Leseprobe Der letzte Sommer | Der mitreißende Psychothriller voller unvorhersehbarer Wendungen

Kapitel eins

2005

Wir spielen eines unserer Spiele.

Warte im Sommerhaus auf mich,

stand auf dem Notizzettel.

Um Mitternacht. Zieh dein rotes Kleid an und lass die Unterwäsche weg. G xxx

Ich weiß, es gefällt dir, wie sich das rote Kleid an meinen Körper schmiegt, wie es in die Kuhle zwischen meinen Brüsten fällt und meine Hüften umschmeichelt, aber du hast mich noch nie explizit darum gebeten, es zu tragen. Bis heute Nacht.

Nun, genau genommen ist es nicht wirklich eine Bitte. Ein Lächeln umspielte meine Lippen, als ich es vorhin vom Kleiderbügel abgezogen habe, weil ich wusste, dass ich alles tun würde, was du von mir verlangst. All das ist Teil des Nervenkitzels, der Aufregung, nicht zu wissen, was als Nächstes passiert oder wie nah an meine Grenzen du mich bringen wirst.

Das Sommerhaus ist unser Zufluchtsort. Dieser einsame Teil des Gartens, weit weg vom Haupthaus, ist ein Ort der Geheimnisse. Sie gehören nur uns allein und niemand wird je erfahren, was sich im Innern dieses hübschen weißen Holzgebäudes, mit der Gewölbedecke und der getäfelten Tür, wirklich abspielt. Sobald die Kakophonie der Alltagsgeräusche unter dem Mantel der Dunkelheit verstummt, und während alle andern schlafen, erwachen wir Kreaturen der Nacht hier zum Leben. Nur dann kann sich mein wahres Ich entfalten.

Mein Blut brodelt voller Vorfreude, als ich mir den Weg über den Rasen bahne – trockenes Gras zwischen den Zehen und die Luft erfüllt von dem Duft nach Geißblatt, Lavendel und Jasmin. Mein aufgeregtes Herz schlägt schneller, als ich mich frage, welches Spiel es heute Nacht werden wird.

Sobald ich das Sommerhaus betrete, zieht der in der Mitte des Flurs platzierte Stuhl meine Aufmerksamkeit auf sich. Das Sitzpolster ist entfernt worden und der Schein der Petroleumlampe enthüllt einen roten Seidenschal, der über der Sitzfläche aus Holz drapiert worden ist. Darunter verbirgt sich eine weitere Notiz, die ich mit zitternden Fingern entfalte, bevor ich deine Worte lese:

Setz dich auf den Stuhl.

Leg die Augenbinde um.

Warte.

Beweg dich nicht und enttäusche mich nicht.

Ich erkenne deine krakelige Handschrift, stelle mir vor, wie deine langen, geschickten Finger den Stift umschließen, und Hitze rauscht durch meinen Körper, weil ich mir ausmale, wie deine Hände schon bald mich berühren werden.

Die Augenbinde ist neu bei unseren Spielen, aber ich verhülle bereitwillig die Augen und binde mir den Schal am Hinterkopf zu. Die Vorfreude verdrängt das Aufflackern der Beklemmung in meinem Bauch.

Ich fühle mich nicht unwohl, aber die Seide ist blickdicht, und während ich hier sitze und auf dich warte, kann ich absolut nichts sehen. Das schärft meine restlichen Sinne und so nehme ich alles andere wahr: das Ticken der Wanduhr, den Ruf einer Schleiereule und das Knarren des Stuhls unter mir, als ich mich vorsichtig bewege, um eine bequemere Position einzunehmen. Ohne das Polster ist der Sitz hart und nach einer Weile spüre ich, wie sich die Spindeln in meinen Rücken graben.

Obwohl die Temperatur leicht gesunken ist, gönnt uns die Schwüle keine Erholung. Es wird eine heiße Nacht werden, zu heiß zum Schlafen. Ich habe vor nicht einmal einer halben Stunde geduscht, aber schon jetzt ist mein Nacken feucht, meine Beine kleben durch den dünnen Stoff meines Kleides am Stuhl fest und der Schweiß rinnt mir in feinen Rinnsalen den Rücken hinunter.

Als die Tür endlich aufgeht, zucke ich zusammen. In Wahrheit habe ich keine Ahnung, wie lange ich gewartet habe, aber es kommt mir vor, als sei es eine Ewigkeit gewesen, und obwohl ich gewusst habe, dass du kommen wirst, erwischen mich die unerwarteten Geräusche deiner Ankunft eiskalt.

Der Schlüssel wird im Schloss umgedreht, dann höre ich wie die Vorhänge zugezogen werden, die uns vom Rest der Welt abschotten. Deine Schritte kommen näher, dann entfernen sie sich wieder und es dauert einen Moment, bis ich realisiere, dass du um mich herum gehst. Ich widerstehe dem Drang, herumzuzappeln, weil ich weiß, dass du mich musterst.

Ich nehme erst wahr, dass du hinter mir stehst, als du mit deinen Händen meine Schultern berührst. Deine Handflächen sind warm, auch wenn sich ihre Beschaffenheit fremd anfühlt. Mit einer leichten Berührung lässt du deine Finger über meine Arme nach unten gleiten. Dein vertrauter Duft erfüllt die Luft. Ich atme ihn tief ein und zwinge mich zur Ruhe, unterdrücke den Impuls, etwas zu sagen. Ich bin begierig darauf zu erfahren, was das Spiel heute Nacht in sich birgt, aber gleichzeitig bin ich mir der Regeln bewusst, die besagen, dass ich niemals danach fragen darf.

Nun führst du meine Hände hinter meinen Rücken und kurz frage ich mich, was du da tust, doch dann spüre ich, wie sich etwas um meine Handgelenke legt. Es ist ein Seil, denke ich, als es meine Haut streift, bevor du es festziehst und meine Hände zusammenbindest.

Zum ersten Mal flattert Angst in meinem Magen auf. Dieses Spiel ist dunkler, als wir es zuvor gespielt haben. Ich will etwas sagen, dir mitteilen, dass es wehtut, dass das Seil in mein Fleisch einschneidet, aber ich mache es nicht, weil ich befürchte, damit deine Wut auf mich zu ziehen.

Ich kann hören, wie du das Seil irgendwo befestigst, womit du meine Schultern nach hinten zwingst, sodass sie unangenehm gegen den Stuhl gepresst werden. Ich zerre versuchsweise an meinen Händen und Panik steigt in meiner trockenen Kehle auf, als mir klar wird, dass ich mich nicht befreien kann. Ein Wimmern entweicht mir.

Obwohl du auf das Geräusch nicht reagierst, bin ich mir sicher, dass sich hinter meiner Dunkelheit ein Lächeln auf deine Lippen legt.

Ich habe Angst, aber die Vorstellung, berührt zu werden, während ich hilflos bin, wärmt etwas tief in meinem Inneren. Meine Wangen glühen, sowohl vor Scham als auch vor Vorfreude, und doch flackert wieder Furcht in mir auf, als du mit deinen Händen meine Knöchel packst und sie an die Vorderbeine des Stuhls bindest.

Ich zucke zusammen, als sich das Seil tief in meine Haut gräbt. Es sitzt zu stramm. »Bitte, hör auf, du tust mir weh.«

»Psst.«

Ich hatte nicht sprechen wollen, aber dieses Spiel ist anders als die anderen. Auch vorher hast du Anweisungen erteilt und mich manchmal bestraft, aber nie zuvor habe ich mich bei dir so unsicher gefühlt. Bis jetzt.

Heute Nacht befürchte ich, dass wir eine Grenze überschreiten werden.

Ich zittere, mein Herz pocht wild, weil ich mich vor dem fürchte, was als Nächstes passiert, aber dann höre ich, wie der Schlüssel im Schloss umgedreht wird, sich die Tür öffnet und wieder schließt, und stelle fest, dass du gegangen bist.

Allein, gefesselt an den Stuhl in diesem unerträglich heißen Raum, warte ich; meine Vorstellungskraft gerät außer Kontrolle.

Wohin bist du gegangen?

Kommst du zurück?

Besteht dein Plan darin, mich zu vögeln oder mich hier zurückzulassen?

Wirst du mir wehtun?

Bei dem letzten Gedanken bricht echte Panik in mir aus und ich kämpfe darum, mich zu befreien. Aber die Fesseln sitzen zu fest. Ich bin schweißgebadet, das rote Kleid klebt an meiner Haut und die Binde auf meinen Augen ist nassgeschwitzt. Meine Hände und Füße kribbeln und meine Schulterblätter schmerzen von der Position meiner Arme.

Ich will, dass du zurückkommst und mich losbindest.

Augenblicke später berühren deine Hände wieder meine Schultern. Ich schreie auf und stemme mich gegen den Stuhl.

Es war ein Trick. Zu wissen, dass du die ganze Zeit hier gewesen bist und mich beobachtet hast, stichelt mich weiter auf.

»Bitte, lass mich gehen.«

Ich weiß, dass ich nicht sprechen soll, aber die Dinge sind zu weit aus dem Ruder gelaufen.

Erneut bringst du mich mit einem »Psst« zum Schweigen. Dieses Mal legst du mir die Finger an die Lippen, die den Geruch nach Gummi tragen, und ich begreife, warum sich deine Berührungen anders angefühlt haben. Du trägst Handschuhe. Warum hast du sie an?

Jetzt habe ich wirklich Angst. »Lass uns aufhören. Ich mag dieses Spiel nicht.«

Du ignorierst mich und beugst dich vor, wobei dein warmer Atem mein Ohr streift, bevor du endlich zu mir sprichst: »Das ist kein Spiel.«

Auf die Erkenntnis folgt das Entsetzen. Am Ende begreife ich, wie gefährlich meine Lage ist.

Kapitel zwei

Heute

Nichts hatte sich an der Umgebung verändert.

Lana Hamilton ließ die Schlüssel in ihrer Hand klimpern und nahm sich einen Moment Zeit, um das Haus zu betrachten: die Erkerfenster, die drei Schornsteine und die gelben Rosen, die sich um die Haustür rankten.

In letzter Zeit kam sie nur noch selten hierher. Bei ihren früheren Besuchen hatte ihre Großmutter, Nana Kitty, stets an der Haustür auf sie gewartet und sie mit einem Lächeln im Gesicht begrüßt.

Diesmal war alles anders.

Kitty hatte nun in der Familiengruft auf dem Friedhof in der Nähe der St Andrews Church im bezaubernden Marktstädtchen Holt in North Norfolk ihre letzte Ruhestätte gefunden. Auf dem Weg zum geliebten Haus ihrer Großmutter war Lana am Friedhof vorbeigefahren, hatte dort Blumen niedergelegt und dabei versucht, den bevorstehenden Verkauf des Hauses sich selbst gegenüber zu rechtfertigen.

Lana und ihr Zwillingsbruder Ollie hatten das Haus geerbt. Doch sie hatte immer gewusst, dass sie es nicht behalten konnten. Ihr Leben war in Cambridge, Ollies in London. Selbst wenn es möglich gewesen wäre, niemand von ihnen wollte das Haus bewohnen. Nicht nach dem, was mit Camille passiert war.

Der Mord an ihrer Schwester lag siebzehn Jahre zurück, aber der Schmerz war deswegen nicht vergangen. Camille war gerade einmal neunzehn gewesen, als sie starb, und die Zwillinge zwei Jahre jünger. Ihr Tod hatte alles verändert, auch die Verbindung zu Mead House.

Ollie war nach dem Abschluss seines Studiums nur wenige Male zurückgekehrt. Weil die Erinnerungen zu sehr schmerzten, Lana ihre Großmutter aber nicht im Stich lassen wollte, war sie immer nur auf einen Sprung vorbeigekommen. Auch heute war sie nur da, weil das Haus geräumt werden musste, bevor es auf den Markt gehen konnte.

Es ärgerte sie, dass Ollie sich so sehr aus der Verantwortung gezogen hatte und sie gezwungen war, alles allein zu machen. Angeblich konnte er sich von der Bank, bei der er angestellt war, nicht freistellen lassen. Zwar hatte Matt, ihr Exfreund, angeboten, Lana zu begleiten, aber die Trennung war noch frisch, und sie wollte ihm keine falschen Signale senden.

In Wahrheit kam ihr die Auszeit sogar gelegen, sie konnte sie gerade gut gebrauchen. Ihr Vorgesetzter bei der Zeitung hatte ihr den langen Urlaub von sechs Wochen genehmigt. Als Grafikdesignerin hätte sie theoretisch von überall auf der Welt arbeiten können, aber das Haus auf Vordermann zu bringen, war zeitintensiv. Da war es einfacher, sich ganz darauf zu konzentrieren. Geld stellte kein Problem dar – sie hatte einige Rücklagen. Und sobald das Haus verkauft wäre, würde sie über ein solides finanzielles Polster bei der Bank verfügen. Allerdings hatte die Sache einen schalen Beigeschmack, denn dieser Wohlstand ging mit dem Verlust ihrer Großmutter einher.

Kittys Tod war ein gewaltiger Schock. Zwar bereits in ihren Achtzigern, war sie immer noch agil und voller Energie gewesen. Umso härter hatte es Lana getroffen, sie durch einen absurden Unfall zu verlieren. Sie war die Treppe hinuntergestürzt. Und was es noch schlimmer machte, war, dass Lana nicht mehr die Gelegenheit genutzt hatte, ein letztes Mal mit ihrer Großmutter zu sprechen.

An dem Tag, an dem sie gestorben war, hatte sie Lana angerufen und ihr eine Nachricht hinterlassen, die sich noch immer auf ihrem Handy befand. Darin bat Kitty sie um einen Rückruf. Allerdings verbrachte Lana den gesamten Nachtmittag in Meetings, und als sie die Nachricht abgehört hatte, war es bereits zu spät, um noch zurückzurufen.

Gott sei Dank waren ein paar Freunde ihrer Großmutter für einen geselligen Bridge-Spielabend vorbeigekommen und hatten sie durch das Fenster im Flur entdeckt, ansonsten hätte ihre Leiche dort noch tagelang liegen können.

Wenn Lana ihr Erbe für ein weiteres Jahr mit Kitty versetzen könnte, würde sie es, ohne zu zögern, hergeben. Stattdessen gab es nur eine Nachricht, die möglicherweise die letzten, von ihrer Großmutter gesprochenen Worte, enthielt.

Die Erinnerungen waren noch präsent, als sie sich zum Betreten des Hauses überwand und die Tür öffnete. Ihr Gepäck war immer noch im Kofferraum, aber das konnte warten. Gerade wollte sie nichts anderes, als für ein paar Minuten in Erinnerungen zu schwelgen. Ihre Mutter war an Krebs gestorben, als Lana noch ein Kleinkind gewesen war und ihr Vater, Kittys einziges Kind, hatte sich nur ein paar Jahre später vorzeitig ins Grab gesoffen. Nana Kitty hatte ihre drei Enkelkinder bei sich aufgenommen und so war Mead House zu ihrem Zuhause geworden.

Obwohl Lana und ihre Geschwister später auf einem Internat waren, hatten sie ihre gesamten Ferien hier verbracht. An den langen, trägen Sommertagen spielten sie im Garten oder schwammen im Pool. Und zu Weihnachten brachte ihre Großmutter haufenweise Nippes aus der Stadt mit und verwandelte diesen Ort in ein Wintermärchen.

Das Haus stand auf einem weitläufigen Stück Land, nur wenige Kilometer von Holt entfernt. Das große Landgut, erbaut in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts und versteckt hinter einer langen Auffahrt, war ein Ort des Glücks gewesen. Bis das mit Camille passierte. Aber Kitty hatte es auch nie nur in Erwägung gezogen, umzuziehen. Seit der Hochzeit mit Lanas Großvater, bei der sie Anfang zwanzig gewesen sein musste, hatte sie darin gelebt. Ihr Großvater war lange vor der Geburt seiner drei Enkelkinder gestorben, Kitty hatte nach ihm niemand anderen geheiratet.

Lana hasste die Vorstellung, wie ihre Großmutter allein in dem großen Haus umhergeirrt sein musste, wusste aber gleichzeitig, dass Kitty niemals zugestimmt hätte, es zu verlassen. Es war das Familienanwesen.

Als sie die Haustür aufstieß, sah der helle und luftige Flur noch genauso aus wie in ihrer Erinnerung. Die Wände, die im immergleichen fröhlichen Narzissengelb gestrichen waren, die breite Treppe, die gerade nach oben verlief, und selbst das morgendliche Sonnenlicht, das durch das große Fenster oberhalb der Treppe hereinfiel, sich im überdimensionalen Kronleuchter spiegelte und die einzelnen Kristalle funkeln ließ.

Wenn ihre Großmutter noch am Leben wäre, würden in der Vase auf dem Tisch im Flur frisch gepflückte Frühlingsblumen aus ihrem Garten stehen und der Duft nach Kiefer von der Möbelpolitur in der Luft hängen.

Stattdessen roch es leicht nach Moder und um die Vase hatte sich Staub gelegt. Inzwischen war es schon Juni und damit waren beinahe zwei Monate seit der Beerdigung vergangen. Die Zeit hatte ihre Spuren hinterlassen.

Rechts befand sich das Wohnzimmer – ein großer, aber einladender Raum, der von einem riesigen Kamin dominiert wurde.

Lana blieb am Kaminsims stehen, auf dem zwei Bilder von den drei Geschwistern immer noch einen Ehrenplatz einnahmen. Eines davon zeigte sie als Kinder. Sie und Ollie mit dem dunklen Haar und der olivfarbenen Haut, ihre ältere Schwester mit ihrem feuerroten Haar in ihrer Mitte. Die Zwillinge trugen das gleiche zahnlose Lächeln auf den Gesichtern, während Camille selbstsicher und elegant wirkte, obwohl sie damals erst acht Jahre alt gewesen sein musste. Das Einzige, was auf eine Familienähnlichkeit hindeutete, waren die beinahe schwarzen Augen. Auf dem anderen Foto waren sie älter. Lana meinte, sich erinnern zu können, dass es nicht lange vor Camilles Tod aufgenommen worden war.

Über ihr halbes Leben lang hatte sie ihre Schwester nicht gesehen, und doch stand das Bild von ihr, in diesem letzten gemeinsamen Sommer, Lana glasklar vor Augen. Camille war schlank, blass, hübsch und beinahe mit einer ätherischen Schönheit gesegnet gewesen. Und ein Blick in ihre dunklen Augen verhieß Geheimnisse.

Neben ihr war sich Lana immer ungeschickt vorgekommen. Sie war der lottrige Wildfang mit den kurz geschnittenen Haaren und der zerknitterten Kleidung. Während Camille schöne Kleider getragen und ihre freie Zeit mit Lesen oder Tagebuchschreiben verbracht hatte, war Lana auf Bäume geklettert und hatte sich mit Ollie und seinem besten Freund Xav gerauft.

Heute trug sie ihr Haar länger und hatte ihre Abneigung gegen Kleider abgelegt, auch wenn sie diese öfters mit Turnschuhen kombinierte. Dennoch würde sie ihrer Schwester in Punkto Eleganz niemals das Wasser reichen können.

Als Nächstes ging Lana in den Wintergarten und ließ ihren Blick über den dahinter liegenden Garten schweifen; über die großzügige Terrasse und den Pool nah am Haus, über den weiten Rasen, der im Juni von den leuchtenden Farben der Frühblüher gesäumt war. Weiter zu der Reihe von Nadelbäumen am Ende des Rasens, hinter dem der Rosengarten angelegt war. Schließlich erkannte sie den Anfang eines Weges, der durch den Obstgarten zum abgelegenen Sommerhaus führte.

Irgendwann würde sie dorthin gehen müssen. Aber nicht heute.

Sie war nicht mehr in das Sommerhaus gegangen, seit Camilles Leiche dort aufgefunden worden war, hatte aber im Internet genügend Informationen entdeckt, um sich die Szene bildhaft vorzustellen. Ihre Schwester nackt, an einen Stuhl gefesselt, der Körper übersät mit Schnitten, Schrammen und abscheulichen Parolen.

Lana versuchte das Bild aus ihren Gedanken zu verdrängen. Camilles Mörder saß im Gefängnis und sie hatte dabei geholfen, ihn dorthin zu bringen. Der Gerechtigkeit war Genüge getan, auch wenn es ihre Schwester nicht zurückbrachte und die Situation nicht leichter machte.

Sie brauchte einen Schluck Wasser. Wenn sie an Camille oder daran, was ihr zugestoßen war, zurückdachte, wurde ihr immer übel. Sie würde etwas trinken und dann ihre Taschen aus dem Auto holen.

Die Küche mit ihren leicht veralteten Eichenmöbeln war früher das Herzstück des Hauses, aber nun fühlte sie sich leer an, was wahrscheinlich der Grund dafür war, weshalb ihr der Kaffeebecher sofort ins Auge stach.

Die übrige Arbeitsfläche wirkte penibel aufgeräumt, wie kam dann der Becher auf die Arbeitsplatte, der völlig deplatziert wirkte?

Der Becher weckte Lanas Neugier, beunruhigte sie aber nicht weiter, bis sie ihn in die Hand nahm und feststellte, dass der Kaffeesatz am Boden noch immer warm war.

War jemand im Haus?

Während ihr der Gedanke durch den Kopf ging, knarrte die Decke über ihr und das unmissverständliche Geräusch von Schritten ertönte vom Flur her. Ihre Schultern spannten sich an.

Sollte sie sofort die Polizei rufen oder erst, nachdem sie nach draußen gerannt wäre? Lana dachte über die Möglichkeiten nach, die ihr zur Verfügung standen, als ein lauter Schrei durch die Luft schallte.

Kapitel drei

Das Geräusch eines nahenden Motors vor der Tür und der unter den Rädern knirschende Kies ließen Xavier Landry mit dem Pinsel in der Hand ans Fenster treten. Sein Herz sank, als er den Range Rover erblickte.

Er war nicht in der Stimmung für Besuch, vor allem nicht für diesen, und schätzte es nicht, bei seiner Arbeit gestört zu werden. Er starrte auf die nackte Frau auf seiner Leinwand. Ein Bein abgespreizt. Einzelne Haarsträhnen aus dem lockeren Knoten gelöst. Er malte nie ihre Gesichter. Für ihn blieben sie alle anonym.

»Xav? Bist du oben?«

Herrgott! Hatte sie überhaupt angeklopft? Er sollte sich angewöhnen, die Tür abzuschließen.

Frustriert fuhr er sich mit der Hand durchs Haar, legte den Pinsel ab und machte sich auf den Weg zur Tür seines Ateliers, an der er mit Trudy Palmer zusammenstieß, als sie gerade eintreten wollte.

Sie spähte über seine Schulter, als er sie zurück in den Flur drängte.

»Ist das ein neues Stück für die Ausstellung? Darf ich es sehen?«

»Es ist noch nicht fertig.« Xav schloss die Tür. Sie wusste, dass er seine Werke ungern zeigte, solange sie nicht fertiggestellt waren. »Was machst du hier, Trudy?«

»Ich habe Kuchen mitgebracht und dachte, wir könnten uns vielleicht über den Verkauf und die Veranstaltung eines weiteren Künstlerabends unterhalten. Der letzte ist ein voller Erfolg gewesen.«

Das war er und sie hatten mehrere Gemälde verkauft. Dennoch fragte er sich, wie viele Leute nur wegen seines Bruders in ihrem kleinen Laden gewesen waren.

Ehrlich? Xav hatte schon immer den öffentlichen Teil seiner Arbeit verabscheut. Es war ein Element seines Jobs und das verstand er, deshalb hatte er für eine geraume Weile mitgespielt, aber er war hierher zurückgekehrt, um ein ruhiges Leben zu führen. Er fühlte sich am glücklichsten, wenn er sich einfach von der Welt abschotten und malen konnte.

»Das war doch erst vor ein paar Monaten. Wir sollten länger warten.«

»Und uns so mögliche Verkäufe entgehen lassen? Ich könnte in anderen Bereichen dafür werben, um ein neues Publikum anzusprechen. So finden die Leute einen Zugang zu deiner Kunst«, drängte Trudy ihn, als wäre sie die Besitzerin einer Galerie und nicht eines kleinen Kunst- und Handwerksladens in Holt. »Sie lieben dich, Xav. Den grüblerischen französischen Künstler.«

»Ich bin nur zur Hälfte Franzose«, erinnerte er sie. »Und ich lebe hier schon länger als dort.«

»Unwichtige Details.« Trudy wischte seine Bedenken beiseite. »Du sprichst die Sprache und bezauberst sie mit deinem Akzent.«

»Ich habe gar keinen Akzent.« Zumindest hatte er ihn kaum noch. Xav war kurz nach dem Tod seines Vaters mit seiner Mutter und seinem Bruder nach England gezogen. Da war er neun gewesen, und obwohl er in seinen Zwanzigern ein paar Jahre in Frankreich verbracht hatte, war die Küste von North Norfolk der Ort, an dem er sich am heimischsten fühlte.

»Du solltest dich nicht unter Wert verkaufen, mein Lieber. Du bist das perfekte Gesamtpaket.«

Trudy fixierte sein Gesicht mit einem sehnsüchtigen Ausdruck in den Augen. Mist!

Wenn Xav seine Fehler auflisten würde, dann fiele das Missverstehen von Signalen eindeutig darunter. Trudy war nicht wirklich da, um über den Verkauf zu reden, und wieder verfluchte er sich innerlich dafür, mit ihr geschlafen zu haben. Ein dummer Fehler unter Alkoholeinfluss, den er immer und immer wieder bereuen würde.

Trudy war nicht unattraktiv, aber der Funke sprang einfach nicht über. Zumindest nicht bei Xav. Er kannte sie schon lange. Während der Schulzeit war sie einen Jahrgang unter ihm gewesen. Xav hatte die Stadt verlassen, nachdem sein Bruder Sebastian im Gefängnis gelandet war, weil er den Klatsch und die neugierigen Blicke nicht ertragen konnte, und blieb dann lange fort. Seine Mutter wohnte allerdings noch immer da, und da sie sich geweigert hatte, ihr Haus zurückzulassen, und mit den Jahren nicht jünger wurde, war er vor einem Jahr zurückgekehrt. Damals war Trudy eine der ersten gewesen, die ihn willkommen geheißen hatten.

Es war okay, mit ihr befreundet zu sein, aber er wollte keine Beziehung mit ihr führen.

»Du hast da etwas Farbe.«

»Wie bitte?«

»Auf deiner Wange.«

Trudy leckte sich über den Daumen und streckte die Hand aus, um den Fleck wegzuwischen, aber Xav fing ihre Hand ab.

»Ich will, dass du gehst.«

»Was? Aber ich habe Kuchen mitgebracht.« Trudy machte sich erst gar nicht die Mühe, ihre Enttäuschung über seine Direktheit zu verbergen.

Der Mangel an Diplomatie stünde ebenfalls auf seiner Liste.

»Nimm ihn wieder mit. Ich habe schon gegessen. Es ist gerade kein guter Zeitpunkt. Ich muss wirklich zurück an die Arbeit.«

»Wir müssen uns über das Geschäft unterhalten, Xav. Du kannst dich hier nicht einfach einsperren.«

Sie klang ein wenig genervt und er wollte nicht mit ihr streiten. Obwohl er auf das Geschäft mit Trudy Palmer nicht angewiesen war, arbeitete er gern mit ihr zusammen, und man musste ihr zugutehalten, dass sie sich ein Bein ausriss, um seine Werke zu verkaufen, nachdem er wieder nach Norfolk gezogen war.

»Ich muss morgen in die Stadt. Wie wär’s, wenn ich dich anrufe und wir uns da treffen? Das neue Gemälde könnte ich mitbringen, es sollte dann fertig sein.« Er schenkte ihr ein Lächeln und stellte erleichtert fest, dass sich die Fältchen auf ihrer Stirn etwas glätteten.

»Versprichst du es?«

»Ich verspreche es.« Geh jetzt einfach.

»Vielleicht trinken wir dann einen Kaffee zusammen?«

»Hmm, vielleicht.«

Es gelang ihm, sie die Treppe hinunter und aus seinem Haus zu bugsieren. Nachdem sie in ihr Auto gestiegen war, zog er die Tür zu und schloss sie diesmal ab.

Hector, sein übergewichtiger getigerter Kater, der auf einem der Küchenstühle lag, sah auf, wobei er den Eindruck erweckte, als hätte ihn die Unterbrechung verärgert. Missbilligung zeichnete sich auf seinem gestreiften Katzengesicht ab.

»Ja, ich weiß, es ist meine eigene Schuld«, murmelte Xav und ging wieder nach oben.

In seinem Atelier griff er erneut zum Pinsel, tauchte ihn in Farbe und strich mit der Sicherheit einer geübten Hand über die Leinwand.

Die Details waren entscheidend und das Gemälde hatte einen Farbtupfer nötig.

Die Wölbung des Rückens, der gestreckte Hals und der rote Schal, den sie nun in ihrem Haar trug.

Kapitel vier

Für einen Moment erstarrte Lana vor Panik. Jemand war in Nana Kittys Haus ermordet worden.

Ihre Augen weiteten sich, als auf den Schrei ein lautes Kichern folgte, das von einem weiteren Schrei begleitet wurde. Letzterer hatte eindeutig nach Vergnügen und eindeutig nach einer Frau geklungen.

Es war Mittwochmorgen. Wer zum Teufel hielt sich im Haus auf?

Vielleicht hätte sie trotzdem die Polizei rufen sollen, aber Lanas Angst war verraucht und in Wut umgeschlagen. Bewaffnet mit dem alten Rounders-Schläger, den sie im Spielzimmerschrank gefunden hatte, marschierte sie, bereit zum Angriff, die Treppe hinauf. Nachdem sie Xavier Landrys Nase damit gebrochen hatte, als sie vierzehn gewesen waren, wusste sie, dass sie mit dem Ding einigen Schaden anrichten konnte.

Fairerweise musste sie zugeben, dass es nicht ihre Schuld gewesen war. Ollie und Xav hatten ihr einen Streich gespielt. Sie waren zu dritt allein zu Hause gewesen und hatten sich einen Horrorfilm angesehen. Als Lana aufs Klo verschwunden war, beschlossen ihr herzallerliebster Bruder und sein bester Freund, sich zu verstecken. Sie war schon durch den Film ganz aufgedreht gewesen, als Xav dann noch aus seinem Versteck heraussprang und sie erschreckte, hatte sie nicht gezögert, den Schläger zu schwingen. Das hatte ihr eine Woche Hausarrest eingebracht, aber das war es trotzdem wert gewesen, denn danach schien Xav sie mit völlig neuem Respekt zu betrachten.

Bei der Erinnerung an den Ausdruck in seinen Augen bei ihrer letzten Begegnung zog sich Lanas Magen stärker zusammen als bei dem Gedanken an die Bedrohung, die oben auf sie lauerte.

Du bist für mich gestorben. Lass mich verdammt noch mal in Ruhe!

Sie erinnerte sich an den Hass in seinem Gesicht, wusste, dass jedes seiner Worte ernst gemeint war. Selbst nach all den Jahren tat es noch immer weh.

Lana versuchte ihn aus ihren Gedanken zu verdrängen und konzentrierte sich auf das Geräusch, das sie gehört hatte. Inzwischen hatte sie den Flur erreicht, die Schlafzimmertüren standen alle offen. Alle, außer einer.

Ihr altes Schlafzimmer.

Sie zögerte. War die Frau dort drin?

Wie zur Bestätigung hörte sie ein weiteres Kichern hinter der geschlossenen Tür und dann gedämpfte Stimmen.

Lana drückte die Klinke zu ihrem Schlafzimmer langsam herunter und schob die Tür behutsam auf. Durch den entstandenen Spalt konnte sie ihr zerwühltes Bett erkennen und eine nackte Frau, die darin saß. Ein Barbiepüppchen mit einer qualmenden Zigarette in der einen und einem Handy in der anderen Hand.

Was zum Henker?

Lana stieß die Tür weit auf und rauschte ins Zimmer, den Schläger bereit zum Schlag, wenn nötig.

»Was zum Teufel hast du in meinem Haus verloren?«

Die Augen der Frau wurden groß, ihr klappte der Kiefer herunter. Als ihr auffiel, dass ihre nackten Brüste Freigang hatten, musste etwas dran glauben. Bedauerlicherweise war es die Hand mit der brennenden Zigarette, für die sie sich entschied, um ihre Blöße zu bedecken.

»Meine Bettdecke!«

»Scheiße!« Endlich ließ Barbie das Handy fallen und langte hastig nach ihrer Zigarette, die nun auf der Bettdecke qualmte. Mit weit aufgerissenen Augen schrie sie: »Nolly, komm sofort hier raus!«

Die Tür zum anschließenden Badezimmer flog auf und Lana umklammerte den Griff des Schlägers fester. Mit offenem Mund starrte sie ihren Bruder an, der heraustrat.

»Ollie? Was zum Henker?«

»Diese Verrückte hat mich angegriffen.«

»Lana? Was machst du denn für Sachen?« Ollie, mit einem Handtuch um seine Hüften und einem entsetzten Ausdruck im Gesicht, glotzte abwechselnd zwischen ihnen hin und her.

»Nolly. Sag dieser Frau, wer auch immer sie ist, dass sie aus unserem Zimmer verschwinden soll!«

»Nolly?« Lana senkte den Schläger zur Seite. Sie ignorierte ihren Bruder und wandte sich an die Barbie: »Sein Name ist Ollie. Ohne N. Und fürs Protokoll: Das ist mein Zimmer, nicht eures.«

Ollie griff sich an den Kopf, typisch für Ollie Hamiltons Panikmodus. Er beschloss, es mit Humor zu versuchen. »Also, vielleicht ist das nicht der beste Zeitpunkt, um euch einander vorzustellen, aber Lana, das ist meine Verlobte Elise. Elise, das ist meine Schwester Lana.« Er ließ ein Lachen folgen, als beide Frauen ihn finster anfunkelten.

»Was tust du hier, Ollie?«

»Die Decke in meinem Zimmer hat ein Leck und Elise gefiel der Blick aus deinem. Wir können auch ein anderes nehmen, wenn das ein Problem ist.« Er warf Elise einen besorgten Blick zu und sagte schnell, als ihre Miene sich verdüsterte: »Aber es macht dir doch nichts aus, oder? Wir wohnen bereits seit Jahren nicht mehr hier.«

Lana seufzte. »Ich meinte, was machst du hier? In diesem Haus?«

»Du hast mir doch gesagt, ich solle kommen.« Ollies Stimme hatte einen gereizten Unterton angenommen. »Weißt du es nicht mehr? Du warst echt patzig am Handy und meintest, ich solle meinen Teil der Verantwortung erfüllen.«

»Ich dachte, du könntest dir nicht freinehmen?«

»Nun, ich hab’s geklärt.«

Lana sah abwechselnd ihren Bruder und Elise an.

Er hatte recht, sie hatte ihn gebeten, zu kommen. Trotzdem hätte sie nicht damit gerechnet, dass er auftauchte und schon gar nicht, dass er Gesellschaft mitbrachte. Es versetzte ihr einen Stich, dass ihr Zwillingsbruder es nicht für nötig gehalten hatte, sie über seine Verlobung zu informieren. Ihr war nicht klar gewesen, dass es ihm mit jemandem ernst war. Zur Beerdigung, die erst vor zwei Monaten stattfand, war er allein gekommen. Lana hatte den Großteil der Organisation übernommen und mit Ollie hauptsächlich über WhatsApp kommuniziert. Zu keinem Zeitpunkt erwähnte er eine Verlobte.

Rückblickend musste sie sich eingestehen, dass sie an diesem Tag nicht viel miteinander gesprochen hatten. Sie standen beide unter Schock und kämpften gegen ihre Trauer an, während sie sich für die Beileidsbekundungen bei den Trauergästen bedankt hatten.

Lana schob den Schmerz beiseite und ermahnte sich selbst, dass er jetzt hier war, und das war alles, was zählte. Vielleicht bot sich ihnen die Chance, um reinen Tisch zu machen und einen Neuanfang zu wagen.

Aber das bedeutete, dass sie auch Elise eine neue Chance geben musste. Lanas erstem Eindruck nach zu urteilen, war sie kein Fan von ihr, und sie war sich ziemlich sicher, dass Kitty ihre Meinung teilen würde, aber um Ollies willen gab sie sich einen Ruck.

Sie rang sich mühsam ein Lächeln ab. »Du hast recht. Ich bin froh, dass ihr beide da seid. Tut mir leid. Ich wollte hier nicht einfach so hereinplatzen und dich erschrecken, Elise. Ich dachte, das Haus sei leer und geriet in Panik.« Sie schaute ihren Bruder an. »Ich habe dein Auto gar nicht gesehen.«

»Ich habe es in die Garage gestellt«, erwiderte er.

Das ergab Sinn. Sie schenkte Elise ein weiteres Lächeln. »Ehrlich, ich bin keine keuleschwingende Psychopathin. Fangen wir nochmal neu an? Ich bin Lana.«

Elise schnaubte und für einen Moment glaubte Lana nicht, dass sie ihre dargebotene Hand ergreifen würde, aber dann schüttelte sie sich kurz. »Elise«, sagte sie steif.

»Wo ist Matt?« Ollie blickte sich um.

Es war nicht der richtige Zeitpunkt, um ihm von ihrer missglückten Beziehung zu erzählen. »Ich bin allein gekommen.«

Ollie verengte die Augen. Als sie noch jünger waren, hatten die beiden das volle Zwillings-Programm durchgezogen, aber mittlerweile war Lana überzeugt, dass er viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt war, um ihre Gemütslage zu erfassen. Umso überraschter war sie, als seine Miene plötzlich weicher wurde. »Ich konnte den Typen sowieso noch nie leiden.«

Sie zuckte mit den Schultern. »Ist auch am besten so.«

Der Moment wurde durch Elise unterbrochen, als sie laut seufzte. Eine unverhohlene Andeutung, dass sie sich langweilte. Als wäre bei Ollie ein Schalter umgelegt worden, verschloss er sich sofort wieder.

»Also macht es dir nichts aus, wenn wir in diesem Zimmer bleiben?«, fragte er.

»Nein, bleibt ruhig hier. Ich nehme das Zimmer von Camille.«

Lana war immer noch verärgert, dass sie ihr altes Kinderzimmer in Beschlag genommen hatten, ohne sie vorher zu fragen, aber sie hatten sich schon eingerichtet und das war den Streit nicht wert.

Sie ließ Ollie und Elise allein, holte ihre Taschen aus dem Auto, schleppte sie die Treppe hinauf und den Flur entlang zum alten Zimmer ihrer Schwester. Als sie die Tür öffnete, war es, als wäre sie in der Zeit zurückgereist. Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Sie hatte vergessen, wie sehr das Zimmer noch immer das Heiligtum ihrer Schwester war. Die Wände waren cremefarben gestrichen, das Doppelbett mit einer altrosa Tagesdecke bezogen und mit einem Stapel Kissen dekoriert worden. Lana wusste, dass Kitty es niemals über sich gebracht hätte, sich von Camilles Sachen zu trennen. Die Kleidung ihrer Schwester hing im Schrank und das Make-up und die Parfümfläschchen waren auf dem eleganten Schminktisch mit dem großen dreiteiligen Spiegel verstreut.

Es sah und fühlte sich genauso an wie früher, nur der Geruch war anders. Siebzehn Jahre Moder hafteten allem an und übertünchten den einst vertrauten Duft nach Blumen.

Lana ging zum Fenster, stieß es auf und ließ die warme Sommerluft herein.

Genau wie ihr altes Kinderzimmer lag auch Camilles Zimmer auf der Rückseite des Hauses. Von hier oben hatte man eine gute Sicht. Der Gärtner war auf Lanas Wunsch geblieben, um sich um das Grundstück und den Swimmingpool zu kümmern. Direkt unter ihr glitzerte das Wasser in der Junisonne, während der Rasen dahinter in satten Farben erstrahlte.

Hellviolettes Eisenkraut hob sich vom Blau des Lavendels und vom Gelb der Primeln vor einer Regenbogenwand aus gut gepflegtem Rhododendron ab.

Steinstufen führten durch den Torbogen am Gebüsch vorbei und in den geliebten Rosengarten ihrer Großmutter, dann zum Obstgarten hin und weiter zu den Bäumen in der Ferne. Dahinter konnte sie das Dach des Sommerhauses erkennen.

Nach dem Mord war Lana von schrecklichen Albträumen heimgesucht worden, in denen sie versuchte, Camille in dieser letzten schicksalhaften Nacht zu warnen. Die Schreie ihrer Schwester verfolgten sie und sie bemühte sich verzweifelt, ihr zu Hilfe zu eilen. Wie mochten ihre letzten Augenblicke gewesen sein? War sie sich bewusst gewesen, dass sie sterben würde?

Eine lange Zeit hatte Lana sich die Schuld gegeben und geglaubt, dass sie Camille vor dem Tod hätte bewahren können. In jener Nacht hatte sie ihre Schwester und Sebastian Landry gehört und kurz darauf gesehen, wie Camille den Rasen überquerte, weshalb sie sich sicher war, dass sie sich am Sommerhaus treffen wollten. Lana erinnerte sich noch, wie romantisch sie es damals empfunden hatte.

Und während sie nichtsahnend langsam in das Reich der Träume geglitten war, hatte Sebastian ihre Schwester erdrosselt.