Die Fremde in Nr. 6
Gemma Rogers
Für Mullers
Phrogging
[frog-ing]
Phrogging bezeichnet das heimliche Bewohnen des Hauses oder der Wohnung einer anderen Person ohne deren Wissen oder Erlaubnis.
Eine Person, die Phrogging betreibt, wird auch „Phrog“ oder seltener „Phrogger“ genannt. Manchmal wird auch die Verbform „phroggen“ verwendet.
Phrogging ähnelt dem Squatting, also dem Hausbesetzen, mit dem Unterschied, dass beim Phrogging eine bereits bewohnte Unterkunft gewählt wird.
Prolog
Wenn ich noch mal von vorn beginnen könnte, hätte ich das Haus niemals betreten. Denkt an meine Worte, wenn ihr das nächste Mal durch eine Tür geht, von der ihr keine Ahnung habt, was euch dahinter erwartet. Was man von draußen sieht – ein schönes Haus, eine malerische Umgebung –, kann wie ein wahr gewordener Traum erscheinen, aber es entspricht nicht immer dem, was sich im Inneren verbirgt. Das Haus bewahrte Geheimnisse, die ich zu spät entdeckt hatte. Und als ich endlich so weit gewesen war, hatte ich mich schon zu sehr in ihnen verstrickt, um noch abhauen zu können. Menschen wurden verletzt, jemand starb, und Leben veränderten sich für immer, auch meines.
***
Blogbeitrag #1
www.phrogging.com
Nach zwei erfolgreichen Phrogging-Erfahrungen möchte ich meine Tipps und Tricks mit euch teilen und meinen dritten Versuch vollständig dokumentieren. Ich werde täglich Beiträge posten, damit ihr meine Reise verfolgen könnt. Doch bevor es losgeht, findet ihr hier meine Regeln, an die ich mich immer halte.
Ich beobachte das Objekt mindestens zwei Wochen lang, bevor ich versuche, mir Zugang zu verschaffen.
Es dürfen keine Angestellten oder Nachtwächter im Objekt wohnen. Sie müssen reguläre, vertraglich festgelegte Arbeitszeiten haben. Geschäftsreisen sind in Ordnung.
Es muss ein großes Haus mit genügend Platz sein, um sich von den Eigentümern unbemerkt dort aufhalten zu können.
Keine Innen- oder Außenkameras, die die Rückseite des Grundstücks oder meinen Einstiegsort überwachen.
Keine Haustiere.
Keine Kinder unter fünf Jahren.
Maximal drei Monate Aufenthalt, dann ziehe ich weiter.
Ich verbrauche nur so viele Lebensmittel, Toilettenartikel und Vorräte der Eigentümer, dass es nicht auffällt.
Wenn ich erwischt werde … renne ich.
Die Regeln dienen meiner Sicherheit. Der Hauptzweck des Phroggings ist, friedlich zu koexistieren, ohne entdeckt zu werden. Kostenlose Unterkunft und Verpflegung bei minimaler Beeinträchtigung des Lebens der Eigentümer.
Kapitel eins
Das Haus war riesig und wurde gerade renoviert, obwohl es erst dreizehn Jahre alt war. Der Stil war modern, bewahrte aber dennoch diesen speziellen Sussex-Charme. Das obere Stockwerk aus rostbraunen Ziegeln stand auf einem verputzten und in elegantem Creme gestrichenen Fundament. Die Mitte des hübschen Hauses schmückte ein einladendes, überdachtes Eingangsportal, dessen große Eichenholztür mit Glasfenstern perfekt zum Landhausstil passte und mit der Doppelgarage nebenan harmonierte. Die geschwungene Auffahrt führte zu einem hüfthohen Eingangstor aus salbeifarbenem Holz. Der einzige Makel, den man erkennen konnte, war ein riesiger gelber Container, aus dem die Überreste von Küchenschränken und einer Badezimmerausstattung ragten. Mein erster Gedanke war, dass es im Haus trotz seiner Größe wahrscheinlich chaotisch zugehen würde, wegen der Handwerker, die ein- und ausgingen. Doch während meiner zweiwöchigen Beobachtungsphase wurden sie fast fertig.
Die Eigentümer waren neu und wohnten erst seit ungefähr einem Monat dort, was bedeutete, dass es noch viele unentdeckte Ecken gab, Geräusche konnte man als „ach, das ist nur das Haus“ abtun, und – das Beste von allem – es gab so gut wie keine Kameras. Soweit ich sehen konnte, gab es, wie bei den meisten Häusern heutzutage, eine Kamera im Eingangsbereich, aber das war auch schon alles. Die Alarmanlage war alt und rostig, es blinkte nicht mal ein Lämpchen, woraus ich schloss, dass die Käufer das Haus für ziemlich sicher hielten, zumal neben dem Haus eine stillgelegte Eisenbahnstrecke samt steilem Bahndamm verlief. Dort hinten wucherten zwar dichte, dornige Hecken, doch es war relativ einfach, durch das Gestrüpp und über den Zaun in den gepflegten Garten zu gelangen, der von den Nachbarhäusern nicht einsehbar war.
Ich hatte dem Grundstück bereits mehrere Besuche abgestattet, wobei ich jedes Mal fast um den ganzen Block laufen musste, um in den Wald zu gelangen, wo ich Äste abbrach und mir Stück für Stück einen bequemen Weg freiräumte. Ich observierte vom Garten aus, wo ich mich hinter den wilden Sträuchern versteckte – das war unauffälliger als die ruhige Straße vor dem Haus. Ganz in Schwarz gekleidet und mit einem Fernglas und der alten Thermoskanne meines Vaters voller Tee bewaffnet, hockte ich im Schutz der Dämmerung und beobachtete das Paar und ihren kleinen Sohn durch die große Falttür ihrer offenen Wohnküche im späten Februar. Beide Male erschien die Frau erst, als ihr Mann gerade das Abendessen zubereitete. Sie war schick gekleidet, trug einen taillierten Hosenanzug, Lackstiefel mit Absätzen und hatte knallrot geschminkte Lippen. Sobald sie den Raum betrat, rannte ihr Sohn quer über den Parkettboden direkt in ihre Arme.
Es sah in jeder Hinsicht nach einem glücklichen Zuhause aus, das sich perfekt zum Phrogging eignete. Ich sah weder Hunde noch Katzen, keine Kameras oder Alarmanlagen, und anhand der Lichter, die nur im ersten Obergeschoss leuchteten, wenn es dunkel wurde, schloss ich, dass alle dort schliefen und der ausgebaute Dachboden leer blieb.
Ich hatte das Haus genau zum richtigen Zeitpunkt entdeckt. Das Sofa in der Wohnung meiner besten Freundin Megan musste ich nämlich räumen, da ihre Mitbewohner langsam genug von mir hatten, es lag regelrecht in der Luft. Um ehrlich zu sein, war es wirklich ziemlich eng. Megans Wohnung lag über einem Wettbüro in der Hauptstraße von Crawley, und sie waren bereits zu viert, als ich vor ein paar Wochen dort auftauchte.
Bis zum letzten Winter hatte ich noch bei meinen Eltern gewohnt, doch dann beschlossen sie, das Haus zu verkaufen und nach Spanien auszuwandern, um dort ihren Ruhestand zu verbringen. Sie sicherten sich ein Langzeitvisum, das erneuert werden würde, sollten sie sich entschließen, dort zu bleiben. Der Großteil meiner Sachen wanderte in ein Lager, außerdem bewahrte Megan einen Teil meiner Kleidung für mich auf, aber ich reiste ohnehin lieber mit leichtem Gepäck. Ich hatte darüber nachgedacht, mit ihnen zu gehen, aber mein Leben war hier, ebenso wie meine Träume und Ziele – die seltsamerweise nichts mit Sandstränden und Wochenendausflügen nach Benidorm zu tun hatten. Ich wollte als Redakteurin bei einer großen Zeitung arbeiten. Allerdings musste ich mich vorerst mit den Minitexten der Crawley News begnügen, einer Lokalzeitung, bei der meine Aufgabe als Juniorreporterin hauptsächlich darin bestand, die neuesten Kinofilme zu rezensieren und über seltsame Schulfeste zu berichten.
Ich war Molly Hudson, die angehende Journalistin – was eigentlich nicht ganz stimmte –, die nicht einmal einen richtigen Schreibtisch hatte, die jede Drecksarbeit erledigen musste, die die anderen für unwürdig hielten, und die für all das einen Hungerlohn bekam. Da ich mit 22 Jahren die Jüngste und Unerfahrenste war, verstand ich das. Noch. Für den Moment reichte es aus, aber ich würde mich hocharbeiten. Immerhin musste ich mich nicht mit einem Nine-to-five-Lifestyle abfinden, da ich völlig remote arbeitete.
So hat auch das mit dem Phrogging angefangen. Ich konnte mir kaum eine Einzimmerwohnung leisten. Das Geld, das Mum hin und wieder überwies, reichte hinten und vorne nicht, und mir gingen die Freunde aus, die mich auf ihrer Couch schlafen ließen. Ich hatte es satt, jeden Tag in der Stadtbibliothek zu arbeiten und deren kostenloses WLAN zu nutzen, also suchte ich zunächst nach einem Job mit Unterkunft, als Kindermädchen oder so, aber mein Herz war nicht dabei. Ich wollte schreiben, und obwohl ich noch ganz am Anfang stand, kam ein Berufswechsel nicht infrage. Ich träumte davon, einen eigenen Campervan zu besitzen und frei zu sein, zu fahren, wohin ich wollte. Doch ich konnte mir nicht mal ein normales Auto leisten. Die Dinge würden sich ändern, das taten sie immer. Und als jemand auf der Crawley-News-Weihnachtsfeier erwähnte, dass Phrogging in Großbritannien immer größer wurde, machte mich das neugierig, und ich begann zu recherchieren.
Das heimliche Zusammenleben mit einer ahnungslosen Familie – in den USA war es gängiger als hier – faszinierte und schockierte mich gleichermaßen. Es war schlichter Einbruch und, wenn man Strom, Wasser und Internet nutzte, vielleicht sogar Diebstahl, und damit definitiv illegal, aber der unbestreitbare Reiz lag darin, kostenlos zu wohnen.
Und war ich als Journalistin durch und durch meinem Beruf überhaupt noch verpflichtet, wenn ich das nicht dokumentieren würde? Anonym, klar, aber kein YouTube oder TikTok, sondern ein guter alter Blog, den man einfach lesen musste. Seit meine Eltern weggezogen waren und zwischen den Kurzurlauben auf Megans Sofa hatte ich schon zweimal gephroggt. Testläufe, um Selbstvertrauen aufzubauen und zu lernen, wie man unentdeckt lebt. Dieses Mal wollte ich alles vom ersten Tag an dokumentieren, also musste ich das richtige Haus mit der richtigen Familie finden, um nicht entdeckt zu werden. Doch die Feiertage standen bevor und mein Plan geriet in Vergessenheit, bis Megan und ich am ersten Weihnachtstag, nachdem wir uns bei ihren Eltern den Bauch vollgeschlagen hatten, einen ausgiebigen Spaziergang machen wollten. Wir hatten geplant, dem Worth Way zu folgen – einer elf Kilometer langen Wanderung von Three Bridges in Crawley bis East Grinstead. Allerdings schafften wir gerade einmal die Hälfte, bevor uns die Blasen von unseren völlig ungeeigneten Schuhen außer Gefecht setzten und wir zurückhumpelten.
Auf der Church Road, kurz vor der kleinen Steinbrücke, die über die stillgelegten Eisenbahnschienen führte, passierten wir ein schönes Haus mit einem „Verkauft“-Schild, das zwischen all den hell erleuchteten Häusern auffiel, weil es als einziges keine funkelnden Weihnachtslichter trug.
„Die ziehen wohl bald um“, hatte Megan gesagt und ihre kalten Hände gerieben.
„Offensichtlich, sie haben gar nichts dekoriert. Oder sie gehören einer Religion an, die Weihnachten nicht feiert“, überlegte ich laut.
„Das glaube ich nicht, Mol, mein Vater kennt die Besitzer. Sie suchen sich ein kleineres Haus, weil ihre Kinder alle ausgezogen sind. Bin gespannt, wer jetzt wohl einziehen wird.“
„Auf jeden Fall glückliche Leute! Wer in einem so schönen Haus wohnen kann, hat jedenfalls ziemlich Schwein gehabt.“
Wir stolperten weiter in unseren schmerzenden Converse-Schuhen, aber meine beinahe vergessene Idee war wieder da.
Ich recherchierte immer viel zu viel, aber für mich galt: besser Vorsicht als Nachsicht. Ich kannte den Grundriss des Hauses und hatte Fotos vom Inneren, da die Anzeigedetails glücklicherweise noch online zu finden waren. Das Haus hatte für unglaubliche 875.000 Pfund zum Verkauf gestanden. Ich wusste nicht genau, was das neue Paar beruflich machte, doch die Frau verließ früh das Haus, der Mann brachte den Sohn um acht Uhr zur Schule, dann fuhr auch er zur Arbeit und kam gegen vier Uhr mit ihm zurück. Er trug einen Anzug – der allerdings schon etwas abgetragen war –, sein Auftreten wirkte lässig im Gegensatz zum schicken, aber vor allem glamourösen Look seiner Frau. Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, dass sie die Hauptverdienerin war. Das Paar schien Mitte bis Ende dreißig zu sein, den Sohn, einen blonden Jungen mit Sommersprossen, schätzte ich auf etwa sechs oder sieben Jahre. Sie schienen eine perfekte Einheit zu bilden.
Jetzt musste ich nur noch hineingelangen.
Als ich über den Zaun kletterte, blieb der große Rucksack, der mein gesamtes Hab und Gut enthielt, an einem rostigen Nagel hängen, der sich aus einem der Zaunpfosten gelöst hatte.
Es war ein grauer, trüber Tag, der Himmel durch den unaufhörlichen Nieselregen kaum zu sehen, und durch die große Flügeltür sah die Church Road Nummer 6 düster und wenig einladend aus. Ich blickte auf die Uhr: kurz nach zwei. Trotzdem verharrte ich noch eine Weile im Gebüsch, um sicherzugehen, dass niemand zu Hause war. Als ich mich dem Haus schließlich näherte, probierte ich zuerst die Flügeltür, obwohl ich wusste, dass sie verschlossen war. Einen Versuch war es wert. Danach schlich ich zur anderen Hausseite, um das Fenster des Hauswirtschaftsraums zu checken – ebenfalls geschlossen und verriegelt.
Das Eindringen war üblicherweise der schwierigste Teil des Phroggings, denn die Leute waren heutzutage sehr sicherheitsbewusst und verließen ihr Haus nie, ohne sich zu vergewissern, dass ihr Eigentum in Sicherheit war. Vielleicht musste ich es wie beim letzten Haus machen, wo ich schnell in die Garage geschlüpft war, als die Besitzer wegfuhren und sich das Tor langsam schloss. Ich zitterte bei dem Gedanken daran, aber auch, weil die Temperatur trotz meiner vielen Kleidungsschichten spürbar wenige Grad über dem Gefrierpunkt lag. Ich wollte nicht zu lange draußen warten, außerdem hatte ich schon alle meine Sachen eingepackt und wollte nicht abbrechen und an einem anderen Tag wiederkommen müssen.
Während ich noch mit mir haderte, huschte plötzlich ein Schatten am Fenster vorbei, und ich duckte mich neben die Regentonne. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, es konnte doch niemand zu Hause sein. Gedämpfte Stimmen drangen durch die Doppelverglasung der großen Tür, dann hörte ich, wie sie leise knirschend geöffnet wurde. Ich drückte mich gegen die verputzte Wand, völlig ungeschützt. Wenn sie jetzt um das Haus herumliefen, konnte ich mich nirgendwo verstecken. Das Seitentor zur Einfahrt war verschlossen, meine einzige Fluchtmöglichkeit war der zwei Meter hohe Zaun, hinter dem ich den steilen Abhang hinunter auf die stillgelegte Eisenbahnlinie stürzen würde.
Panisch versuchte ich, meinen rasenden Herzschlag zu beruhigen. Bleib ruhig, Mol.
„Ich wollte dir das hier zeigen.“ Eine raue Männerstimme vermischte sich mit dem Geräusch schwerer Stiefel auf der Terrasse. Ich hielt den Atem an und betete, dass ich nicht von diesen Fremden – einem Mann, vielleicht waren es zwei, denen das Haus nicht gehörte – beim Hausfriedensbruch erwischt werden würde. Waren das Einbrecher? Waren sie hier, um das Haus auszuräumen? War ich zufällig Zeugin eines Verbrechens geworden – und wenn ja, was würden sie tun, wenn sie mich entdeckten?
Kapitel zwei
Als sich die Schritte vom Haus weg und Richtung Garten entfernten, konnte ich endlich aufatmen. Wenn ich im Dickicht hinten im Garten geblieben wäre, hätten sie mich ganz sicher entdeckt. Über den Rand der Regentonne hinweg beobachtete ich die beiden Männer, die mir den Rücken zugewandt hatten und auf verschiedene Stellen im hinteren Teil des Gartens zeigten.
Ich musste jetzt schnell handeln und die Gelegenheit nutzen, also wagte ich mich aus meinem Regentonnenversteck und schlich zur Rückseite des Hauses, behielt dabei immer die Männer im Blick, die sich noch unterhielten. In meiner Hektik stieß ich irgendwo gegen eine kleine Schaufel, die scheppernd zu Boden fiel und die Stille durchbrach. Wieder erstarrte mein ganzer Körper, das Geräusch hallte unnatürlich laut in meinen Ohren wider, doch keiner der beiden drehte sich um. Sie waren zu weit weg, zu vertieft in ihr Gespräch über Verbesserungen, die vorgenommen werden sollten, Löcher im Zaun, die zu reparieren waren, möglicherweise einen Steingarten und ein Gemüsebeet anzulegen. Das waren keine Einbrecher, sondern Handwerker. Mit klopfendem Herzen tappte ich weiter um das Haus herum und durch die offen stehende Terrassentür.
Die warme Heizungsluft schlug mir entgegen und färbte meine Wangen rosa, sobald ich über die Türschwelle trat. Mir blieb keine Zeit, mich daran zu erfreuen, wie schön und ordentlich hier alles war, da ich mich so schnell wie möglich aus meinen schlammigen Stiefeln quälen musste, um nicht doch noch von den Männern im Garten erwischt zu werden. Ich hielt mich geduckt, während ich mit den Schuhen im Arm an der Küche mit mitternachtsblauen Fronten vorbei in den hellen, magnolienfarbenen Flur lief, wo ich eine ausladende Eichenholztreppe fand, die ich mit großen Schritten hinaufstieg. Im oberen Stockwerk schlug mir der berauschende Duft von Weichspüler und Toilettenreiniger mit Kiefernduft entgegen. Der Teppichboden aus Jute fühlte sich unter meinen Socken kratzig an. Er erstreckte sich vom Flur aus in die verschiedenen Zimmer, die alle in demselben Magnolienton gestrichen waren.
Das Zimmer des Jungen betrat ich zuerst. „Nathan“ stand in großen grünen Holzbuchstaben über einem schmalen Bett an der Wand. Die Rennwagen-Bettdecke war fest unter die Matratze gesteckt, so hatte es auch meine Mutter früher gemacht, als ich noch ein Kind gewesen war. Durch das Fenster mit Blick in den Garten verfolgte ich, wie die Männer ihre Zigaretten zu Ende rauchten. Dabei hatte ich Mühe, den Unterschied zwischen dem Dunst ihres Atems und den Rauchschwaden zu erkennen, von denen sie umgeben waren. Jetzt, wo ich einen besseren Blick hatte, erkannte ich den kleineren Mann – ich hatte ihn schon einmal während meiner Hausbeobachtung auf dem Grundstück gesehen. Er musste für die Renovierungen verantwortlich sein, denn mit seiner Chinohose und dem Hemd sah er recht schick aus. Der andere hingegen – groß und dünn mit raspelkurzem Haar – wirkte in der schmutzigen, ausgewaschenen Cargohose samt Sweatshirt eher mitgenommen. Ich nahm an, dass er Landschaftsgärtner war.
Mehr Leute, die in der Church Road ein- und ausgingen, konnten potenziell ein Problem für meinen Aufenthalt hier darstellen. Ich hatte angenommen, dass die Arbeiten am Haus abgeschlossen waren – die Küche im Erdgeschoss und das Bad gegenüber von Nathans Zimmer waren brandneu. Doch offenbar stand als Nächstes die Gestaltung des Gartens auf dem Plan.
Während sich mein Puls langsam normalisierte, spähte ich in die anderen Räume und prägte mir ein, wo die Dielen knarrten. Mit meiner Vermutung bezüglich der Schlafzimmer hatte ich recht gehabt: Das größte auf dieser Etage war eindeutig das des Ehepaares. Auf ihren Nachttischen lagen Bücher, ein Schlafmittel namens Heminevrin, das meine Mutter früher auch genommen hatte, jeweils eine Wasserflasche und gerahmte Fotos. Es gab ein kleines Bad, das, wie ich beim Hineinsehen feststellte, offenbar das Reich der Ehefrau war, da dort jede Menge Duschgels, Peelings und Shampoos herumstanden. Der Geruch von teurem Parfüm hing noch in der Luft, und ich griff nach dem Buch, das auf dem Nachttisch der Frau lag. Ein Thriller von Lisa Jewell, etwa zur Hälfte gelesen. Das große Bett war hastig geordnet worden, eine hellgelbe, leicht zerknitterte Bettdecke war der einzige Farbtupfer in dieser ansonsten eintönigen Einrichtung.
Im dritten Zimmer gab es kein Bett, nur ein beiges Sofa und einen Schreibtisch samt Monitor und Tastatur am Fenster. Der Rechner war zusammen mit einem Stapel Aktenordner darunter verstaut. Ich entdeckte den WLAN-Router und fotografierte den Sticker mit dem Passwort auf der Rückseite. Das würde später nützlich sein, falls sie es nicht geändert hatten. Vermutlich wurde dieser Raum als Büro genutzt, obwohl ich keinen der beiden jemals von zu Hause hatte arbeiten sehen. Sie kamen und gingen normalerweise zu genau festgelegten, regelmäßigen Zeiten.
Ich stieg die zweite Treppe zum Schlafzimmer hinauf, meine Nerven kribbelten vor Adrenalin. Hier war alles offen gestaltet, es gab keine Tür, die Treppe führte direkt ins Schlafzimmer. Ich nahm an, dass die Eltern vorhatten, irgendwann hierherzuziehen, in den ausgebauten Dachboden, der ein weiteres Bad hatte. Es war die logischste Aufteilung, aber vielleicht wollten sie nicht eine ganze Etage von ihrem kleinen Sohn Nathan entfernt sein. Es konnte ja sein, dass er nachts Angst bekam und nicht allein sein wollte.
So oder so war es besser für mich, denn genau dort wollte ich mich verstecken. Es konnte schwierig werden, so nahe bei ihnen zu sein, doch wenn ich mich mucksmäuschenstill verhielt, konnte es funktionieren. Da ich ihren Tagesablauf kannte, konnte ich duschen und mich umziehen, wenn sie nicht zu Hause waren, sodass das neue Haus auch keine Auswirkungen auf meine Arbeit haben würde, die ohnehin sehr unregelmäßig stattfand. Zur Toilette zu gehen war allerdings eine andere Sache.
Auf dem Dachboden gab es ein riesiges Fenster, das den Raum mit Tageslicht füllte und durch das ich beobachtete, wie die grauen Wolken bedrohlich über mir umherwirbelten. Bisher wurde der Raum als Abstellkammer genutzt, leere Kisten und schwarze Säcke lagen auf dem Teppich verteilt, zumindest fühlte sich dieser weicher an meinen Füßen an.
Das einzige Möbelstück war eine altrosa Chaiselongue unter dem Fenster, von der aus man auf die Auffahrt hinunterblicken konnte. In der Hoffnung, meine Nerven beruhigen zu können, setzte ich mich darauf und war überrascht, wie weich sie war. Trotzdem würde ich nicht darauf schlafen – so ungeschützt zu sein, konnte ich mir nicht erlauben. Was wäre, wenn jemand hier heraufkam? Was, wenn ich schlief und die Frau kam, um etwas in einer der Kisten zu suchen? Wir bekämen beide den Schock unseres Lebens. Mein Blick fiel auf die Wand zu meiner Linken, an der eine Reihe weißer Einbauschränke stand, die perfekt an die Schräge des Daches angepasst waren. Vorsichtig öffnete ich einen der Schränke und achtete genau auf das leise Quietschen des Scharniers.
Es war perfekt. Der Schrank war leer, auf einer Seite hatte er eine Fläche von etwa 1,5 Metern, die für mich und meinen Schlafsack reichen würden, wenn ich den Boden etwas polsterte – und solange ich mir nicht den Kopf an der Kleiderstange darüber stieß. In der Mitte des Möbelstücks war ein Schminktisch mit Spiegel und einem kleinen Hocker darunter eingebaut, und im letzten, kleineren Teil gab es einige Schubladen, die etwa die Hälfte des Platzes einnahmen, und eine weitere Kleiderstange.
Beflügelt von meiner neuen Bleibe lief ich weiter ins Bad, einem kleinen, aber vollkommen ausreichenden hellen Raum, der in cremefarbene, raumhohe Fliesen gefasst war. Ich hatte keine Ahnung, was sie mit diesem Bereich vorhatten oder wie lange es dauern würde, bis sie ihn richtig einrichteten, aber beim Phrogging gab es schließlich immer Gelegenheiten zum Lauschen. Wenn ich mitbekam, dass sie planten, nach oben zu ziehen oder einige Dinge umzuräumen, wäre ich in kürzester Zeit hier weg.
Ein lauter Knall von draußen riss mich aus meinen Gedanken, und ich schlich zum Fenster, wo ich die beiden Männer in der Auffahrt fand, wie sie gerade in einen Lieferwagen mit der Aufschrift „JE Property Renovations“ stiegen. Wie von Zauberhand schwang das bereite Holztor auf, als der Transporter darauf zufuhr. Da es nur bis zur Hüfte ging, war es wohl eher aus Bequemlichkeit als wegen der Sicherheit elektrisch – trotzdem konnte man ohne den Code nicht mit seinem Fahrzeug auf das Grundstück fahren. Ich sah ihnen nach, bis sie aus meinem Blickfeld verschwanden, meine Schultern entspannten sich. Das Gefühl, mich in einem leeren Haus zu befinden, machte sich in mir breit. Es war kurz vor drei, ich hatte also etwa eine Stunde Zeit, mich umzusehen und die Besitzer kennenzulernen, bevor ich mich für den Abend zurückziehen würde. Zur Vorbereitung breitete ich meinen Schlafsack auf dem Boden des Kleiderschranks aus, legte meinen Rucksack daneben und ließ die Tür gerade so weit offen, dass ich hineinschlüpfen konnte.
Jetzt war es Zeit, auf Erkundungstour zu gehen und nach Informationen über meine neue Gastfamilie zu suchen, denn je mehr ich wusste, desto leichter würde es sein, mich zu verstecken.
Es erstaunte mich immer wieder, wie viel man aus Briefen auf dem Esstisch und Fotos an Pinnwänden erfahren konnte, doch im Gegensatz zu meinem letzten Phrogging-Haus war hier kaum etwas zu finden. In meiner letzten Bleibe hatte ständig Unordnung geherrscht, weswegen ich es nicht länger als eine Woche dort ausgehalten hatte, bevor ich zu Megan zurückgekehrt war. Vielleicht waren die Besitzer dieses Hauses ja Ordnungsfreaks, die nichts herumliegen lassen wollten, vielleicht waren sie auch noch dabei, auszupacken und das Haus wohnlich zu machen. Über der Tür zwischen Flur und dem Wohn- und Küchenbereich hing ein graues Schild, das mir zuvor nicht aufgefallen war. Dort stand in weißen Buchstaben „Reilly Family“ und darunter drei Namen: Jack, Helena und Nathan.
„Hallo, Familie Reilly“, flüsterte ich und blickte zurück zur Eingangstür, wo auf einem weißen Konsolentisch unter einem großen runden Spiegel ein Foto der drei stand. Daneben standen eine Schlüsselschale, ein Raumduft von Jo Malone und eine Vase mit künstlichen weißen Rosen. Das Foto in dem silbernen Rahmen war auf einem Jahrmarkt aufgenommen worden, die Augen der Familie blitzten vor Lachen.
Helena war wunderschön, sie trug einen schicken brünetten Bob, der hinter ihre zarten Ohren gestrichen war, ihre Nase war klein und ihre Lippen schmal. Sie hatte hohe Wangenknochen und einnehmende schokoladenbraune Augen, die von langen, dichten Wimpern umrahmt waren. Jack konnte mit ihrer Schönheit nicht mithalten, hatte aber ein freundliches Gesicht. Seine strohblonden Haare lichteten sich an den Schläfen bereits leicht, doch seine Augen zeigten eine fast meergrüne Tiefe. Nathan, der zwischen ihnen saß, grinste über beide Ohren, ihm fehlte ein Vorderzahn, und seine Fingerknöchel an der Karussellstange traten vor Anspannung weiß hervor. Es war ein großartiges Foto, sie sahen so glücklich und voller Leben aus, dass ich ein schlechtes Gewissen bekam, weil ich in ihr perfektes Zuhause eingedrungen war.
Ich setzte meine Suche fort, in der Hoffnung, etwas zu finden, das mir mehr über die Familie Reilly verraten würde – vielleicht wo sie arbeiteten, einen Kalender oder ein Tagebuch. Aber wenn ich nicht die Schubladen durchwühlen wollte, würde ich hier wenig finden. Auf der Kücheninsel lag ein Block mit einer kurzen Einkaufsliste, die mit einer ordentlichen, stilvollen Handschrift geschrieben war: Apfelsaft, Butter, Küchenrolle. Doch es war nicht der Text, der mir ins Auge fiel, sondern das Logo darüber. St. Wilfrid‘s School war eine örtliche Sekundarschule – genau die, die ich vor sechs Jahren verlassen hatte, bevor ich aufs College ging, um zu studieren. Es kam mir vor, als wäre es gestern gewesen, dass ich dort durch die Flure wandelte und mich nur widerwillig zum Unterricht schleppte. Nathan war viel zu jung, um dort Schüler zu sein, also woher kam dieser Block?
Gerade als ich darüber nachgrübelte, ließ mich ein Motorengeräusch von draußen zusammenzucken. Ich spitzte die Ohren und hörte vage das Quietschen des sich schließenden Tors. Ich stürzte aus der Küche, die Treppe hinauf und vernahm Stimmen vor dem Haus, dann das Klicken eines Schlüssels im Schloss. Wer auch immer es war, sie waren früh heimgekehrt.
Kapitel drei
„Daddy, darf ich bitte mit dem iPad spielen?“ Nathans fröhliche Stimme konkurrierte mit dem Geräusch der Schlüssel, die klirrend in ihrer Schale im Flur landeten.
Ich hatte die zweite Treppe hoch zum Schlafzimmer erreicht und lauschte den Geräuschen von unten, mein Herz schlug immer noch wie wild. Warum waren sie so früh zurückgekommen?
„Klar, Kumpel. Aber Mummy kommt bald nach Hause, also zieh deine Uniform aus und wasch dir die Hände, dann mache ich dir einen Snack, okay?“
„Aber ich mag die Snacks im Schulklub lieber“, murrte Nathan.
„Ich weiß, aber heute ist Elternabend, deswegen fällt der Klub aus. Wenn Mummy kommt, fahren wir zurück zur Schule und besuchen Mrs Milton.“
Als sie in die Küche gingen, wurden ihre Stimmen leiser, also schlich ich langsam weiter ins oberste Stockwerk. Gott sei Dank hatte ich mir mit dem Einstieg heute nicht zu viel Zeit gelassen, sonst hätten sie mich auf frischer Tat ertappt. So gut man auch planen oder jemandes Zeitplan kennen mochte, es passierten immer kleine Abweichungen oder Veränderungen in der Alltagsroutine, so war das Leben. Das Wichtigste war, einen Notfallplan zu haben, ich hatte keinen – außer wegzulaufen, wenn ich entdeckt wurde. Ich brauchte noch etwas Zeit allein im Haus, um alternative Verstecke zu finden. Orte, an denen ich meine Sachen verstauen konnte, falls ich es nicht zurück in den obersten Stock schaffte. Immerhin war heute erst Dienstag, das gab mir noch drei Tage allein im Haus, wenn auch nur von acht bis sechzehn Uhr.
Mein knurrender Magen erinnerte mich daran, dass ich noch nichts zu Mittag gegessen hatte, dann zog er sich erschrocken zusammen, als Schritte die Treppe hinaufpolterten, die glücklicherweise im ersten Stock stoppten. Es war Nathan, der in sein Zimmer rannte, um sich umzuziehen oder sein iPad zu holen. Ich sank vorsichtig auf den Boden des Einbauschranks, zog die Tür fast ganz zu und kramte in meinem Rucksack nach ein paar Keksen, um den Schmerz in meinem Bauch zu besänftigen. Nachdem ich sichergestellt hatte, dass mein Handy stumm geschaltet war – Pflicht für alle Geräte beim Phrogging – checkte ich das WLAN und schaute, ob ich mich mit dem Passwort vom Router anmelden konnte. Es funktionierte sofort. Wahrscheinlich hatten sie bei ihrem Einzug alles ganz neu einrichten lassen, weswegen Jack das Passwort noch nicht geändert hatte. Vielleicht hatte er auch gar nicht vor, es zu ändern. Manche Leute achteten nicht besonders auf Online-Sicherheit oder waren einfach technisch unbegabt. Wenn das der Fall war, wäre mein Leben deutlich entspannter. Denn wenn man wusste, wie es ging, war es ein Leichtes, unbekannte Nutzergeräte im WLAN-Netz zu entdecken, doch ich hatte das Gefühl, dass Jack sich damit nicht allzu gut auskannte. Ich loggte mich trotzdem aus – nur für den Fall.
Etwa zehn Minuten später fiel die Haustür erneut ins Schloss, diesmal stolzierten High Heels über den Parkettboden, der vom Flur in die Küche führte.
„Mummy!“, rief Nathan aufgeregt, donnernde Schritte auf der Treppe. Ich stellte mir vor, wie er in ihre Arme sprang und umarmt wurde, wie ich es so oft beobachtet hatte. Die Stimmen waren gedämpft und ich konnte nicht verstehen, was gesagt wurde, doch es war auf jeden Fall noch zu früh, um meinen sicheren Platz zu verlassen und zu lauschen. Sobald ich mich an die Geräusche des Hauses gewöhnt hatte, konnte ich mich vorsichtig bewegen, ohne dass der Familie meine Anwesenheit auffiel. Ich war schließlich nicht hier, um sie zu erschrecken, Streiche zu spielen oder sie zu stalken – beim Phrogging ging es um das Zusammenleben. Ich fand, in gewisser Weise war es ein Nervenkitzel. Ich konnte nicht leugnen, wie aufregend es war, an einem verbotenen Ort zu sein, an dem man sein Leben zwingend nach dem der anderen richten musste. Und was ich aus meinen Recherchen und zwei früheren Phrogging-Erfahrungen gelernt hatte: Manchmal funktionierte es, manchmal nicht.
Zum Glück konnte ich mich jetzt erst mal darauf konzentrieren, mich einzuleben, denn ich hatte meinen neuesten Artikel heute früh von Starbucks aus per E-Mail an Des, den Chefredakteur der Crawley News, geschickt. Als Belohnung hatte ich mir einen Chai Latte und süßes Gebäck gegönnt. Er wollte einen Artikel über den neuen Kreisverkehr im Stadtzentrum, der bereits mehrere Autounfälle verursacht hatte, und ich freute mich, dass ich dem örtlichen Stadtrat ein Zitat hatte entlocken können. Das war eins der typisch langweiligen Themen, über die ich berichten sollte, und gleichzeitig auch der Grund, warum mich niemand als Journalistin ernst nahm. Ständig präsentierte ich Des neue Ideen, um mein Portfolio endlich über Verkehrsprobleme hinaus zu erweitern. Meistens gab er irgendwann nach. Er war kein schlechter Chef, und wenn er manchmal gute Laune hatte, ließ er mich einfach machen, wenn auch ohne Garantie, dass er meinen Artikel veröffentlichen würde. Trotzdem schätzte ich mich glücklich. Der Lohn war zwar nicht der beste, aber es gab auch keine strikten Arbeitszeiten, bloß Aufträge, die ich zu erledigen hatte.
Ich wusste, dass ich eine gute Texterin war und an größeren Projekten arbeiten sollte. Ein lokales Magazin hatte zwei meiner Artikel veröffentlicht, die ich letzten Monat dort eingereicht hatte - nur wurden sie leider nicht gut bezahlt. Als Freiberuflerin konnte ich so nicht überleben, zumindest nicht, bis ich mein Können wirklich bewiesen hatte. Vorerst mussten also die Crawley News reichen.
Mein Handy blinkte auf, als eine Nachricht von Megan reinkam.
Wo bist du? Ich bin gerade nach Hause gekommen und deine ganzen Sachen sind weg!
Phrogging
antwortete ich schnell.
Innerhalb von Sekunden erschienen drei Punkte im Chat, die zeigten, dass Megan antwortete.
Schon wieder? Wo? Ich wünschte, du würdest das nicht machen, das ist gefährlich! Sei vorsichtig!!!!
Megan übertrieb immer mit Ausrufezeichen, doch obwohl sie wirklich auf mich aufpassen wollte, war ich mir sicher, dass sie erleichtert war, heute Abend keinen Stress mit ihren Mitbewohnern haben zu müssen, denn die waren nicht begeistert, dass schon die dritte Woche in Folge ein Schmarotzer auf ihrem Sofa schlief.
„Ehrlich, Jack, du musst mal mit Marcus reden, die tragen ständig Dreck hier rein. Und das ist das Letzte, was ich brauche, wenn ich den ganzen Tag gearbeitet habe. Du musst auch die Alarmanlage endlich anschließen, wenigstens das Stromkabel, damit das Licht blinkt.“ Helenas vornehme Stimme drang von der Etage unter mir herauf, sie waren irgendwo im ersten Stock.
„Okay, mache ich. Können wir jetzt los? Es dauert sowieso wieder ewig, einen Parkplatz zu finden, Nathans Termin ist um halb fünf.“ Jack seufzte hörbar, ganz der genervte Ehemann.
„Ja, ja, ich gehe nur schnell zur Toilette und trage Lippenstift auf“, sagte sie und wischte sein Drängen fort. Ich versuchte, mir vorzustellen, wie sie im Schlafzimmer herumstolzierte. Sie sah jedenfalls aus wie eine Frau, die so etwas tat. Vielleicht hatte sie einen anspruchsvollen Job und war zu Hause ein Kontrollfreak, was Jack zum unterdrückten Ehemann machte, der ihr wie ein verlorener Welpe hinterherlief. Ich sollte keine voreiligen Schlüsse ziehen, schließlich wusste ich noch nichts über sie, doch der erste Eindruck war schon entscheidend.
Ich lauschte den gedämpften Geräuschen unter mir und achtete darauf, mich nicht zu bewegen. Auf keinen Fall durfte ich mein Gewicht verlagern und die Dielen zum Knarren bringen.
„Fertig“, rief Helena und tappte die Treppe hinunter. Nur Augenblicke später schlug die Haustür zu, und ich konnte aus meinem Versteck hervorschleichen, um durch das Fenster zu spähen und die Rücklichter des Mercedes-SUV in der untergehenden Sonne zu beobachten.
Wieder in der Küche kochte ich Tee für meine Thermoskanne und durchsuchte die Küchenschränke, um auszukundschaften, was sich dort so finden ließ. Zum Glück hatte Helena das Licht unter den Hängeschränken angelassen. Viel zu naschen gab es allerdings nicht, nur Fruchtstreifen und Proteinriegel in einer durchsichtigen Dose mit Nathans Namen. Sie besaßen keinerlei süße Cornflakes, stattdessen gab es selbst gemachtes Müsli und Sauerteigbrot. Ich verdrehte die Augen und suchte weiter, bis ich ganz hinten in einem Schrank eine Schachtel mit Crackern fand, die aussahen, als wären sie noch von Weihnachten. Ich klemmte sie mir unter den Arm und stöberte noch ein bisschen weiter, erfolglos. Im Kühlschrank stapelten sich Salat und Gemüse, Rinderhackfleisch und Lammkoteletts sowie ein paar Joghurts – alles entweder Markenprodukte oder von einem dieser überteuerten Waitrose-Supermärkte.
Vielleicht bekamen sie eine wöchentliche Lieferung mit frischen Lebensmitteln. Helena, oder vielleicht auch Jack, stand eindeutig auf selbst gekochte Mahlzeiten, nur Nathan tat mir leid, weil es nicht mal Schokolade oder eine Tüte Chips gab. Immerhin war die Obstschale gut gefüllt mit Bananen, Birnen, Clementinen – und Äpfeln, von denen ich mir den rötesten und glänzendsten nahm und ihn zu meiner Beute legte. Es war befreiend, aus dem Kleiderschrank herauszukommen und so viel Bewegungsspielraum zu haben. Um vier sprangen die Heizkörper an und das Haus wurde langsam warm.
Neben der Küche befand sich ein Vorratsraum in derselben mitternachtsblauen Farbe, er war makellos sauber. An der Decke war ein Wäscheständer von Sheila Maid befestigt, um in den kälteren Monaten Kleidung zu trocknen. So etwas kannte ich bisher nur aus dem Fernsehen – wie die andere Hälfte der Bevölkerung lebte. An beiden Seiten eines Spülbeckens ragten Schränke voller Reinigungs- und Waschmittel auf, am Ende des Raumes stand eine Waschmaschine. Ich nutzte die Gelegenheit, um eine Rolle Toilettenpapier aus einem der Schränke zu nehmen, damit ich sie oben verbrauchen konnte.
Zwischen Küche und Wohnzimmer gab es noch ein kleines Büro mit einem weiteren Schreibtisch und wandfüllenden Regalen mit Büchern und Dekoartikeln. Dieser Raum wirkte bewohnter, der Schreibtisch mit einem iMac war im Vergleich zu dem im oberen Geschoss viel unordentlicher. Womöglich war dies Helenas Reich?
Das Wohnzimmer wurde von einem riesigen dunkelgrauen Sofa in L-Form mit gemusterten Kissen und gefalteten Decken an beiden Enden dominiert. Auf dem cremefarbenen Teppich stand ein Couchtisch aus dickem Holz, perfekt ausgerichtet. Darauf lag ein Stapel Bücher, der mehr dekorativ aussah als zum Lesen. Ich las Titel wie „Tom Ford: Made for Living“, „Eat, Drink, Nap“ und „Plantopedia“, mit makellosen Buchrücken ohne einen einzigen Knick. Zum zweiten Mal verdrehte ich die Augen und spazierte weiter, um an den Kerzen zu riechen, die nie angezündet worden waren. Alles sah aus wie zur Schau gestellt, und obwohl die Church Road Nr. 6 von außen wie ein wunderschönes Familienheim wirkte, sah es innen ganz anders aus. Kein einziges Spielzeug von Nathan lag herum, und bis auf das eine Foto gab es hier unten auch keinen Hinweis auf seine Existenz. Ich ärgerte mich für ihn – wurde er bestraft, weil er unordentlich war?
Die Reillys hatten sogar einen Kamin, nicht zu vergessen der riesige Flachbildfernseher, der an der Wand hing. Orangene bodenlange Vorhänge rahmten das Fenster, das zur Vorderseite des Hauses hinausging, und in der Mitte des Raumes war eine spitze Retro-Deckenlampe in Szene gesetzt. Es sah schön aus, besaß mehr Persönlichkeit als das Obergeschoss, doch es war alles zu perfekt.
Mein Blick glitt zurück zum Couchtisch, wo eine Visitenkarte zwischen den Seiten von Tom Fords Modebuch hervorblitzte. Ich zog sie heraus und sah, dass sie Helena gehörte. Sie war offenbar Marketingmanagerin bei Oxalis, mit Adresse und Telefonnummer in London, doch ich hatte keine Ahnung, was das für eine Firma war. Die Karte steckte ich in meine Jeanstasche, dann sah ich mich weiter um.
Links vom Flur, wenn man durch die Haustür hereinkam, befand sich der Zugang zur Garage, weiter hinten ein Gästebad mit Dusche, mehr gab es nicht zu sehen.
Die Cracker, den Apfel, meine Thermoskanne und die Toilettenpapierrolle auf dem Arm jonglierend, stieg ich gerade die Treppe hinauf, als mich ein lautes Klopfen an der Tür aufschrecken ließ. Mein Kopf ruckte zurück, die Cracker rutschten mir aus der Hand und fielen zu Boden, während ich erstarrte wie ein Kind, das „rotes Licht – grünes Licht“ spielte. Das Außenlicht im Eingangsbereich malte die Umrisse einer menschlichen Gestalt, die durch die mattierte Fensterscheibe an der Seite spähte.
„Mach die Tür auf!“, schrie eine wütende Frauenstimme, während ich nur mit großen Augen die Tür anglotzte. Ich spürte ein flaues Gefühl in der Magengrube, als ich beobachtete, wie die undeutliche Gestalt mit an die Scheibe gepressten Händen hereinschaute. „Ich kann dich sehen!“, brüllte sie und hämmerte erneut gegen die Tür. Langsam stieg ich die Treppe herauf, bis ich sicher außer Sichtweite war. Angst rauschte durch meinen Körper. Wer war diese Frau?
Kapitel vier
„Helena, ich muss mit dir reden.“
Jede Farbe wich aus meinem Gesicht, während ich darauf wartete, dass sie ging. Man hatte mich gesehen, das Spiel war aus, doch sie hielt mich für Helena. Ich ließ die Cracker einfach liegen und stolperte in den obersten Stock, um ihr dort vom Fenster aus nachzusehen. Als die Frau schließlich aufgab und die Auffahrt hinunterging, erkannte ich, dass sie blond war und einen grünen Mantel trug, das war alles. Fast erwartete ich, dass sie sich umdrehen und in dem Wissen, beobachtet zu werden, zurück zum Haus starren würde, aber sie tat es nicht. Stattdessen bog sie am Ende der Auffahrt rechts ab und verschwand über die Brücke aus meinem Blickfeld. Woher kannte sie den Code für das Tor? Ich bezweifelte, dass es sich einfach so passieren ließ.
Als ich unten die Cracker einsammelte, fühlte ich mich unwohl und überlegte, ob ich meine Sachen packen und gehen sollte. Wer auch immer die Frau war, sie war wütend und ging davon aus, dass ich Helena war, die ihr die Tür nicht öffnen wollte. Vielleicht waren sie Freundinnen gewesen, die sich zerstritten hatten? Oder es war eine unzufriedene Oxalis-Kundin? Meine größte Sorge war, dass diese Fremde mich entlarven würde, wenn sie Helena endlich antraf.
Ich entschied mich zu bleiben, weil ich wusste, wie schwer ich Megans Leben machen würde, wenn ich wieder bei ihr aufkreuzte. Und während ich die Kekspackung leerte, ging mir diese Geschichte mit der Frau nicht aus dem Kopf.
Da ich noch immer allein im Haus war, schnappte ich mir ein Kissen und eine Decke, die ich im Gästezimmer unter dem Sofa gefunden hatte, und nahm sie zusammen mit einem Handtuch mit zu mir. Damit wollte ich den Boden, auf dem ich schlafen wollte, etwas gemütlicher machen.
Um halb sechs kamen die Reillys zurück. Kurz darauf stieg mir der Geruch von Spaghetti Bolognese in die Nase, der mir das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. Ich befürchtete, dass es wieder an der Tür klopfte und die wütende Frau zurückkam, um mit Helena zu sprechen, doch sie blieb weg, und solange sie nicht ihre Sicherheitsapp mit der Kamera an der Haustür kontrollierten, würde wohl niemand etwas mitbekommen.
Dass es mir schwerfiel, mich zu entspannen, war nicht ungewöhnlich. Die erste Phrogging-Nacht in einem neuen Haus war mir immer unheimlich. Es war das Unerwartete. Ich wusste nicht, ob Helena oder Jack nachts unruhig schliefen, ob sie durch das Haus streifen würden oder ob Nathan schlafwandelte. Wer weiß, vielleicht waren sie Teufelsanbeter und nutzten dieses Zimmer regelmäßig für Jungfrauenopfer – deshalb war Recherche so wichtig. Auch wenn mir die kurzen Einblicke in das Familienleben nur einen ersten Eindruck vermittelten, wie sie lebten. Man konnte nie wirklich wissen, was hinter verschlossenen Türen vor sich ging, bis man mit der Familie dahinter gefangen war.
Das erste Mal war furchtbar gewesen, ich hatte kaum schlafen können. Nach einer Woche in dem dreistöckigen Stadthaus, wo ich mich im Keller versteckt hatte und nichts außer Schritten über mir hören konnte, hatte ich es nicht mehr ausgehalten. Wenn meine Eltern davon erfahren hätten, wären sie durchgedreht. Moralisch war die Sache ganz sicher nicht vertretbar, und gefährlich war es auch. Ich wäre schockiert, wenn jemand ohne mein Wissen in meinem Haus leben würde, aber es war ja nur für kurze Zeit und ich fügte den Hausbesitzern keinen Schaden zu. Es war vielmehr ein soziales Experiment. Auch wenn ich bezweifelte, dass andere Phrogger so harmlos waren wie ich.
Irgendwann loggte ich mich wieder ins WLAN ein und vertrieb mir die Zeit damit, E-Mails zu checken und das sanfte Licht zu genießen. Im großen Schlafzimmer war alles dunkel, doch ich konnte kein Licht anmachen, also nahm ich mit der kleinen Taschenlampe vorlieb, die ich immer im Rucksack hatte, zusammen mit reichlich Batterien. Ich antwortete Mums wöchentlichem Statusbericht, las auf meinem uralten Kindle und beobachtete durch das Fenster, wie der Mond am Himmel aufging.
Als ich zur Toilette musste, schlich ich so leise wie möglich ins kleine Badezimmer nebenan, da ich wusste, dass die Familie im Wohnzimmer fernsah und mich bestimmt nicht hören würde. Gegen neunzehn Uhr hörte ich, wie Helena Nathan zum Duschen schickte und ihn danach ins Bett brachte, aber nicht ohne ihm ein Kapitel aus „Captain Underpants“ vorzulesen. Wenig später tönten aus der Küche das entfernte Knallen eines Weinkorkens und gedämpftes Lachen. Als sie gegen zweiundzwanzig Uhr nach oben kamen, hielt ich mir die Ohren zu, um das leise Stöhnen und Knarren des Bettes unter mir nicht zu hören.
Irgendwann nach Mitternacht dämmerte ich weg, zufrieden, dass die Familie schlief und ich nicht gestört werden würde. Das Haus war erkaltet und ich kuschelte mich tief in meinen Schlafsack. Abgesehen vom Mondlicht leuchtete bloß ein kleines Nachtlicht für Nathan außerhalb seines Kinderzimmers. Sechs Stunden später weckten mich Schritte auf der Treppe. Meiner Treppe.
Ich konnte kaum atmen und beobachtete durch den schmalen Spalt der Schiebetür, wie Jack das Schlafzimmer betrat und dann im Badezimmer verschwand. Mir drehte sich der Magen um, mein ganzer Körper verkrampfte sich. War er hier hochgekommen, um seinen morgendlichen Toilettengang zu erledigen? Machte er das täglich? Er trug Shorts und ein T-Shirt, als wollte er ins Fitnessstudio gehen. Ich hörte ein Klicken von Porzellan, die halb geschlossene Badezimmertür versperrte mir die Sicht.
Würde er meinen Urin und das Papier am Boden der Toilette sehen und wissen, dass jemand hier gewesen war? Ich spülte nur, wenn ich wusste, dass das Haus leer war, niemals nachts. Als meine Wade plötzlich krampfte, biss ich die Zähne zusammen und wackelte mit den Zehen, um Blut in mein Bein zu bringen, doch ich wagte nicht, mich ernsthaft zu bewegen. Es raschelte im Badezimmer, dann kam Jack heraus, steckte etwas Kleines, Schwarzes in eine seiner Socken und ging wieder nach unten, ohne auch nur in meine Richtung zu schauen.
Seufzend streckte ich mein Bein aus und setzte mich innerhalb des Schranks aufrecht hin, wobei ich mit dem Kopf gegen die Kleiderstange stieß, als plötzlich die Haustür zugeschlagen wurde. Ich eilte zum Fenster und sah Jack die Auffahrt hinunterlaufen, Kopfhörer aufsetzen und losjoggen, als das Tor aufschwang. Ich humpelte quer durch den Raum und wartete darauf, dass der Krampf in meinem Bein nachließ, noch völlig benommen davon, so abrupt aus dem Schlaf gerissen worden zu sein.
Also, das war neu. Jack ging also morgens gerne joggen, das hatte ich weder vorausgesehen noch bei meiner Erkundung beobachtet. Ich war auch nie so früh hier gewesen. Aber warum zum Teufel war er hier hochgekommen?
Im Bad lag eine feuchte Sandwichtüte im Waschbecken, sonst war alles wie zuvor. Er hatte die Toilette nicht gespült, aber ich konnte auch nicht sagen, ob er sie benutzt hatte. Was auch immer er aus dem Badezimmer geholt hatte, er würde es mit Sicherheit bei seiner Rückkehr wieder zurücklegen, und dann musste ich außer Sichtweite sein.
Unten war alles ruhig, bis ich fünfzehn Minuten später einen leisen Alarm und Helena aufstehen hörte. Ich war froh, dass ich mir die Beine vertreten konnte, schlich zurück zum Schrank und lauschte den Reillys, wie sie sich für den Tag fertig machten. Als Erstes stand Kaffee auf dem Programm, der Duft machte mir selbst große Lust auf eine Tasse. Kurz nachdem Helena Nathan geweckt hatte, weil er zur Schule musste, kam Jack von seiner Laufrunde zurück und duschte. Irgendwo im Haus verbrannte ein Toast, der Rauchmelder fiepte, und alle eilten wie Wirbelwinde umher, bis Helena das Haus verließ.
Um halb acht wartete ein Auto vor dem Tor, um sie abzuholen, eine Frau winkte vom Fahrersitz aus. Ich schätzte, dass Helena in London arbeitete und morgens zum Bahnhof gebracht wurde. Sie rief Jack zum Abschied zu, er solle Nathans Lunchbox nicht vergessen, und weg war sie. Eine halbe Stunde später schob Jack Nathan aus der Tür und in den Mercedes, um ihn zur Schule zu bringen. Nach dem hektischen Morgen kehrte endlich Ruhe ein. Jack war nicht wieder hier oben aufgetaucht, also trug er, was auch immer er geholt hatte, noch bei sich.
Vielleicht waren es Zigaretten? Rauchte er heimlich und versteckte die Packungen vor Helena? Ich hatte keine Ahnung, aber ich wollte es unbedingt herausfinden. Nachdem die Reillys gegangen waren, erklärte ich zu meiner Tagesaufgabe, einen Schlüssel für die Hintertür anfertigen zu lassen, damit ich ungehindert ein- und ausgehen konnte. Außerdem wollte ich sehen, ob ich Zugang zu den Aufnahmen der Türkamera bekommen konnte. Wenn sie funktionierte, meldete sich üblicherweise eine Stimme oder es klingelte in irgendeiner Form, um zu vermelden, dass sich jemand der Tür näherte, aber gestern hatte ich nichts gehört. War sie angeschlossen oder kaputt?
Ich duschte kurz im Bad ganz oben, wischte danach alles sorgfältig trocken und spülte die Toilette. Ich war froh, den Schweiß von gestern Nacht abwaschen zu können. In derselben Jeans, aber mit frischem Oberteil ging ich nach unten, machte mir eine Scheibe Toast mit Erdnussbutter, wusch Teller und Messer ab und stellte alles wieder an seinen Platz. Als mir der Notizblock ins Auge fiel, auf dem die Einkaufsliste ergänzt worden war, fiel mir ein, dass ich die Website der St. Wilfrid’s School noch nicht gecheckt hatte. Ich zog mein Handy heraus, googelte die Liste der Lehrkräfte und fand Jack ungefähr bei der Hälfte. Seine grünen Augen sprangen mich sofort an. Er war Leiter des Seelsorgeprogramms.
Als ich dort zur Schule ging, war das Konzept noch relativ neu gewesen. Jemand kümmerte sich um das Wohlergehen der Schüler. Es gab jemanden, an den man sich wenden konnte, wenn man gemobbt wurde oder Probleme zu Hause hatte. Ich fand das super und schätzte, dass Jack mit seinem freundlichen Gesicht diese Rolle gut ausfüllen konnte.
Unten fand ich den Schlüssel für die Terrassentür, löste ihn vom Schlüsselring und schob ihn in meine Tasche. Zurück auf dem Dachboden putzte ich mir die Zähne, rollte den Schlafsack zusammen und versteckte ihn in einer der Schrankschubladen – es war wichtig, keine Spuren zu hinterlassen. Ich schulterte meinen Rucksack und verließ das Haus durch die Terrassentür. Meinen Rucksack nahm ich immer mit, für den Fall, dass ich aus irgendeinem Grund nicht wieder reinkam. Jetzt, wo ich den Garten bei Tageslicht sah, bemerkte ich, dass sich der Zaun in einer Ecke von den Pfosten gelöst hatte, eine der Latten hing nur noch lose an einem Nagel. Mit etwas Kraft schaffte ich es, die Lücke so weit zu vergrößern, dass ich mich hindurchzwängen konnte. Das war viel einfacher und sauberer, als darüberzuklettern.
An der Bushaltestelle war niemand, ich wartete auf die Nummer 3, die mich in die Stadt bringen sollte, wo ich den Schlüssel nachmachen und bei Crawley News vorbeischauen würde.
„Hey, Molly, schon von irgendwelchen Pilonen gehört, die heute die Straße versperren?“
„Verpiss dich, Jeff“, seufzte ich, als er sich prustend wieder hinter seinen PC duckte. Ich wusste, dass ich die Lachnummer des Büros war, doch das spornte mich nur noch mehr an, mich wirklich anzustrengen, um Idioten wie Jeff zu beweisen, was ich drauf hatte.
„Jeff, gib Ruhe.“ Des kam aus seinem Büro. „Ich habe heute etwas Interessantes für dich, Mol.“
Augenblicklich besserte sich meine Stimmung und ich sprang auf, um ihm in sein Büro zu folgen, wobei ich mich noch mal umdrehte, um Jeff den Stinkefinger zu zeigen.
„Ignorier die, die sind nur neidisch, dass du noch so hungrig bist. Das haben die alle schon längst hinter sich. Ich weiß, dass die Crawley nicht gerade ein Mekka für spannende News ist, aber wie ich schon sagte …“
„Jeder muss irgendwo anfangen“, unterbrach ich ihn. „Ich weiß, Des.“ Ich zog meinen Rucksack vom Rücken und ließ mich auf dem Stuhl vor seinem Schreibtisch nieder.
„St. Wilfrid’s School“, sagte er, und ich spitzte die Ohren. „Die haben am 6. März eine große Veranstaltung zum Weltbuchtag geplant, den sie wegen eines anderen wichtigen Termins vorziehen, da sie ihn nicht ausfallen lassen möchten. Sie haben uns gebeten, Werbung zu machen.“
Ich stöhnte laut auf. „Ich dachte, du hättest etwas Spannendes.“
„Das ist es – was die Wortzahl angeht. Wir bringen nächste Woche einen Artikel und dann noch einen nach der Veranstaltung. Ich habe dir einen Termin mit dem Bibliothekar und dem Seelsorger besorgt – die organisieren das. Morgen um elf, okay?“
Ich setzte mich aufrechter hin, ein Kribbeln erfasste meinen Bauch. Ich würde Jack treffen?
„Okay, klar.“
„Super. Ich wusste, ich kann auf dich zählen. Ich schicke dir die Details per Mail.“ Des grinste und zeigte dabei seine koffeinfleckigen Zähne.
Ich lächelte bestätigend und erhob mich. Das war die Möglichkeit, Jack Reilly besser kennenzulernen und herauszufinden, mit wem ich eigentlich zusammenlebte.
Kapitel fünf
Mit geschärftem Investigativspürsinn lief ich zur Bibliothek um die Ecke, startete meinen Laptop und las alles, was ich online über Jack Reilly finden konnte, nur gab es nicht viel. Abgesehen von den wenigen Informationen auf der St.-Wilfrid’s-Website und einem inaktiven Facebook-Account konnte ich nichts Interessantes finden.
Als ich Helenas Namen eingab, war es genau umgekehrt. Sie führte einen sehr aktiven Instagram-Account, auf dem sie vor allem Fotos von Essen, Schuhen und gelegentlich auch sich und Jack postete. Sie erwähnte Nathan, aber auf den wenigen Fotos, die es von ihm gab, war sein Gesicht nicht zu erkennen. Das überraschte mich nicht, viele Leute hielten sich mit Posts von ihren Kindern zurück. Stattdessen zeigte sie großes Interesse an Mode und gesunder Ernährung, sie folgte vielen Influencern und Designern, hatte aber eindeutig ihre Favoriten.
Jack hatte ihr zu ihrem 35. Geburtstag im November eine Hermès-Tasche geschenkt, von der sie online schwärmte und die sie aus allen Blickwinkeln fotografiert hatte. Als ich weiter zurückscrollte, stieß ich auf einen Post, der eine zweistöckige Geburtstagstorte zu Jacks siebenunddreißigstem Geburtstag im August zeigte. Ihr achter Hochzeitstag war am vierten Mai letzten Jahres gewesen – Helena hatte ein Foto von ihrer Hochzeit gepostet, auf dem Jack seine Frau in einem schlichten, aber wunderschönen schneeweißen Etuikleid liebevoll anblickte. Der Kommentar zum Foto fasste zusammen, wie sie sich kennengelernt hatten.
An einem regnerischen Tag im Oktober 2015 standen wir zufällig zusammen an einer Bar und warteten darauf, bedient zu werden. Du hast mich vorgelassen und dann darauf bestanden, mir und meinen Freunden eine Runde zu spendieren, um dafür zehn Minuten meiner Zeit zu bekommen. Für den Rest des Abends hockten wir eng beisammen, redeten und lachten. Sieben Monate später heirateten wir! Alle hielten uns für verrückt, doch dann kam zwei Jahre später Nathan, der unsere Familie komplett machte. Alles Liebe zum Hochzeitstag, Jack Reilly. Ich werde immer an deiner Seite sein.
Es schien also, als hätten sie eine stürmische Romanze erlebt, das perfekte Bild einer glücklichen Familie.
Alle Ereignisse im Leben der Reillys wurden dokumentiert: der Umzug, die Geburt von Nathan und Weihnachten in einer Hütte in den Cotswolds – all das zwischen Fotos von High Heels, Schmuckstücken und kunstvoll angerichteten, köstlich aussehenden Gerichten.
Auf einem ihrer ausgefallenen Gerichte hatte Helena Oxalis getaggt. Als ich darauf klickte, sah ich, dass es sich um eine kleine Kette veganer Restaurants in London handelte, so ergaben auch die Food-Fotos plötzlich Sinn. Die Restaurants sahen extravagant aus, alle in edlem schwarz-goldenen Design. Sie wirkten sehr hochwertig, was sich bestätigte, als ich die Speisekarte und die dazugehörigen Preise sah. Helena war also die Marketingmanagerin dieser Kette, und ich vermutete, dass Jack Nathan zur Schule brachte, weil sie jeden Tag nach London fuhr.
Irgendwann klappte ich meinen Laptop zu, ging zum nächsten Kiosk, um mir ein paar Snacks und Schokolade zu kaufen, und wartete dann auf den Bus zurück zur Church Road. Unterwegs schrieb ich Megan, dass es mir gut ging und wir einen Kaffee trinken oder zusammen essen gehen könnten, wenn sie das nächste Mal Zeit hatte. Ein Nachteil beim Phrogging war, dass man besser schon im Haus sein sollte, wenn die Familie nach Hause kam. Man konnte also niemals frei kommen und gehen, ohne entdeckt zu werden. Vor allem nicht, wenn man die Wohnräume passieren musste, denn ich war – selbst mit einem Schlüssel – nicht mutig genug, durch die Hintertür ein- und auszugehen, während sie schliefen, jedenfalls noch nicht.
Als ich die Church Road erreichte, vergewisserte ich mich noch einmal, dass die Einfahrt leer war, bevor ich mich durch das Gebüsch hinter dem Haus in den Garten kämpfte, dankbar, dass mich niemand sehen konnte. Das war einer der Gründe, warum ich die Nummer 6 ausgewählt hatte.
Der Schlüssel für die Hintertür funktionierte einwandfrei, also steckte ich den geliehenen Schlüssel wieder an seinen Platz, damit er nicht vermisst wurde. Im Haus war es kalt und mein Magen knurrte. Ich schaute zuerst in den Gefrierschrank, hatte Lust auf etwas Substanzielleres als Cracker. Dort fand ich verschiedene Reste in Tupperdosen, die mit Inhalt und Verfallsdatum beschriftet waren, aber dann entdeckte ich die Spaghetti Bolognese von gestern im Kühlschrank. Wer auch immer das zubereitet hatte, schien am liebsten für fünftausend Leute zu kochen und würde sicher nicht bemerken, wenn ich mir eine kleine Portion nahm.
Obwohl das Essen kalt war und nicht besonders appetitlich aussah, würde es zumindest meinen Hunger stillen. Opfer, die Phrogger bringen mussten, um unentdeckt zu bleiben. Denn wenn ich es aufgewärmt hätte, würde der Geruch noch heute Abend in der Wohnung hängen.
Ich nahm eine kleine Portion mit nach oben und erreichte gerade noch das Schlafzimmer, als ich unten die Haustür hörte. Scheiße!
„Es riecht gut hier“, hörte ich eine weibliche Stimme, die ich nicht für Helenas hielt.
„Wahrscheinlich das Abendessen von gestern“, erklärte Jack, bevor ich Schritte auf der Treppe vernahm.
Da ich nicht riskieren wollte, quer durchs Zimmer zum Schrank zu rennen, trat ich kurzerhand mit meinen Essen in der Hand ins Badezimmer und betete, dass sie nicht nach oben kommen würden.
„Nicht hier, Grace. Komm schon“, seufzte Jack, es folgten schlurfende Geräusche und das Klicken einer Gürtelschnalle.
Ich schnappte nach Luft, als mich die Erkenntnis traf. Wer zum Teufel war Grace?
„Ich will, dass du mich auf eurem Bett fickst. Dem Bett, das bald mir gehören wird.“ Sie wollte verführerisch klingen, doch es kam schwach und nicht sehr überzeugend rüber. Jack ging nicht darauf ein, er sprach jetzt gar nicht mehr. Ich hörte nur noch Küsse, dann das Quietschen der Bettfedern, gefolgt von Grace’ übertriebenem Gestöhne. Ich traute meinen Ohren nicht. Jack hatte eine Affäre. Sie kamen am helllichten Tag hierher, zum Mittagssex im ehelichen Zuhause. So viel zu Jacks und Helenas perfekter Liebesgeschichte.
Die Kamera an der Tür konnte also nicht funktionieren, es sei denn, Jack war so dreist, dass es ihm egal war. Ich glaubte nicht, dass das der Fall war, und außerdem sollte er doch bei der Arbeit sein, oder? Ich schaute auf die Uhr, es war halb zwei. Bestimmt hatte er nicht mehr viel Zeit. Während sie noch voll dabei waren, schlich ich zum Schrank, um mich zu verstecken und bei meinem Rucksack zu sein. Verdammt! Ich hatte ihn unten auf der Küchentheke liegen lassen.
Idiotin! Ich schimpfte mit mir selbst, mein Laptop war darin genau wie mein Portemonnaie samt Führerschein. Was hatte ich mir nur gedacht! Eigentlich sollte ich aus genau diesem Grund keine Ausweispapiere mit mir herumtragen, aber manchmal brauchte ich sie in Kneipen oder so, sonst würde man mich nicht bedienen. Wenn jemand den Rucksack fand, würde er sofort wissen, dass jemand hier gewesen war – und er würde auch wissen, wer. Und wenn diese Person die Polizei rief, konnte ich es kaum leugnen. Selbst wenn ich mich versteckte, würden sie das Haus durchsuchen und mich in kürzester Zeit finden. Ich würde alles beichten müssen.
Meine Brust zog sich schmerzhaft zusammen. Ich erstickte in diesem Kleiderschrank, es gab keine Luft. Und entweder spielte mir mein Gehirn einen Streich oder der Geruch von Bolognese drang aus der Dose in meinen Händen. Ich musste es riskieren. Ich musste nach unten schleichen und meinen Rucksack holen, aber als ich die Schranktür gerade aufstieß, hörte ich Jacks Stimme ganz nahe.
„Warte, ich muss noch schnell etwas erledigen.“ Jack näherte sich der Treppe, seine Schritte wurden lauter.
Ich drückte mich gegen die Wand. Die Schranktür stand etwa fünfzehn Zentimeter offen. Würde er es bemerken?
Weitere Schritte folgten, die oberste Stufe knarrte – ich hatte bereits gelernt, das zu vermeiden.
„Du musst es ihr sagen, Jack“, rief die Person, die ich jetzt als Grace kannte, vom Flur herauf.
„Das werde ich. Es ist kompliziert“, rief er zurück.
Hätte ich nicht solche Panik gehabt, entdeckt zu werden, hätte ich wohl die Augen verdreht. Kompliziert. Das war es immer für einen verheirateten Mann mit einer Affäre. Die arme hingehaltene Frau, ganz zu schweigen von der Ehefrau, die keine Ahnung hatte, was ihr treuloser Mann hinter ihrem Rücken trieb?
Ich hörte das vertraute Klicken von Porzellan, genau wie heute Morgen, dann stieg auch sie die Treppe hinauf, sie trafen sich hier oben. Ich sah in der Reflexion des Fensters, wie sie sich an ihn schmiegte und ihre Arme um seine Taille schlang. Mein Gott, sie war jung, etwa in meinem Alter. Was für ein Klischee.
„Willst du nicht mit mir zusammen sein, Jack?“ Grace’ Stimme klang wie Sirup, und mir blieb der Mund offen stehen, als sie seine Hand nahm und sie in ihre aufgeknöpfte Bluse schob. Er umfasste ihre Brust, und sie stöhnte, warf den Kopf in den Nacken und entblößte ihren Hals. Jack küsste ihn, wie sie es beabsichtigt hatte, und als wäre das ihr Signal, öffnete sie seine Hose und schob ihre Hand hinein.
„Grace, hör auf“, murmelte er, seine Augenlider flatterten – meine Wangen glühten derweil. „Ich muss zurück zur Arbeit.“
Ich wollte diesen privaten Moment nicht ausspionieren, doch ich konnte meinen Blick nicht abwenden. Grace kicherte und bewegte ihre Hand, bis er ihr Handgelenk packte.
„Hör auf“, sagte Jack atemlos.
„Du tust mir weh.“ Grace versuchte, ihre Hand wegzuziehen, aber er hielt sie fest.
„Spiel nicht mit mir.“ Seine Stimme war leise, die Worte bloß gezischt, dann ließ er sie los. Grace trat einen Schritt zurück und schmollte.
„Sag es ihr. Bald. Ich werde nicht ewig warten“, vermeldete Grace und stieg die Treppe wieder hinab. Jack fuhr sich mit der Hand durchs Haar und hob den Blick zum Himmel, bevor er seine Hose zuknöpfte und ihr nachlief. Er wirkte nicht wie ein verliebter Mann, eher wie einer, der ihre kindischen Forderungen satthatte.
Ich atmete tief aus, mein Magen verkrampfte sich erneut, weil ich gerade etwas mitbekommen hatte, das eindeutig nicht für meine Augen bestimmt gewesen war.
Minuten später schlug die Haustür zu, und in dem Moment fiel mir der Rucksack wieder ein. Ich wartete, bis die Luft sicher rein war, sprintete die Treppe hinunter und fand ihn noch genau dort, wo ich ihn zurückgelassen hatte. Die aufgestaute Anspannung entwich mit einem Mal aus meinem Körper. Ich nahm den Rucksack mit nach oben, wo mein Mittagessen auf mich wartete, auch wenn mir der Appetit gründlich vergangen war.
Heilige Scheiße, das hatte ich nicht erwartet. Nicht nach Helenas Instagram-Feed. Jack hatte also eine Affäre mit einer Frau namens Grace. Sie war nicht viel älter als ich, ähnlich groß und ebenfalls blond. Könnte sie die Frau sein, die an die Tür gehämmert und nach Helena gerufen hatte? Wollte sie ihr die Affäre offenbaren? Ich dachte an das Liebesspiel von letzter Nacht. Arme Helena, sie hatte offensichtlich keine Ahnung, dass ihr Mann sie betrog. Nicht nur das, sie hatten auch noch einen Sohn, der zwischen all dem stand. Was auch immer passiert war, es würde kein gutes Ende nehmen. Hatte Jack wirklich vor, sich scheiden zu lassen? Oder versprach er Grace nur, was sie hören wollte?
Ich hatte so viele Fragen, auf die ich keine Antwort wusste, und damit war dieses Haus interessant und potenziell gefährlich geworden, wenn Jack regelmäßig heimlich kam und ging. Ich musste viel vorsichtiger sein. Vielleicht sollte ich mich doch aus dem Staub machen, zurück zu Megan ziehen und nach einer anderen Bleibe suchen, aber jetzt musste ich einfach mehr wissen.
Die Bolognese füllte das Loch in meinem Magen, später ging ich wieder nach unten, um abzuwaschen und meine Thermoskanne aufzufüllen. Ich verbrachte ein wenig Zeit in Nathans Zimmer, trauerte um den Jungen, der seinen Daddy offensichtlich verehrte. Ohne groß darüber nachzudenken, schob ich eine kleine Tafel Schokolade unter das Kopfkissen neben seinen Dinosaurier-Pyjama. Das war ein schwerer Regelverstoß, aber die Situation rührte mich zutiefst, und jedes Kind braucht ein bisschen Schokolade in seinem Leben.
Oben suchte ich das Bad nach dem ab, was Jack versteckt hatte, doch der kleine Raum war praktisch leer. Dann veranlasste mich die Erinnerung an das Klick-Geräusch, den Toilettenspülkasten zu öffnen – und da war es, ein kleines schwarzes Android-Handy, eingewickelt in eine Sandwich-Tüte. Es musste das Handy sein, mit dem sie kommunizierten, ohne Verdacht zu erregen. Jetzt, wo ich so weit gegangen war, musste ich wissen, wie lange das schon ging. Aber leider war das Telefon mit einem PIN-Code geschützt, und mein erster Versuch – vier Nullen – brachte mich nicht weiter. Doch so leicht würde ich nicht aufgeben.
***
Blogbeitrag #2
www.phrogging.com
Eine Sache, die ich bei meiner dritten Phrogging-Erfahrung schon jetzt gelernt habe, ist, dass ich die Notwendigkeit von Recherchen gar nicht genug betonen kann! Beim ersten Mal war ich unvorbereitet, und der Ort, den ich ausgewählt hatte – ein Keller in einem Stadthaus – bot mir kaum Gelegenheit, die Familie zu beobachten. Ich hatte keine Ahnung, was über mir vor sich ging, und es war zu beängstigend, mich in die oberen Stockwerke des Hauses zu wagen. Ich habe es nur eine Woche dort ausgehalten. Danach habe ich mich online weiter informiert und hauptsächlich auf Informationen aus den USA zurückgegriffen, wo Phrogging weiter verbreitet ist. Natürlich sind die Häuser dort ganz anders und viel größer als bei uns!
Beim zweiten Mal fand ich Zugang zu einem ungenutzten Nebengebäude am Ende eines Gartens, aber dort war es kalt und feucht, und ich hielt es wieder nicht sehr lange aus. Die Lebensbedingungen waren für den Winter einfach zu schlecht. Vor meinem dritten Versuch habe ich mich deswegen vorher gründlich informiert, und noch mal: Ich kann gar nicht genug betonen, wie wichtig das ist.
Gestern bin ich durch den Garten im hinteren Teil des Grundstücks hineingekommen, der praktischerweise an eine stillgelegte Eisenbahnstrecke grenzt: Das war der gleiche Weg, über den ich das Objekt schon ein paar Wochen vorher heimlich beobachten konnte, und bisher ist noch kein Verdacht aufgekommen. Ich habe Zugang zum Haus bekommen, als gerade Handwerker im Garten waren und die Tür offen stand. Dadurch musste ich nicht einbrechen. Die Besitzer sind erst vor Kurzem eingezogen, es wurde viel renoviert. Eigentlich hatte ich gehofft, dass die Handwerker inzwischen fertig sind, aber zumindest sind sie nicht mehr im Haus selbst.
Aktuell habe ich Unterschlupf in einem ungenutzten Zimmer im obersten Stockwerk des Hauses gefunden. Es ist ein ausgebautes Dachgeschoss, das glücklicherweise über ein eigenes Badezimmer verfügt. Ich muss mich noch nach alternativen Verstecken umsehen, für den Fall, dass ich nicht in diesem Zimmer bin, wenn die Familie nach Hause kommt.
Leider hatte ich seit meiner Ankunft gestern bereits zwei riskante Situationen. Am Nachmittag meiner Ankunft kam plötzlich eine unerwartete Besucherin, die mich möglicherweise durch die Glasscheibe in der Haustür im Eingangsbereich auf der Treppe gesehen hat. Dann habe ich einen Anfängerfehler gemacht, damit ihr das nicht müsst: Ich habe heute meinen Rucksack unten liegen lassen, als einer der Eigentümer unerwartet am Mittag nach Hause kam. Nehmt eure Sachen immer mit, Leute! Ich wäre fast erwischt worden, zum Glück ist es in der kurzen Zeit, die er im Haus verbracht hat, nicht aufgefallen.
Ich habe etwas von ihrem Essen genommen, aber nicht so viel, dass es ihnen auffallen würde. Dabei habe ich darauf geachtet, keine Spuren zu hinterlassen. Ich habe das Geschirr gespült und alles wieder an seinen Platz gestellt, als wäre ich nie da gewesen. Das Gleiche gilt für die Dusche, die übrigens fantastisch war. Ich habe einen guten Platz zum Schlafen gefunden, an dem mich niemand sehen kann, und es ist ziemlich bequem. In der ersten Nacht war ich nervös, aber es ist alles gut gegangen, keine nächtlichen Streuner oder unerwarteten Gäste.
So weit lief alles gut, aber dann gab es heute eine ziemlich große Überraschung. Ich hatte ja erzählt, dass der Eigentümer zum Mittagessen nach Hause gekommen ist. Na ja, er hatte einen Gast dabei, und der war nicht zum Essen da, wenn ihr versteht, was ich meine. Der Familienvater, bei dem ich wohne, hat also eine Affäre. Ich weiß nicht, was ich mit dieser Information anfangen soll, aber wenn er heimlich nach Hause kommt, um seine Geliebte zu treffen, wirft das alle Routinen über den Haufen, die ich mir zurechtgelegt hatte.
Ich halte euch auf dem Laufenden, denn ich habe beschlossen, vorerst noch zu bleiben.
Kapitel sechs
Zurück im Schrank stellte ich sicher, dass mein Laptop auf stumm stand, und öffnete meinen Blog auf der Phrogging-Website. Er hatte ein paar Hundert Likes, was nicht schlecht war, und ich hatte versprochen, täglich zu schreiben. Trotz meiner endlosen Versuche, den Code von Jacks Geheimhandy zu knacken, kam ich nicht auf die richtige Kombination. Irgendwann ließ es keine Versuche mehr zu, also legte ich es zurück in den Spülkasten. Ich hatte es mit Nathans Geburtsdatum versucht und mit Jacks Hochzeitstag, den ich von Helenas Instagram-Account hatte, aber ich dachte mir schon, dass es etwas sein musste, das Helena nicht erraten konnte, falls sie das Handy fand.
Den zweiten Teil des Blogs zu schreiben war schwierig. Ich wollte genug Details preisgeben, um es interessant zu halten, aber nicht so viele, dass das Anwesen oder die Reilly-Familie identifiziert werden konnten, es ging schließlich um Untreue. Außerdem wollte ich auf keinen Fall, dass jemand meinen Standort herausfand, auch wenn ich nicht einmal erwähnt hatte, in welchem Landkreis ich mich befand. Ich konnte Fotos einfügen, aber auch das war zu riskant. Wie auch immer, es war eine gute Übung für mein Schreiben und in gewisser Weise auch fürs Berichten.
Ich wechselte zu meinem eigentlichen Job, öffnete mein Mailprogramm und sah, dass Des mir wie versprochen die Details zu meinem Treffen mit Jack Reilly und Claire Gilbert morgen um elf Uhr geschickt hatte. Der Gedanke, Jack unter normalen Umständen gegenüberzustehen, bereitete mir Magenschmerzen. Auch wenn er keine Ahnung hatte, wer ich war – ich hatte seine Unterwäsche auf dem Wäscheständer trocknen sehen und ihm zweimal beim Sex zugehört. Das war mehr als nur ein bisschen unangemessen.
Jetzt, wo das Haus wieder leer war, nutzte ich die Ruhe, um herumzuspazieren. Ich hielt mich bewusst von der Haustür fern, auch wenn diesmal niemand kam. Ich suchte nach einer Steckdose für die Überwachungskamera, fand aber keine. Vielleicht hatte der Vorbesitzer ein Abonnement gehabt, das inzwischen gekündigt worden war. Ich folgte auch meinem Plan, nach Verstecken suchen, falls ich hier unten mal festsitzen sollte. Das Gästebad neben dem Flur hatte einen großen Handtuchschrank, in den ich mich notfalls hineinzwängen konnte, außerdem fand ich eine Nische im Vorratsraum hinter dem Wäschekorb. Auch der Schrank unter der Treppe war groß genug und vollgestopft mit Mänteln, Gummistiefeln und einem Staubsauger. Er füllte den Bereich unter der Treppe ganz aus, und wenn ich mich dort hineinkauerte, wäre ich quasi unsichtbar, selbst wenn jemand seine Jacke herausholen würde. Es war praktisch, ein paar Verstecke im Haus zu kennen, in die ich mich im Notfall schnell zurückziehen konnte, falls jemand unerwartet nach Hause kam. Es wäre nämlich sehr dumm, anzunehmen, dass ich es jedes Mal wieder bis nach ganz oben schaffte.
Als ich genau dort wieder ankam, schaute ich unter den Betten nach. Nathan schlief auf einer Art Diwan mit Schubladen, das war also ein Flop, aber das Ehebett war aus Schmiedeeisen, darunter standen Aufbewahrungsboxen, in denen Helenas komplette Schuhsammlung verstaut war – sie war eindeutig süchtig. Als ich eine der Boxen herauszog, offenbarte sich mir ein pinker Spitzentanga, den ich mit einem Finger aufgabelte und weit von meinem Körper weghielt. Wer wusste schon, was ich mir von dem Teil einfangen konnte? Ich rümpfte die Nase bei dem Gedanken. Gehörte er wohl Helena oder Grace? Ich schnipste ihn dorthin zurück, wo ich ihn gefunden hatte, und warf daraufhin einen kurzen Blick in Helenas Unterwäscheschublade. Die leuchtend bunte Spitze sah nicht aus, als wäre es ihr Stil. Die Unterwäsche in der Schublade war nämlich aus schwarzer Spitze oder Seide, in gedeckten Farben und von Designermarken. Es war ein ziemlich billiger Versuch, wenn Grace ihren String dort für Helena hatte liegen lassen.
Während ich überlegte, was ich als Nächstes tun sollte, und bemerkte, dass Jack sich nicht einmal die Mühe gemacht hatte, die Bettlaken nach seinem Quickie mit Grace glatt zu ziehen, hörte ich, wie der Mercedes in die Einfahrt fuhr. Jack und Nathan kamen wenige Minuten später ins Haus, aber da war ich schon längst oben im Schrank und mit meinem Telefon beschäftigt.
Jacks Facebook-Account war so gut wie inaktiv, genau wie der von Helena. Er hatte ein paar Freunde, aber niemanden mit dem Namen Grace. Helenas Instagram-Account hatte jedoch mehrere Tausend Follower, viel zu viele, um alle durchzugehen. Aber ich hatte das Gefühl, dass ich auch dort keine Grace finden würde.
Wie gestern schon rannte Nathan nach oben, um sein iPad zu holen und seine Schuluniform auszuziehen. Er tobte wie ein Verrückter durch sein Zimmer, wühlte lautstark herum, dann wurde es für einen Moment ganz still.
„Dad! Dad!“, schrie Nathan, und mir stockte der Atem. Hatte er sich verletzt?
Schritte donnerten die Treppe hinauf und ich spitzte die Ohren.
„Was ist los?“, keuchte Jack.
„Die Schokoladenfee war da!“
Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen, als ich Nathans freudigen Schrei und das Rascheln der Verpackung hörte.
„Wo hast du das denn her, Kleiner?“, fragte Jack mit einem Anflug von überraschter Belustigung in der Stimme.
„Ich hab’s dir doch gesagt, von der Schokoladenfee!“
„Na, sie weiß bestimmt, dass du bald Geburtstag hast. Ich kann gar nicht glauben, dass du schon sieben wirst!“ Jack muss Nathan gekitzelt haben, denn dieser brach nun in kreischendes Gelächter aus.
Die Interaktion zwischen Vater und Sohn erfüllte mich mit Wärme, bis mir Grace wieder einfiel und der Gedanke das Bild zerstörte.
„Wir sagen Mum aber nichts davon, okay? Sonst kommt die Fee vielleicht nicht wieder.“
„Okay, Dad.“
Das Klingeln eines Telefons unterbrach den ruhigen Moment, in dem ich mir vorstellte, wie Jack Nathan umarmte.
„Hey, Honey“, sagte Jack, gefolgt von einer Pause. „Du weißt, ich habe heute Abend diese Sache … na ja, wann kommst du zurück?“
Ich hörte Jack im Flur umherlaufen und öffnete die Schranktür einen Spalt, um zu lauschen. Sein Tonfall klang genervt, und da das schwarze Telefon noch im Spülkasten lag, vermutete ich, dass er mit Helena sprach, nicht mit Grace.
„Verdammt noch mal … Ja, ich weiß … Ja, aber ich habe auch Verpflichtungen … Okay, weißt du was, ich rufe Sam an.“
Einer von beiden musste aufgelegt haben, denn ich hörte ihn etwas murmeln. Dann klang seine Stimme wieder fröhlicher, als er Nathan sagte, dass Sam vorbeikommen würde, um auf ihn aufzupassen. Wer war Sam, ein Babysitter?
Ich hatte kaum Zeit, den Schrank zu schließen, als Jack die Treppe hinaufstieg, um sein Handy aus dem Spülkasten zu holen. Er wirkte gestresst, als er auf dem Bildschirm herumtippte. Schrieb er Grace eine Nachricht? War sie „diese Sache“, die er heute Abend noch erledigen musste?
Als er wieder unten war, telefonierte er noch einmal, aber ich konnte nichts verstehen, kurz darauf stieg der Geruch von selbst gekochtem Essen auf. Im Zimmer wurde es langsam dunkel. Es dauerte noch einen ganzen Monat, bis die Uhren vorgestellt wurden, aber ich konnte die längeren Tage kaum erwarten. Ich verließ meinen Schrank, um zur Toilette zu gehen, da ich davon ausging, dass Jack, nachdem er das Telefon mitgenommen hatte, für eine Weile wegbleiben würde. Megan schrieb mir und fragte, ob ich mich mit ihr zum Abendessen treffen wolle. Nachdem sie gegessen hatten, sagte Jack zu Nathan, dass er jetzt duschen gehe. Es war inzwischen fast achtzehn Uhr und ich war nicht sicher, ob er noch ausgehen und Sam kommen würde, aber ich wollte Megan sehen und ihr versichern, dass es mir gut ging.
Als ich hörte, wie Wasser durch die Rohre plätscherte, stieg ich auf leisen Sohlen die Treppe hinunter ins erste Obergeschoss. Vom Flur aus sah ich Nathans Beine auf seinem Bett. Er lag auf dem Bauch und spielte vermutlich mit seinem iPad. Jack summte unter der Dusche, man hörte es deutlich durch die offene Badezimmertür. Ich ging vorsichtig dicht an den Wänden entlang, schlich an Nathans Zimmer vorbei und die zweite Treppe hinunter. Als ich unten ankam, klopfte jemand laut an die Haustür, und ich sah die Silhouette einer Person durch das Glas.
„Nathan, hat es an der Tür geklopft? Das ist Sam, machst du bitte auf?“, rief Jack aus dem Badezimmer.
Kleine Füße trippelten den Flur entlang, und ich rannte, so schnell ich konnte, in die Küche und durch die Terrassentür hinaus. Kalte Luft schnitt mir ins Gesicht, und ich verließ das Grundstück in Rekordzeit durch die kaputte Latte im Zaun.
***
„Oh mein Gott, er hat also eine Affäre?“, sagte Megan, als die Kellnerin uns zwei kleine Gläser Wein brachte. Ich hatte mich mit Megan in dem italienischen Restaurant nahe ihrer Wohnung verabredet und ihr eine Nachricht geschickt, als ich im Bus Richtung Innenstadt saß.
„Jep, und dann auch noch so dreist. Ich kann nicht glauben, dass er sie einfach mit nach Hause genommen hat.“ Ich kaute auf einem Grissini herum.
„Wow, toller Typ! Denkst du, er trifft sich heute Abend mit ihr?“
„Ich glaube schon, aber ich habe keine Ahnung, wo. Ich weiß nicht einmal, wer sie ist oder woher er sie kennt.“
„Sieht aus, als müsstest du noch ein bisschen recherchieren.“ Megan hob eine perfekt gestylte Augenbraue und lächelte. Sie wusste, dass ich bei Geheimnissen wie ein Hund mit einem saftigen Knochen war.
Als die Kellnerin zurückkam, bestellte ich Pasta carbonara – mein Lieblingsgericht. Auch wenn ich heute Mittag schon gegessen hatte, war ich immer froh um ein paar Extrakohlenhydrate, denn beim Phrogging wusste man nie, was die nächste Mahlzeit bereithielt oder wann es sie überhaupt geben würde. Trockene Cracker, Müsli und Toast waren Grundnahrungsmittel, die die Familie nicht vermisste. Man konnte natürlich auch sein eigenes Essen mitnehmen, aber ich fand, je weniger man besaß, desto leichter war es, im Zweifel schnell wieder abzuhauen.
Megan bot an, das Abendessen auszugeben, und bestellte für sich ein Spinatrisotto. Sie arbeitete in der Personalvermittlung, und der Februar war ein Rekordmonat gewesen, mit Provisionen für alle Auftragnehmer, die sie im Dezember und Januar vermittelt hatte. Sie war immer großzügig, weil sie wusste, wie wenig ich verdiente. Ich konnte es kaum erwarten, ihr etwas zurückzugeben und sie zur Abwechslung mal zum Essen einzuladen.
„Glaubst du, dass es mit der neuen Unterkunft klappt?“, fragte sie.
„Es ist noch zu früh, um das zu sagen. Bis jetzt war die Familie unberechenbar, deswegen weiß ich es noch nicht.“
„Mir gefällt das wirklich nicht, Mol. Was passiert, wenn du erwischt wirst? Und eines Tages wirst du das. Was passiert, wenn dich jemand ausgerechnet unter der Dusche findet? Du hast mir nicht mal gesagt, wo genau das Haus ist!“ Megan zog eine Grimasse, die sich aber schnell wieder normalisierte, als die Kellnerin mit unserem Essen kam.
„Es ist besser, wenn du es nicht weißt.“
„Hey, es ist doch nicht das Haus in der Church Road, oder?“
Jetzt war ich an der Reihe, einen unschuldigen Gesichtsausdruck aufzusetzen. Megan war schlauer, als gut für sie war, und wir waren schon so lange Freundinnen, dass es fast unmöglich war, etwas vor ihr zu verbergen.
Ich streckte meine Hand aus, um ihre zu berühren, als sie ihre Gabel nahm. „Alles wird gut.“
Sie sah mich mit stählernem Blick an, wohl wissend, dass ich ihrer Frage ausgewichen war. „Das hoffe ich auch! Ich will nicht irgendwann herausfinden, dass du unter irgendwelchen Dielen begraben wurdest.“