Leseprobe Zwölf Nächte | Ein fesselnder Psychothriller

Kapitel eins

Die frisch gestrichenen, grauen Wände des fensterlosen Kellerraumes waren nicht nur sauber, sondern geradezu steril.

Sie war allein, isoliert von allem, was sie kannte. Nicht einmal eine Kellerassel fleuchte über den Boden. Die Stille hatte sich in ihren Ohren festgesetzt. Keine Geräusche, außer ihrem eigenen Atem und diesem Tropfen. Ein beständiges Pling. Alle dreiundzwanzig Sekunden. Sie hatte mitgezählt, auch wenn die Zeit hier keinen Maßstab hatte. Einundzwanzig. Zweiundzwanzig … Pling. Es riss an ihren Nerven. Immer, wenn sie glaubte, es endlich ignorieren zu können, strafte das Geräusch sie Lügen und hämmerte sich in ihr Bewusstsein zurück. Sie rutschte etwas, suchte eine andere Position auf der durchgeschwitzten Matratze. Stechender Schmerz brannte in ihren Gelenken und in ihrem Rücken. Sie japste nach Luft, suchte nach einer Zuflucht. Nach etwas, auf das sie ihre Aufmerksamkeit legen konnte. Die Wände waren allesamt feucht. Nicht mehr lange, und es würde sich Schimmel bilden, der eben jene schwüle Nässe als Nährboden nutzte.

Unscheinbar zuerst, dann stetig wachsend. Bald würde er wuchern, über die Wände und den Boden, giftig die Luft durchdringen und sich in den Lungen erst festsetzen und diese im Anschluss von innen zersetzen.

Sie sah zur Decke, wo die einzige Lichtquelle hing. Eine Glühbirne, die an einem herabhängenden Kabel baumelte. Die Glasoberfläche wies keinerlei Staub auf, nur kleine Sprenkel von Farbe, die dunkle Schatten an die klammen Wände warfen.

Der sie umgebende Wandton schien in einer tieferen Schattierung zu verweilen als die meisten der winzigen Sprenkel auf dem Glas.

War der Schimmel alles, was durch die Farbe verdeckt wurde? Oder war da noch mehr? Sie schloss die Augen, legte ihre Hand auf den Bauch und atmete flach. Das T-Shirt war feuchtkalt, wie der Rest ihrer Kleidung. Sie ballte ihre Hand zusammen. Erneut brachen Schmerzen über sie herein. Das Stechen in ihrer Hand, das in die Fingerspitzen wanderte. Schnitte an ihrem Arm, die heiß brannten und bei der Bewegung pochten. Frustriert schrie sie laut auf. Keine Tränen. Nicht mehr. Nur Verachtung, die bei jeder Gelegenheit aus ihr herausbrach. Jeder schmerzende Muskel, jede pochende Wunde mahnte sie zur Vorsicht. Trotzdem ging sie ihre Optionen noch einmal durch.

Die Glühbirne spielte in jedem erdenklichen Szenario eine tragende Rolle. Das Abwasserrohr war zu massiv, um es zu bewegen. Die metallische Fußfessel, die ihre Bewegungsfreiheit auf ein paar Schritte in jede Richtung reduzierte, schadete ihr mehr, als dass sie nützlich wäre. Es verblieb nur das Kabel, an dem statisch ihre einzige Lichtquelle hing. Zu weit oben, um sie ohne Hilfsmittel zu erreichen.

Doch selbst, wenn sie die Lampe irgendwie zu fassen kriegte – was dann? Was nützte es? Die vergebliche Hoffnung wäre nur ein weiterer Stich, der sich zu all den kleinen Schnitten gesellte. Sie hätte Zuflucht in der Dunkelheit suchen können. Dann hätte sie glauben können, noch dieselbe Frau zu sein, die sie vor einigen Tagen war. Oder waren es schon Wochen? Der einzig zuverlässige Zeitmesser war das Pling, das sie alle dreiundzwanzig Sekunden traktierte. Aus dem Schutz der Finsternis heraus hätte sie ihn wieder anspringen können, wie sie es zuvor getan hatte. Mit dem Trotz, der einfach nicht sterben wollte. Wenn sie das Glas zerschlüge, die Scherben scharf genug wären … vielleicht hätte sie eine Chance. War sie beharrlich genug, vermochte sie möglicherweise eine Botschaft in das Mauerwerk zu schaben.

Hoffnungsvolle Worte, wütende Worte, die bezeugen würden, dass ihr Kampfgeist, ihr Überlebenswille, nicht gebrochen wurde. Ein letzter Hilfeschrei, der ungesehen und ungehört verhallen und mit der nächsten Farbschicht verschwinden würde.

Möglich. Aber vielleicht wären es ihre Worte, die den entscheidenden Hinweis geben würden. Eine Anklage, die nicht ignoriert werden konnte. Ein lautlos hallender Schrei, der zu heulenden Sirenen anwachsen könnte.

Doch wer würde die Worte lesen? Hier an diesem Ort?

Eine andere, unglückliche Frau?

Die Nächste, die zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort war?

Vermutlich.

Die steile Holztreppe knarzte und schreckte sie aus ihren Gedanken auf. Jeder Schritt war von einem dumpfen Stöhnen begleitet, als ob die alten Dielen dagegen protestierten, nach all den Jahren noch immer genutzt zu werden.

Die Schritte waren langsam, bedächtig und hörten plötzlich auf.

In dieser erdrückenden Stille, die lediglich durch das sporadische Plätschern eines Wassertropfens oder das Knacken eines alten Metallrohres unterbrochen wurde, schien die Zeit selbst innezuhalten.

Als ob das Gebäude selbst den Atem anhielt, um zu lauschen.

Emily schloss die Augen, um sich zu sammeln, und wappnete sich. Sie presste ihre rissigen Lippen aufeinander, ihr Mund war ausgetrocknet, der Hals rau. Selbst das Atmen fiel ihr schwer. Ihr Körper schrie nach Flüssigkeit.

Kaum hatte er die Kette gelöst, hastete sie in Richtung der Treppe, die die Freiheit versprach. Sie kam nicht weit.

Rücksichtslos stieß er sie zu Boden. Sie zappelte, keilte in alle Richtungen aus, während er ihr den Strick um den Hals legte. Die Schlinge, ein zerschlissenes Seil, zog sich zu und schnitt ihr ins Fleisch, drückte ihr die Luft ab. Sie versuchte, die Hand in die Schlinge zu bekommen, zwischen Hals und Seil. Der Zug um ihren Hals wurde stärker, helle Punkte leuchteten vor ihr auf. Dann wurde ihr Sichtfeld kleiner und dunkel.

Immer, wenn die Bilder vor ihren Augen verschwammen und sie in die Erlösung der Bewusstlosigkeit abdriftete, wurde für einen Moment der Zug um ihren Hals gelockert. Einen Atemzug, nur einige Herzschläge lang, konnte sie dann frei atmen.

Ihr Ellenbogen fuhr nach hinten aus, während sie um sich schlug und kratzte. Was dann geschah, ging so schnell, dass sie es kaum realisieren konnte. Mehrere Schläge trafen sie. Der letzte so hart auf den rechten Wangenknochen, dass sie ihr Blut schmeckte und spürte, wie ein Zahn splitterte.

„Nicht, bitte nicht …“ Sie röchelte und spuckte aus, ehe ihr wieder die Sinne schwanden. Ein grausames Spiel.

Der Strick schnitt in ihren Hals. Ihr Nacken war nach hinten gestreckt, gefährlich überdehnt. Dann knackte etwas in ihr und sie sackte vollends in sich zusammen.

Kapitel zwei

In Sportkleidung war Nora mit der Metro bis zum Battersea Park gefahren, einer ihrer liebsten Laufstrecken in London. Die Bäume standen kahl da, dunkle Silhouetten gegen den grauen Himmel. Trotz der Trostlosigkeit tat ihr die Bewegung gut. Es war ihr Ventil. Ohne diese Routine würden ihre Gedanken überquellen. Hier draußen, Schritt für Schritt, konnte sie sie sortieren.
Ihre Muskeln brannten angenehm. Der Weg führte am Wasser entlang. Auf der sonst glatten Oberfläche des Sees formte der Wind kurzlebige Muster, die sofort wieder verschwanden. Sie lief, bis sie die Abzweigung fast erreicht hatte. An ihrem Handgelenk vibrierte es dezent. Eingehende Nachricht. Sie warf einen kurzen Blick auf das Display. Zach. Detective Chief Inspector Zachary Dallison war nicht der Typ Mensch, der Nachrichten schickte, um auf eine Antwort zu warten. Er benutzte sie als Vorwarnung, ein Hinweis, dass etwas sofort geklärt werden musste. Während sie langsamer wurde, veränderte ihr Herzschlag seinen Rhythmus. Wieder vibrierte die Uhr. Diesmal begleitet von einem dauerhaften Signalton in ihren Kopfhörern. Nora zog eine vom Wind gelöste rote Strähne aus ihrem Gesicht. Dann richtete sie ihre Kopfhörer, brachte ihren Atem unter Kontrolle und nahm den Anruf an. „Brandt“, sagte sie knapp.
„Wann können Sie im Epping Forest sein? Es gab einen Leichenfund.“ Seine Antwort kam ohne eine Einleitung, ohne eine Begrüßung oder sonst ein überflüssiges Wort.
Für einen Moment dachte sie an ihren ursprünglichen Plan: Heimfahrt. Dusche. In Ruhe etwas essen. Ein entspannter Start in einen langen Arbeitstag. Daraus würde jetzt nichts werden.
Der Epping Forest lag am anderen Ende der Stadt, ein zeitintensives Ziel mitten im Berufsverkehr. In Laufkleidung konnte sie unmöglich an einem Tatort auftauchen. Also hieß es: Metro zurück, schnelle Dusche, Kleidung wechseln und dann weiter mit dem Auto.
Sie öffnete auf dem Smartphone die Verkehrslage und überflog sie mit zusammengezogenen Augenbrauen. Perfekt sah anders aus.
„Etwa neunzig Minuten“, sagte sie schließlich, obwohl sie wusste, dass diese Schätzung mehr als optimistisch war.
„Wo sind Sie gerade? Laufen, nehme ich an?“
Seine Stimme klang beiläufig, aber sie kannte ihn gut genug, um den unausgesprochenen Unterton zu hören: Natürlich laufen Sie. Natürlich jetzt.
„Battersea Park“, antwortete sie. Eine kurze Pause.
„Ich schicke Ihnen die Einzelheiten.“
Die Verbindung trennte sich.

Kaum steckte Nora den Schlüssel ins Schloss, sprang die Tür bereits nach innen auf. Lauren stand barfuß im Türrahmen, ein Glas Rotwein in der Hand, ihr Lächeln breit, warm und ansteckend.
„Du bist ja früh zurück. Bist du eine neue Bestzeit gelaufen?“

Nora schnaubte. „Schön wäre es. Es ist etwas dazwischengekommen.“ Sie ließ sich ins Sofa fallen. Lauren setzte sich neben sie, so nah, dass sich ihre Knie berührten.
„Kommst du heute mit auf die Party? Vielleicht wäre das genau das Richtige. Ablenkung.“
„Ich brauche keine Ablenkung. Im Gegenteil, ich muss direkt weiter. Kann ich mir eine Tasche leihen?“ Lauren nickte Richtung Küche.
„Oben auf dem Regal oder in der Abstellkammer. Wenn du mutig bist, nimm die Abstellkammer. Aber ich übernehme keine Verantwortung für das Gleichgewicht der Innenarchitektur.“

Nora legte eine Hand in ihren Nacken und zog sie in eine feste, dankbare Umarmung.
„Ich bin wirklich froh, dass ich hier sein darf“, sagte sie leise, den Kopf an Laurens Schulter gelehnt. „Solange du willst.“ Lauren löste sich aus der Umarmung und gab ihr einen spielerischen Stoß gegen den Arm.
„So. Genug Sentimentalität. Ich schmeiß gleich asiatische Nudeln zusammen, mit allem, was der Kühlschrank hergibt.“ Beim Umdrehen fiel Noras Blick auf den kleinen Beistelltisch. Dort lagen sauber ausgeschnittene Papierstreifen, ordentlich gestapelt.
„Und das wird was genau? Moderne Kunst?“ Lauren grinste.

„Das ist für ein Ritual.“
„Bitte sag nicht Kristalle, Vollmond und Räucherstäbchen?“
„Jetzt mach dich nicht über mich lustig.“ Lauren verschränkte die Arme und hob das Kinn. „Es ist etwas Schönes. Ich schneide dir auch welche aus, wenn du magst.“
„Lauren, ich muss wirklich …“
„Es dauert nur eine Minute! Heute Nacht beginnen die Raunächte. Die zwölf Nächte zwischen den Jahren, beginnend in der Nacht vom 24. auf den 25. Dezember. Man sagt, in dieser Zeit kannst du Altes loslassen und Neues in dein Leben einladen.“

Nora blinzelte skeptisch.
„Du nimmst dreizehn kleine Zettel und schreibst auf jeden einen Wunsch fürs neue Jahr. Du faltest sie und in jeder Nacht ziehst du einen und verbrennst ihn, ohne vorher nachzusehen, welcher deiner Wünsche es war. Damit gibst du den Wunsch ab. Ans Universum, ans Leben, woran auch immer du glaubst.“
„Aber du sagtest, es sind zwölf Nächte. Wieso hast du dann dreizehn Zettel?“
Laurens Mundwinkel zogen sich zu einem geheimnisvollen Lächeln hoch.
„Genau die richtige Frage. Der dreizehnte Zettel bleibt übrig. Den verbrennst du nicht. Er zeigt dir, welchen Wunsch du selbst in die Hand nehmen musst. Wofür du aktiv werden musst.“
Nora atmete durch, stand vom Sofa auf und ging schnell in Richtung des Badezimmers. „Ich muss jetzt ganz klar unter die Dusche.“
„Und wenn du von der Arbeit zurück bist, wartet eine Portion Nudeln im Kühlschrank. Die kannst du dir warm machen“, rief Lauren ihr hinterher.

Vielleicht war Loslassen tatsächlich genau das, was sie im Moment brauchte, aber Rituale gehörten definitiv nicht zu den Dingen, an die sie glaubte.

Kapitel drei

Der Fundort lag mitten im Wald, verborgen in einer Mulde hinter einer Lichtung, abgeschieden und schwer zugänglich. Nora lenkte den Wagen vorsichtig über den unebenen Waldweg. Die Scheinwerfer tasteten sich durch die aufziehende Dunkelheit. Entlang des letzten befahrbaren Abschnitts standen mehrere Dienstwagen in unordentlicher Reihe. Sie manövrierte den Wagen in die Lücke zwischen zwei Einsatzfahrzeugen. Der Weg knirschte unter den Reifen. Die Luft war durchzogen vom erdigen Geruch des Waldbodens und dem fernen Hauch von Regen. Nora warf einen Blick auf ihre Uhr, dann in den Himmel. Der Tag hatte sich bereits klammheimlich verabschiedet und war dem Abend gewichen. Kaum hatte sie die Tür geöffnet, trat ein junger Constable auf sie zu, eine Taschenlampe in der Hand. „Detective Sergeant Brandt?“ Seine Stimme klang höflich, aber angespannt.

Nora nickte und holte ihre Einsatztasche aus dem Kofferraum. Der Constable deutete mit der Lampe in Richtung des schmalen Pfades, der vom Weg abzweigte.

Sie reichte ihren Dienstausweis an ihn weiter.

Um ihn zu lesen, hielt er den Strahl der Taschenlampe darauf. „Das letzte Stück ist nur zu Fuß zugänglich. Ich bringe Sie hin.“

Der Pfad war schmal und uneben, gesäumt von dichtem Unterholz, das sich wie eine natürliche Barriere um sie schloss.

Die Kollegen hatten tragbare Lampen aufgestellt, deren Lichtkegel die Dunkelheit durchbrachen. Nora sah das Flutlicht in der Dämmerung schon von Weitem.

„Es ist nicht mehr weit“, erklärte der Constable, ohne sich umzudrehen. „Hinter der Lichtung, in einer Mulde. Die Spurensicherung ist bereits vor Ort. Da müssen Sie gleich etwas aufpassen, es ist sehr rutschig.“ Er hielt an und ließ den Lichtkegel der Lampe über die Lichtung gleiten. „Gehen Sie an diesem Baum vorbei und folgen Sie der Spur aus Leuchtstäben, bis Sie das Absperrband erreichen.“

Nora nickte knapp und ließ den Blick kurz über die Lichtung schweifen. Ein umgestürzter Baumstamm wirkte wie eine Grenze zwischen der relativen Normalität des Pfades und der Realität, die dahinter lag. Sie zog die Schultern zurück. Anspannung setzte sich in ihrem Nacken fest. Nora nahm den Ganzkörperanzug entgegen, den ein Kollege ihr wortlos reichte, und zog ihn über ihre Kleidung. Das leise Rascheln der Kapuze und das enge Einschnappen der Handschuhe waren ihr vertraut.

Der Epping Forest war ihr nicht fremd. Nora verschaffte sich einen Überblick über das Areal. Mindestens fünfzehn Kollegen der Spurensicherung waren vor Ort. Ihre Schritte waren vorsichtig, ihre Bewegungen präzise. Sie dokumentierten jeden Zentimeter und sicherten jede Spur. Es war ein mühsamer Prozess, der stundenlang dauern konnte. Sie hob das Absperrband an und trat über die Grenze.

Der Leichnam war das Epizentrum der Aktivität. Kameras klickten in kurzen Abständen. Lichtblitze ließen die Szenerie für Sekundenbruchteile aufleuchten. Nora blieb einige Meter vom Leichnam entfernt stehen, nahm ihn in Augenschein.

„Schön, dass du dich auch blicken lässt“, sagte jemand. Die Stimme klang vertraut, aber durch die Maske gedämpft. Nora drehte den Kopf und sah Detective Constable Maxwell Blaines, der sie mit einem eindringlichen Blick musterte. Nur seine Augen waren sichtbar, der Rest seines Gesichts war durch die Schutzmaske verborgen.

„Ich bin so schnell wie möglich gekommen, ich war noch am Laufen.“ Sie zog die Schultern leicht hoch, als könnte sie die Entschuldigung damit unterstreichen. „Also, was haben wir bislang?“

„Weiblich, weiß, schwarze Haare. Ich würde sie auf höchstens Mitte zwanzig schätzen“, antwortete Maxwell knapp und deutete mit einem Nicken auf den Leichnam.

„Haben wir schon Erkenntnisse zu ihrer Identität?“

„Bisher nicht. Kein Ausweis oder sonstige Unterlagen.

Dr. Campbell ist mit dem Fall betraut.“ Er zeigte an ihr vorbei auf einen der Männer in Blau, der sich gerade erhob und in weitem Bogen um den Körper herumging.

„Wie ist sie umgekommen?“, fragte Nora in seine Richtung.

„Ich würde von Tod durch Erdrosseln ausgehen“, erwiderte Dr. Campbell. Nora folgte ihm, bis sie unmittelbar vor dem Leichnam standen und sie das Gesicht in allen Details sehen konnte. Das, was davon übrig war. Die Haut war an einigen Stellen aufgerissen. Der Schädelknochen lugte darunter hervor. Der Mund stand weit offen, die Lippen zurückgezogen, als hätte sie im letzten Moment noch etwas sagen wollen. Die Zähne ragten hervor. In der leeren Augenhöhle zogen sich letzte Gewebefetzen, die wie zähe, klebrige Spinnweben an den Rändern hafteten. Campbell kniete sich hin, hielt seine Hand einige Zentimeter über dem Körper. „Die Strangulationsspuren sind markant, tief, symmetrisch, mit klarem Druckpunkt. Genaueres weiß ich erst nach der Obduktion. Es gibt noch andere Verletzungen, die ihr prämortal zugefügt wurden. Sauber geführte, tiefe Schnitte. Stumpfe Gewalteinwirkung, mehrfach, an verschiedenen Stellen.“ Während seiner Erläuterungen zeigte er auf verschiedene Körperstellen. Er machte eine kurze Pause und suchte Noras Blick. „Da hat jemand gewusst, was er tut.“

Nora ließ ihren Blick über den nackten Körper der Frau gleiten. Sie schätzte das Opfer ebenfalls auf Mitte zwanzig, einige Jahre jünger als sie selbst. Die blasse Haut und die dunklen, klaffenden Verletzungen bildeten einen starken Kontrast.

„Gibt es Hinweise auf einen sexuellen Übergriff?“

„Keine offensichtlichen Anzeichen, aber das heißt nichts.“

Nora nickte langsam. Der Körper der jungen Frau wirkte so zerbrechlich, fast wie eine Puppe, die jemand achtlos in den Wald geworfen hatte.

„Seit wann liegt sie hier?“

„Ich würde sagen, circa drei Wochen.“

„Okay. Noch etwas, das ich direkt wissen sollte?“

„Ja. Sie hat Verteidigungsverletzungen an den Händen. Manche sind bereits verheilt. Den genauen Zeitraum kann ich erst bestimmen, wenn ich sie auf dem Tisch habe. Über einen längeren Zeitraum wurden ihr verschiedene Verletzungen zugefügt. Und hier haben wir etwas sehr Interessantes“, sagte er und deutete auf eine markante Stelle am Hals. Mit Zeigefinger und Daumen umrahmte er ihr Kinn und bewegte ihren Hals so, dass die rechte Seite des Halses ihnen zugewandt war. „Das sieht aus, als hätte ein eigenwilliger Knoten zusätzlichen Druck auf den Hals ausgeübt. Dieses Muster zieht sich über den gesamten Hals. Es wurde also fortwährend mit demselben Werkzeug gearbeitet.“

„Eigenwillig“ war eine präzise Beschreibung für das Muster, das sich auf dem Fleisch abzeichnete. Das Muster war unregelmäßig, aber wiederkehrend wie eine Signatur. Nora stand auf und ächzte leise. Ihre Beine waren noch schwer vom Laufen.

„Ich nehme an, es handelt sich nicht um den Tatort?“ Nora warf einen Seitenblick auf die Umgebung, die aus dichtem Unterholz und Laub bestand.

„Das würde ich ausschließen. Ich gehe davon aus, dass sie hier abgelegt wurde.“

„Wurde sie danach noch mal bewegt?“

„Na, wir haben sie sicher nicht so hergerichtet“, antwortete Campbell und hob eine Augenbraue.

Nora ließ sich nicht beirren. „Dann frage ich anders: Wer hat sie gefunden? Hat derjenige sie bewegt?“

Bevor Campbell antworten konnte, trat Maxwell einen Schritt vor. „Zwei Kinder. Ein Spaziergänger war auf zwei völlig überforderte Jungen gestoßen. Sie sind jetzt zu Hause und werden psychologisch betreut. Sie haben hier gespielt. Der Jüngere der beiden hat sie auch direkt berührt, am Arm“, sagte Maxwell.

Nora fuhr sich mit der Hand über ihren Arm. Sie hasste diese Marotte an sich, konnte sie aber nicht ablegen, wenn sie sich wegen einer Vorstellung unwohl fühlte. „Wie kommen sie damit klar?“

„Sie haben sich erschrocken und werden vielleicht ein paar Albträume haben, aber sie werden klarkommen“, antwortete Maxwell. „Die Jungs haben denselben Weg genommen wie wir. Ich vermute, es gibt nur diesen Trampelpfad. Er liegt ja nicht mehr direkt auf dem Hauptweg, aber wir halten unsere Augen nach Zugängen zur Lichtung offen.“

Campbell ließ seinen Blick über die Lichtung schweifen. „Entschuldigt mich kurz.“

Nora und Maxwell sahen ihm nach. Mehrere Kollegen waren dabei, weitere Flutlichter aufzustellen, doch er schien mit der Positionierung nicht zufrieden zu sein und wies sie entsprechend zurecht.

„Sollten wir mit den Jungen reden?“, fragte Maxwell und blickte auf sie herab.

„Ohne die Identität der Frau zu kennen, können wir ohnehin noch nicht richtig in die Ermittlungen einsteigen. Also ja, wenn die Kinder entsprechend stabil sind, können wir das gleich abhaken.“ Ohne Zeugen gab es keine Befragungen. Dr. Campbell, so kollegial er auch war, neigte dazu, forsch zu werden, wenn man ihm zu lange im Weg stand. Und da sie auch nicht die Arbeit der forensischen Techniker übernehmen konnten, blieb etwas Zeit, um sich um die Formalitäten zu kümmern.

Pauls und Connors Familien wohnten nah beieinander in einer ruhigen Nachbarschaft, die nur eine kurze Autofahrt vom Wald und vom Polizeirevier entfernt war. Der Vorgarten von Pauls Familie war, trotz der Jahreszeit, auffallend gepflegt. Das Gespräch fand im Wohnzimmer statt und war kurz und sachlich. Nora glaubte, einen nördlichen Akzent herauszuhören, und vermutete, dass die Familie aus der Gegend um York stammte.

Bei Connors Familie hingegen wehte ein ganz anderer Wind. Schon von der Straße aus hörten sie lautes Rufen, das eher einem Brüllen glich. Für Nora klang es, als würde Connors Mutter gerade ihren gesamten Frust in die Welt hinausschreien. Hier war mehr Fingerspitzengefühl gefragt.

„Ich verstehe, dass dies ein sehr anstrengender Abend für Sie und Ihre Familie ist“, sagte Nora mit ruhiger Stimme. „Erinnerungen brauchen oft Zeit, um sich zu festigen, können aber auch schnell verblassen. Deshalb ist es für uns wichtig, Connor nach möglichen Auffälligkeiten zu befragen, die ihm heute aufgefallen sein könnten.“ Nora beobachtete die Frau mit wachsendem Argwohn.

Insgeheim tat ihr der Junge leid. Connor zwang sich förmlich, ihr in die Augen zu schauen, doch sein Blick wanderte immer wieder ängstlich zu seiner Mutter. Es war offensichtlich, dass sie ihm eingeschärft hatte, bloß nichts Falsches zu sagen, vielleicht, um zu vertuschen, dass er völlig unbeaufsichtigt gewesen war. Genau das hatte Nora bereits von Paul erfahren: Es war bei Connors Mutter gang und gäbe, dass sie auch für längere Zeit abwesend war. Der ältere Bruder war auch nur noch selten im Haus.

Nachdem Connors Mutter ihn mehrmals mit Behauptungen unterbrochen hatte, dass er so etwas ja nie mache, nie allein in den Wald gehe und sie sich schließlich Sorgen gemacht habe, obwohl längst klar war, dass sie nicht im Haus gewesen war, atmete Nora tief ein. Sie bedeutete Maxwell, das Gespräch mit Connor zu übernehmen, und wandte sich an Connors Mutter. „Könnten Sie bitte kurz mit mir in den Flur kommen? Ich habe noch eine Frage, die ich mit Ihnen klären möchte“, sagte sie mit gespielter Freundlichkeit. Es war ein Vorwand, aber ein notwendiger. Der Junge brauchte Raum, um frei sprechen zu können, ohne den Druck seiner Mutter, die ihm die Worte im Mund verdrehte.

„Ihr Sohn hat in einer sehr schwierigen Situation instinktiv das Richtige getan und Hilfe gesucht. Außerdem hat gerade jemand seine Tochter, seine Freundin, seine Partnerin oder vielleicht Mutter verloren. Um diesen Menschen eine Antwort zu geben, warum ihr geliebter Mensch nicht nach Hause gekommen ist, müssen wir allen Fragen nachgehen“, erklärte sie ruhig. Gerne hätte sie noch einiges hinzugefügt: „Stellen Sie Ihre verdammt kleingeistigen Befindlichkeiten bitte zumindest für fünf Minuten hinten an. Sie sind hier nicht die Leidtragende. Das sind die tote Frau, ihre Angehörigen und auch Ihr scheinbar vernachlässigter Sohn.“ Doch sie biss sich auf die Zunge. Stattdessen spielte sie auf Zeit und stellte der Frau einige Fragen zu dem bisherigen Tagesablauf, während sie darauf wartete, dass Maxwell die Befragung abschließen konnte. Als er schließlich zurückkam und ihr mit einem kurzen Nicken signalisierte, dass alles erledigt sei, verabschiedeten sie sich hastig.

„Gab es Probleme?“, fragte Maxwell, als sie im Wagen neben ihm Platz genommen hatte.

„Nur ein kurzes Abstoßen der Hörner. Und hast du was Hilfreiches erfahren?“

Maxwell schüttelte den Kopf. Die Straßenlichter zogen an ihnen vorbei, während sie den Weg zurück zum Wald einschlugen, wo Nora ihren Wagen geparkt hatte.

Sie dachte an den Fundort zurück. Keine offensichtlichen Blutspuren. Keine offensichtlichen Hinweise. Und trotzdem war es seltsam: Die Leiche war nicht versteckt. Sie lag einfach da, auf dem Waldboden, nur grob mit ein paar Blättern bedeckt, die von den umstehenden Bäumen herübergeweht wurden. Das war alles. Eine junge Frau, alleine mitten im Wald, den Blick in den Himmel gerichtet. Da war sie, die Auffälligkeit, die Nora nicht losließ: als sollte sie gefunden werden. Die meisten Täter hätten sich die Mühe gemacht, die Leiche zu verstecken, sie zu vergraben. Aber sie lag nahe einer Lichtung, nicht sehr weit vom Weg entfernt. Es war fast, als hätte der Täter sich keine Sorgen gemacht, dass sie entdeckt werden könnte. Hunde, die mit ihren Besitzern durch den Wald streiften, hätten sie ohne Probleme aufgespürt. Wildtiere hätten Teile des Körpers verteilt. Die meisten Täter versuchten zumindest, ihre Spuren zu verwischen. Hier war es anders. Jemand hatte sich die Mühe gemacht, die Frau hierher zu transportieren, nur um sie dann halbherzig in eine Mulde zu legen. Warum nahm jemand die Arbeit auf sich, eine Leiche in den Wald zu bringen, scheute aber davor zurück, sie „ordentlich“ zu verstecken? Es mussten nicht sechs Fuß unter der Erde sein, ein so tiefes Loch wäre zu zeitaufwendig und anstrengend, aber die Person hatte, von der Wahl eines abgeschiedenen Ortes abgesehen, nichts unternommen. Keine Plastikplane, keine Müllsäcke, nicht einmal Löschkalk. Nichts, um die Verwesung zu beschleunigen. Es wurde sogar in Kauf genommen, dass die Leiche identifiziert werden konnte. Die Zähne waren weitestgehend intakt, die Hände unversehrt. Die Augen schienen auch nicht entfernt worden zu sein, sondern dem Lauf der Verwesung zum Opfer gefallen zu sein. Es war, als hätte der Täter gewollt, dass sie gefunden wird. Und wenn dem so war, dann war das kein Zufall, nicht bei der Präzision, die er bei den Verletzungen und der anschließenden Reinigung der Wunden an den Tag gelegt hatte.

Zach stellte die Details des neuen Falls im Besprechungsraum vor, inklusive des Berichts, den Nora verfasst hatte. Auf dem Aktenschrank stand ein kleiner Plastikbaum, sorgfältig auf eine rote, aufgeklappte Serviette gestellt. Eine bunte Lichterkette hing lose darum, einige Lämpchen bereits erloschen. Die Spitze des Baumes trug einen schief sitzenden Stern. Man sah ihm an, dass er jedes Jahr denselben Weg aus dem Abstellraum hierher fand. Mehr Weihnachtsstimmung bekam man hier nicht. Für diejenigen, die während der Feiertage in der Mordkommission Dienst schoben, war dieser kleine, müde Baum die einzige Festlichkeit, ergänzt von einem Teller gemischter Plätzchen, der in der Teeküche stand. Der Geruch von Kaffee und das leise Kratzen von Stiften auf Notizblöcken hatten ihre Gedanken abschweifen lassen.

Die Kollegen hatten das Gebiet erfolglos weitläufig durchkämmt. Nora wusste, wie schwer es war, die Grenze zu ziehen. Wo hörte man auf zu suchen? Wann entschied man, dass es sich nicht mehr lohnte, das Unterholz weiter zu durchkämmen? Vielleicht lag die entscheidende Spur nur zehn Schritte hinter dem letzten untersuchten Abschnitt. Verborgen. In den letzten Wochen hatte es mehrfach stark geregnet. Der Boden war weich geworden, die Spuren verwischt oder weggeschwemmt.

„Das wird nichts. Das können wir gleich vergessen.“ Dean Richards schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte und zog sie damit zurück in die Gegenwart. Die plötzliche Bewegung ließ den Kollegen neben ihm zusammenzucken.

Er stand auf und krempelte im Gehen die Ärmel seines grauen Hemds bis zu den Ellenbogen hoch. Zach trat einen Schritt zurück, um ihm Platz zu machen, die Hände lässig in die Hosentaschen geschoben.

Sie fand es bemerkenswert, wie ruhig er blieb, obwohl die Situation alles andere als ideal war und ein Beamter sich Luft verschaffen wollte.

„Schaut bitte einmal her“, sagte Dean und schaute in die kleine Runde.

Auf der weißen Leinwand tauchte eine Website auf. Dean klickte sich durch die Seiten. Zach war normalerweise darauf bedacht, die Aufgaben im Team gleichmäßig und fair zu verteilen, doch Deans Frust hatte einen nachvollziehbaren Grund. Auf den ersten Blick klang es simpel: Im gesamten Stadtgebiet gab es über eine Million Überwachungskameras, Closed Circuit Television genannt. Doch die schiere Menge war nicht das Problem. Das eigentliche Problem war, die richtige Kamera zu finden und an die Aufnahmen zu gelangen. Nur ein winziger Bruchteil der Kameras wurde direkt von der Polizei verwaltet. Die Stadtverwaltungen trugen die Verantwortung für eine etwas größere Anzahl. Der Rest? Blinde Flecken. Die Strecken, die nicht von behördlichen Kameras abgedeckt wurden, waren ein Albtraum für die Ermittler. Um diese Lücken zu schließen, war mühsame Fleißarbeit nötig. Man musste bei Privatpersonen und Unternehmen in der Umgebung nachhaken, sich im Fall einer Weigerung gerichtliche Beschlüsse besorgen und darauf hoffen, dass die Aufnahmen nicht längst gelöscht worden waren. Nora erinnerte sich nur zu gut an endlose Gespräche mit genervten Ladenbesitzern und skeptischen Eigentümern, die ihre Kameras ungern für Ermittlungen freigaben. Es war ein zermürbender Prozess, der oftmals viel Zeit kostete.

Dean seufzte hörbar, während er weiterklickte. Als er auf der Seite ankam, die er zeigen wollte, erschien eine Karte der behördlich verwalteten Kameras im Borough of Waltham Forest, zu dem auch Chingford und der Epping Forest gehörten, auf der Leinwand. Es war ihr Revier, der Zuständigkeitsbereich ihrer Mordkommission. Die Kameras bildeten dichte Cluster an Verkehrsknotenpunkten, in der Nähe von Bahnhöfen und an belebten Straßen. Rechts von Chingford, entlang der Rangers Road und weiter auf die New Epping Road, klafften jedoch Lücken. Keine Kameras. Und im Waldgebiet selbst? Fehlanzeige.

„Wie ihr seht, haben wir hier nichts, was uns helfen könnte“, sagte Dean und deutete auf die leeren Flächen. „Niemand interessiert sich überwachungstechnisch für den Wald. Das ist der Grund, warum wir keine CCTV-Aufnahmen aus dem Wald bekommen können“, sagte er schließlich und schob die Maus von sich weg.

„Danke dir, Dean.“ Zach ließ eine kurze Stille im Raum entstehen, während er in seinen Unterlagen blätterte. „Verteilen wir jetzt die anderen Aufgaben“, sagte er schließlich. Von denen gab es genug. Sieben Kollegen waren gerade genug, um die wichtigsten Angelegenheiten abzudecken.

„Nora?“

„Hm?“ Sie legte ihre Notizen beiseite und richtete ihre volle Aufmerksamkeit auf ihren Vorgesetzten.

„Ich möchte dich bitten, bei der Obduktion dabei zu sein.“

„Klar“, antwortete sie knapp, ohne zu zögern.

Nora hielt ihren dampfenden Becher Kaffee in der Hand. Der Geschmack war ernüchternd. Die Flüssigkeit war dünn, fast wässrig, und hatte nichts mit dem verlockenden Aroma gemein, das ihr Büro erfüllte. Sie dachte an die Zeit, als sie es sich noch mit anderen teilen musste. Jetzt aber konnte sie hier schalten und walten und diese sechzehn Quadratmeter nach ihren Vorstellungen gestalten. Natürlich stapelten sich auch bei ihr Akten, Berichte und Notizen, aber es war ein geordnetes Chaos, das sie verstand und insgeheim liebte. Es war strukturiert, zumindest in ihren Augen. Hinter ihrem Monitor hatte sie sich regelrecht verbarrikadiert, die Welt draußen ausgeblendet. Erst als es an der Tür klopfte, sah sie auf.

Wie selbstverständlich trat Maxwell ein, ging zum Beistelltisch und schob einen Stapel Akten mit einer routinierten Bewegung weiter, bevor er dort Platz nahm.

„Hast du schon etwas?“ Maxwells Blick wanderte zu den Ausdrucken, die sich im Ablagefach des Druckers stapelten. Nora griff nach dem zwanzigseitigen Stapel, drehte ihn um und legte ihn vor sich auf den Tisch, sodass Maxwell direkt in die Augen der Frauen sah, die ihren Weg in die Kartei vermisster Personen gefunden hatten. Maxwell beugte sich vor, nahm etwa die Hälfte des Stapels in die Hand und betrachtete die Bilder nacheinander, bevor er sie wieder zurücklegte.

„Sie sehen ihr ähnlich“, sagte er schließlich.

„Wir haben sie auf fünfundzwanzig Jahre geschätzt“, erklärte Nora trocken. „Ich habe eine Rastersuche von achtzehn bis fünfunddreißig Jahren durchgeführt und die herausgesucht, die ihr am ähnlichsten sehen und innerhalb des letzten Jahres als vermisst gemeldet wurden. Zuallererst nur die aus dem Großraum London.“

Falls sie nicht unter den jetzigen Treffern war, könnte sie das Suchmuster beliebig erweitern, bis sie in der Suchmaske auftauchte oder bis sie akzeptieren musste, dass keine Übereinstimmung zu finden war. In diesem Fall würde sie die Frau selbst in die Kartei eintragen. Nora hoffte inständig, dass die Obduktion ein eindeutiges Ergebnis liefern würde, wer das Opfer war. Sie blätterte die Fotos durch und legte sie nebeneinander auf den Tisch. Jede Frau hatte eine eigene Geschichte, ein eigenes ungeklärtes Schicksal. Die Datenbanken der vermissten Personen wurden täglich gefüllt, und hinter jedem dieser Bilder stand ein Leben, das verschwunden war. Noras Smartphone leuchtete auf. Schon wieder, wie schon zig Male in der Nacht. Sie warf einen Blick auf den Bildschirm, seufzte und ignorierte es.

„Dein Freund?“, fragte Maxwell beiläufig.

Nora warf ihm einen vielsagenden Blick zu, einen, der ihm unmissverständlich riet, diesen Gedanken nicht weiterzuverfolgen. Es war ein offenes Geheimnis, dass ihre letzte Beziehung krachend in die Brüche gegangen war und auf eine Weise geendet hatte, die schmutziger war, als Nora es je für möglich gehalten hätte. Selbst Maxwell musste davon wissen, weshalb dieses „Dummspielen“ ihr nicht zusagte.

„Wart ihr nicht zusammengezogen?“

„Yep.“

„Und du wohnst jetzt wo?“

Nora lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und verschränkte die Arme. „Ich hab den Fehler gemacht, meine Wohnung damals aufzugeben. Ergo muss ich mir jetzt was Neues suchen. Übergangsweise bin ich bei einer Freundin auf dem Sofa gestrandet, die gerade auf einer Weihnachtsparty ist. Aber ich suche bereits nach einer neuen Bleibe.“

Verständnisvoll nickte Maxwell. „Der Londoner Wohnungsmarkt ist brutal. Vor allem, wenn du was Zentrales suchst.“

„Ja, wem sagst du das“, erwiderte Nora trocken und schüttelte leicht den Kopf.

Kapitel vier

Nüchtern blätterte der Onkologe durch die Akte, Werte, Aufnahmen, Verläufe. Jede Seite ein Spiegel seines Verfalls. Jonah beugte sich leicht vor, als könnte er so die Bedeutung der Fakten umlenken. Er suchte nach einer Regung im Gesicht des Mannes, nach einem einzigen Hinweis, dass hinter der Sachlichkeit noch etwas wie Mitgefühl verborgen lag.

In den letzten Wochen war er schmaler geworden, das Gesicht eingefallen, die Kleidung hing lose von den Schultern. Wenn jemand es bemerkte, lächelte er, redete von Disziplin, Sport, Ernährung, Eigeninitiative. Er hielt an seinem Kurs fest, steuerte ein letztes Manöver, obwohl er wusste, dass sein Schiff längst voll Wasser stand und sich nur noch verzweifelt gegen den Sog der Tiefe stemmte.

Die Metapher kam nicht von ungefähr: Ein sinkendes Schiff, so hatte ihn sein Arzt bezeichnet. „Ich bin kein sinkendes Schiff“, hatte er geantwortet. „Ich habe nur Schlagseite, aber ich bin noch auf Kurs.“

Er wusste, dass das eine Lüge war. Er war längst ein Wrack, trieb manövrierunfähig dahin, während er sich zwang, so zu tun, als würde er noch steuern. Sein Kopf war längst unter der Wasserlinie, und trotzdem suchte er nach Auftrieb, hielt sich mit einer verzweifelten Anstrengung an der Oberfläche. Schultern gerade, Rücken aufrecht, Worte mit Bedacht gewählt, in der Hoffnung, dass sie Gewicht hatten. Doch dieser Mann vor ihm hörte ihm schon lange nicht mehr zu. Ein Kapitän, der längst beschlossen hatte, das Schiff nicht mehr in einen sicheren Hafen zu steuern. Ein Kapitän, der sich geweigert hatte, mit unterzugehen. Es hatte sich seit Monaten angekündigt: Der Kontakt wurde kühler, jede Nachfrage nach Diagnosen oder Werten quittierte er mit einem genervten Unterton. Dabei war es keine Kritik gewesen. Jonah wollte nur verstehen, wollte begreifen, wo er stand. Er war dankbar, einen qualifizierten Arzt gefunden zu haben. Also hörte er irgendwann auf, Fragen zu stellen. Und doch schien sein Gegenüber frustriert. Für Jonah war das schmerzlich. Denn hier saß jemand, der noch kämpfte, der bereit war, alles zu tun, alles zu versuchen, um nicht unterzugehen, um irgendwo, irgendwie Auftrieb zu finden. Die Schwester reichte den Bericht der neuen Bildgebung. Der Onkologe nahm ihn wortlos entgegen, öffnete das aktuelle CT und ließ die Aufnahmen über den Bildschirm laufen. Sein Blick blieb sachlich, als betrachtete er nicht mehr als einen Routinebefund. Keine Regung, keine Erklärung, nur das Ticken der Uhr, das jede Sekunde tiefer in Jonahs Brust schnitt.

„Jemand anderes sollte da einmal draufschauen.“

Die Worte fielen wie Steine in tiefes Wasser, endgültig. Keine Schwingung, nur ein dumpfes Versinken. Der Blick glitt an Jonah vorbei, blieb am Türrahmen hängen, dann am eigenen Ärmel. Kein Augenkontakt, kein Erkennen, kein Abschied. Nur das mechanische Ende einer Behandlung. Über ein Jahr hatte dieser Mann ihn begleitet. Über ein Jahr hatte Jonah gehofft, dass er mehr wäre als nur ein Aktenzeichen. Und nun blieb von all der Zeit, den Schmerzen und der Angst nichts zurück außer diesem nüchternen Urteil.

„Aber Sie sind besser im Bilde als sonst jemand. Sie haben doch alles hier“, sagte Jonah. „Die Befunde, die Protokolle, die Bildgebungen. Sie kennen mich, meinen Verlauf.“

Meine Geschichte. Mein Leben. Meinen Leidensweg.

Die letzten unausgesprochenen Worte hallten in einem leeren Raum in ihm nach. Seine Hände zitterten. Die Ohnmacht war nicht mehr nur ein Gefühl. Sie war körperlich, als hätte jemand ihm den Boden unter den Füßen weggezogen und ihn in eiskaltes Wasser gestoßen. Jeder Atemzug wurde schwerer, jeder Versuch, Luft zu holen, ein Kampf. Und doch klammerte er sich an die Worte, als könnten sie ihn noch einmal tragen, ihm Halt geben, ihm ein letztes Mal Luft schenken, bevor er endgültig unterging.

„Ich weiß das, aber ich halte es nicht für sinnvoll, dass wir die Behandlung weiterführen. Ich habe mich mit einer Kollegin ausgetauscht. Gemeinsam sind wir zu dem Schluss gekommen, dass Sie sich anderweitig orientieren sollten.“

Jonah hatte sich geschworen, nicht zu viel zu bitten. Sein Stolz war dünn geworden, ausgefranst wie alter Stoff, den er vor dem Eintritt in das Sprechzimmer an der Garderobe zurückgelassen hatte. „Könnten Sie mich in diesem Fall bitte überweisen? Mir jemanden empfehlen, zu dem ich gehen dürfte?“ Seine Stimme klang ruhig, aber unter der Oberfläche zitterte sie. „Bitte. Es ist schwierig, jemanden Spezialisierten zu finden, und die Wartelisten sind voll. Ich kann nicht einfach ins Leere treten. Es geht mir nicht gut … und Sie würden mir damit sehr helfen.“

„Die, an die ich gedacht habe, gehen alle in Rente.“

„Alle? Wirklich alle?“ Falten zogen sich tief in seine Stirn. Der Gedanke war absurd. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sein Arzt jemals einen seiner Kollegen angerufen oder auch nur ein ernsthaftes Wort über ihn verloren hatte, um ihn weiterzuvermitteln. Die Aussage war absurd.

Sollte er nach den Namen dieser angeblichen Ärzte fragen? Er wusste, dass es vergeblich wäre. Er würde keine Antwort bekommen, die ihm weiterhalf. Es würde keine Namen geben.

Er schluckte seinen Impuls hinunter, sprach ihn nicht aus.

„Vielen Dank, dass Sie nachgefragt haben“, murmelte er. Schon während er es sagte, spürte er, wie falsch es klang, hohl, ein Reflex, der ihn selbst verriet.

„Nicht dafür.“

Das Ende eines Gesprächs, das sein Leben betraf und doch klang, als ginge es um nichts.

Die folgende Stille zwischen ihnen war bleiern, schnürte ihm die Brust zu. „Bitte … Dürfte ich bitte bei Ihnen bleiben? Es ist wichtig für mich, eine Anlaufstelle zu haben, einen Ort, wo ich hingehen kann.“ Er schämte sich für diese Worte, dafür, dass er bettelte und seine Würde aufgab. Für ihn ging es um alles. Alles oder nichts, während der Mann vor ihm an diesem Tag schon seinen Platz durch jemand anderen ersetzen lassen würde.

„Wir werden die Behandlung nicht fortführen, Mr Brooks. Ich kann Ihnen nur eine Beobachtung anbieten, jedoch werden keine weiteren Behandlungen erfolgen. Diese sind meiner Einschätzung nach nicht aussichtsreich.“

Jonah sah zu, wie der Arzt die Papiere zusammenraffte, die er so sorgfältig auf dem Tisch ausgebreitet hatte. Hämoglobinwerte, Tumormarker, Bildgebung. Sein Leben, heruntergebrochen auf Kennzahlen. Lesbar, indexierbar, weglegbar.

Ein ganzes Dasein, auf dünnes Papier gedruckt und jetzt, mit einer beiläufigen Bewegung, zusammengeschoben, zur Seite geräumt und abgelegt.

„Einen Namen, bitte. Irgendjemanden. Es ist so schwer, einen Spezialisten zu finden.“ Der Arzt schüttelte den Kopf. Ein einziges, knappes Kopfschütteln, und alles in Jonah zog sich zusammen. Es war, als würde jemand von innen und außen gegen seine Rippen drücken, als wäre kein Platz mehr für Luft, kein Platz mehr für Hoffnung. Ein Kloß stieg ihm in den Hals.

„Am besten schauen Sie online. Es gibt Listen. Portale. Dort können Sie nach Behandlungsformen filtern. Sie werden sicherlich etwas Passendes finden.“

Jonah folgte dem Blick des Arztes, der erneut zur Tür schweifte, als wäre er längst nicht mehr Teil des Gesprächs. „Hören Sie bitte … ich würde wirklich gerne bleiben, wenn es irgendwie möglich wäre.“ Leise, fast tonlos. „Nur … bis ich … bis ich …“ Die Scham stieg ihm heiß in den Nacken. „Könnten Sie sich denn noch einmal umhören?“

„Sie sind doch sicherlich auch unzufrieden mit dem mangelnden Fortschritt. Oder nicht, Mr Brooks?“

„Nein, ich bin nicht unzufrieden. Ich bin dankbar, hier sein zu dürfen. Solange jemand mit mir arbeitet, gibt es Hoffnung. Und ich gebe wirklich mein Bestes.“ Er legte den Kopf leicht schief, eine alte Gewohnheit.

Ein kurzer Seufzer entwich seinem Gegenüber. Resignation. Dann stand der Arzt auf.

Die stumme Aufforderung ließ Jonah einen Herzschlag lang zögern, bevor er ihr folgte.

„Ich lasse Ihnen den abschließenden Bericht per Post zukommen. Alles Gute.“ Ein Händedruck, knapp, formal, weil man das nun mal so macht, wenn ein Kapitel zu Ende geht.

Hinter ihm schloss sich die Tür. Einen Moment lang starrte er auf das Holz, auf das glänzende Schild mit dem Namen des Mannes, der ihn ein Jahr lang begleitet hatte. Die Neonröhre über ihm summte gleichgültig.

Er war nicht mehr erwünscht. Die Medikamente hatten nicht gewirkt, die Behandlungen nicht den ersehnten Erfolg gebracht. Er passte nicht ins Raster. Er war kein Standardpatient und damit ein Ärgernis. Ein Problemfall. Niemand würde seine Anwesenheit vermissen, niemand sein Bemühen würdigen oder mit einem Lächeln an die gemeinsame Zeit denken. Er hatte gehofft, dass geteilte Sorgen Menschen näher zusammenbringen. Dass Leid Brücken baut. Dass Krisen ein Band zwischen Patient und Behandler schmieden, ein Band aus Vertrauen, das Jahre überdauert. Er hatte sich geirrt. Er verließ die Praxisräume als jemand, der nicht mehr willkommen war. Eine Quelle von Frustration. Ein Symbol für Stillstand. Sein Blick senkte sich, blieb an der Sockelleiste hängen, wo sich ein grauer Schmutzrand abzeichnete. So viel Aufmerksamkeit für etwas so Belangloses, weil draußen nichts auf ihn wartete. Kein Übergang, keine Hand, die ihn auffing, niemand, der ihm den nächsten Schritt erleichterte. Der Flur schien sich endlos zu strecken, als würde er ihn absichtlich festhalten, jeder Schritt zäher als der letzte. In ihm breitete sich ein Gefühl von Abwesenheit aus, so, als hätten sich seine Emotionen still von seinem Körper gelöst. Das Warum fraß sich in ihn hinein. Warum löste seine bloße Anwesenheit Widerstand und Ablehnung aus? Warum provozierte er Abwehr, obwohl er nichts anderes versuchte, als zu überleben? Er war doch bereit, für jeden Atemzug bis zuletzt zu kämpfen.

Warum erkannte man das nicht? Wie sollte es weitergehen? Zu Hause starrte er auf den Bildschirm seines Laptops, die Hände klamm an der Tischkante. Immer wieder wählte er Nummern aus den Portalen. Meistens hob niemand ab. Warteschleifen, die sich endlos dehnten, oder bis er aus der Schleife hinausgeworfen wurde. Ab und zu meldete sich eine Sprechstundenhilfe, notierte routiniert seine Daten. Immer wieder sprach er auf Anrufbeantworter: Name. Diagnose. Eine Schilderung der Situation. Bitte um Rückruf. Seine eigene Stimme klang ihm fremd. Dann Mails, eine nach der anderen, um nichts dem Zufall zu überlassen. Dringend. Empfehlung. Zweitmeinung. Hilfeersuchen. Worte wie letzte Rettungsanker, die er blind ins Wasser warf, in der Hoffnung, dass irgendetwas sie auffing. Antworten kamen selten. Wenn überhaupt, dann verzögert. Wenn sie kamen, waren es Absagen. Keine Kapazität. Zu komplex. Warteliste geschlossen. Am Ende blieb immer derselbe Satz:

Wir wünschen Ihnen alles Gute.

So gleichgültig, so endgültig.

Man hatte ihn mit leeren Händen in der Tiefe zurückgelassen. Wie ein Wrack auf dem Meeresgrund, das vergeblich zum Licht hinaufsieht.