Alix – Mallorca vor sechs Jahren
Die Maschine hob sanft ab, und das gleichmäßige Brummen der Turbinen erfüllte die Kabine. Alix blickte durch das Fenster und sah, wie Mallorca unter ihr kleiner wurde, bis die Küste im Sonnenlicht verschwamm. Sie lehnte den Kopf zurück, spürte den Druck in den Ohren und schloss die Augen. Sofort war sie wieder dort – an ihrem ersten Tag am Strand, als sie Thomas kennengelernt hatte.
Ihre und Thomas’ Getränkebestellungen waren an der kleinen Strandbar vertauscht worden, wodurch sie ins Gespräch kamen. Er hatte etwas Leichtes, beinahe Übermütiges, an sich, das sie sofort angezogen hat.
Eigentlich war sie nicht die Art Frau, die sich auf flüchtige Abenteuer einließ. Normalerweise war sie vorsichtig, fast zu kontrolliert, hatte stets alles im Griff. Doch in der vergangenen Woche hatte sie beschlossen, einfach loszulassen und die Dinge zu nehmen, wie sie kamen. Nach dem Abschluss ihrer Ausbildung zur Praxisassistentin vor wenigen Wochen hatte sie diesen Urlaub mehr als verdient.
Gleich am zweiten Tag hatte Thomas einen Scooter gemietet, um mit ihr das Inselinnere zu erkunden. Lässig hatte er den Roller gelenkt, während sie sich fest an ihn klammerte und die warme Luft sie umwirbelte.
An einem Olivenhain machten sie Halt, stellten den Roller im Schatten ab und setzten sich auf eine niedrige Steinmauer mit Blick über trockene Felder und verstreute Dörfer. Auf einer Decke packten sie später Brot, Käse, Trauben und eine Flasche billigen Wein aus dem Supermarkt aus. Die Sonne brannte, der Wind roch nach Staub und Thymian. Alix hatte lachend ins Brot gebissen und gedacht, dass kein Restaurant dieser Welt diesen Augenblick übertreffen konnte.
Ein Rucken und das Dröhnen der Turbinen holten Alix zurück ins Hier und Jetzt. Sie öffnete die Augen, sah das Blau des Himmels und das endlose Meer unter sich. Neben ihr blätterte eine ältere Frau in einer Illustrierten, der Duft von Kaffee und aufgebackenen Brötchen hing in der Luft. Für einen Moment stieg Übelkeit in ihr auf und sie spürte ein unangenehmes Ziehen in der Brust.
Sie wusste, dass sie Thomas nie wiedersehen würde. Er lebte in England, sie flog zurück in die Schweiz. Ihre Wege hatten sich nur für einen kurzen Augenblick gekreuzt.
Alix dachte an die Gesichter ihrer Eltern, die sie am Flughafen erwarten würden. Stolz hatte sie ihnen erzählt, dass sie allein reisen würde – und sie hatte es geschafft. Mehr noch: Sie hatte etwas erlebt, das sie nie vergessen würde. Nicht nur Sonne, Strand und Ferien, sondern das Gefühl, plötzlich erwachsen zu sein.
Sie legte die Stirn gegen das kühle Fenster, sah hinaus in die Wolken. Dann schloss sie erneut die Augen. Für die restlichen Stunden des Fluges war sie nicht mehr zwischen Mallorca und Zürich, sondern wieder am Strand – jung, frei, unendlich leicht.
Am letzten Abend, nachdem die Sonne langsam im Meer versunken war, nahm Thomas ihre Hand. Alix sah ihn deutlich vor sich: das verschmitzte Grinsen, die sandverkrusteten Haare nach einem langen Tag am Meer, den Blick, mit dem er sie immer wieder zum Lachen brachte.
Die kleine Bar, die bunten Lichterketten, die Gitarrenmusik, die Stimmen, die durcheinander sangen und lachten. Er hatte Cocktails bestellt, viel zu stark, und sie hatte trotzdem getrunken. Barfuß hatten sie im Sand getanzt, sich gedreht, bis Alix der Kopf schwirrte und gelacht, bis ihr Tränen über die Wangen liefen.
Im Takt der Musik hatte Thomas sie an sich gezogen, so selbstverständlich, als wären ihre Bewegungen aufeinander abgestimmt. Seine Hände waren warm, seine Bewegungen unbeschwert, und Alix hatte vergessen, wie spät es war, wie wenig Zeit ihnen blieb.
Am frühen Morgen waren sie dann Hand in Hand, betrunken und müde, aber glücklich durch die leeren Straßen zu seinem Hotel geschlendert. Die Welt wirkte still, als gehöre sie nur ihnen. Und als Thomas ihr wenig später die Tür zu seinem Zimmer aufhielt, hatte sie keinen Moment gezögert – und war ihm gefolgt.
Rafael – Besuch
Es war das erste Novemberwochenende und endlich herrschten draußen der Jahreszeit angemessene Temperaturen. Die vergangenen Tage waren im Vergleich beinahe sommerlich warm gewesen. Als Rafael nach dem Aufstehen die Vorhänge zurückgezogen hatte und die kühle, frische Luft durch das offene Fenster ins Schlafzimmer strömte, spürte er die Vorfreude auf den Winter. Endlich war es bald so weit. Er konnte es kaum noch erwarten, die Ski aus dem Keller zu holen.
Am Nachmittag bereitete er alles Nötige vor und machte sich in der Küche an die Arbeit. Wie jedes Jahr vor Saisonbeginn wachste er seine Ski selbst, damit sie bereit waren, sobald der erste Schnee fiel. Den Boden hatte er sorgfältig abgedeckt und die Fenster im angeschlossenen Wohnbereich standen weit offen.
Die vergangenen drei Nächte hatte er im Krankenhaus gearbeitet und tagsüber geschlafen. Nun stand ihm ein freies Wochenende bevor, das er nutzen wollte. Als er sich vorstellte, wie er seinem Freund Emile auf die Nase band, dass er alles schon erledigt hatte, musste er grinsen. Seit jeher bestand eine Art Wettkampf zwischen ihnen. Wer als Erster für die Wintersaison bereit war, machte sich einen Spaß daraus, den anderen damit aufzuziehen. Wenn er Glück hatte, schneite es in zwei bis drei Wochen tatsächlich zum ersten Mal.
Als er alles erledigt hatte, gönnte Rafael sich einen Kaffee und blätterte in einer Zeitschrift. Eigentlich hätte er die Zeit nutzen sollen, um die letzten Umzugskartons auszupacken, die im oberen Stock an der Wand gestapelt auf ihn warteten. Seufzend schlug er die Zeitschrift wieder zu, schlürfte den letzten Schluck Milchkaffee und machte sich dann an die Arbeit.
Vor knapp zwei Monaten war er in die Wohnung gezogen. Romy, die ehemalige Mieterin, war mit ihrem Freund spontan zu einer Weltreise aufgebrochen.
Während er nach dem obersten Karton griff, dachte er an den letzten Sommer. Er hatte Romy zufälligerweise kennengelernt, als er mit Emile in den Voralpen unterwegs gewesen war. Dabei hatten sie auf einer Passhöhe Halt gemacht und sich im kleinen Alp Café von Stefan und Erika ein großes Stück Kuchen genehmigt. Romy arbeitete den Sommer über als Aushilfe dort und backte wunderbare Köstlichkeiten. Sie hatte etwas an sich, das ihn anzog. Obwohl Emile ihn gleich nach der ersten Begegnung mit ihr? gewarnt hatte, hatte er nicht auf seinen Freund gehört. Ihr unsicheres Verhalten Männern gegenüber hatte sofort den Beschützerinstinkt in ihm geweckt.
Der Klingelton von Rafaels Handy riss ihn aus seinen Gedanken. »Hi Emile.«
»Hallo Rafael. Störe ich?«
»Nein, überhaupt nicht. Eben bin ich mit dem Wachsen meiner Ski fertig geworden. Wie sieht‘s bei dir aus?«
»Steht alles noch im Keller. Gratuliere, dieses Jahr warst du der Schnellere«, gab Emile sich lachend geschlagen. »Hast du heute Abend schon was vor?«
»Ich dachte, ich mach es mir vor dem Fernseher gemütlich, für mehr bin ich zu müde …«
»Hast du Lust auf Gesellschaft? Ich bring auch was mit«, bot Emile an.
»Gerne. Ich frage Stefan, ob er auch Zeit hat.«
»Okay, so bekommen wir deine Wohnung endlich mal zu Gesicht. Wann soll ich bei dir sein?«
»19 Uhr? Käsefondue und Filmabend?«
»Alles klar, dann bis gleich«, verabschiedete sich Emile.
Nachdem Stefan ebenfalls zugesagt hatte, machte sich Rafael weiter ans Auspacken. Erneut wanderten seine Gedanken zum letzten Sommer.
Er und Romy hatten sich regelmäßig getroffen, doch leider war sie damals bereits unglücklich in Erikas Bruder Yannick verliebt. Rafael hatte versucht, es bloß als weitere Abfuhr abzutun, was ihm nur schwer gelungen war. Die Frauen, die sich für ihn interessierten, taten es nicht aus den richtigen Gründen, und diejenigen, für die er sich interessierte, waren nicht zu haben. Es war zum Davonlaufen.
Durch seine regelmäßigen Besuche auf der Alp entwickelte sich aber auch eine enge Freundschaft mit Stefan und Erika. Jetzt, wo das Alp Café seit mehreren Wochen geschlossen war, besuchte er sie ab und zu in ihrer Stadtwohnung.
Nachdem er mitbekommen hatte, wie Romy und Yannick doch noch zueinandergefunden hatten und zusammen zu einer Weltreise aufbrachen, beschloss Rafael, seine Lebensweise umzukrempeln und mehr Stabilität in seinen Alltag zu bringen.
Er war an einem Punkt in seinem Leben angelangt, an dem er das Gefühl hatte, die Weichen für seine Zukunft zu stellen. Oberflächliche Beziehungen und wechselnde Arbeitsstellen hatte er zu Genüge gehabt und war sie leid.
Vor allem, seitdem er sah, wie gut es Stefan und Erika zusammen hatten. Sie zeigten ihm, dass man auch als Paar und Eltern Pläne und Träume verwirklichen konnte. Doch Rafaels Sehnsüchte nach einer eigenen Familie wurden immer wieder von der Angst verdrängt, dem Ganzen nicht gewachsen zu sein.
Als er zwei Fotorahmen aus einem der unteren Kartons zog, musste er lächeln. Sie bildeten die einzige Wanddeko, die er besaß. Auf dem einen Bild waren seine Schwester und er mit ihren Großeltern abgebildet und auf dem anderen seine beiden Nichten, die Kinder seiner Schwester Aurélie.
Sie war zwei Jahre älter als Rafael und nervte ihn ständig damit, dass er seine bessere Hälfte noch immer nicht gefunden hatte.
Als er keine zwanzig gewesen war, hatten sich die Mädchen regelrecht um ihn gerissen und er hatte es genossen, sich in ihrer Bewunderung zu sonnen. In eine ernsthafte Beziehung hatte er sich aber nie zwängen lassen. Bis er sich zum ersten Mal richtig verliebte und das Mädchen ihn abblitzen ließ, weil er nicht als seriös genug galt. Als er seiner Enttäuschung zu Hause Luft gemacht hatte, meinte Aurélie bloß, er sähe für eine ernsthafte Beziehung wahrscheinlich einfach zu gut aus.
Bis heute hatte er die gemurmelten Worte seiner Großmutter im Ohr, die dem Gespräch beigewohnt hatte.
»Man sieht ja, wozu es deinen Vater getrieben hat. Über Nacht hat er Frau und Kinder für eine andere verlassen! Ist er nicht das beste Beispiel dafür, wohin zu gutes Aussehen führen kann …?«
Dieser Satz durchzuckte ihn wie ein Stromschlag. Wenn es etwas gab, das er nicht leiden konnte, war es der Vergleich mit seinem Vater.
Plötzlich hatte sich alles, was er damals als Segen empfunden hatte, in einen Fluch verwandelt. Was konnte er denn für seine gletscherblauen Augen, die rasch bräunende Haut und das dunkle Haar?
Von da an beschloss er, die Finger von Mädchen zu lassen und sich stattdessen auf seine Ausbildung zu konzentrieren. Zum Glück konnte er auf Emile zählen, mit dem er so oft wie möglich abhing. Gemeinsam entdeckten sie ihre Leidenschaft für das Bergsteigen. Sie hatten sogar mit der Idee gespielt, sich beide zum Bergführer ausbilden zu lassen. Doch nach der abgeschlossenen Krankenpflegeausbildung hatte Rafael das Gefühl gehabt, seinen Weg gefunden zu haben, und auch Emile war zufrieden als Maschineningenieur.
Ja, er sah seinem Vater ähnlich, das ließ sich nicht leugnen. Aber er hatte gelernt, dass die physische Ähnlichkeit nicht über sein Verhalten entschied. Doch die bittere Erfahrung war: Die meisten Frauen interessierten sich auch weiterhin entweder nur für sein Äußeres oder sie hielten ihn nicht für vertrauenswürdig. Diese Erfahrung hatte er zu seinem Leidwesen mehrmals machen müssen.
Seufzend begann er, die Kisten mit den Klamotten auszupacken und im neuen Schrank zu verstauen.
Der Tisch war gedeckt, und auf dem Herd stand bereits das Caquelon – ein schwerer Keramiktopf, in dem der Käse langsam geschmolzen wurde – für das Fondue bereit. Bald würden sie lange Gabeln in die dampfende, cremige Masse tauchen, Brotwürfel darin wenden und diese dann heiß und würzig genießen. Es war das erste Mal, dass er seine Freunde in der neuen Wohnung empfing, und er freute sich. Gerade stellte er eine Flasche Weißwein in den Kühlschrank, als es an der Tür klingelte. Die Zeit war wie im Flug vergangen. Inzwischen war die Wohnung ordentlich aufgeräumt, und er hatte im Kühlschrank für genügend Biervorrat gesorgt.
»Na? Da seid ihr ja endlich! Ich hätte beinahe ohne euch angefangen.« Er begrüßte zuerst Stefan, dann Emile per Handschlag und ließ sie in die Wohnung treten.
»Schön hast du es hier.« Stefan sah sich neugierig um. »Wie ich sehe, hast du die Möbel von Romy und Yannick behalten?«
»Ja, bis auf die Schlafzimmerausstattung. Das kam uns allen gelegen, da ich sonst einiges hätte neu kaufen müssen. So konnte Romy abreisen, ohne sich ums Einstellen der Möbel zu kümmern«, erklärte Rafael. Er nahm Stefan und Emile die Jacken ab und hängte sie am Eingang in die Garderobe. »Und ja, auch um Aramis - den Kater - kümmere ich mich. Er schläft oben auf meinem Bett.«
»Ich habe den Nachtisch mitgebracht«, sagte Emile und reichte ihm eine Schachtel mit der Aufschrift einer nahe gelegenen Bäckerei.
»Danke.«
»Ach ja, bevor ich es vergesse – Erika hat mir für dich noch einige Gläser hausgemachter Marmelade, eine Zeichnung von Beni und - der Himmel weiß, warum - eine große Schachtel mit Tee und Schokoladenpulver mitgegeben«, sagte Stefan grinsend und drückte ihm eine schwere Papiertüte in die Hand.
»Wir hätten nichts gegen ein Bier einzuwenden. Den Tee kannst du also beruhigt mit allem anderen im Schrank verstauen«, sagte Emile lachend.
»Ich habe nichts anderes von euch erwartet. Kommt. Macht es euch gemütlich, in einer Viertelstunde können wir essen.«
Während sie gemeinsam am Tisch saßen und die Gabeln mit dem Brot in den geschmolzenen Käse tauchten, unterhielten sie sich rege über die kommende Eishockeysaison und ihre Pläne für den Winter.
»Verdammt, jetzt warst du schon wieder schneller als ich. Nächstes Jahr werde ich mich bereits im September sputen müssen, um mit dir mitzuhalten. Meine Ski verstauben momentan noch im Keller.«
»Wie konntest du dich eigentlich loseisen, Stefan?«, wechselte Rafael das Thema.
»Ha, mir kam deine Einladung gerade recht. Erika hat Alix und Samuel heute nach dem Eislaufen zum Essen eingeladen. Sie wollten Pfannkuchen backen und sich als Höhepunkt einen Kinderfilm ansehen. Da habe ich die Gelegenheit ergriffen und mich davon gemacht«, erzählte Stefan lachend.
Bei Alix’ Namen zuckte Rafael innerlich kurz zusammen. Alix war Romys Schwester und er hatte sie vor einigen Monaten auf der Abschlussfeier des Alp Cafés kennengelernt. Sie war mit ihrem Sohn Samuel gekommen und hatte ebenfalls auf der Alp übernachtet. Sofort hatte es zwischen ihnen gefunkt, was er im Nachhinein auf den Wein und Romys Abfuhr schob. Trotzdem musste er eingestehen, sich selten so schnell und so heftig zu einer Frau hingezogen gefühlt zu haben. Das eine führte zum anderen und sie verbrachten heimlich die Nacht zusammen. Bis heute schalt er sich einen Dummkopf dafür. Schließlich war sie Romys Schwester …
Zum Glück hatte niemand etwas mitbekommen, denn als er am Morgen aufgewacht war, lag er allein im Bett. Was hatte er auch anderes erwartet?
Für Alix war er bestimmt bloß ein netter Zeitvertreib gewesen. Er wusste, wie das in solchen Fällen lief: Singlefrauen mit Kindern ließen sich nie ernsthaft auf einen Mann ein. Sie wollten einen Abend lang Spaß haben, ihre Kinder und ihr Privatleben aber schützen. Alix war nicht die Erste, die ihn so behandelt hatte.
Teilweise konnte er es nachvollziehen. Doch es nagte an ihm, dass Frauen ihn weiterhin für jemanden hielten, der bloß das Eine suchte.
Weder am Frühstückstisch noch auf dem Rückweg im Wagen hatte Alix sich diese gemeinsame Nacht anmerken lassen.
Erst beim Abschied küsste sie ihn auf die Wange und flüsterte ihm dabei ein kurzes »Danke« ins Ohr. Vergeblich hatte er gehofft, dass sie sich in den kommenden Tagen vielleicht bei ihm melden würde. Doch dem war nicht so.
»Na, was meinst du?«, hörte er Emile fragen und merkte, dass er mit seinen Gedanken abgeschweift war.
»Möchtest du Brot?«, wiederholte dieser seine Frage, als Rafael ihn ratlos anblickte.
»Ja, gerne. Und wie läufts mit der Alphütte, Stefan? Habt ihr schon entschieden, ob ihr das Café diesen Winter an einigen Wochenenden öffnet?«, lenkte er das Gespräch auf ein anderes Thema. »Erika hat mir letztens gesagt, ihr würdet darüber nachdenken.«
Rafael hatte im Sommer gelegentlich im Alp Café ausgeholfen, weshalb Erika und Stefan ihm zum Dank einen Schlüssel überlassen hatten. So konnte er auch im Winter in die Hütte und von dort aus zu Skitouren aufbrechen.
»Das wäre mal eine gute Idee. Ich mach in meinem Umfeld gerne Werbung, wenn es nötig ist …«, bot Emile erfreut an.
»Ja, wir haben uns auf drei Wochenenden geeinigt. Die genauen Daten müssen wir noch festlegen. Mal sehen, ob wir das hinbekommen und wie es mit der Nachfrage steht.«
»Falls ihr Hilfe braucht, gib einfach Bescheid. Wenn ich nicht arbeite, helfe ich gerne«, bot Rafael seinerseits an.
»Danke, ich werde bestimmt darauf zurückkommen. Übrigens soll ich euch von Erika ausrichten, dass ihr beide zu unserem Nikolausabend eingeladen seid. Falls ihr also am ersten Dezemberwochenende nichts anderes vorhabt, seid ihr nach dem Umzug in der Stadt herzlich bei uns willkommen. Es gibt Mandarinen, spanische Nüsse, Knoblauchbrot und natürlich eine große Menge Glühwein für alle.«
Der Nikolausumzug war in der Stadt traditionell ein Fest für Groß und Klein. Der heilige Nikolaus ritt dabei auf einem Esel durch die Straßen, verteilte Lebkuchen und wurde dabei von seinen schwarz gekleideten, rutenschwingenden Schmutzlis begleitet.
»Danke Stefan, aber ich bin nach dem Umzug bereits bei meinen Eltern eingeladen. Vielleicht nächstes Jahr …«, nuschelte Emile, während er sich ein großes Stück käseüberzogenen Brotes in den Mund schob.
»Ich bin gerne dabei. Eigentlich wollte meine Schwester, wie gewohnt mit den Kindern vorbeikommen, doch dieses Jahr schafft sie es leider nicht. Kann ich etwas mitbringen?«, fragte Rafael.
»Nur gute Laune …«, erwiderte Stefan und lachte.
Der Abend und die Anzahl an Bierflaschen wurden noch lang. Die drei Männer genossen es, unter sich zu sein. Sogar der Kater Aramis gesellte sich zu ihnen, als sie es sich nach dem Essen im Wohnzimmer auf dem Sofa gemütlich machten.
Alix - Freundschaft
Alix klingelte. Beim Summen des Türöffners trat sie von der Kälte in den Gang des mehrstöckigen Hauses. Erika und Stefan wohnten mit ihrem Sohn Beni in einer gemütlichen Dachwohnung im dritten Stock.
Samuel, Alix’ bald fünfjähriger Sohn, zog an ihrer Hand und zerrte sie zur Treppe, die in die oberen Stockwerke führte.
»Ja, ja. Ich komme ja schon. Du hast es aber eilig …«
Sie konnte nicht weitersprechen, denn über ihnen ging eine Tür auf und Erikas Sohn Beni rannte ihnen laut rufend entgegen. Die dichten Locken hatte er von seiner Mutter geerbt, doch die hellblonden Haare und die blauen Augen stammten eindeutig von Stefan. Beni war zwar einen halben Kopf kleiner als Samuel, machte dies aber durch seinen Tatendrang und Abenteuerlust wieder wett. »Hallo, ihr zwei!«, grüßte Erika hinter ihm. »Na? Habt ihr Hunger?« Ihre Wangen waren gerötet und mehrere widerstrebende braune Locken hatten sich aus ihrer Hochsteckfrisur gelöst. Ihre Füße steckten in gefütterten Pantoffeln und um Hals und Taille hatte sie eine schwarze Kochschürze gebunden. »Jaaa!«, riefen Samuel und Beni einstimmig.
»Na, dann nichts wie rein mit euch in die warme Stube.«
»Vielen Dank für die Einladung«, sagte Alix und reichte Erika eine Holzkiste. »Samuel freut sich schon seit Tagen auf das Wiedersehen. Wir haben euch sogar etwas mitgebracht.«
Alix und Samuel hatten den Morgen damit verbracht, die Kiste mit Farbe und Glitzer zu verzieren und nach dem Trocknen mit verschiedenen Teesorten zu füllen.
»Oh, das ist aber eine schöne Idee. Dann wollen wir doch gleich einen davon probieren. Welchen möchtet ihr?«, fragte sie und bückte sich mit der Schachtel zu den beiden Jungs. Wie jedes Mal, wenn sie sich sahen, gelang es Erika mit ihrer warmen, offenen Art sofort gute Laune zu verbreiten.
Alix und Erika kannten sich zwar erst seit dem vergangenen Sommer, hatten sich seither aber schon einige Male getroffen. Alix freute sich sehr über die aufkeimende Freundschaft.
Nachdem Erika Wasser für den Tee aufgesetzt hatte und Beni mit Samuel im Zimmer verschwunden war, setzte sie sich zu Alix an den Küchentisch.
»Wo ist Stefan? Isst er nicht mit uns?«
»Nein, er hat die Gelegenheit genutzt und verbringt den Abend mit Emile und Rafael. Übrigens habe ich Stefan heute eine ähnliche Teeschachtel für Rafael mitgegeben. Als ich nämlich neulich mit Beni bei ihm war, um den Schlüssel fürs Alp Café vorbeizubringen, konnte er mir nichts anderes als Wasser oder Bier anbieten. Nicht einmal heiße Schokolade für Beni …«, sagte Erika lachend und goss heißes Wasser über die Teebeutel in der Kanne.
Sofort traten Alix die Bilder des letzten Abends im Alp Café vor Augen. Wie falsch sie Rafael damals doch eingeschätzt hatte.
»So, ich glaube, wir können essen. Würdest du zusehen, dass die Jungs sich die Hände waschen? Ich decke derweilen den Tisch«, bat Erika und holte damit Alix in die Gegenwart zurück.
Später nutzten sie die Zeit und unterhielten sich am Küchentisch, während Samuel und Beni sich im Wohnzimmer nebenan einen Trickfilm ansahen.
»Sag mal, wie läuft es bei der Arbeit? Ich war letzte Woche für einen Routinebesuch mit Beni beim Kinderarzt und die waren dort völlig überlastet. Ist das bei euch auch so?«, fragte Erika. Alix arbeitete als Arztgehilfin in einer Gemeinschaftspraxis.
»Ganz so schlimm ist es nicht, doch gestern musste ich wieder Überstunden schieben, um mit dem Papierkram fertig zu werden. Aber ich kann mich nicht beklagen. Das Geld kann ich gut gebrauchen und jetzt, wo Samuel im Kindergarten ist, kann ich mir die Zeit besser einteilen und muss fürs Hüten nicht ständig meine Eltern fragen. Wie sieht es bei euch aus? In einem Jahr kommt Beni ebenfalls schon in die Schule … Wirst du dann im Winter wieder einer Arbeit nachgehen?«
Erika seufzte.
»Tja, Stefan wünscht sich schon lange ein Geschwisterchen für Beni. Aber ich genieße es, dass er nun in einem Alter ist, in dem wir viel zusammen unternehmen können. Wenn ich erneut schwanger werde, fangen wir wieder von vorn an. Andererseits wird sich das auch nicht ändern, wenn ich es länger vor mir hinschiebe. Ich fände es doch auch schön, wenn Beni ein Geschwisterchen hätte …«, sagte Erika und blies auf ihren heißen Tee.
Alix merkte, dass sie ein heikles Thema angeschnitten hatte. Eine Weile schwiegen sie beide. »Ich habe mir eigentlich auch immer mehr als ein Kind gewünscht«, nahm sie das Gespräch wieder auf. »Ich hätte mir nie erträumen lassen, alleinerziehende Mutter zu werden. Du hast mit Stefan einen echt guten Fang gemacht.« Alix sah sehnsüchtig zu den Jungs.
»Ja, die beiden haben sich gefunden und genießen die Zeit zusammen, bis es so weit ist«, sagte Erika lächelnd. »Übrigens wollte ich dich fragen, ob ihr Lust habt, am Samstag nach dem Nikolausumzug bei uns vorbeizuschauen und mit Glühwein anzustoßen. Stefan macht jedes Jahr sein berühmtes Knoblauchbrot im Holzofen und es gibt genügend Nüsse, Mandarinen und Lebkuchen für alle. Beni würde sich bestimmt freuen, wenn ihr dieses Jahr auch dabei seid.«
»Das ist aber eine schöne Idee. Wir wollten uns den Umzug ohnehin ansehen. Es ist schon komisch, dass Romy dieses Jahr nicht dabei sein wird. Weihnachten und Neujahr haben wir sonst ebenfalls immer zusammen gefeiert«, sagte Alix etwas wehmütig.
»Ich mag es meinem Bruder und Romy von Herzen gönnen, dass sie endlich zusammengefunden haben. Ich könnte mir keine bessere Schwägerin vorstellen und Yannick wird sich hervorragend um sie kümmern.«
Ein kurzes Summen ließ Erikas Handy aufleuchten. Alix sah, wie sie grinste und ihr dann das Smartphone zuschob. Stefan hatte ein Foto geschickt, auf dem Rafael, Emile und er ihre Gabeln hochhielten, während sich die geschmolzenen Käsefäden endlos in die Länge zogen. Die drei schienen ihren Spaß zu haben. Rafaels blaue Augen strahlten glücklich und entspannt in die Kamera. Bei dem Anblick spürte Alix Unmut in sich aufsteigen.
Auf der Alp hatte sie sich von eben diesen Augen und dem verschmitzten Lächeln hinreißen lassen.
Sie hatten den ganzen Abend geredet, gelacht und getrunken, bis die anderen Gäste gegangen waren und nur sie zwei im Gastraum blieben. Im Flur hatten sie sich geküsst und waren lachend in sein Zimmer gestolpert.
Als Alix am nächsten Morgen erwachte, schlief Rafael tief und fest neben ihr. Sie hätte gerne noch dagelegen, doch sie musste verhindern, dass Samuel merkte, wo sie die Nacht verbracht hatte. Sekundenlang hatte sie ihm beim Schlafen zugesehen, dann war sie leise aus dem Zimmer geschlichen.
Die gemeinsam verbrachten Stunden waren überraschend intensiv gewesen und sie hatte gehofft, dass Rafael genauso empfunden hatte. Doch als sie ihm später beim Abschied ein leises »Danke« ins Ohr flüsterte, war seine Antwort ausgeblieben. Lächelnd und winkend war er davongefahren und hatte sie mit einem bitteren Gefühl zurückgelassen. Seither hatte er sich nie wieder gemeldet.
Alix reichte das Smartphone an Erika zurück und trank einen Schluck von ihrem Tee.
Als hätte Erika ihre Gedanken erraten, fragte sie: »Und du? Hast du seit Samuels Geburt jemanden kennengelernt?«
Die Frage ließ Alix Unmut hoch steigen.
»Ja, aber sobald die Dinge ernst werden, sind bisher alle verschwunden. Dass ich einen kleinen Sohnemann habe, schlägt die Männer regelrecht in die Flucht«, sagte Alix missmutig. »Weißt du, ich habe bisher immer auf die Hilfe meiner Eltern zählen können, erst recht, seit ich mit Samuel schwanger wurde. Es ist allmählich an der Zeit, dass ich auf eigenen Beinen stehe und meinen Weg finde, erklärte Alix und zuckte mit den Schultern. »Was Männer angeht, habe ich die Hoffnung allerdings aufgegeben und beschlossen, dass es sich nicht lohnt, auf den Traummann zu warten, den es allem Anschein nach nicht gibt.«
»Wo wir schon von Selbstständigkeit sprechen, das Alp Café steht euch jederzeit zur Verfügung. Solltest du also eine Auszeit nötig haben, gibt es keinen besseren Ort als ein Wochenende auf der Alp. Dort kannst du dich zurückziehen und dem Rest der Welt den Rücken drehen. Magst du es geselliger? Dann besuch uns, wenn das Alp Café offiziell offen ist. Wir haben nämlich entschieden, probehalber auch im Winter an drei Wochenenden zu öffnen«, sagte Erika begeistert. »Es hängt natürlich von den Wetterbedingungen ab, ob das Angebot Anklang findet. Stefan meinte, wenn genügend Schnee liegt, kommen sicher Skitourenfahrer oder Schneeschuhläufer für Kaffee und Kuchen vorbei. Wir werden ja sehen … Ihr seid auf jeden Fall herzlich willkommen.« Sie lächelte, griff nach der Teekanne und schenkte nach. »Ich würde mich freuen …«
»Danke, Erika. Ich werde bestimmt auf dein Angebot zurückkommen. Ein bisschen Abstand vom Alltag würde uns sicher guttun.«
»Du wirst sehen. Am schönsten ist es, wenn dort oben Schnee liegt und man es sich mit einer Tasse Tee vor dem Kachelofen gemütlich machen kann. Einzig der Hinweg könnte sich mit Samuel etwas mühsam gestalten? Im Winter ist die Zufahrtsstraße nämlich gesperrt und du musst den ganzen Weg zu Fuß mit Schneeschuhen oder mit den Tourenski bewältigen. Schneller geht es vom Skigebiet aus, das sich auf der anderen Passseite befindet. Doch auch so dauert der Aufstieg von der Gondel etwa zwanzig Minuten«, erklärte Erika. »Aber wenn du Glück hast, bringt dich Mark mit dem Schneemobil bis vor die Hütte. Er arbeitet im Skigebiet und hilft gerne, wenn er kann. Wir haben das im letzten Winter mit Beni auch so gemacht. Du brauchst dich also nur zu melden …«
Als Erika so begeistert von der Alphütte erzählte, nahm Alix sich vor, das Angebot so bald als möglich zu nutzen. Es wäre die Gelegenheit, ein Abenteuer zu erleben, ohne große Risiken einzugehen.
»Vielen Dank. Es ist schön, sich mit jemandem zu unterhalten, der weiß, wie es ist, wenn man Kinder hat und nicht mehr tun und lassen kann, was und wie man will. Als ich schwanger wurde, haben sich zuerst alle ganz begeistert gegeben. Kaum war Samuel dann da, wurden die Besuche seltener. Da ich oft Verabredungen absagen oder verschieben musste, wurden die Anfragen immer weniger. Ich kann es nachvollziehen. Schließlich war ich damals erst 23. Ein Alter, in dem für die meisten meiner Freundinnen Schwangerschaft und Muttersein bei Weitem kein Thema waren. Sie gingen abends aus und trafen sich an den Wochenenden zum Skifahren oder anderen Aktivitäten. Daran konnte ich mit Samuel nicht mehr teilnehmen. Meine Eltern hüteten ihn schon mehrmals in der Woche, damit ich in der Praxis arbeiten konnte. Da wollte ich sie am Wochenende nicht auch noch belästigen.«
»Ich finde es schön, wie du dich um Samuel kümmerst. Bisher habe ich mich nicht getraut, dich zu fragen, aber was ist eigentlich mit Samuels Vater? Hat er gar keinen Kontakt zu seinem Sohn?«
»Nein, er wohnt in England und hat sich nie für Samuel interessiert. Wir kannten uns ein paar Stunden, als Samuel gezeugt wurde. Als ich ihn zwei Monate danach kontaktierte und ihm erklärte, dass ich schwanger sei und das Kind behalten wollte, hat er es zwar zur Kenntnis genommen und uns zur Geburt sogar ein Geschenk zukommen lassen, doch ansonsten hat er sich nie mehr gemeldet. Mir ist es ganz recht so. Da er Samuel auch nicht offiziell anerkannt hat, bin ich niemandem Rechenschaft schuldig. Andererseits sehne ich mich manchmal danach, jemanden zu haben, der mich unterstützt und auf den ich zählen kann. Aber na ja, ich habe mir vorgenommen, zufrieden zu sein mit dem, was ich habe und nicht zu viel zu erwarten.« Es fühlte sich gut an, sich jemandem anvertrauen zu können, die ihre Empfindungen zumindest teilweise nachvollziehen konnte. Alix genoss den gemütlichen Abend in Erikas Gesellschaft sehr und verstand immer besser, warum Romy sich auf der Alp derart aufgehoben gefühlt hatte.
Die kommenden Wochen würden arbeitsintensiv werden, denn wie Erika erwähnt hatte, füllte sich das Wartezimmer um diese Jahreszeit erheblich schneller als im Sommer. Sie hatte die Stelle als Medizinische Praxisassistentin kurz nach Samuels Geburt angenommen und arbeitete gerne in der Praxis. Die Teilzeitstelle reichte gerade aus, um über die Runden zu kommen und sich so oft wie möglich um Samuel zu kümmern. Sie musste sich jetzt an die neue Freiheit gewöhnen, die Samuels Schulstart mit sich brachte …
Es war bereits weit nach 22 Uhr, als sie sich mit Samuel auf den Heimweg machte.
»Übrigens, sehen wir uns nächstes Wochenende zum Raclette-Essen?«, fragte Erika beim Abschied. Sie hatte Alix bereits vor einiger Zeit zu dem Abend eingeladen.
»Es könnte recht eng werden und ich wollte dich bitten, Samuels Kinderstuhl mitzubringen. Wir werden um die zwölf Personen sein und ich möchte sichergehen, dass genügend Sitzgelegenheiten vorhanden sind«, bat Erika, bevor sie sich mit Wangenküsschen von ihr verabschiedete.
»Ja, sicher. Kein Problem.«