Leseprobe Winterliebe am Meer | Ein Küsten Liebesroman

1. Prolog

Büsum, 2011

»Gewonnen.« Nele streckte beide Arme in die Höhe und ließ sich ins kühle Meerwasser fallen.

»Keine Ahnung, wie sie das immer schafft.« Malte nahm Frieda bei der Hand. »Los, komm, sonst behauptet sie wieder, wir seien wasserscheu.«

Frieda stemmte sich dagegen. »Das Wasser ist zu kalt. Mama wird böse, wenn ich eine Erkältung kriege.«

Malte verzog das Gesicht. »Das bisschen Wasser schadet bestimmt nicht. Heute ist ein warmer Tag.«

Malte hatte leicht reden. Er fror nicht einmal im Winter. Vermutlich hatte er ein integriertes Fell unter seiner Haut. Die dichten Locken auf seinem Kopf, kaum zu bändigen, waren ein Indiz dafür. Auch Frieda war heiß in ihrem Kleid und dem Pulli, den Mama ihr aufgedrängt hatte. Wenigstens ihre Zehen könnte sie ins Nass tauchen. Kurz entschlossen ließ sie sich mitziehen. Hand in Hand liefen sie die Stufen den Deich hinunter und erreichten das Wasser, in dem Nele planschte und ihnen zuwinkte.

Auf der vorletzten Stufe löste sich Malte von ihr und rannte weiter, bis es tief genug war, dass er hineintauchen konnte. Da gab es auch für Frieda kein Halten mehr. Zwei Schritte und sie plumpste auf ihren Po, schloss die Augen und genoss das kühle Nass, das sie bis zur Brust weich umspülte, sowie die warme Sonne auf dem Gesicht.

»Frieda!« Eine gellende Stimme riss sie aus dem wohligen Gefühl. Erschrocken sprang sie auf. Oben am Deich stand ihre Mutter. Sie trug ihr geblümtes Kleid, hielt die Strandpantoffeln in der Hand und ihren Strohhut in die Höhe, mit dem sie wild gestikulierte, als wollte sie um Hilfe rufen. »Was tust du da?« Es klang schrill, als müsste sie Frieda vor schlimmster Gefahr retten. »Komm sofort, sofort«, sie wiederholte das Wort noch um einige Dezibel lauter, »heraus.«

Frieda drehte sich zu ihren Freunden um. Beide standen starr, mit hängenden Schultern und traurigen Mienen, das Wasser reichte ihnen bis zur Hüfte. Es war nicht das erste Mal, dass ihre Mutter den Freundeskreis störte und sie mit ihrer Überfürsorge nervte. Sie schien stets ein Gespür dafür zu haben, wenn Frieda etwas Verbotenes tat. Die Fröhlichkeit fiel von ihr ab wie der Zuckerguss von der Torte. Mit gesenktem Kopf watete sie aus dem Wasser.

»Was ist dir nur wieder eingefallen, Liebes?« Die sanfte Stimme verbarg den Stahl darunter nur schlecht. »Du weißt doch, wie anfällig du bist. Du musst dich schonen.« Ihre Mutter legte das Handtuch um Frieda und begann sofort zu rubbeln. Unwillig riss Frieda sich los, eilte zu ihrem Platz und sammelte ihre Kleidung auf.

»Bestimmt haben dich die zwei wieder herausgefordert.« Das geblümte Kleid schwang um ihre Knie, als ihre Mutter zum Meer sah. »Ich habe dir bereits mehrfach gesagt, dass die beiden kein Umgang für dich sind.«

»Nele ist meine Cousine.« Frieda zog sich das Kleid über den Kopf.

»Nun ja, das stimmt. Aber, Liebling, du weißt doch, dass du etwas Besonderes bist. Deine Gabe wird dich berühmt machen.« Ihre Mutter bückte sich und hob Friedas Sonnenhut auf. »Setz ihn auf, damit du keinen Sonnenstich bekommst. Und dann gehen wir rasch nach Hause, du musst aus dem nassen Badeanzug heraus. Warum bist du bloß ins Meer gegangen!«

Frieda sah zurück, Nele und Malte waren weiter hinausgeschwommen. Sie schluckte. Hätte ihre Mutter nicht eine halbe Stunde später kommen können? Immer spionierte sie ihr nach.

Ihre Mutter hatte zu viel Zeit, weil sie nicht arbeiten musste. Als kleines Kind war Frieda nichts aufgefallen, doch als sie älter wurde, fragte sie sich, wie sich ihre Mutter das Haus, in dem sie lebten, leisten konnte. Erst seit ein paar Monaten wusste sie, dass ihr unbekannter Vater dafür bezahlte.

Offensichtlich eine Menge Geld. Dennoch hatte sie ihren geheimnisvollen Vater nie zu Gesicht bekommen. Sie wusste nur, dass er Stefan hieß.

»Ich habe gute Nachrichten, Frieda! Wir ziehen nach Wien. Dein Vater hat es geschafft, dass du an der Musikakademie Sound of Young Talents vorsingen darfst.«

In diesem Moment dachte Frieda nur eins: Ich werde endlich meinen Vater kennenlernen.

Kapitel 1

Frieda

14 Jahre später

Es ist nicht so kalt, wie ich an diesem ersten November befürchtet habe. Die wattierte Jacke bietet ausreichend Schutz, während ich die Straße von der Bahnstation entlanggehe. Es ist fremd und doch vertraut. Ein paar Menschen kommen mir entgegen: Touristen, eine Gruppe Kinder und schließlich ein älterer Mann. Rasch gehe ich weiter. Mit dem gemusterten Schal und der Wollmütze wird mich niemand erkennen.

Wer sollte das auch tun? Es ist vierzehn Jahre her, seit ich Büsum den Rücken gekehrt habe und nie mehr hergekommen bin. Und nun schleiche ich mich wie ein geprügelter Hund in den Ort, der einst mein Zuhause war. Frustriert, verzweifelt, unendlich traurig.

Alles ist zu Ende. Zerbrochen. Vorbei. Mein halbes Leben habe ich in meine Karriere investiert. Hatte keine Freizeit, keine Freunde, keine Liebe. Mein einziges Ziel war es, zu singen. Die Musik hat mich eingehüllt wie eine wohltuende Decke, mich umarmt, geküsst und auf ihren Schwingen voller Töne in die höchsten Lüfte getragen.

Zu hoch. Denn jetzt bin ich dermaßen hart auf dem Boden gelandet, dass der Schmerz unerträglich ist. Es gibt Tage, an denen ich kaum atmen kann. Vielleicht wäre es nicht so schlimm, hätte ich nicht kurz vor dem internationalen Durchbruch gestanden. Zumindest ist das die Meinung meiner Mutter.

»Das Goldkehlchen« haben mich die Zeitungen genannt. Der Spitzname ist mir geblieben, seit ich als Siebzehnjährige zum ersten Mal in der Staatsoper Wien gesungen habe.

Die Kritik hat es immer gut mit mir gemeint. »Außergewöhnliches Talent« – »Samt in der Kehle« – »Kräftig und voll« – niemals etwas Negatives.

Bis auf die letzte Schlagzeile.

Das Goldkehlchen ist für immer verstummt.

Meine Kehle schmerzt. Monoton setze ich einen Fuß vor den anderen, ziehe den Rollkoffer hinter mir her, während der schwere Rucksack zunehmend auf die Schultern drückt. Es ist nicht mehr weit. Zum Glück. Die Reise war lang. Flug von Wien nach Hamburg, mit dem Zug nach Büsum.

Mutter wollte mich abhalten, hierherzukommen. Doch ich habe das Gefühl, dass ich es tun muss. Nele, damals meine beste Freundin. Mein Onkel Knut und meine Tante Ingrid, sie sind meine Verwandten.

In Wien habe ich niemanden außer meiner Mutter.

Und ja, einen Vater, der sich nicht öffentlich zu mir bekennt. Er ist reich, mächtig und verheiratet. Aber nicht mit meiner Mutter.

Immerhin habe ich es ihm zu verdanken, dass ich hier bin. Mutter wollte es nicht, weil sie dachte, unser Haus wäre inzwischen verkauft worden.

Doch mein Vater hat es stattdessen lediglich in den Ferien vermietet. Und nun darf ich wieder einziehen. Solange ich möchte, hat er gesagt. »Erhol dich erst mal. Nach ein paar Monaten weißt du vielleicht, wohin dich dein Weg in Zukunft führen wird.«

Fast war er ein wenig erleichtert, dass ich Wien vorläufig verlasse. Weg von seiner Familie, die nie erfahren hat, dass ich seine Tochter bin.

Das schmutzige Geheimnis.

Spielt keine Rolle mehr, jetzt, da ich gestrauchelt bin und nicht weiß, wie es weitergehen wird. Ich kann nichts, außer singen, habe mich mein gesamtes Leben darauf vorbereitet, aufzutreten, in Opern mitzuwirken, Konzerte zu geben. Etwas anderes habe ich nicht gelernt.

Ich biege in die Straße mit den Häusern ein. Ist es wie früher? Bereits damals waren einige Häuschen als Ferienunterkünfte vermietet.

Es ist das vorletzte in der Reihe. Wie eine Welle erfassen mich Gefühle, als ich davorstehe, und ich schwanke ein wenig. Erinnerungen strömen auf mich ein, es ist gleichzeitig vertraut, warm und trotzdem anders. Das Holz könnte einen Anstrich gebrauchen, die Fußmatte ist neu. Ich stelle den Rollkoffer ab und schäle den Rucksack von meinem Rücken. Der Schlüssel liegt bei der Nachbarin. Das werde ich auch noch schaffen.

Ein kalter Luftstoß zieht mir den Schal vom Hals. Rasch zurre ich ihn wieder fest und mache mich auf den Weg zum Nachbarhaus.

Eine Klingel finde ich nicht, stattdessen klopfe ich an die Tür, die kurz darauf geöffnet wird. »Da bist du ja.« Die weißhaarige Dame im lila gemusterten Kleid zieht ihre weiße Strickjacke über der Brust zusammen. »Frieda, ich freu mich, dich wiederzusehen. Wie geht es dir? Ich konnte ja kaum glauben, dass du hierherkommst. Ich habe eine CD von dir. Aber du hattest bereits als Kind eine wunderschöne Stimme. Wie gern erinnere ich mich an die Auftritte mit dem Kirchenchor zu Weihnachten. Wohlklingend und voll.«

»Frau Schuster, ich freue mich auch.«

»Vielleicht magst du hier ein kleines Konzert in der Kirche geben? Das wäre eine tolle Geste …«

»Ich singe nicht mehr.« Es kommt schroffer heraus, als ich möchte. Ist es nicht bis hierher durchgedrungen?

Das Goldkehlchen ist für immer verstummt.

»Natürlich, du bist anderes Publikum gewohnt.« Der Tonfall ist kühler geworden. Sie schlurft zurück und nimmt den Schlüssel vom Haken. »Dein Honorar könnten wir uns hier nicht leisten. Ich hab einfach gedacht, um der alten Zeiten willen, für deine Heimat.« Sie brach ab. »Eine Ausnahme halt.«

Ich strecke die Hand aus und antworte nicht. Es ist, als fiele ein Vorhang über das Gesicht der alten Dame – sie muss mittlerweile Mitte siebzig sein –, ihre Mundwinkel sind nach unten gezogen, ihre Augen füllen sich mit Wasser. Sie wird doch nicht weinen? Schweigend überreicht sie mir den Schlüssel. »Schade«, sagt sie dann und schließt vor meiner Nase die Tür.

Ich atme durch. Warum habe ich ihr nicht ehrlich gesagt, weshalb ich nicht singen kann?

Weil es immer noch wehtut, es auszusprechen. Mit hängenden Schultern gehe ich zurück, sperre die Haustür auf und hole mein Gepäck. Minutenlang stehe ich im Flur.

Es ist anders. Das Haus ist nun ein Ferienhaus. Ohne persönliche Gegenstände darin. Meine Großeltern haben hier gewohnt und Mutter hat zumindest Fotos aufgehängt. Jetzt wirken die Möbel verwaist, nur leere Hüllen.

Auch Küche und Wohnraum sehen steril aus. Keine Blumen, keine der kleinen Figuren, die noch aus Omas Zeiten Regale und Ablagen bevölkert haben. Oma hat sie geliebt. Die Räume sind sauber und gepflegt. Mein Vater hat eine Firma damit beauftragt, und ich freue mich, dass ich in kein verwahrlostes, schmutziges Haus komme.

Ich gehe ins Wohnzimmer, setze mich auf die Couch und sehe aus dem Fenster. Von hier aus kann ich das Meer nicht sehen, doch die Gewissheit, dass es vorhanden ist und ich in zehn Minuten am grünen Strand sein kann, beruhigt mich irgendwie.

Aufseufzend lasse ich mich nach hinten fallen. Das Klingeln des Handys reißt mich aus dem Dämmerzustand, in den ich mich geflüchtet habe.

»Bist du gut angekommen?« Meine Mutter.

»Ja.« Ergeben schließe ich die Augen, denn ich weiß bereits, was kommt.

»Und? War das nötig?« Ihre Stimme klingt spitz. »Denkst du, im Norden wird es besser werden?«

»Ich brauche einfach Abstand zu allem.« Ich spreche leise, bin es müde, es immer wieder zu erklären. Mich rechtfertigen zu müssen, für das, was ich tue. »Warum bist du nicht mitgekommen? Onkel Knut ist schließlich dein Bruder. Möchtest du ihn nicht mal besuchen?«

Dumme Frage. Meine Mutter und ihr Bruder waren kein gutes Match.

»Ich wollte immer nur raus aus dem Kaff. Und was willst du dort machen? Dort gibt’s doch keinerlei Zukunftsaussichten für dich.«

»Und welche bietet mir Wien?« Plötzlich werde ich wütend. »Kannst du bitte einmal im Leben meine Entscheidung akzeptieren? Ich brauche Abstand, und hier habe ich die Möglichkeit.«

Sekundenlang ist es still. Meine Mutter ist einen derart heftigen Tonfall nicht von mir gewohnt. »Du wirst es bereuen«, sagt sie schließlich, fast resigniert. »Vor allem finde ich es unvernünftig, dass du nicht Professor Haiden konsultieren möchtest.«

»Mutter, ich war bei drei Spezialisten, alle haben dasselbe gesagt. Es ist vorbei, und ich muss nach vorn schauen.«

»Tu das. Und wenn du deinen Egoismus besiegt hast, dann melde dich.« Es klickt und tutet nur noch. Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Keins von beidem. Ich bin sauer. Meine Welt ist in Millionen Teile zerbrochen. Ich muss mich komplett neu finden, die Scherben aufsammeln und meinem Leben einen Sinn geben. Doch meine Mutter tut so, als wäre sie die Betroffene.

Plötzlich wird es mir zu eng im Haus. Ich muss hinaus, an den Strand. Kalte Luft bläst mir entgegen, Wolken ziehen auf. Dennoch drängt es mich, weiterzugehen, an den Häusern vorbei, mein Tuch vor das halbe Gesicht geschoben. Ich erinnere mich an die Nachbarn in der Straße. Ob sie noch alle hier wohnen? Der alte Justus gewiss nicht mehr, der war damals schon weit über achtzig. Familie Weinstetten vielleicht? Die hatten gerade ein Baby bekommen, als ich fortging. Frau Schuster weiß bestimmt Bescheid, doch ich möchte ohnehin wenig Kontakte. Wer weiß, wie lange ich hier bin. Ich habe mich nicht einmal richtig verabschiedet, weil ich nicht wusste, dass ich nicht zurückkommen würde. Einzig und allein die Aussicht, meinen Vater zu treffen, hat mich mitgehen lassen. Danach hat mich das neue Leben in Wien vereinnahmt. Als Vierzehnjährige gewöhnt man sich noch rasch um, und mein Weg war vorgezeichnet.

Plötzlich stehe ich in der Straße, an deren Ende das Wirtshaus von Onkel Knut liegt. Ob sie mich erkennen werden? Es ist vierzehn Jahre her. Sie wissen, dass ich komme, schließlich haben sie das Haus für mich vorbereitet. Es kann nicht schaden, kurz Hallo zu sagen.

Es beginnt zu regnen, und ich ziehe die Kapuze über mein Kopftuch. Nur wenige Menschen sind unterwegs, obwohl auch um diese Jahreszeit Touristen hier sind. Ich beschleunige meine Schritte. Der Regenschirm liegt wohlversorgt zu Hause, na, wenigstens hat er es trocken. Schließlich gelange ich zum Eingang. Dat Fischhuus, leuchtet mir die Inschrift auf dem Dach entgegen. Das ist neu. Damals war es ein altes Holzschild, dessen Schrift nach jedem Winter unleserlicher wurde. Drinnen brennt Licht, und durch die kleinen Fenster erkenne ich Bewegungen. Es scheint einiges los zu sein. Vermutlich kommt mein Besuch ungelegen. Um diese Zeit herrschte damals bereits Hochbetrieb, und offenbar erfreut sich die Kneipe bis heute großer Beliebtheit. Meine Schritte werden automatisch langsamer, und ich bleibe stehen.

Ein Geräusch hinter mir, ich fahre herum. Ein junger Mann, keine zwanzig Jahre alt, der abrupt stoppt. Er trägt eine rote Mütze, eine gleichfarbige Jacke und Sportschuhe. »Sorry«, sagt er.

Ich hebe beide Arme. »Auch sorry. Ich hätte nicht mitten auf der Straße stehen bleiben sollen.« Etwas wuselt an mir vorbei. Es ist ein weißer Husky, der an mir vorbeirennt, die Leine strafft sich und streift mich.

»Simba ist ungestüm, wenn es rausgeht. Sie war den ganzen Tag noch nicht richtig draußen und braucht die Bewegung dringend.« Er zieht an der Leine. »Simba, stopp.«

Sofort schlägt mein Herz höher. Dieser Hund mit dem weißen, flauschigen Fell, der sich artig hinsetzt und erwartungsvoll hechelt, hat es mir sofort angetan.

»Darf ich ihn streicheln?«

»Natürlich.«

Ich bücke mich und fahre durch das weiche Fell. »Du bist aber ein Schöner«, sage ich und erkenne mich selbst nicht wieder. Jedes Mal habe ich innerlich gelacht, wenn ich in Wien die alten Frauen mit ihren Handtaschenhündchen beobachtet habe, die in Babysprache mit ihren Lieblingen sprachen.

Und nun hocke ich hier vor einem Fellpaket und tue das Gleiche.

»Simba, du hast eine neue Freundin.« Der Junge kichert. »Sind Sie eine Touristin?«

»Halb.« Ich richte mich auf. »Habe früher hier gewohnt.« Dann strecke ich ihm die Hand hin. »Ich bin Frieda. Und du?«

»Tobias.«

»Ist das ein reinrassiger Husky?«

»Nein. Labrador ist auch dabei, sagt mein Onkel. Der muss es wissen, ist nämlich Tierarzt. Wir haben ihn damals am Strand gefunden, ausgesetzt. Aber wir haben nicht bedacht, wie viel Auslauf er braucht. Und meine Oma ist zu alt, obwohl man es ihr nicht anmerkt, seit sie mit der neuen Hüfte herumspringt. Nur das Gassigehen, das bleibt an mir hängen, denn mein Onkel ist in den Flitterwochen.«

»Frieda, ich glaub’s nicht! Hab schon gedacht, das Fenster spiegelt mir eine Fata Morgana vor.«

Ich drehe mich um. Eine blonde Frau überbrückt die wenigen Schritte vom Eingang des Wirtshauses zu mir. Wie damals hängt ihr glattes, weißblondes Haar zu einem Zopf geflochten über den Rücken. Was habe ich sie immer beneidet! Wie erwachsen sie geworden ist, eine bildschöne Frau. Dann vergesse ich zu denken. Stürmisch umarmt sie mich und ich rieche den Duft ihres Shampoos, Vanille und Pfirsich, denn sie ist gute zehn Zentimeter kleiner als ich. Offenbar ist sie nicht im gleichen Ausmaß hochgeschossen wie ich.

»Ist sie deine Freundin?«, fragt Tobias.

»Ja«, will ich schon antworten, als ich bemerke, dass er Nele anschaut.

»Meine Cousine, meine lang verschollene Cousine.« Sie rückt von mir ab und strahlt mich an. »So schön, dich wiederzusehen. Endlich. Mama und Papa werden sich ärgern. Sie sind gestern für eine Woche zu Tante Rieke aufgebrochen, du erinnerst dich? Das ist Mamas ältere Schwester, sie ist operiert worden … Ach, ich plappere zu viel.« Sie dreht sich zu Tobias. »Du kannst dich vermutlich nicht an sie erinnern, warst damals noch zu klein. Und du, Frieda, erkennst ihn wahrscheinlich nicht wieder.«

Ich sehe mir den Jungen genauer an. Er erinnert mich schon entfernt an jemanden. Nele hilft mir weiter. »Das ist Tobias Christiansen.«

»Der Urenkel von Antje, vom Souvenirladen.« Ich runzle die Stirn. »Richtig, Antje. Lebt sie noch?« Gleich darauf schlage ich mir auf den Mund. »Entschuldigung, das war jetzt taktlos.«

»Ach, Oma sieht das bestimmt nicht so eng. Sie ist dreiundachtzig geworden, ich wette, sie wird hundert. Seit sie eine neue Hüfte hat, arbeitet sie sogar ab und zu im Geschäft.« Simba bellt und Tobias lacht. »Ich komm ja schon. Mann, bin ich froh, wenn dein Herrchen wieder zurückkommt.«

»Sind Sebastian und Mia noch in den Flitterwochen?«, erkundigt sich Nele.

Sebastian, klar, der war im Gymnasium ein paar Klassen über uns.

Der Junge verzieht das Gesicht. »Schon seit zwei Wochen. Frag mich nicht, was die da tun auf der Insel. Menorca, da soll ja gar nichts los sein. Noch dazu jetzt im November.«

»Als sie weggefahren sind, war’s Oktober.« Nele zog die Mundwinkel amüsiert nach oben.

»Egal.« Der Junge zuckte mit den Schultern. »Sie haben sich erst einmal gemeldet, vermutlich weil sie so gar nichts zu berichten haben.«

»In den Flitterwochen hat man anderes zu tun, glaub mir. Ich habe meine Eltern auch nur einmal angerufen, und zwar, um ihnen mitzuteilen, dass wir gut angekommen sind.«

»Du bist verheiratet?« Ich staune. Wie viel habe ich noch versäumt? Mein Hals wird eng beim Gedanken, dass sie mich nicht zu ihrer Hochzeit eingeladen hat.

»Vor einem halben Jahr. Ich habe dir eine Einladung geschickt. Schriftlich.«

»Ich habe keine bekommen.«

»Nein?« Neles Gesicht zieht sich lang. »Das darf doch nicht wahr sein! Dabei war das Porto nicht ohne, und dann kommt nichts an.«

»Ich muss dann.« Tobias schiebt den Schal vors Gesicht. Er winkt mir zu und ich rufe ihm einen Gruß nach. »Ein netter Junge«, sage ich. »Leider kann ich mich gar nicht an ihn erinnern. Der muss damals vier oder so gewesen sein.«

»Tobi ist schwer in Ordnung.« Nele seufzt. »Obwohl er ohne Eltern aufwachsen musste.«

»Wieso das denn?«

Sie blinzelt kurz. »Richtig, du warst nicht mehr hier, als es passiert ist. Es war eine Katastrophe, ein furchtbarer Autounfall, bei dem Tobis Eltern, seine Großeltern und Sebastians Freundin ums Leben gekommen sind. Sie hieß Wiebke, erinnerst du dich? War in der Volleyballmannschaft der Schule.«

Ich runzle erneut die Stirn. »Nee, leider nicht. Den Sebastian sehe ich vor mir, der war nicht ohne.«

»Sieht immer noch gut aus.«

»Aber nicht so gut wie dein Mann, nicht wahr?« Ich stupse sie wie früher in die Seite.

»Niemand sieht so toll aus wie mein Mann.« Es gelingt ihr, todernst zu bleiben. Ich kann ein Glucksen nicht zurückhalten und die alte Vertrautheit, als ich mich mit Nele über Jungs ausgetauscht habe, ist wieder da. »Und Wiebke ist ebenfalls gestorben?«

»Ja. Es blieben nur Antje, Sebastian und Tobi übrig. Mittlerweile ist Sebastian Tierarzt geworden und glücklich verheiratet.« Nele öffnet die Tür. »Komm mal rein, ich mache dich mit meinem Mann bekannt.«

Wen sie wohl geheiratet hat? Malte erscheint in meinen Gedanken, wir waren schließlich unzertrennlich. »Ist es Malte?«, frage ich.

Sie bleibt stehen und sieht mich an, als wären mir plötzlich acht Beine gewachsen. »Malte? Mensch, Frieda, der war damals nur verrückt nach dir. Das musst du doch bemerkt haben.«

Nun erstarre ich. Malte? Konnte das stimmen? Wir waren Klassenkameraden, vierzehn Jahre alt. Fast die gesamte Freizeit, die meine Mutter mir zugestanden hat, habe ich mit Nele und Malte verbracht, meinen beiden Kumpels. Aber verliebt?

»Malte hat eine Touristin geheiratet.« Nele kräuselt leicht die Nase. »Doris. Es war die ganz große Liebe damals, er hat ziemlich rasch geheiratet, mit zwanzig oder so.«

Warum gibt mir das einen Stich?

Genau das tut es. Meine beiden Jugendfreunde haben ihr Glück gefunden.

Ich habe meins verloren.

Nele reibt sich über ihre Oberarme. »Ohne Jacke ist es kalt hier draußen. Komm auf einen Sprung rein. Und dann machen wir was aus, wenn ich länger Zeit habe.«

Sie zieht mich in die Wirtsstube des Dat Fischhuus. Überrascht bleibe ich in der Tür stehen. Der Innenraum ist komplett verändert. Die Beleuchtung ist anders: Statt der trüben Deckenlampen mit den matten Glühbirnen ist es nun, hinter Holzleisten verborgen, eine Randbeleuchtung, die das Licht indirekt ausstrahlt und eine gemütliche Atmosphäre verbreitet. Die Holztische sind mit hellen Tischtüchern bedeckt, auf jedem der Tische steht eine Kerze im Glas.

»Gefällt es dir?«

»Ja, wow! Es sieht wie ein Restaurant aus.«

»Kjell ist Koch und zaubert die allerbesten Gerichte.« Neles Gesicht überzieht sich mit einem verklärten Lächeln. »Er ist eine Bereicherung für uns.«

»Und dein Papa?«

»Die beiden sind ein Herz und eine Seele. Aber heute sind Papa und Mama zu einem Konzert nach Hamburg gefahren.«

»Wie schade!« Mir wird erst jetzt bewusst, wie gern ich sie wiedergetroffen hätte. »Dann sehe ich sie gar nicht.«

»Morgen sind sie ja wieder hier.« Nele geht voran und ich folge ihr. Die Tische sind besetzt und ich sehe zwei Kellnerinnen, die die Gäste bedienen. Nele lotst mich nach hinten und kurz darauf erreichen wir die Küche.

Auch hier hat sich einiges verändert. Der Raum wirkt heller und ist mit neuen Geräten und Arbeitsplatten ausgestattet. Eine Frau mittleren Alters schneidet Gemüse, ein jüngerer Mann, unter dessen Kopfmütze ein Schopf feuerrotes Haar hervorschaut, wäscht Töpfe ab. In der Mitte jedoch steht ein leicht untersetzter, blonder Mann, dessen weiße Kochmütze ihm ein majestätisches Aussehen verleiht. Seine Stirn ist durch zwei Stirnfalten geteilt und er wirkt streng mit dem zusammengekniffenen Mund, während er Gewürze in einen Topf streut.

»Kjell«, ruft Nele neben mir. Der Koch hebt den Kopf. Die Veränderung, die mit seinen Gesichtszügen vor sich geht, ist erstaunlich: Die Stirn glättet sich, die Mundwinkel verziehen sich zu einem Lächeln und die Augen beginnen zu leuchten. »Was gibt’s, Schatz?«

»Frieda ist da.« Sie dreht sich zu mir. »Frieda, das ist mein Liebster, Kjell.«

Kjell kommt um die Kochinsel herum und streckt mir die Hand entgegen. »Freut mich, dich kennenzulernen.« Er klingt höflich, aber ich spüre einen harten Unterton. Offenbar ist er nur nett zu mir, weil Nele das möchte.

Nele zieht mich bereits weiter. »Wir setzen uns nach hinten, dann bringe ich dir einen Teller Büsumer Krabbensuppe. Erinnerst du dich?«

»Natürlich. Dein Papa macht die beste.«

»Kjell kocht sie nach seinem Rezept. Mir schmeckt die von ihm fast einen Tick besser – aber verrate das bitte nicht Papa.« Wir erreichen den kleinen hinteren Raum, der ebenfalls umgestaltet wurde. Zwar steht noch der breite Holztisch in der Mitte, aber die Holzbänke sind durch eine gepolsterte Eckbank sowie Holzstühle mit Kissen ersetzt worden.

»Sieht gut aus«, sage ich mit ehrlicher Bewunderung. »Ich freue mich für dich, dass das Wirtshaus offenbar gut läuft.«

»Wir können nicht klagen.« Neles Blick ist genau wie der, den sie schon als Kind draufhatte: spitzbübisch-frech, mit leicht verzogenen Mundwinkeln und zwinkernden Augen. Sie streicht eine Strähne zurück, die sich aus ihrem Zopf gelöst hat. »Es kommen zunehmend mehr Touristen in den Ort. Deswegen wurde das große Hotel gebaut. Sicher ist es dir schon ins Auge gefallen.«

Nein, aber ich habe überhaupt noch nichts von Büsum gesehen.

»Kjell hat dort als Koch angefangen, vor sechs Jahren war das. Für mich also ein Riesenglück, es war Liebe auf den ersten Blick.«

Sie strahlt von innen. Nele war für mich immer schon eine Schönheit, die zarte Haut, das weißblonde Haar, die tiefblauen Augen – aber nun steht sie vor mir, und ihre Ausstrahlung wirft mich um.

Ihr Lachen, ihre Energie – still sitzen war nie ihr Ding – und ihre Empathie.

Sie hat mir so gefehlt.

Spontan umarme ich sie und sie erwidert den Druck, wir stehen eine Ewigkeit so da, bis ein Räuspern uns auseinanderfahren lässt. Kjell steht mit zwei Tellern dampfender Suppe in der Tür. Seine Stirn ist gerunzelt, die Lippen zusammengepresst, während er die Teller abstellt.

»Sind Gäste gekommen?«, fragt Nele.

Sofort glättet sich seine Miene. »Die anderen schaffen das schon.« In seiner Stimme liegt Zärtlichkeit. Im Hinausgehen streicht er Nele kurz über den Arm.

Sie lächelt ihn an, eine Innigkeit in ihrem Blick, die mir durch und durch geht. So muss Liebe sein.

»Setz dich, wir essen. Ich habe so eine Stunde, ehe der Rummel losgeht. Schade, dass Mama und Papa nicht hier sind, dann könnte ich mir freinehmen.«

»Das ist okay, Nele, ich habe nicht erwartet, dass du für mich alles stehen und liegen lässt.« Ich nehme auf der Bank Platz und schnuppere. »Kaum zu glauben, wie lange ich das nicht mehr gegessen habe.«

»Gibt’s in Wien vermutlich nicht.«

»Nein.« Ich tauche meinen Löffel in die cremige Suppe. »Aber dafür andere leckere Sachen. Vor allem Mehlspeisen.«

Nele sieht mich an. »Wie geht’s dir, Frieda? Und ich meine ehrlich, nicht den Unsinn, den du in diesem Interview von dir gegeben hast.« Sie isst einen Löffel Suppe.

Mein Löffel stoppt auf dem Weg zum Mund, dann lege ich ihn nieder. »Wie meinst du das? Du hast das Interview gehört?«

»Gelesen. Ich habe das meiste von dir verfolgt. Du hast eine steile Karriere hingelegt. Das Goldkehlchen, so ein schöner Kosename, und er ist so passend. Du hattest damals schon Gold in der Stimme.«

Ich nicke und beiße in das knusprige Brötchen. Die Erinnerung an das Mädchen von damals ist lediglich ein vages Bild in meinem Kopf. Nur die Zeit mit Malte und Nele, die erscheinen klar vor meinen Augen. Waren das doch die einzigen Stunden, in denen ich frei war. Meine Mutter hat meine Tage seit jeher verplant: Gesangsunterricht, Klavierspielen und Lernen – wie froh war ich gewesen, wenn ich dem Drill hin und wieder entkommen konnte.

»Hast du dich verliebt in Wien?«, fragte Nele weiter. »Entschuldigung, wenn ich dich so ausquetsche, aber ich weiß so gar nichts mehr von dir.«

»Kurz habe ich das gedacht. Doch ich hatte keine Zeit für einen Freund«, sage ich leise. Die letzten vierzehn Jahre, seit ich von hier fortgezogen bin, habe ich nur auf ein einziges Ziel hingearbeitet: eine berühmte Opernsängerin zu werden.

Ich spüre Neles Hand über meiner, die locker neben dem Teller liegt.

»Ich kann mir vorstellen, dass du kaum Freizeit hattest. Sich künstlerisch hinaufzuarbeiten, das ist kein Zuckerschlecken, nicht wahr? Und Tante Solveig ist ganz anders als Papa.« Sie isst weiter.

Ich muss lächeln. Diese Tatsache haben wir bereits als Kinder festgestellt. Onkel Knut hat mit meiner Mutter, obwohl sie Geschwister sind, keinerlei Ähnlichkeit, weder äußerlich noch innerlich. Onkel Knut arbeitet hart, während meine Mutter sich ausschließlich um mich gekümmert hat. Zudem ist er humorvoll, ständig gut aufgelegt, freundlich zu jedermann, knüpft gern Kontakte und ist der geborene Wirt. Mama hingegen hat sich stets für was Besseres gehalten, legt Wert auf Manieren und angemessene Kleidung. Sie konnte sich von jetzt auf gleich in die Schickimicki-Gesellschaft von Wien einfügen, als wäre sie immer schon dort zu Hause gewesen. Und sie ist, was mich betrifft, ein Kontrollfreak. Kein Wunder, dass ich früher viel lieber bei Onkel und Tante war als mit meiner Mutter allein. Oder im Haus von Maltes Eltern, da ging es auch immer hoch und her.

Die heiße Suppe tut mir gut.

»Es ist so wunderbar, dass du wieder hier bist.« Nele lächelt mich an.

»Nele, kommst du mal?« Der Rothaarige streckt den Kopf zur Tür herein.

Sie springt auf und streicht über ihre Schürze. »Ich muss leider, Frieda, aber ich komm dich bald besuchen. Oder du kommst her, bist jederzeit willkommen. Und bitte, iss fertig. Ich bin es schon gewohnt, schnell zu essen, weil die Zeit immer knapp ist.«

Sie umarmt mich kurz, dann verschwindet sie, und ich starre auf meinen halb vollen Teller. Gedämpft dringen Stimmen, Schritte, Geschirrklappern und Gläserklirren herein. Plötzlich hüllt mich die Einsamkeit ein wie ein frostiges Tuch. Ich esse weiter, der Appetit ist mir vergangen, und bin froh, als der Teller endlich leer ist.

Kjell steht auf einmal vor mir, ich habe ihn nicht kommen hören. »Satt?« Er wartet meine Antwort nicht ab, sondern nimmt die Teller und dreht mir den Rücken zu. »Du warst dir wohl zu gut, um zu schreiben, nicht wahr?«

»Was meinst du?« Meine Fingernägel bohren sich in die Handflächen, wie immer, wenn ich nervös bin.

Er stellt die Teller ab, wendet sich mir zu und verschränkt die Arme. »Ich habe einiges über dich gehört. Die tolle Cousine, die Berühmtheit mit der außergewöhnlichen Stimme – die sich in ihrem Ruhm suhlt und ihre alten Freunde vergessen hat. Und jetzt kommst du nach der langen Zeit und willst – was? Das würde mich interessieren.«

Meine Kehle schnürt sich zusammen und ich sehe in Kjells Gesicht. Es ist gerötet und die Stirnfalten sind tief eingegraben, seine Lippen zusammengepresst.

Ich bin doch nicht schuld daran, brüllt es in mir.

Die Chance zu antworten, ist vertan. Er nimmt die Teller und eilt in die Küche zurück.

Es dämmert draußen, mittlerweile ist es halb acht geworden. Ich betrete die Gaststube. Nele und ihre Helfer wuseln hin und her, ich winke ihr kurz zu, gehe zwischen den Tischen durch, bis ich im Freien stehe. Von hier ist es nicht weit zum Strand. Ich habe Sehnsucht nach dem Meer. Doch als ich die Promenade erreiche, ist es wirklich dunkel geworden. Der Mond als winzige Sichel ist als Beleuchtung unzureichend. Das dunkle Meer liegt schwach glitzernd vor mir.

Ich bleibe stehen und sauge die salzige Luft ein. Kaum zu glauben, dass ich das vierzehn Jahre nicht getan habe.

Warum habe ich nicht darauf bestanden, wenigstens für einen Urlaub hierherzukommen?

Urlaub! Es stößt mir bitter auf. Als ob ich einen gehabt hätte, die Ferien waren voll mit Terminen, Kursen, Proben. Meine Mutter hat mir keine Luft gelassen, doch ich habe mitgespielt.

Weil ich mich für etwas Besonderes gehalten habe.

Kapitel 2

Frieda

»Weshalb kommt mein Vater nie her?« Frieda saß auf der Bank vor dem Haus. Sie und Nele halfen ihrer Mutter, Kirschen zu entsteinen.

Während sie pulten, schwangen die beiden Mädchen ihre nackten Füße hin und her.

»Frieda, ich habe es dir schon mehrfach erklärt. Dein Vater ist ein bedeutender Mann, der kann nicht so einfach fort. Er arbeitet rund um die Uhr und er wohnt weit weg.«

»Hat er kein Flugzeug?« Nele hob die Finger von der Schüssel, der rote Kirschsaft tropfte hinein. »Mein Papa wäre traurig, wenn er mich nicht jeden Tag hätte.«

»Du hast einen Kirschstein übersehen.« Mama zeigte mit spitz gefeiltem Nagel auf eine Kirsche in Neles Topf. »Konzentriert euch lieber auf die Früchte, statt euch den Kopf über jemanden zu zerbrechen, der euch nichts angeht.«

Nele sah zu Frieda, die ihr bedeutete, still zu sein. Mit Mama zu diskutieren, das war zwecklos.

Die Erinnerungen überfallen mich wie Flashmobs. Mittlerweile fühle ich mich bereits wieder zu Hause. Tante Ingrid und Onkel Knut haben ihren Aufenthalt in Köln verlängert, wie mir Nele geschrieben hat, und sie selbst hat im Wirtshaus jede Menge Arbeit, sodass ich allein geblieben bin. Mittlerweile habe ich einen täglichen Rhythmus gefunden. Den Nachbarn gehe ich nach kurzen Begrüßungen aus dem Weg. Vor allem Frau Schuster, deren Fragen ich fürchte. Einkaufen, Spaziergänge den Deich entlang, lesen, Musik hören und das Haus putzen. Ich habe sämtliche meiner Kleidungsstücke eingeräumt und einiges gekauft. Beispielsweise gefütterte Gummistiefel. Oft sitze ich nur da und starre aus dem Fenster.

Mein Handy klingelt, es ist zum x-ten Mal meine Mutter, sie ruft täglich mehrmals an und wiederholt sich ständig. Wann ich endlich wieder zurückkäme, und ich solle zu diesem Spezialisten in die Schweiz fahren. Diesmal muss ich rangehen, sonst alarmiert sie die Feuerwehr. Jedes Mal, wenn ich mit ihr spreche, fühle ich mich in meine Teenagerzeit zurückversetzt.

»Endlich!« Den dramatischen Tonfall kenne ich bei ihr, und ich seufze innerlich. »Ich habe mir Sorgen gemacht.«

»Das musst du nicht.«

»Frieda, warum willst du nicht zu Professor Haiden? Dein Vater kann einen Termin mit ihm vereinbaren. Du weißt, er ist eine absolute Koryphäe und wird dir helfen …«

»Lass gut sein, Mutter. Ich muss damit leben und ich möchte auch zu keinem noch so brillanten Spezialisten gehen. Versteh mich bitte. Ich bin hier, weil ich mein Leben neu aufstellen muss, und brauche etwas Zeit für mich.« Ich spreche langsam und geduldig, wie bereits in den letzten Tagen. Doch ich kann nicht verhindern, dass ich zunehmend genervt bin.

»Die du in der Einsamkeit vergeudest. Was tust du den ganzen Tag?«

»Das Gleiche wie du damals.« Ich höre, wie sie geräuschvoll einatmet.

»Das ist unfair, Frieda, und das weißt du. Ich hatte dich, ein kleines Kind zu versorgen, und musste mich um das Haus kümmern. Das kann man nicht mit dir vergleichen.«

»Nein.« Die altbekannte Müdigkeit lähmt mich. »Tut mir leid. Gib mir einfach Zeit.« Dann reitet mich ein Teufelchen. »Warum kommst du nicht auch her?«

»Nein, gewiss nicht, Kind. Ich fühle mich wohl in Wien.«

Mit Vaters Geld. Es kann mir egal sein. Ich will Ruhe und am allerwenigsten brauche ich meine Mutter hier. Innerlich atme ich auf.

»Aber dass du dort einsam bist …«

»Hier lebt doch dein Bruder mit Familie.«

»Ach, Knut.« Es klingt abfällig. Die beiden haben niemals in der gleichen Welt gelebt.

Da fällt mir Nele ein. »Sag mal, wusstest du, dass Nele geheiratet hat? Sie hat gesagt, sie hätte uns eine Einladung geschickt.«

Es bleibt still und ich fröstle. »Mutter? Du hast es gewusst?«

»Du warst krank, Kind. Völlig außer dir, hast gerade erfahren, dass deine Stimme … Du hättest ohnehin nicht hinfahren können.«

Mir bleiben die Schreie im Hals stecken.

»Ich muss Schluss machen, heute Abend ist die Eröffnung der Ausstellung. Impressionismus. Dein Vater hat mir Karten besorgt.«

»Halt«, kreische ich. »Du kannst jetzt nicht auflegen. Wie konntest du mir das verheimlichen? Es ist meine Entscheidung, ob ich hätte hinfahren wollen.«

»Du hast anderes im Kopf gehabt, sei nicht kindisch. Du hattest doch seit Jahren keinen Kontakt zu Nele.«

»Du hast das hinter meinem Rücken entschieden! Ich fass es nicht!«

»Ich muss jetzt wirklich Schluss machen, wir telefonieren ein anderes Mal.«

Sie ist weg. Ich starre fassungslos auf das tote Handy und schreie – nein, brülle – auf.

Vor drei Monaten war ich am Boden zerstört. Vielleicht hätte mich die Hochzeit und das Wiedersehen aufheitern können?

Ich sitze minutenlang da und starre in die Luft. Hat meine Mutter noch mehr verheimlicht?

Erst eine halbe Stunde später ziehe ich mich an. Mein Handy piept. Nele textet mir, dass ihre Eltern übermorgen zurückkommen werden.

Ein Anflug von schlechtem Gewissen überspült mich. Nele wundert sich bestimmt, dass ich nicht mehr im Fischhuus aufgetaucht bin. Ich habe mich gefreut, sie wiederzusehen, und die alte Vertrautheit ist aufgeflammt. Doch Kjells Auftreten hat mich entmutigt. Ich werde warten, bis Onkel Knut und Tante Ingrid zurück sind.

Eisiger Wind schneidet mir in die Wangen. Ich ziehe mein Wolltuch hoch und die Kapuze über die Wollmütze. Das Wetter passt zur Stimmung, ich brauche die Kälte, damit ich weiß, dass ich am Leben bin. Mutters Verrat nagt an mir. Und der Verdacht, dass sie auch damals die Briefe nach Büsum nicht abgeschickt hat. Der Vertrauensbruch macht mir zu schaffen.

Ohne dass ich nach rechts oder links schaue, führen mich meine Füße Richtung Strand. Ich sehe nach unten, wie sich die gelben Gummistiefel Schritt für Schritt in den feuchten Sand graben, und ich brauche Kraft, um vorwärtszukommen.

Plötzlich höre ich Bellen, und als ich mich umdrehe, rennt Simba auf mich zu. Der wunderschöne Husky-Mischling setzt sich vor mich in den Sand, ein Stöckchen im Maul. »Da will wohl jemand spielen?« Weit hole ich aus und werfe das Stöckchen, begeistert rennt Simba hinterher. Was für elegante Bewegungen das sind! Ich drehe mich um und halte nach Tobi Ausschau.

Stattdessen stoppt eine junge Frau, leicht keuchend, vor mir. »Oh, da hat Simba wohl eine neue Eroberung gemacht. Ich habe mich schon gewundert, weshalb sie dermaßen schnell gelaufen ist.« Mit ihrer modernen Sportkleidung und dem Stirnband um das dunkelblonde Haar, das sie zu einem Pferdeschwanz gebunden hat, könnte sie Modell für einen Katalog stehen. Lächelnd streckt sie mir die Hand entgegen. »Hallo, ich bin Mia.«

»Frieda. Ich habe Simba zusammen mit Tobias letzte Woche getroffen. Du musst diejenige sein, die in den Flitterwochen war.« Das Du erscheint mir selbstverständlich. »Hattet ihr eine schöne Zeit?«

Mias Augen leuchten auf. Ich schätze sie auf ein bisschen jünger als mich, doch sie wirkt mit sich zufrieden. Etwas, das mir momentan fehlt. Simba kommt zurück und legt mir das Stöckchen zu Füßen, rasch werfe ich es erneut.

»Stimmt, es war traumhaft schön. Sebastian und ich sind gestern zurückgekommen.« Ihr Gesicht ist ein einziges Strahlen. »Er muss heute wieder arbeiten. Vermutlich laufen ihm seine vierbeinigen Patienten die Türen ein.«

»Sebastian ist also Tierarzt geworden, und ich dachte immer, er wird Sportler.«

»Kennst du ihn?«

»Er war auf derselben Schule wie ich damals. Lang ist es her.«

»Wow, klasse! Dann kannst du mir ja ein paar Geheimnisse von ihm erzählen.«

Ich muss grinsen. »Leider nein, ich war vier Klassen unter ihm.«

Simba springt bellend an mir hoch.

»Benimm dich, Simba.« Mit rubbelnden Bewegungen massiert sie ihre Oberarme. »Ich fürchte, ich muss weiterrennen, sonst friere ich. Wollen wir mal zusammen was trinken gehen? Vielleicht fällt dir noch was ein, ein Jugendstreich meines Mannes. Der würde Augen machen, wenn ich plötzlich einen seiner Streiche aufdecke.«

Die Frau ist erfrischend liebenswürdig. In den wenigen Minuten besteht eine Verbundenheit, als würden wir uns bereits Jahre kennen. Das ist mir nie zuvor passiert.

»Gern«, höre ich mich sagen.

»Super.« Mia zieht ihr Handy heraus. »Ich speichere deine Nummer gleich mal ab.«

Eine Minute später sehe ich ihr nach, wie sie den Strand entlang joggt. Simba rennt neben ihr her. Sie wirkt glücklich. Kunststück, Frieda, sie ist frisch verheiratet. So kurz nach der Hochzeit sieht man das Leben nur rosarot.

Über meins schiebt sich erneut der graue Vorhang. Manchmal denke ich, schwarz wäre mir lieber. Denn das würde alles abdecken und ich könnte alles vergessen. Die Farbe Grau verschleiert die Umgebung bloß in düstere Farben und das Elend wird mir so ständig vor Augen geführt.

Zu Hause angekommen, stelle ich mich unter die heiße Dusche. Plötzlich kommt mir mein Vater in den Sinn, die letzte Begegnung mit ihm.

»Spann dich ein paar Wochen aus, Liebes.« Seine Stimme ist ungewohnt sanft. »Was du brauchst, ist Abstand, komm erst mal zur Ruhe.«

»Du unterstützt das auch noch?« Meine Mutter klingt wütend, wie bereits die letzten Tage. Seit ich mich geweigert habe, mich von dem ach so tollen Spezialisten Professor Haiden untersuchen zu lassen.

»Für ein paar Wochen.« Er legt mir die Hand auf die Schulter. »Du bist aus der Schusslinie von den Journalisten …«

»Die haben doch ohnehin schon das Interesse an ihr verloren.« Ihre Augen funkeln, als sie nun direkt zu mir spricht. »Du könntest wenigstens dieses Zeitungsinterview machen, das Zelda für dich ausgemacht hat.«

»Solveig, es reicht.« Mein Vater drückt meine Schulter. »Die Zeit in Büsum wird dir guttun.«

Die heiße Dusche hilft nicht, die Schwermut wegzuwaschen. Ich schleppe mich in die Küche und brühe mir Tee auf, Zitrone-Mango. Zum Glück habe ich Matjesfilets eingekauft, die ich zum Mittagessen verspeise, danach liege ich auf der Couch und starre in die Luft. Wie soll mein Leben nun weitergehen? Muss es das?

Ich werde nie wieder singen können. Die harte Arbeit – alles umsonst. Während Gleichaltrige ausgingen, Spaß hatten, Sport betrieben oder einfach nur zusammensaßen – habe ich geübt. Mir die Finger wund gespielt, weil meine Mutter der Überzeugung war, dass ich zumindest ein Instrument beherrschen müsse. Und meine Gesangsübungen ausgeführt. Auf alles verzichtet, was mir hätte schaden können, meine Stimme beeinträchtigen würde und vor allem – ich habe sonst nichts gelernt.

Die Reifeprüfung, ja, aber jeder weiß, dass ein Schulabschluss nur die Grundlage für eine Weiterbildung ist. Mein Klavierspiel ist nett anzuhören, doch selbst bei maximalem Wohlwollen reicht es nicht zur Konzertpianistin. Gitarre habe ich ebenfalls gelernt, hauptsächlich zur Liedbegleitung.

Da der entscheidende Punkt, der mich als Sängerin prädestiniert hat, nämlich meine Stimme, weggefallen ist, ist alles andere überflüssig geworden.

Ich bin wertlos.

Der Fall ist ungeheuer tief. Vom gefeierten Goldkehlchen zur bedauernswerten Frau, die ihre Stimme verloren hat.

Ich rolle mich zusammen, die Tränen fließen ungehemmt, während mein Herz in unheimlichem Tempo gegen die Rippen pocht. Hier sieht mich niemand, hört mich oder verlangt irgendwas von mir. Ich schalte den Fernsehapparat ein, ohne richtig hinzusehen. Gegen vier gebe ich den Kampf auf: Ich schleppe mich ins Bad, angle meinen Kosmetikbeutel und nestle das Päckchen heraus. Die Beruhigungstabletten für den Notfall. Meine Finger zittern, als ich die weiße Tablette aus dem Blister drücke. Klein und unschuldig liegt sie auf der Handfläche. Nur heute, verspreche ich mir und schlucke sie hinunter.

Mein Kopf dröhnt und mein Rücken fühlt sich an, als hätte ich einen Tritt bekommen. Durch das Fenster fällt fahles Licht. Kaum zu glauben, ich habe die Nacht auf der Couch verbracht. Die Erinnerung sickert in mich ein wie zäher Schleim. Meine Blase drückt. Mühselig kämpfe ich mich hoch, blinzle, kann nur durch einen Schleier sehen. Im Schneckentempo schleppe ich mich halb gebückt die Treppe hinauf, als plötzlich eine Stufe einbricht.

Das macht mich hellwach. Ein Brett hat sich gelöst und hängt. Dabei stelle ich fest, dass die Treppe zum Teil morsch geworden ist. Vorsichtig gehe ich am Rand hinauf, die Konstruktion ist wacklig.

Ich rufe Nele an. »Hi, an dich habe ich gerade gedacht. Der Weihnachtsbaum wird heute im Hafen aufgestellt. Magst du zuschauen?« Ihre fröhliche Stimme hebt meine Stimmung um ein paar Millimeter.

»Gern. Ich musste mich erst einrichten.« Es ist nur halb gelogen, lügen konnte ich noch nie.

»Meine Eltern kommen endlich heim. Tante Rieke geht es besser. Sie freuen sich schon, dich zu sehen.«

»Ich mich auch.« Die beiden waren mir damals sehr nahe, ich habe sie vermisst. »Nele, ich rufe an, weil die Treppe …« Rasch schildere ich das Malheur.

»Geh zu Malte. Mich wundert ohnehin, dass er noch nicht bei dir war.«

»Weshalb hätte er das tun sollen?« Malte? In mir kribbelt etwas.

»Es ist kein Geheimnis, dass du wieder hier bist. Er hat eine eigene Tischlerei, habe ich dir doch gesagt. Da ist deine Treppe in den besten Händen.«

Auf einmal freue ich mich, meinen Jugendfreund wiederzusehen.

»Nele, ich habe gestern mit meiner Mutter telefoniert.«

»Du musst wieder nach Wien? Das kann sie nicht machen. Du bist gerade erst angekommen und …«

»Stopp, das ist es nicht. Sie hat mir gebeichtet – nein, eher kühl mitgeteilt –, dass sie mir deine Einladung zur Hochzeit unterschlagen hat. Weil es das Beste für mich gewesen sei.«

»Was?«

Ich sehe förmlich vor mir, wie Neles Mund offen stehen bleibt. »Es sei das Beste für mich. Zu der Zeit war klar, dass ich nie mehr würde singen können …«

»Deine Mutter ist wirklich das Letzte. Hoffentlich kommt sie mal her, dann sage ich ihr das ins Gesicht!« Es klingt so wütend. Ich sehe sie vor mir, mit hochroten Wangen und zusammengekniffenen Augen.

»Sie hat einfach das Gespräch abgebrochen.« Auch mein Zorn steigt wieder. »Ich habe keine Ahnung, ob ich ihr noch vertrauen kann. Zumindest wird sie sich eine Weile nicht melden.«

Stimmen und Geräusche sind im Hintergrund zu hören, Nele spricht kurz mit jemandem. »Ich muss Schluss machen, wir reden ein anderes Mal ausführlich drüber.« Sie nennt mir die Adresse von Maltes Tischlerei und nach einem verspäteten Frühstück ziehe ich mich warm an und genieße die kalte Luft. Es riecht besser als in der Stadt. Frisch und wie Weihnachten, haben wir früher immer gesagt. Ob ich zum Aufstellen des Baums zum Hafen gehe? Ich erinnere mich an die Faszination, die der riesige Baum mitten auf einem Floß am Hafen auf mich ausgeübt hat.

Die Vorfreude steigt. Wie Malte wohl aussehen mag? Ich bin auch gespannt auf seine Frau. Dass er so früh geheiratet hat, erstaunt mich noch immer. Es muss eine große Liebe sein, die die beiden verbindet.

Diesmal gehe ich bewusst durch die Hauptstraße in Büsum und komme an zahlreichen Läden vorbei, darunter auch an dem Souvenirladen Bi Antje un Hedda. Die beiden waren für mich damals schon zwei alte Damen, für ein Kind sind natürlich sämtliche Erwachsenen alt. Kurz bleibe ich stehen. Die Eingangstür ist mit einer Lichterkette verziert, und im Schaufenster steht ein Rentier mit roter Nase. In zwei Wochen beginnt die Adventszeit, in den Geschäften ist man früher dran. Durch die verglaste Tür sehe ich einige Menschen. Bi Antje un Hedda scheint gut besucht zu sein. Ob ich auf einen Sprung hineingehen soll? Damals war ich oft im Geschäft, denn zu dieser Zeit haben es mir die kleinen Kunstwerke angetan: Figuren, Leuchttürme, bedruckte Servietten, Muscheln, Schneekugeln und Holzschnitzereien. Ich fühle förmlich die zarten Dinge durch meine Finger gleiten. Wie oft habe ich in die Tasche gegriffen und geprüft, ob ich genug Geld dafür hatte?

Bei meinem spontanen Aufbruch aus Wien habe ich nichts zum Dekorieren mitnehmen können. Aber schließlich ist in ein paar Wochen Weihnachten und das geht ohne Deko nicht. Ich muss Nele fragen, ob sie die Gegenstände für mich in einen Karton gepackt hat. Geschrieben habe ich es ihr damals. Hitze steigt in meine Wangen, denn meine Mutter fällt mir ein. Hat sie die Briefe abgeschickt?

Zuerst muss ich das Haus unter die Lupe nehmen, bestimmt sind die Sachen in einem der Schränke.

Antje habe ich besonders liebevoll in Erinnerung, sie hat mir oft Nachlass gewährt, wenn ich ein paar Euro zu wenig hatte. Mia hat Glück, in diese Familie eingeheiratet zu haben.

Rasch gehe ich weiter. Alle sind verheiratet.

Und schweben im siebten Himmel. Nele. Malte vermutlich ebenfalls.

Dass seine Tischlerei ein Erfolg ist, bezweifle ich nicht. Bereits als Junge war er unheimlich geschickt mit seinen Fingern.

Meine Freude, ihn wiederzusehen, steigert sich mit jedem Schritt. Endlich erreiche ich die richtige Straße und stehe schließlich vor einem lang gezogenen Holzgebäude. Von drinnen ertönt eine Säge. Da ich an der Tür keine Klingel finde, klopfe ich und trete ein.

Das Geräusch der Kreissäge verstummt, und ich sehe kraftstrotzende Arme, die ein Brett hervorziehen und dieses Richtung Tisch in der Mitte bewegen.

Malte ist ein kräftiger Mann geworden. Das T-Shirt spannt unter seinen Muskeln. Sein Haar ist anscheinend auch heute noch schwer zu bändigen. Die Locken hängen bis in seinen Nacken. Neu ist der schmale Bart, der sein Kinn umkränzt.

Niemals hätte ich gedacht, dass der schmächtig gebaute Junge von damals ein Muskelpaket werden könnte.

Ich trete näher. Er hat mich noch nicht gesehen, so scheint es. Mit einem Hobel bearbeitet er das Brett.

»Moin, Malte«, sage ich.

Er arbeitet weiter, als hätte er mich nicht gehört, dabei habe ich laut gesprochen.

Was ist los mit ihm? Ich gehe um den Tisch herum auf die andere Seite, sodass er mich auf jeden Fall sehen muss, sobald er den Blick hebt. Doch das tut er nicht. Er schiebt den Hobel auf und ab, ohne mich zu beachten.

Schweigend beobachte ich ihn. Minuten vergehen. Enttäuschung steigt in mir auf und treibt mir Tränen in die Augen. Dann überschwemmt mich Zorn. Ich weiß nicht, was Maltes Problem ist, aber schließlich komme ich als Kundin. »Hallo, Malte.« Entschlossen lege ich alles an Lautstärke in meine Stimme, was geht, ohne zu schreien. »Behandelst du alle Kunden so?«

Nun hebt er den Kopf und sieht mich zum ersten Mal an. »Nur die, die es verdienen.«

»Und ich verdiene es, ignoriert zu werden?«

Er wirft den Hobel weg, richtet sich auf und verschränkt die Arme. »Was glaubst du denn? Madame gefeierte Opernsängerin lässt sich herab, meine bescheidene Werkstatt zu betreten? Nach vierzehn Jahren Funkstille? Hast wohl das Schreiben verlernt in Wien, was? Na, wer singen kann, der muss nicht schreiben können.« Er lässt die Arme sinken, geht um den Tisch herum und bleibt direkt vor mir stehen. »Weißt du eigentlich, was du Nele angetan hast? Sie hat monate-, nein, jahrelang drauf gewartet, dass du dich meldest. Weshalb bist du nun da? Haste keine Lust mehr zu singen?«

Meine Vermutung wird zur Gewissheit. Meine Mutter hat die Briefe nicht abgeschickt.

Ich weiche zurück, kann jedoch nicht verhindern, dass mir sein Duft in die Nase steigt. Herbes Duschgel, das zart nach Minze duftet, vermischt mit einem leichten Ton seines eigenen Geruchs. Es macht mich wahnsinnig. Das ist Malte, mein Jugendfreund! Und er ist verheiratet! Zudem nicht gut auf mich zu sprechen.
Halt, was hat er gesagt?

Ich möchte antworten, ihm erklären, dass ich mein Handy verloren hatte und alles Weitere, doch Malte kommt um die Werkbank herum und tippt mit dem Finger gegen meine Brust. »Jetzt bist du zurück, hurra! Und vermutlich willst du nun das Leben deiner Mutter führen, nicht wahr? Nicht arbeiten und Geld ausgeben. Ist ja noch schöner als singen. Sonst haste ja nichts gelernt.«

Mein Hals ist plötzlich wie zugeschnürt. Malte hat es auf den Punkt gebracht. Ich habe nichts gelernt, außer singen. Und ein bisschen Klavier spielen sowie Gitarre für den Hausgebrauch.

Nutzlos.

Mir wird übel.

Weshalb ist er bloß dermaßen zornig auf mich?

Ich schiebe ihn zur Seite und renne an ihm vorbei Richtung Tür.

»Frieda?« Seine Stimme klingt auf einmal ruhiger, unsicher, fast zärtlicher.

Ich reiße die Tür auf und bin draußen.

Im Nachbarort wird es einen anderen Tischler geben, so hoffe ich. Wenigstens weiß ich jetzt, was Malte von mir denkt.

Und ich werde mich nicht mehr von seinem Geruch betören lassen.

Ein zweites Mal höre ich ihn rufen. Offenbar ist er mir nachgegangen. Doch ich drehe mich nicht um, sondern eile die Straße zurück und mische mich in der Hauptstraße unter die Menschen.

Auf einmal stehe ich im Souvenirladen, ohne zu wissen, wie ich hierhergekommen bin. Wohlige Wärme umgibt mich. Ich bin nicht allein im Laden. Mehrere Touristen sehen sich die Sachen an. Vor mir ist ein Regal mit weihnachtlichen Gegenständen. Biegsame Nikoläuse, Engelchen aus Filz, Holz und Kunststoff, ein Leuchtturm, auf dem ein Weihnachtsmann steht. Ich nehme ihn in die Hand. Er ist kitschig und gibt mir doch Halt in diesem Moment.

»Bist du nicht die Frieda? Frieda Sören?« Eine ältere Dame kommt auf mich zu. Sie hat weißes, halblanges Haar und trägt eine Brille mit runden Gläsern auf der Nase, die aus dem faltigen Gesicht schaut.

»Antje! Wie schön, dich wiederzusehen.«

»Ich freu mich auch, Kindchen.« Sie umarmt mich. »Was bist du für eine elegante Dame geworden. Ich sehe dich immer noch als Wildfang mit Storchenbeinen. Deine Vorliebe für glitzernde Dinge hast du dir erhalten, nicht wahr?«

Ich nicke und freue mich unglaublich. Meine Begegnung mit Malte rückt zwar ein wenig in den Hintergrund, beschäftigt mich jedoch immer noch. Antje sieht nicht aus wie Mitte achtzig, sondern wirkt fit und agil. »Tobi hat mir bereits erzählt, dass du ab und an im Geschäft bist.«

Sie lächelt, ihre Lachfalten vertiefen sich. »Ja, nu, ich tu es gern. Meist springe ich nur kurz ein, wenn Hedda zum Arzt muss oder etwas zu erledigen hat. Und jetzt vor Weihnachten hilft uns auch Lisa Arndt. Du wirst dich nicht mehr an sie erinnern. Sie war noch klein, als du fortgingst.«

»Rolf Arndts Enkelin.«

»Jo. Sie studiert, wird in zwei Jahren fertig. Vielleicht will sie mal den Laden übernehmen. Hedda ist auch nicht mehr die Jüngste, und wir müssen bald eine Nachfolgerin finden. Wenn es nach ihr geht, dann arbeitet sie zwar noch zwanzig Jahre, dennoch muss man sich beizeiten eine passende Unterstützung holen. Oder den Laden verkaufen. Aber das wollen wir nicht so gern tun, denn dann fiele er an eine Ladenkette.«

»Das wäre schade! Das Geschäft lebt doch durch die zahlreichen handwerklichen Gegenstände, die es hier gibt, statt des Krams aus China.«

»Stimmt. Ich hoffe, dass das lange so bleibt.« Sie sieht mich an. »Jetzt erzähl du, Kindchen, wie ist es dir ergangen?« Ehe ich antworten kann, fragt eine Kundin Antje nach Girlanden, und Antje führt sie nach hinten.

Kurz schießt mir der Gedanke in den Kopf: Wäre das etwas für mich? Souvenirs und Kleinkram verkaufen? Ich weiß, dass ich irgendwann einen Job brauche. Nur vom Geld meines Vaters zu leben, wie meine Mutter es getan hat, möchte ich vermeiden. Und mein eigenes Erspartes wird nicht ewig halten.

Mein Blick streift all die bunt aufgereihten Artikel in Antjes Laden. Ich sehe mich hinter der Kasse stehen, Jahr um Jahr, älter und älter werden – nein. Das kann ich mir nicht vorstellen.

Als Aushilfe, jedoch nicht auf Dauer.

Ein paar ältere Damen betreten den Laden, und ich sehe mir weitere Artikel an, ehe ich mit dem Leuchtturm zur Kasse gehe. Ich reihe mich hinter den Touristinnen ein, sie haben sich mit T-Shirts und Handtüchern beladen, eine hat eine Möwe aus Plüsch. Antje kommt zurück. »Tut mir leid, heute ist aber wirklich eine Menge los.«

Sie lächelt, als sie den Leuchtturm nimmt, den Preis eintippt und ihn schließlich in eine Tüte steckt. »Viel Freude damit. Und komm wieder mal vorbei.«

»Mach ich, noch einen schönen Tag.«

Das kurze Zwischenspiel hat mich ein wenig abgelenkt, doch nun sehe ich wieder Maltes zorniges Gesicht vor mir. Dass er dermaßen ausgeflippt ist, irritiert mich. Ja, ich hätte mich melden und zumindest auf Social Media Kontakt aufnehmen können. Aber ich war vierzehn Jahre alt und gekränkt, dass niemand auf meine Briefe geantwortet hat. Und meine Mutter hat mich noch getröstet und ermuntert, nach vorn zu schauen.

Kjell fällt mir ein, auch er hat mir Vorwürfe gemacht. Nele hingegen hat mich mit offenen Armen aufgenommen. Aber das ist Neles Art. Sie konnte nie jemandem lange böse sein. Ich muss sie auf jeden Fall fragen, obwohl ich die Antwort bereits kenne. Auch sie hat nie einen Brief von mir erhalten, da bin ich mir sicher.

Zu Hause angekommen, stelle ich den Leuchtturm ans Fenster. Er macht sich gut, die erste weihnachtliche Dekoration.

Ich koche Gemüsesuppe, das beschäftigt mich eine Weile, und esse einen Teller voll. Die Menge reicht bei meinem Appetit für mehrere Tage.

Erneut befällt mich lähmende Lethargie.

»Sie sollten dankbar sein, dass Sie wieder normal sprechen können«, höre ich die Krankenschwester, als ich nach der niederschmetternden Diagnose weine. Ich habe nicht reagiert. Heute denke ich, ich hätte sie anbrüllen sollen. Das Schreien hätte meinen Stimmbändern nicht noch mehr zusetzen können. Kaputt ist kaputt.

Sie kann nicht beurteilen, was es für mich bedeutet, nicht länger singen zu können. Es war für mich um ein Vielfaches mehr als nur ein Beruf. Beim Singen konnte ich meine Gefühle ausleben, mich fallen lassen, die Welt um mich ausklammern. Es macht einen Unterschied, ob man ein trauriges oder ein fröhliches Lied singt. In jeder Oper bin ich in die Rolle meiner Figur geschlüpft und habe ihre Höhen und Tiefen fühlen können, weil mich die Musik getragen hat.

Und ich habe hart gearbeitet, vor allem vieles unterlassen, was Spaß gemacht hätte. Alles, um meine Stimme zu schonen – umsonst. Letztlich habe ich sie trotzdem verloren.

Sport in der Natur – der eisige Wind ist zu stark.

Wintersport – viel zu kalt.

Schwimmen – war nur in der Therme möglich. Doch wann habe ich schon Zeit gehabt, in Thermalwasser zu baden?

Plötzlich durchfährt mich ein noch nie da gewesenes Gefühl der Freiheit. Mutter ist nicht hier und der Grund, weshalb ich auf alles verzichten soll, ist hinfällig geworden. Ohne lang zu überlegen, gehe ich zur Treppe und sofort erinnert mich die zerbrochene Stufe daran, was geschehen ist.

Malte wird sie wohl nicht reparieren. Ich muss Nele fragen, ob es einen anderen Tischler oder Zimmermann in der Gegend gibt. Bitterkeit wegen seiner Anschuldigungen steigt in mir auf. Und ich ärgere mich. Weshalb habe ich ihm nicht kontra gegeben, den Spieß umgedreht? Schließlich hätte auch er mich über Social Media anschreiben können.

Die Lust, zum Hafen zu gehen und beim Aufstellen des Weihnachtsbaumes zuzusehen, ist mir vergangen.

Mir steht der Sinn nach etwas Verrücktem. Schwimmen im Meer mitten im November. Ich sehe das entsetzte Gesicht meiner Mutter vor mir und es spornt mich an.

Egal. Vorsichtig steige ich am Bruch vorbei und krame oben einen Badeanzug hervor. Heute werde ich mich ins Wasser stürzen. Es wird kalt sein, aber das ist mir gleichgültig. Bekomme ich halt einen Schnupfen, Husten, Grippe – was soll’s? Meine Stimme ist bereits gegangen, mehr geht nicht. Kaputt ist kaputt.

Das wird mein neues Lebensmotto.

Ich ziehe mir die Jacke drüber, Jeans und die neuen Gummistiefel, hänge mir ein Handtuch über die Schultern und gehe los.

Dieses Mal hält mich nichts und niemand auf.

Vor mir sehe ich das Bild, wie Nele und Malte im Wasser planschen. Damals war es Sommer und wärmer als jetzt. Irrsinn, höre ich meine Mutter schreien. Dennoch, oder gerade deswegen, möchte ich es tun.

In mir ist eine ungeahnte Energie, getragen durch Wut und Zorn, das ist unbeschreiblich. Endlich Selbstbestimmung, einfach etwas tun zu dürfen, das ich selbst entscheiden kann, wie unvernünftig es auch sein mag.

Mit großen Schritten gehe ich Richtung Strand. Die Menschen, die mir begegnen, beachte ich nicht. Es ist kein bekanntes Gesicht darunter.

Als ich den Sand unter meinen Schuhen in der Perlebucht fühle, ziehe ich sie aus. Es fühlt sich kühl an, ein kleiner Vorgeschmack, wie das Wasser sein wird.

Die künstliche Bucht wurde erst nach meinem Fortgehen zu dem umgebaut, was sie heute ist. Ein Treffpunkt für Kitesurfer und andere Wassersportler sowie Attraktionen für Kinder. Jetzt im November sehe ich nur Spaziergänger, die die Mole entlangwandern. Alle haben Jacken an, Schals, Mützen und Kopftücher auf. Wenige sind barfuß, eine Gruppe Jugendlicher in T-Shirts spielt Volleyball über eine gespannte Schnur. Der Wind macht die Wärme der Sonne zunichte und bläst unangenehm unter den Kragen meiner Jacke.

Ein kleiner Lastwagen steht an der Mole, vollgepackt mit Dekorationsmaterial. Mehrere Arbeiter montieren Lichterketten.

Weihnachten rückt näher.

Meine Füße fühlen sich zunehmend gefrostet an. Mittlerweile habe ich das Wasser fast erreicht. Die Wellen lecken gleichmäßig an den Strand. Noch habe ich nicht getestet, wie kalt es ist. Ich bleibe stehen und sehe auf das klare Meer. Vorsichtig taste ich mich mit den Zehen ins Wasser.

Es ist frostkalt. Und ich weiß, dass Füße ein anderes Temperaturempfinden haben als der Rest vom Körper. Mit jedem Schritt wird es noch eisiger werden.

Natürlich muss ich es nicht tun. Resignation überkommt mich. Ich werde es nicht schaffen. Es ist eine Sache, die ich mir selbst auferlegt habe, niemand zwingt mich dazu.

Doch die Tatsache, dass ich mir etwas vorgenommen habe und zu scheitern drohe, quält mich. Was bedeutet das für mein Leben? Dass ich mit der Stimme auch meine Disziplin, den eisernen Willen und das Durchhaltevermögen verloren habe?

Ich habe verlernt, mich anzustrengen. Weil der Kampf um meine Stimme mit einer Niederlage geendet hat. Ein Windstoß erfasst mich, ich fröstele und ziehe die Jacke enger.

Undenkbar, in die Fluten zu steigen.

Zudem sind hier zu viele Leute, die mich beobachten könnten.

Rasch eile ich davon, verlasse die Perlebucht und erreiche den Deich. Hier sind weniger Menschen. Je weiter ich gehe, desto stärker wird mein Wille.

Plötzlich fällt mein Blick auf zwei Frauen weiter vorn. Sie legen ihre Rucksäcke neben einer der Treppen zum Wasser ab und ziehen sich tatsächlich aus. Wahnsinn! Da sind Gleichgesinnte, die keine Hemmungen haben und der Kälte des Wassers trotzen wollen.

Ich beschleunige meine Schritte, bis ich die Stelle erreiche, an der die beiden ihre Handtücher abgelegt haben. Die zwei stehen bereits bis zu den Knien im Meer. Eine hat ihre Frisur aufgesteckt, die andere trägt eine knallrote Mütze.

»Eine neue Badenixe«, ruft die Jüngere mit dem Dutt und winkt mit den Händen. »Komm herein, meine Liebe! Heute ist es herrlich. Ich bin Lola.«

»Moin, ihr Lieben! Habe mich verspätet«, ertönt eine bekannte Stimme hinter mir.

Mit einem Ruck drehe ich mich um. »Frau Schuster! Sie schwimmen?« Ich bin mehr als überrascht, meine Nachbarin ist schließlich über siebzig!

Ihre Lachfältchen vertiefen sich. »Das hättest du mir nicht zugetraut, ne? Und sag bitte Karla zu mir.« Ihre Tasche gleitet auf das gefrorene Gras und sie zieht Mantel und Schuhe aus. So schnell kann ich gar nicht schauen, ist sie bereits die Treppe den Deich hinunter zu den anderen. »Es muss im Eiltempo gehen«, ruft sie. »Sonst geht gar nichts.«

Der Wind beißt in die Wangen, doch mit eisernem Willen schlüpfe ich aus meiner Überkleidung. Jetzt ziehe ich das durch. Mich fröstelt und meine Finger zittern beim Lösen der Knöpfe. Ungeduldig nestle ich daran herum und hätte beinahe einen abgerissen. Aus dem Augenwinkel bemerke ich ein paar Menschen, die oben am Deich stehen geblieben sind. Meine Jeans folgt der Jacke, meine Tasche und mein Handtuch werfe ich darüber. Die schneidende Luft beschert mir eine Gänsehaut, doch ich ignoriere es hartnäckig.

Meine Füße bewegen sich die Treppe hinunter – ist der Beton eisig – Richtung Wasser und in Sekundenschnelle fühlen sich meine Zehen wie taub an.

»Schneller.« Die Frau mit der roten Mütze winkt mit beiden Armen.

Genau das will ich. Nichts denken und den Körper zwingen, meinem Willen zu gehorchen, egal wie sehr er sich sträuben mag.

Ich entscheide das.

Meine Schritte werden größer. Das eisige Nass steigt mir bis zur Hüfte hoch. Gezwungen schnappe ich nach Luft, atme durch und habe das Gefühl, nicht genug Sauerstoff zu bekommen. Entschlossen gehe ich weiter, nur ein bisschen langsamer. Die Frauen vor mir sind bereits bis zum Hals im Wasser, schwimmen in kräftigen Zügen ein Stück hinaus.

Mein Gott, wie lange halten die das aus? Es ist so weit: Mit grimmiger Bestimmtheit gehe ich in die Knie, sodass meine Schultern vom Wasser bedeckt sind.

In Sekundenschnelle springe ich hoch. Kalt, kalt, kalt. Ich muss zurück. Die Damen schwimmen noch immer Richtung offenes Meer.

Was bin ich für ein Weichei! Ich tauche ein zweites Mal bis zum Hals unter. Überraschenderweise geht’s bereits leichter und ich kann länger ausharren. Schließlich versuche ich es ein drittes Mal.

Mein Durchhaltevermögen ist erschöpft.

Mit großen Schritten haste ich die Treppe hinauf zu meinem Handtuch. Meine Haut prickelt, ich rubble mich ab und fühle mich wie neugeboren. Mein Körper erwacht zum Leben und ich spüre, wie sich Wärme in mir ausbreitet.

Ein Wahnsinnsgefühl.

Die drei Frauen schwimmen erst jetzt zum Strand zurück.

Sie haben es nicht eilig, gehen in gemächlichem Tempo zu ihren Handtüchern und trocknen sich ab.

»Wahnsinn, wie lange ihr drinbleiben könnt«, rufe ich ihnen zu.

Rotmütze lacht. »Klar, wir trainieren schon jahrelang. Du hast dich gut geschlagen fürs erste Mal.«

»Ja, das stimmt.« Karla trocknet mit dem Handtuch ihre Arme ab. »Ich habe wochenlang gebraucht, ehe ich mit dem gesamten Körper untertauchen konnte.«

»Es ist ein herrliches Gefühl.« Ich überbrücke die wenigen Schritte zu ihnen.

»Ich bin Annika.« Rotmütze streckt mir die Hand entgegen, die ich schüttle. »Wir sind mindestens zweimal die Woche hier, im Sommer täglich bei jedem Wetter, außer bei Sturm. Ich muss schließlich fit bleiben. Und natürlich müssen wir uns nach Ebbe und Flut richten, sonst wird’s eine Wattwanderung, ne?«

An die Gezeiten habe ich gar nicht gedacht! Zum Glück ist Hochstand, sonst wäre es nichts geworden mit dem Schwimmen.

»Annika muss gesund bleiben, sie leitet den Kirchenchor.« Karla entfernt geschickt ihren Badeanzug unter dem Bademantel.

»Nicht mehr Frau Wellenbrink?« Ich schlinge das Handtuch um mich.

»Hast du sie gekannt?« Annika werkelt unter ihrem Mantel weiter, der nasse Badeanzug liegt bereits neben ihrer Tasche. »Sie ist leider weggezogen. Ihr Mann wollte nach Spanien auf die alten Tage. Schade.«

»In dir hat der Chor eine würdige Nachfolgerin.« Lola holt Metalltassen aus ihrem Rucksack und stellt sie auf den Boden. »Du kommst mir bekannt vor, wie heißt du?«

»Ich bin Frieda, wohne erst seit Kurzem wieder hier, nach vierzehn Jahren. Ich habe damals auch im Chor gesungen.«

»Klar, Frieda Sören.« Annika lässt das Handtuch fallen und nimmt sich ihre Hose vor. »Bist du nicht Opernsängerin geworden?«

»Ja.« Tief hole ich Luft. »Leider habe ich nach einer Krankheit meine Stimme verloren.«

»Die kommt schon wieder, Kindchen, wirst sehen, ne?« Annika wendet sich an die anderen, die zustimmend nicken. »Und dann singste bei mir im Chor, ne? Aber jetzt zieh dich um Himmels willen an, sonst wirste noch mal krank.«

Die Schwimmerinnen setzen sich auf ihre mitgebrachten Decken, Karla bringt eine Thermoskanne und verteilt Tee in den Tassen.

Ich quäle mich mit Handtuch und nassem Badeanzug. Annikas Worte geistern mir im Kopf herum. Eine Erklärung dafür, dass ich ihr nicht widersprochen habe, finde ich nicht. Meine Stimme wird nicht auf wundersame Weise wiederkehren.

Ein Fenster öffnet sich in mir. Ich werde beweisen, dass ich mehr bin als mein Talent. Dass noch etwas von mir übrig ist, auch wenn ich nicht länger singen kann.

»Mach vorwärts!« Lola winkt mit der Tasse.

Vielleicht hätte ich Pullover und Jeans über den feuchten Anzug ziehen sollen? Auf der anderen Seite habe ich einen zwanzigminütigen Heimweg und das nasse Zeug auf dem Körper möchte ich nicht haben.

»Biste endlich fertig?« Annika reicht mir das heiße Getränk und es rinnt angenehm die Kehle hinunter. Dann muss ich husten. »Teufel, was ist da drin?«

»Nur en bisschen Korn.« Annika gluckst. »Karla macht das gern.«

»Es muss uns ja warm werden.« Karla grinst. Meine Nachbarin ist ganz offensichtlich ein Schlitzohr.

Ich wickle den Badeanzug ins Handtuch, packe alles ein und setze mich zu ihnen. Meine Haut prickelt, mir ist wohlig warm.

Zum ersten Mal fühle ich mich leichter, als hätte sich der graue Vorhang vor meinem Gemüt gehoben, und ich genieße den Ausblick. Das Meer liegt tiefblau vor mir und die Stelle, an der sich Himmel und Erde berühren, wirkt gestochen scharf. Sie lachen alle drei herzlich, als ich zugeben muss, dass ich an Ebbe und Flut nicht gedacht habe. »Bei Ebbe wärste erst ’nen Kilometer übers Watt gewandert.« Annika grinst und wirkt, als wäre sie zwanzig.

»Das hätte ich aus meiner Kindheit wissen müssen.« Unglaublich, wie viel ich vergessen habe. Oder verdrängt? Der Korn im Tee tut seine Wirkung und ich werde feierlich in die Gruppe aufgenommen.

Zusammen mit Karla wandere ich zurück, lehne ihre Einladung, hineinzukommen, ab. Dennoch muss ich zugeben, dass sie zwar gerne schwätzt, trotzdem eine patente Frau ist.

Beim Häuschen angekommen, genieße ich eine heiße Dusche, die das Meersalz vom Körper spült, und ziehe meinen Jogginganzug über.

An diesem Abend habe ich das Gefühl, es schaffen zu können.