße.

Zunächst durchquerten sie einen Flur, dessen rechte Seite bis unter die Decke mit Regalbrettern gefüllt war, auf denen sich Aktenordner befanden. Einige davon bogen sich unter der Last. Zu ihrer Linken passierten sie eine geschlossene Tür, die Edith beinahe übersehen hätte, wäre ihr nicht die Aufschrift PRIVAT ins Auge gefallen.

So weckte diese unscheinbare Tür restlos ihre Neugierde, doch sie musste sich gedulden. Sie folgte Ursula und Leopold, bis sie gleich darauf im Lagerraum ankamen. Das kleine Fenster neben einer weiteren Tür, die wieder hinaus zum Fabrikhof führte, ließ nur wenig Tageslicht hinein. Leopold betätigte den Schalter für die elektrische Deckenbeleuchtung und nun ließ sich der Inhalt des Raums begutachten.

In der Mitte stand ein seltsames Tischchen aus Metall mit einem langen, nach oben gerichteten Hebel. Von der Decke bis zum Boden verliefen massive Regale aus Holz, an den Wänden und mitten im Raum. Ein jedes von ihnen hatte vier Böden, auf denen die fertigen Stoffpakete, zum Teil in Papier eingeschlagen, aufbewahrt wurden. An jedem von diesen hing ein Etikett, auf welchem unter anderem die Zusammensetzung, das Gewicht und die Farbe des jeweiligen Stoffs geschrieben standen. Staunend gingen die Schwestern von einem Regal zum nächsten und befühlten die vielen verschiedenen Stoffe.

„Diese Farbe hier ist sehr schön“, fand Ursula und zeigte auf einen feinen Stoff in Taubenblau.

„Stimmt, das ist unser aktueller Verkaufsschlager. Ich habe sehr lange experimentiert, bis ich die richtige Mischung dafür gefunden habe. Du hast ein gutes Auge“, lobte Leopold.

„Zeigst du es uns? Wie man färbt, meine ich.“ Edith zeigte sich erneut sehr interessiert und ließ die Perlen ihrer Kette durch die Finger gleiten.

„Beim besten Willen, Kinder, das geht zu weit. Die Farben gehören zum wohlgehüteten Betriebsgeheimnis. Nicht einmal eure Tante weiß darüber Bescheid. Sicherlich gibt es einige interessante Dinge, in die ihr eure Nasen stecken dürft. Die Betriebsabläufe und -geheimnisse werden euch jedoch verborgen bleiben. Das versteht ihr doch sicher. Was wollt ihr denn auch damit anfangen?“

Während Ursula darüber nur mit den Schultern zuckte und sich weiter den Stoffen widmete, gab Edith sich große Mühe, ihre Enttäuschung zu verbergen. Sie ging zu dem kleinen Metalltischchen und fragte mit weitaus mehr Zurückhaltung als ihr üblicherweise zu eigen war: „Und was ist das hier? Kannst du uns davon berichten oder handelt es sich hierbei um ein geheimes Instrument?“

„Das ist die Zackenmaschine.“ Falls Leopold Ediths Unmut nicht entgangen war, so ließ er es sich nicht anmerken.

„Und wozu wird sie benutzt? Dürfen wir sie ausprobieren?“ Edith sah ihren Onkel mit großen, bittenden und wissbegierigen Augen an.

„Also, Mädchen …“, Leopold suchte nach den richten Worten, „… ich hätte nicht gedacht, dass ihr so interessiert seid. Da habe ich mich wohl geirrt.“

„Was dachtest du denn, was wir hier den Sommer über machen wollen würden?“

„Lesen, Handarbeit und Spazierengehen. Vielleicht auch mit eurer Tante zur Schneiderin oder ins Café gehen.“

„Das sind wunderbare Vorschläge, Onkel Leopold. Das machen wir bestimmt“, warf Ursula zurückhaltend ein.

„Ja, bestimmt. Trotzdem hatte ich gehofft, du würdest uns mehr von der Fabrik zeigen. Diese Zackenmaschine hier würde ich nur zu gern einmal ausprobieren.“ Dabei strich Edith liebevoll über den Metallhebel, der wie eine Antenne nach oben gerichtet war.

„Wisst ihr was, wenn ihr wollt, probieren wir sie aus. Jetzt gleich. Und wenn ihr möchtet, dürft ihr mir in den nächsten Wochen ein bisschen über die Schulter schauen.“

„Liebend gern“, erwiderte Edith, deren Laune sich sofort besserte und sogar Ursula kam zu dem Tischchen.

„Ich bin weniger ehrgeizig als Edith, Onkel. Mir reicht zunächst die Bekanntschaft mit dieser seltsamen Maschine. Mache dir bitte keine Umstände.“ Mit zusammengefalteten Händen und kerzengeradem Rücken stand sie neben ihrer Schwester und wartete darauf, dass Leopold in seiner Erklärung fortfahren würde.

„Also, die Zackenmaschine … mit diesem guten Stück schneiden wir Stoffmusterproben, die unsere Vertreter zu den Kunden mitnehmen. Wenn ihr mögt, probieren wir sie jetzt aus und ihr dürft eure eigenen Musterstücke mitnehmen. Welche hättet ihr denn gern?“

Ursula blieb bei dem blauen Stoff und Leopold nickte wohlwollend. Edith entschied sich für einen gemusterten in Schwarz und Weiß.

„Pepita, eine ebenso hervorragende Wahl“, kommentierte Leopold. Er zog zwei kleinere Bahnen der gewählten Stoffe aus dem Regal. Dann überreichte er Edith den Stoff ihrer Wahl und begann zuerst den blauen für Ursula auf dem kleinen Tischchen zurechtzulegen. Nach ein paar sauberen Schnitten war gleich darauf ein akkurates Stoffquadrat mit einer Seitenlänge von je zehn Zentimetern entstanden. Die Seitenränder waren jedoch nicht glattgeschnitten, sondern rundum feinsäuberlich gezackt.

„Nun ich“, forderte Edith ungeduldig und stellte unter den aufmerksamen Augen ihres Onkels ebenfalls ein Stoffmuster her.

„Vielen Dank, Onkel“, wandte sich Edith an ihn, während ihr Blick zwischen Musterstück und Maschine hin und her wanderte. Zu gern hätte sie noch weitere Muster geschnitten, doch sie ahnte, dass sie seine Geduld für heute schon ausgiebig genug beansprucht hatten.