Leseprobe Winterküsse auf Amrum | Ein weihnachtlicher Liebesroman an der Nordsee

1

Chaos kommt selten allein

Sag es nicht. Bitte, sag es nicht.

Ilka, die ununterbrochen um ein freundliches Lächeln bemüht war, hoffte, dass ihre aufkeimenden, dunklen Gedanken keinen Weg aus ihrem Kopf in ihr Gesicht fanden.

„Weißt du“, meinte Peter, der das ihm hingestellte, mit Eistee gefüllte Glas nicht beachtete, „ich habe es mir mit der Entscheidung echt nicht leicht gemacht.“

Ilka nickte, da sie nicht wusste, wie sie reagieren sollte.

Sie hatte einmal gelesen, dass es in einer Verhandlung wesentlich sei, seinem Gegenüber immer das Gefühl der Wichtigkeit zu geben. Dass man ihm vermitteln sollte, gemeinsam auf einer Wellenlänge zu schwimmen und es ihm so schwer wie möglich machen sollte, einen negativen Entschluss auszusprechen.

So sehr Ilka auch dafür betete, diesem Tipp in jeder Form zu entsprechen, als sich Peter vorbeugte und sich der eben noch freundlich auf sie gerichtete Blick verfestigte und veränderte, wusste sie dennoch genau, was sie erwartete.

„Bevor du etwas sagst“, kam sie ihm zuvor und hoffte, Peter so ein wenig den Wind aus den Segeln zu nehmen, „vergiss bitte nicht, wie gern dein Vater immer hier bei mir auf dem Resthof gewesen ist und wie viel Spaß er allein daran hatte, Kugelblitz auszuführen.“

Peter lächelte verletzt.

Ilka wusste, dass es fies von ihr war, diese Karte auszuspielen.

Aber die Angst, die nach ihr gegriffen hatte, die Panik davor, das zu hören zu bekommen, was sie niemals im Leben hören wollte, hatte sie keine andere Option mehr sehen lassen.

Ernst Knutsen!

Er war der langjährige und spendable Förderer ihres Resthofs, den sie in der Inselmitte von Amrum auf- und ausgebaut hatte. Jenes muckelige, ihr so sehr ans Herz gewachsene Areal, das sie nach dem Tod ihrer Eltern umgebaut und erweitert hatte.

Ernst, der mit ihrem Vater dick befreundet gewesen war und der es sich, nachdem sein bester Freund verstorben war, nicht nehmen ließ, Ilka mindestens einmal die Woche zu besuchen, hatte ihr versprochen, sie zu unterstützen, so lange er konnte und so lange seine Bäckerei lief und genügend Gewinn abwarf.

Was bisher immer der Fall gewesen war.

Amrum war überschaubar, klar, aber treu. Die Menschen wussten hier auf der Nordseeinsel, was es hieß, sein einmal gegebenes Wort zu halten.

Wir Friesen sind so, dachte sie und lächelte dem schmallippigen Peter zu, der seine buschigen Augenbrauen – die er von seinem Vater geerbt hatte – zusammenzog.

Ilka, die mit ihrem schlechten Gewissen kämpfen musste, wollte schon eine Entschuldigung aussprechen, als sie sah, wie Peter zum Sprechen ansetzte. „Ich weiß, wie viel der Hof meinem Vater bedeutet hat“, sagte er mit einer Gelassenheit, in der ein für Ilka beunruhigender Unterton mitschwang.

„Aber?“, fragte sie und konnte ihre Enttäuschung nicht verbergen.

„Aber“, Peter übernahm ihre Einführung, „ich muss auf den Betrieb achten … auf meine Mitarbeiter.“

„Heißt also, du wirst die Spendenzahlungen deines Vaters nicht fortführen.“

„So leid es mir tut.“ Peter seufzte. Er schaute sie noch immer direkt an, musterte sie und drehte dann, als sie nichts erwiderte, die Handinnenflächen nach außen, um fortzuführen: „Wir alle müssen schauen, wo wir mit unserem Geld bleiben.“

„Natürlich.“ Ilka nickte ihm zu und versuchte, sich ihre Enttäuschung nicht zu sehr anmerken zu lassen. Dabei wäre sie am liebsten auf der Stelle in Tränen ausgebrochen.

Der reichlich und großzügig spendende Ernst hatte ihr, besonders in den schweren Wintermonaten, immer sehr geholfen. Er hatte ihr ermöglicht, für die Pferde, die zwei Esel und die sechs Ziegen genügend Futter kaufen zu können.

„Es tut mir leid.“

„Ich weiß“, sagte sie und zwang sich zu einem Lächeln. „Das tut es ja immer.“

„In meinem Fall …“

Ilka hob die Hand, sie wollte nicht unhöflich oder beleidigt sein, aber gerade jetzt, wo in ihrem Hinterkopf das Rechnen begonnen hatte, sie sich versuchte auszumalen, wo sie das so dringend nötige Geld herbekommen könnte, brauchte sie keine halb garen Beteuerungen. Keine schnell dahingesprochenen, flüchtig wirkenden Entschuldigungen.

Was sie benötigte, war eine Idee, wie sie ihren Resthof weiterbetreiben konnte.

Und damit eine Möglichkeit, Nela zu versorgen.

Als ihr der Gedanke kam, verengte sich automatisch ihr Hals. Die Panik sprang sie an. Ein Gefühl der Hilflosigkeit. Sie merkte, wie sich in ihrem Magen etwas verkrampfte. Wie ihre Überlegungen von einem Punkt zum anderen sprangen und sie sich dabei fragte, wie sie ihre Zukunft gestalten sollte, ohne völlig aus dem Gleichgewicht zu geraten.

Natürlich wusste sie, dass sie sich nicht auf andere verlassen konnte – verlassen durfte – wenn es darum ging, ihrer sechsjährigen Tochter ein sicheres, sorgenfreies Leben zu ermöglichen.

Aber jetzt, wo sie begriff, dass ihr Resthof nur noch auf einer rasiermesserscharfen Klinge dahinritt, kam es ihr so vor, als habe man ihr den Boden unter den Füßen weggezogen.

„Ich will dich nicht anlügen.“ Peter ließ sich von Ilkas Bitte, nichts mehr zu sagen, nicht davon abbringen, seinen einmal verbalisierten Gedanken zu Ende zu führen. „Und auch nicht um den heißen Brei herumreden. Ich kann und will mir die Aufwendungen in dieser Höhe nicht leisten. Dafür ist mir das Geschäft zurzeit zu unsicher. Klar, wir haben unsere Kunden und wissen auch, dass diese mit den Preiserhöhungen mitgehen. Aber so unsicher, wie es gerade ist, Rohstoffe und Lebensmittel zu beziehen, kann ich kaufmännisch kein Risiko eingehen. Deshalb …“

„Ich verstehe“, sagte sie, hörte eines der Pferde wiehern und vernahm das Bellen von Chester. „Sei mir bitte nicht böse, wenn ich nicht weiterklönen kann …“

„Klar.“

„Aber ich habe mich um die Tiere zu kümmern.“

„Verstehe ich. Also … noch immer Freunde?“

Sie nickte und zwang sich zu einem Lächeln.

„Natürlich, wie immer.“

„Dann ist ja gut!“ Peter atmete erleichtert auf, erhob sich von seinem Platz und reichte Ilka über das noch nicht angefasste Eisteeglas seine Hand. „Davor hatte ich die meiste Sorge. Ich meine, so lange, wie wir uns schon kennen.“

„Unser Leben lang.“

Peter nickte, sagte dann mit einem Unterton in der Stimme, sichtlich darum bemüht, Heiterkeit auszudrücken: „Dann tanzen wir bestimmt demnächst mal wieder zusammen. Vielleicht auf dem großen Weihnachtsfest, das die Schule organisiert.“

„Bestimmt.“

„Getanzt hast du ja immer gerne.“

„Und du etwas steif.“ Ilka lachte freudlos und schaffte es gerade eben noch, den staksig wirkenden Peter ein halbherziges Schmunzeln zu schenken, der daraufhin ein unecht klingendes Glucksen ausstieß.

„Mit Hauke konnte ich es nie aufnehmen“, sagte er und schleuderte damit einen Pfeil auf Ilkas Herz, den sie nicht abwehren konnte – egal, was sie versuchte. Sie schaffte es nicht, den durch sie hindurchrasenden Schmerz irgendwie unter Kontrolle zu bekommen. Sie musste den Schock überwinden. Einen weiteren. Einen, der sie mehr beschäftigte, mehr schüttelte, als sie sich jemals im Leben hätte ausmalen können. „Apropos Hauke. Dass er zurückkommt und die Tierarztpraxis seines Vaters übernimmt, hast du bestimmt schon gehört, oder?“

Ilka hatte das eine oder andere Mal davon gelesen, dass die Wirklichkeit für einen kurzen Augenblick zurückweichen konnte. Dass sich alles um einen herum dumpf anhörte und wie in Watte gepackt anfühlte. Bei diesen Beschreibungen einiger Autoren hatte sie immer schmunzeln müssen und dabei abfällig gedacht: Wenn sich jetzt auch noch der Boden unter dem Protagonisten öffnet und dieser das Gefühl hat, in ein tiefes, schwarzes Loch zu fallen, klappe ich das Buch zu. Sie erlag gerade denselben Empfindungen.

„Nein, habe ich nicht“, sagte sie und schüttelte den Kopf. „Ich dachte … dachte … er ist noch in Frankfurt.“

Peter zuckte mit den Schultern. Er drehte sich dem Ausgang entgegen und sagte dabei: „Habe es von Bettina gehört. Und die sollte es wissen.“

„Klar, das sollte sie.“

Ilka wusste, wer Bettina war und dass sie nicht nur Haukes Vater in der Tierarztpraxis zur Hand ging, sondern auch der Grund dafür gewesen war, dass sich Herbert von seiner damaligen Frau scheiden gelassen hatte.

„Also …“ Peter griff nach der Klinke der geschlossenen Tür, zog sie auf und trat in den schmalen Hausflur. Er machte einen Schritt in diesen hinein, warf flüchtig einen Blick in den an der Wand befestigten Spiegel und öffnete auch noch die nach draußen in den Vorgarten führende Haustür. „Dir erst einmal alles Gute. Ich würde mich freuen, wenn wir uns bald wiedersehen.“

„Ja.“

Zu mehr war Ilka nicht in der Lage. Ebenso schwach, wie ihr Händedruck war, so kraftlos klang ihre Stimme.

Als sie die Haustür schloss und sie sich mit dem Rücken gegen sie lehnte, drängte sich eine Frage in ihr auf, deren Beantwortung sie einerseits wünschte, andererseits nichts weiter wollte, als niemals wieder mit ihr konfrontiert zu werden.

Warum passiert mir das alles?

***

Ilka wusste oft nicht, wie sie sich in diesen Situationen verhalten sollte.

Sie wollte sich schützend vor ihre Tochter stellen, wollte die Arme ausbreiten und sagen: „Natürlich musst du nicht mit Papa mitgehen. Du darfst gerne hier bei Mami bleiben.“

Nur um im nächsten Moment zu denken: Bente ist ihr Papa und er hat ebenso das Recht darauf, die Lütte zu sehen, auch wenn …

Ilka wollte ihre Gedanken nicht weiterschweifen lassen. Nicht wieder in jede Endung und Wendung ihres Hirns jagen, um am Ende das Gefühl zu haben, ihr würde schwindelig werden.

Sie holte tief Luft, als sie merkte, wie sich Nelas Hand fester um die ihre schloss. Sie meinte, die ihr hilflos zugeworfenen Blicke ihrer sechsjährigen Tochter körperlich spüren zu können. Wie sie sich brennend heiß, tiefer und tiefer in ihre Seele brannten und sie glauben ließen, die schlechteste Mutter aller Zeiten zu sein.

„Na, wollen wir?“, fragte Bente und riss sie aus den Gedanken.

„Mama?“

Sie nickte, sagte mit bleiern schwerer Stimme: „Ich warte hier auf dich. Versprochen.“

„Ich will aber nicht.“

Ilka sah, wie sich die ebenmäßigen, von einem Dreitagebart bedeckten Gesichtszüge ihres Ex-Mannes verdüsterten. Wie er darum kämpfte, seine eben noch zur Schau gestellte gute Laune zu bewahren. Aber das kritische Zusammenziehen seiner Augenbrauen, die fest aufeinandergepressten Lippen redeten eine Sprache, die Ilka aus den zurückliegenden sieben Jahren Ehe nur zu gut kannte.

Deshalb sagte sie – und fühlte sich dabei wie eine Verräterin – zu Nela: „Guck mal, Papa hat sich ganz viele tolle Dinge ausgedacht, die er heute mit dir machen will. Er …“

„Kommst du jetzt?“ Obwohl Bente eine Frage stellte, klangen seine drei ausgestoßenen Worte wie ein Befehl. Keine Wärme. Kein Verständnis. Nur der Wille, seinen Kopf gegen Nela durchzusetzen.

Nela machte einen Schritt zurück. Ihre schmale, schützenswerte Hand klammerte sich fester um die ihrer Mutter. „Mama …“

„Nela.“ Ilka ging neben ihrer Tochter in die Knie. „Es sind doch nur fünf Stunden. Am Abend bist du wieder bei Mama. Ich koche dir was Leckeres und danach darfst du dir aussuchen, ob wir puzzeln oder malen. Was meinst du?“

„Ich will, dass du mitkommst.“

„Das geht leider nicht, Schatz. Das ist doch Papas Tag heute.“

„Ich steige jetzt ins Auto und wenn du nicht mitkommst, fahre ich weg.“ Bente grätschte Ilka mit seiner ungehobelten, sie immer wieder in Wut versetzenden Art dazwischen. Mit dieser ihr zum Hals heraushängenden Herablassung, die eher einen Keil zwischen sich und seine Tochter trieb. Es wollte Ilka nicht in den Kopf, dass Bente nicht verstand, was er Nela damit antat. Dass er sie lieber einschüchterte, als sie für sich zu erwärmen.

Er hatte damals schon mit dem Schädel durch die Wand gewollt und will es heute immer noch, dachte sie und merkte, wie Nela ins Schwanken geriet. Wie sehr die Unsicherheit nach ihrem Kind griff. Das einen Schritt nach vorne machte, dann wieder zurück, mit weitaufgerissenen Augen zu ihrem Vater schaute und nicht zu wissen schien, wie sie sich verhalten sollte.

„Kommst du?“

„Mami ist hier“, sagte sie erneut mit einem um Heiterkeit bemühten Lächeln auf den Lippen. „Wir malen und puzzeln nachher. Versprochen.“

Nela machte einen Schritt nach vorne. Einen kleinen, langsamen, ohne Zuversicht.

Bente riss die Tür seines Autos auf und warf seiner Tochter keinen weiteren Blick zu.

Kann er nicht wenigstens an der Tür stehen bleiben und sie mit einem Lächeln ermutigen, in sein Auto zu steigen?, dachte Ilka kummervoll.

Doch er stieg einfach ein. Startete den Wagen und meinte, nachdem sich Nela langsam und vorsichtig, einem Tier gleich, das nur darauf wartete, dass die Falle zuschnappte, auf den Beifahrersitz auf die Kindersitzerhöhung niedergelassen hatte: „Mach die Tür richtig zu. Nicht, dass ich nach fünf Metern wieder aussteigen und sie zuschlagen muss.“

Bente beugte sich über seine Tochter, zog den Anschnallgurt über sie hinweg und ließ diesen einrasten.

Die Tür klappte zu.

Ilka zuckte zusammen.

Es kam ihr so vor, als habe man einen Schuss aus einer mit Emotionen gefüllten Pistole geradewegs auf sie abgegeben und sie getroffen.

Mitten ins Herz.

Ilka sah, wie Nela mit Tränen in den Augen im Auto saß, ihre schützenswerte Hand an die Fensterscheibe der Beifahrerseite gedrückt, so als wolle sie sagen: „Mama, ich will nicht.“

***

In solchen Momenten, in denen Ilka meinte, die Welt würde donnernd und krachend über ihr zusammenbrechen, wünschte sie sich nichts sehnlicher, als dass sie ihr Handy in die Hand nehmen und ihre beste Freundin anrufen konnte. Was nicht möglich war.

Sabrina würde nicht abnehmen. Und wenn sie es doch tat, würde sie verschlafen und gerädert fragen, was los sei.

Was Ilka nicht ertragen konnte. Seit jenem Tag, als sich Sabrina in Scott verliebte und es sich abzeichnete, dass es etwas Festes zwischen den beiden werden würde, hatte sich Ilka zurückgenommen. Hatte ihre beste Schulfreundin von einst nicht mit ihren alltäglichen Problemen belästigen wollen. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, von ihrem Kummer zu reden, während ihre Freundin auf Wolke sieben schwebte und mit ihren von Liebe angereicherten Gefühlen nicht wusste, wohin.

Besonders schlimm war es für Ilka geworden, als Sabrina ihr erzählte, dass sie einen Urlaub mit Scott in Australien machen wollte. Bei seiner Familie.

„Er will mich seinem Bruder und seiner Schwester vorstellen“, hatte sie mit vor Aufregung ganz schrill klingender Stimme gesagt und verschwörerisch und leise hinterhergeschoben: „Und seiner Mutter. Stell dir das mal vor.“

„Enttäusche ihn nicht“, war Ilkas spöttische Antwort gewesen. Eine Antwort, die ihr schwerer gefallen war, als sie sich das jemals im Leben hätte vorstellen können.

Denn in dem Augenblick, als Scott seine Lebensgefährtin mit nach Australien nehmen wollte, hatte Ilka gewusst, wohin die Lebensreise ihrer besten Freundin gehen würde.

Und so, wie sie es angenommen hatte, war es gekommen.

Sabrina verliebte sich nicht nur in Scott, sondern auch in dessen Heimat. In die dort lebenden Menschen, die Mentalität und Chance, in ihrem Job weiterzukommen, als es ihr in Deutschland jemals möglich gewesen wäre.

Ilka wusste, wie schwer es war, im Naturschutz zu arbeiten. Sich um Wale zu kümmern, deren Arten zu bestimmen, ihre Wanderungen zu beobachten und zu kategorisieren. Deshalb scheute sie sich, ihre beste Freundin anzurufen.

Aus dem WhatsApp-Status hatte Ilka erfahren, dass Sabrina gerade wieder auf See war. Erneut im Namen der Gerechtigkeit unterwegs. Zehn Stunden in der Zeitzone weiter, als sie hier auf Amrum war.

Ilka seufzte, während sie den langsam vom Hof herunterrollenden Wagen beobachtete, ihre Hand in der Tasche, in der das Handy steckte.

Es vibrierte.

So, als habe jemand geahnt, dass sie einen Gesprächspartner brauchte. Sie warf, nachdem sie das mobile Telefon hervorgeholt hatte, einen flüchtigen Blick auf das Display.

Gina.

Sie runzelte die Stirn.

Gina? Die Freundin ihres Bruders Momme?

Was wollte die denn?

Ilkas Impuls war es zuerst, den Anruf so lange zu ignorieren, bis sich automatisch die Mailbox einschaltete. Aber jetzt, wo sie sich seltsam verletzlich fühlte, dünnhäutig und gedemütigt, kam ihr der Anruf der schrillen, immer so übertrieben agierenden Gina gerade gelegen.

„Ja?“, meldete sie sich und vernahm sogleich den lauten, kreischenden Ruf ihrer baldigen Schwägerin – wenn Momme die Beziehung mit Gina wirklich ernst nahm.

„Haaalllloooooo, mein Goldschatz“, dröhnte Ginas Stimme aus dem Handy und ließ Ilka instinktiv das Telefon vom Ohr nehmen. „Bevor ich mich mit Höflichkeitsfloskeln aufhalte und dir eine Frikadelle ans Ohr sabbele: Momme und ich wollen gerne auf die Insel kommen, wegen Weihnachten und so. Du hast doch nichts dagegen, wenn wir unser Domizil bei dir aufschlagen, oder? Wir würden uns total freuen, wenn du Ja sagst. Und? Sagst du Ja, oder sagst du Ja?“

„Äh …“

„Klang fast wie ein Ja“, redete Gina mit ihrer hellen, immer wieder wie ein an den Nerven liegendes Messer klingenden Stimme weiter. „Wir würden uns morgen, spätestens übermorgen auf den Weg machen. Momme hat nur noch ein Projekt in der Firma abzuschließen und kann sich dann neu orientieren.“

„Neu orientieren?“ Ilka, die in den letzten beiden Jahren gelernt hatte, bei Gina auf die Nebensätze zu achten, auf die feinen Nuancen in der Stimme, im Ausdruck, in ihrer Mimik, beschlich ein Verdacht. „Soll das heißen, dass Momme …“

„Hat er dir denn nichts gesagt? Mensch, Momme“, rief Gina durchs Telefon, irgendwo in den Raum hinein, in dem sie stand. „Warum muss ich deiner Schwester denn jetzt erzählen, dass du aus der Finanzberatung und Werbung raus möchtest? Und wieso muss ich alles klären, was du eigentlich mit Ilka besprechen solltest?“

Ilka runzelte die Stirn.

Während der Wind auffrischte, der geradewegs aus Osten auf die Insel in der Nordsee traf, meinte sie wieder, in einem schlechten Roman gefangen zu sein, in dem beschrieben wurde, wie Emotionen in ihr aufwallten.

Sie glaubte, sich daran zu erinnern, dass sie in irgendeinem schmalzigen Heftroman – Edel, Adel oder so – darüber gelesen hatte, dass sich die Protagonistin wie in siedendes Öl getaucht gefühlt hatte, um dabei zuzusehen, wie sie garte.

„Mit mir über was reden?“ Ilka schaffte es nur mit Mühe, weiterzusprechen, ohne dass ihr die Stimme versagte. Sie fühlte sich, als habe ihr jemand die Hand um den Hals gelegt und drückte langsam zu.

„Na, dass er gerne zurück auf die Insel möchte. Zurück in euer Elternhaus. Du weißt schon, sich neu finden und so.“

„Neu finden und so bedeutet was?“

„Den Traum leben, den Momme damals mit eurem Vater ausbaldowert hatte. Du erinnerst dich noch daran?“

Ilka schluckte.

Ja, sie erinnerte sich. Natürlich. Wie könnte sie die Idee jemals vergessen, die auf dem Papier fixiert worden war und für die bereits die ersten Bankgespräche stattgefunden hatten?

„Ja.“

„Da Momme das Haus und der Hof ja auch zur Hälfte gehören, ist es doch eine tolle Möglichkeit, endlich den Traum zu leben, den man schon immer leben wollte, oder? Na, was sagst du? Reden wir über die Idee, wenn wir spätestens übermorgen bei dir aufschlagen? Was sagst du?“, brüllte Gina wieder in den Hörer. „Ah, wie cool. Klasse. Mäuschen, Momme sagt, er habe die Fährtickets gerade online gekauft. Wir sind dann am Dienstagabend bei dir. Wir freuen uns. Küsschen. Küsschen.“

***

Horst Bull hatte einmal gesagt: „Ich bin nicht chaotisch. Meine Welt steht nur ab und zu Kopf.“

Nur hatte Horst Bull nicht geahnt, dass seine Worte bei Ilka nicht auf fruchtbaren Boden, sondern auf einen blühenden Acker aus Katastrophen fallen würden. Ein Leben, das ihr mit solch einer Wucht um die Ohren geflogen kam, dass sie ernsthaft mit dem Gedanken spielte, alles hinzuwerfen und wegzulaufen.

Sie wusste nicht, was sie zu all dem sagen sollte, was gerade wie ein Unwetter über sie hereinbrach.

Momme wollte zurück nach Amrum?

Um was zu machen?

Den Plan in die Tat umzusetzen, den er damals mit ihrem Vater ausgeheckt hatte? Der nicht nur bei Ilka, sondern auch bei ihrer Mutter für ein sanftes, liebevolles, aber dennoch ablehnendes Kopfschütteln gesorgt hatte? Die Umbaumaßnahmen wären viel zu kostspielig gewesen, der Aufwand zu groß, um den alten Hof mit Gewalt und Spucke in die Moderne zu bekommen.

Dazu kam ihre Hilflosigkeit Bente gegenüber.

Obwohl sie immer versuchte, freundlich und offen zu sein, und ihn nicht ständig mit der Vergangenheit zu konfrontieren. Was sie konnte. Mit Leichtigkeit. Ohne mit der Wimper zu zucken.

Aber wie stets spürte Ilka in diesen Momenten, dass sie nicht freundlich war, sondern ihre Verletzungen zu überdecken versuchte … mit einem schlecht sitzenden, nicht auf der Seele kleben wollenden Pflaster. Eine kurze Bewegung und es riss ab. Dennoch hielt sie sich Bente gegenüber zurück … brüllte ihn nicht an … schlug ihm nicht voller Wut mit den Fäusten gegen die Brust. Sie ließ alles in stoischer, fast schon maoistischer Weise über sich ergehen.

Aber warum?

Weil es um ihre gemeinsame Tochter ging.

Auch wenn ich ihm am liebsten den Hals umdrehen würde für das, was er mir angetan hat, dachte sie, während sie das Telefon langsam vom Ohr nahm und hinüber zu dem von grünem Gras bewachsenen Deich schaute, über den die eisigkalten Windböen strömten, wusste sie, dass sie keine andere Chance hatte. Sie musste freundlich bleiben. Sie durfte sich ihren Gefühlen, die sie ihrem Ex-Mann gegenüber hatte, nicht hingeben.

Ich muss an Nela denken, ermahnte sie sich selbst und spürte für einen klitzekleinen Augenblick, wie es in ihrer Brust stach. Ihr Herz schrie vor Kummer auf. Ilka schloss die Augen und konnte den in ihr aufsteigenden Gedanken nicht mehr beiseiteschieben. Es war ihr nicht möglich, die in Wallung geratenen Gefühle so schnell unter Kontrolle zu bekommen, wie diese in ihr ausbrachen.

Es ging immer um Nela.

Immer darum, dass das gemeinsam in die Welt gesetzte Kind fröhlich sein konnte.

„Die Kinder können nichts dafür, dass sie auf der Welt sind. Das haben wir gemacht. Darum müssen wir alles tun, damit sie wissen, dass sie geliebt werden“, hatte ihre Mutter ihr einmal gesagt. Immer dann, wenn einer der Nachbarn, ein Freund, ein Familienmitglied darüber stöhnte, dass seine Kinder zu anstrengend waren. Dass er sich darin beschnitten fühlte, seine eigenen Träume verfolgen und leben zu können.

Bente und ich haben Nela gemacht, dachte sie, während sie das Handy mit einer langsamen, ihrer Gedankenflucht gleichenden Handbewegung in ihrer Hosentasche verschwinden ließ. Wir haben sie gezeugt und ihr das Leben geschenkt.

Darum tue ich alles dafür, dass Nela glücklich ist. Sogar davon abzusehen, Bente den Hals umzudrehen und mit seinem Kopf den schönsten Freistoß zu schießen, der jemals ausgeführt worden ist.

Es fiel Ilka zunehmend schwerer, ihren Ex als Vater ihres Kindes zu sehen. Sich nicht von ihren negativen Gefühlen, den sich dunkel im Kreis drehenden Gedanken beherrschen zu lassen.

Er war ein Idiot. Ein Blödmann. Ein Ars…

Sie brach ab und begriff, dass sich da eine andere, tiefere, flüsternde Stimme, ähnlich unermüdlich auf einen Stein fallende Regentropfen, in ihr meldete, die Ilka langsam, aber sicher auszuhöhlen begannen. Die ihr zuraunten: „Du hast Schuld an Bentes Verhalten gehabt. Du hast dich zu viel um Nela gekümmert. Du hast …“

Sie wusste nicht, wie sie das Gedankenkarussell wieder abstellen konnte.

Wie sie es schaffen sollte, all das in ihr herrschende Chaos zu besiegen.

Sie sah kein Licht am Horizont.

Sie fühlte die emotionalen Nadelstiche auf der Haut.

Sogar der salzige Geruch des Meers, der ihr in die Nase stieg, konnte sie nicht mehr ablenken. Hätte sie einen weiteren Beweis dafür gebraucht, dass Bente sie gefühlsmäßig aus dem Gleichgewicht brachte, hier war er.

Er schaffte es immer wieder. Jeden Tag aufs Neue.

Nun, wo sie hinaus auf die Nordsee schaute, merkte sie, dass sie sich wie die Elben aus Der Herr der Ringe fühlte. Immer die Sehnsucht nach dem Meer in sich, als ihr das Kreischen und Schreien der Möwen an die Ohren drang.

Sie blieb innerlich aufgewühlt.

Ihre Liebe zu den Deichen, dem dahinterliegenden, am Strand auslaufenden Wasser, erreichte sie nicht. Es war, als würde jemand unentwegt eine zu kurze Leiter gegen die Steine ihrer errichteten Seelenmauer lehnen.

Ilka holte tief Luft.

Sie merkte, wie ihre innere Haltung zu bröckeln begann. Dass ihr gemachter Schwur, nie wieder wegen der von Bente herbeigeführten Verletzung zu weinen, an Kraft verlor.

Ilka fühlte, wie Tränen in ihr aufstiegen.

Ihre bisherige Taktik, sich auf das zu konzentrieren, was sie mit Freude erfüllte, versagte.

Ihr innerer Kummer war zu groß. Zu gewaltig. Er ließ sie zittern und ernsthaft mit der geistigen Metapher spielen, dass ihr jemand den Teppich unter den Füßen weggezogen hatte und sie rücklings zu Boden fiel und sich den Hinterkopf auf dem Fußboden anschlug.

Was dazu führte, dass sie nicht wusste, wie sie den sich vor ihr auftürmenden Problemen Herr werden sollte.

Es war zu viel.

Sollte sie es versuchen … Bente zur Rede stellen? Ihm erklären, wie es in ihr aussah – und dass sie gesehen hatte, wie Nela unter den Besuchskontakten litt?

Oder sollte sie noch einmal mit Peter sprechen?

Versuchen, ihn davon zu überzeugen, dass es auch seiner Konditorei zugutekäme, wenn er den Resthof weiter unterstützte. Dass er – wie sie ihm vorschlagen wollte – die benötigte Summe nicht aufbringen müsste, sondern seine Kunden sich daran beteiligen könnten?

Bei einem Ausflug vor die Tore Hamburgs war ihr ein ähnliches Konzept begegnet.

Ilka war mit Momme nach Aumühle gefahren – einem beschaulichen Dörfchen vor den Toren der Weltstadt. Gemeinsam mit Nela hatten sie den örtlichen Schmetterlingspark besuchen wollen und sich dabei – leider – aufs Internet verlassen. Dort stand, der Park sei geöffnet. Man könne ihn betreten, erforschen und erkunden.

Das Problem war, das Internet hatte sich geirrt. Es gab nichts zu entdecken, nichts zu besuchen, nichts zu erkunden.

Abgesehen von einem Wanderweg, der über eine Brücke zu einem malerisch gelegenen See führte.

Dort hatte Ilka etwas gesehen, das ihr jetzt wieder in den Sinn kam: ein viereckiger, gekühlter Glaskasten.

Ein ortsansässiger Konditor hatte darin seine Backwaren angeboten – mit der Bitte, die entnommenen Leckereien via PayPal zu bezahlen.

Wie Ilka gelesen hatte, gingen die Erlöse aus dem Verkauf der Rumkugeln, des Krokants, der Kekse – all der süßen Köstlichkeiten – an einen ebenfalls im Ort gelegenen Resthof.

Wäre das nicht eine Idee für Peter?

Eine Nascherei für Touristen, die mit ihren Gaumenfreuden Ilkas Resthof unterstützten?

Es wäre eine Möglichkeit. Eine Chance, auf das dringend benötigte Geld nicht verzichten zu müssen. Dazu könnte sie irgendetwas ihrerseits anbieten, um Peter mit seiner Konditorei zu unterstützen. Einen eigenen Verkaufsstand, an dem er seine Torten, Kuchen, Kekse und seine berühmten Rumkugeln anbieten und verkaufen konnte.

Nach dem Motto, eine Hand wäscht die andere.

Hinzu kam ja, dass sie nicht nur um das Überleben ihres Resthofs kämpfen musste, Hauke geisterte ihr im Hinterkopf herum. Jener Mann, in den sie sich damals in der Schule Hals über Kopf verliebt hatte. Der ihr dermaßen ins Herz geschossen war, dass sie als Jugendliche nichts anderes gekonnt hatte, als ununterbrochen Liebesbekundungen in ihren Ringordner zu malen. Liebeslieder zu hören und sich auszumalen, wie es wäre, wenn er ihr einen Kuss geben würde.

Dass er zurück nach Amrum kommen und die Praxis seines Vaters übernehmen sollte, versetzte ihr einen zusätzlichen Stich. Geradewegs in ihr Herz, das schwer damit zu kämpfen hatte, was Bente ihr angetan hatte … mutwillig … ohne mit der Wimper zu zucken. Der sich ohne Gewissensbisse das genommen hatte, was er in dem Moment gebraucht hatte.

Sie schüttelte den Gedanken ab, als sie vom Hof her das laute, donnernde Wiehern von Kugelblitz vernahm.

Dies ließ sie schmunzeln. Nicht, weil das Pony ihr den Kummer nahm, sondern, weil sie kurz vergessen konnte. Ihr Gedankenkarussell ausschalten. Nicht daran denken musste, wie sie Momme und Gina abgewimmelt bekam.

„Was hast du denn?“, fragte sie das Shetlandpony, das ununterbrochen über den Hof wanderte, wieherte und ab und zu mit dem Huf über den Boden schabte, der von frischem Frost überzogen war. „Hast du Hunger?“

Das Pony warf den Kopf zurück. Seine Mähne wallte kurz im auffrischenden Wind auf und ließ das Tier aussehen wie eine Karikatur von Wella-Models, die ein neues Shampoo bewarben.

„Du hast Hunger“, sagte sie und verharrte dann, um das Pony zu fragen: „Wie bist du eigentlich aus deinem Stall herausgekommen?“

Sie warf missmutig einen Blick über das Areal, hinweg über den Ziegenstall, die Tränke für die beiden Schweine und den Hühnerauslauf. Sie seufzte und schloss die Augen.

Ilka wollte und konnte es nicht mehr ertragen. Meinte, ihr auf den metaphorischen Fußboden geknallter Hinterkopf würde ihr wieder pochend zu schmerzen beginnen.

Kugelblitz“, sagte sie mit einem Seufzen der Verzweiflung in der Stimme. „Wie hast du das denn angestellt?“

Sie starrte zu der aus den Scharnieren gebrochenen Stalltür …

2

Alte Liebe rostet

Ilka hatte sich vorgenommen, mit Peter zu sprechen. Ihm von ihrer Idee zu erzählen und ihn davon zu überzeugen, wie schön es wäre, wenn sie weiter zusammenarbeiten würden. Nur um dann, als sie aus ihrem verbeulten, alten Seat Ibiza stieg, plötzlich Angst vor der eigenen Courage zu bekommen.

Sie hatte das latente Unwohlsein gespürt, als sie über die Deichstraße in Richtung Nebel fuhr und den sich gegen den malerisch blauen Himmel absetzenden Leuchtturm von Amrum erblickte.

Sie merkte, dass sich etwas in ihr in Bewegung setzte. Ein unangenehmer Druck, den sie zuerst nicht lokalisieren konnte. Als sie aber nach Nebel fuhr, sie an einer der wenigen Ampel des Orts stehen blieb, mit den Fingern einen nervösen Takt aufs Lenkrad trommelte, war es stärker geworden.

Das zweifelnde, ziehende Gefühl echten Unwohlseins. Das sich immer mehr verstärkte. Sie spürte, wie ihr linkes Bein zu zittern begann, als die Ampel von Rot auf Gelb sprang und sie es kaum schaffte, die Kupplung durchzutreten.

Ilka gelang es nur mit Mühe, zu der Filiale von Peter zu fahren. Ununterbrochen waren ihr nicht zähmbare Gedanken in den Kopf gesprungen. Gedanken, die sie nicht mochte, die ihr unangenehm waren und die sie in eine Zeit zurückkatapultierten, die sie längst abgehakt geglaubt hatte.

An die Zeit, in der sie ernsthaft daran gezweifelt hatte, ob das alles richtig sei, was sie hier tue und was sie vorhabe. Ob sie den ihr einst von Hauke geschenkten Schal nicht lieber der Nordsee übergeben und vergessen sollte oder ihn mit nach Hause nehmen und in eine Kiste legen sollte.

Es fiel ihr schwer, zu erklären, weshalb sie plötzlich die Kontrolle über ihre Gedanken verlor. Warum sich die Gefühle in ihr aufbäumten, so heftig, dass ihr übel wurde.

War es der Blick über die sich weit erstreckende, herbstlich blaue Nordsee gewesen – ein Anblick, der sie sonst mit Mut erfüllte? Der sie glauben ließ, das Wasser flüstere ihr zu, man könne alles schaffen, wenn man nur an sich glaube?

Konnte ein Schiff, das in weiter Ferne über den Horizont glitt, solch ein Unbehagen hervorrufen? Ein Gefühl, dass sie da draußen ihren einstigen Hoffnungen nachblickte?

Oder war es etwas anderes gewesen?

Eine flüchtige Begegnung auf der Landstraße?

Nur ein kurzer Blick aus einem vorbeirauschenden Wagen?

Ein Schatten, ein Schemen, dessen Konturen ihr nichts sagten – und doch etwas tief in ihr berührten? Etwas in Bewegung setzten?

Eine Erinnerung, verschüttet, aber nicht vergessen – wie ein Halm, der sich aus dunkler Erde streckte, zart und suchend, nicht stark genug, dem Wind zu trotzen?

War es das?

Es war ein Gedanke, den sie sich nicht traute zu denken. Den sie mit all ihrer zur Verfügung stehenden Macht beiseiteschieben wollte. Der ihr dennoch unaufhörlich, leise wispernd, in den Ohren lag. Er raunte ihr heiser zu: „Er war es. Du hast ihn gesehen. Kein Irrtum möglich!“

War das so?

Hatte sie ihn wirklich erkannt, als sie über die kurvenreiche Landstraße fuhr, vor dem langgezogenen Bogen abbremste und in dem Moment, wo die Tachonadel die 50 km/h erreichte, meinte einen Herzinfarkt zu erleiden?

Ihr erster Gedanke war, rational und abgeklärt – was überhaupt nicht ihr Ding war – und mit solch einer Coolness behaftet, dass sie sich über sich selbst wunderte: Er war es nicht. Kann es nicht gewesen sein. Was wäre das für ein Zufall, dass ich ihn hier und jetzt gesehen habe?

Nur um dann einen zweiten, aufgeregten, ihrem Naturell entsprechenden Gedanken zu fassen. Einer, der sich mit der Wucht ihrer immer schneller werdenden Herzschläge synchronisiert hatte.

Er war es. Verdammt noch mal, er ist es wirklich gewesen. Er ist mir entgegengekommen. Wer hat schon dieses markante, dieses mich immer wieder faszinierende Gesicht? Selbst dann, wenn er angestrengt auf die Straße schaut, sieht er noch immer hinreißend gut aus.

Er war es.

Es war … Hauke!

Dieser kurze, heiße Stich, der durch ihren Magen fuhr – Erschrecken, blank und unerklärlich?

Oder war es die Angst vor dem, was kommen könnte?

Ilka wusste es nicht.

Sie begriff nur, dass sie, als sie die Filiale betrat und das Klingeln der Glocke über der Tür vernahm, plötzlich eine Beklemmung verspürte. Eine lähmende, tief in ihren Gliedern wühlende Angst, der sie nicht Herr wurde.

Nicht jetzt. Und vielleicht niemals.

Sie schenkte der jungen Verkäuferin, die ihr freundlich zulächelte, ein unsicheres, zittriges Grinsen.

„Was darf es sein?“

Ilka atmete ein, tief und erleichtert.

Nie hätte sie gedacht, dass eine Frage sie unmittelbar in die Wirklichkeit zurückholen könnte.

Immer hatte sie geglaubt, jedes Wort müsse von Bedeutung sein. Eine Tiefe besitzen, die nie verging.

Inmitten ihrer Zweifel, mit weichen Knien und einem Herzen, das wild gegen den Brustkorb schlug – war diese Banalität wie Balsam.

„Ein Franzbrötchen“, sagte sie mit rauer Stimme, fügte ein leises „Bitte“ hinzu und dann: „Und einen Kakao.“

„Den großen?“

„Ja.“

Die Frau – blond, mit braun-weiß gestreifter Bluse und einer Schürze um die Hüften – lächelte, als sie fragte: „Möchten Sie gleich bezahlen?“

„Klar.“

Ilka zog ihr Handy hervor, entsperrte das Display, öffnete die Wallet – und sah, dass sie eine Nachricht von Sabrina bekommen hatte.

Diese hatte geschrieben:

Alles okay bei dir, Süße?

Ilkas Antwort fiel düster aus – gegen ihre eigene Gewohnheit, denn sie hasste es, so zu reagieren.

Doch die Fahrt hierher, diese flüchtige Begegnung auf der Straße, hatten sie erschüttert. Ihre Knie zitterten und die Angst, dass Peter sie erneut abweisen würde, saß ihr im Nacken.

Sie tippte:
Nein, alles Scheiße

Die Antwort ließ keine Minute auf sich warten:

Was ist los?

Ihre Finger tippten gerade die Erklärung, als ihr Handy klingelte.

Sabrinas Gesicht leuchtete auf dem Display auf. Ilka nahm das Gespräch zögernd an.

„Hey“, sagte sie flüsternd.

Zu ihrer Erleichterung klang Sabrinas Stimme wie immer – warm, lebendig und kraftvoll.

Da war kein Mitleid, keine Beklemmung, nur diese erfrischende, lebensbejahende Energie, mit der sie alles in Ordnung bringen konnte.

„Wer macht Ärger – und wem soll ich dafür in den Arsch treten?“

Ilka lachte.

„Mission erfüllt“, stellte Sabrina trocken fest. „Du lachst. Also: Wer will und wer kriegt die hartpolierte Spitze meines Stiefels in den Allerwertesten gerammt?“

„Alle“, sagte Ilka. Noch immer lachend meinte sie: „Wirklich alle. Du glaubst nicht, was hier gerade los ist.“

„Sabrina kümmert sich darum. Schläger-Barbie regelt das.“

Ilka kicherte.

Die Verkäuferin reichte ihr den Kakao und das Franzbrötchen auf einem Teller. Ilka bedankte sich.

„Schläger-Barbie“, wiederholte sie.

„Mommes Bezeichnung. Weil wir immer mit den She-Ra-Puppen gespielt haben.“

„Ach ja, Momme und sein blöder He-Man. Stimmt.“

Die Schwere der Gegenwart verlor sich, als sie an die Leichtigkeit früherer Tage dachte.

An Zeiten, in denen das Leben einfacher gewesen war – ein Spaziergang am Amrumer Strand, Fischbrötchen, Gelächter über ihren nerdigen Bruder, der glaubte, sich mit erhobenem Plastikschwert in He-Man zu verwandeln.

Den Stärksten der Starken. Den größten Helden Eternias.

„Wir waren die besten Schläger-Barbies der Welt.“

„Dass wir das echt mal gut fanden.“

„Weil es gut war. Endlich konnten wir Mädchen zeigen, dass auch wir austeilen können. Eine Frau, die der wilden Horde trotzt – das war pure Kraft.“

„Und He-Man war ihr Cousin, oder?“

„Ihr Bruder“, verbesserte Sabrina sie – und wurde dann ernst.

„Was ist los, Ilka? Was bedrückt dich?“

Ilka sprach langsam und zögerlich.

Sie nuschelte, wollte nicht, dass die Verkäuferin verstand, warum sie ausgerechnet diesen Laden aufgesucht hatte.

Als sie sagte: „Weil ich nicht weiß, wie es weitergehen soll“, war es Sabrinas Antwort, die sie erschütterte.

„Mehr als ein Nein kannst du nicht bekommen.“

„Aber …“

„Aber was?“

Sabrinas Stimme wurde fester. „Tod den Abers, Ilka. Die halten dich nur auf. Lass sie los. Stell deine Frage – und nimm die Antwort. Ein Ja ist großartig. Ein Nein bedeutet lediglich: neue Perspektive, neues Abenteuer, neue Möglichkeiten. Sieh es anders – und du wirst es anders fühlen.“

„Ja, a…“

„Tod den Abers!“

„Sabrina …“

Ilka versuchte, ihre Fassung wiederzuerlangen.

Irgendetwas in ihr wollte sich festhalten an diesem schwermütigen Gefühl.

Als sei die Dunkelheit das Einzige, das verlässlich war.

Als könne ein Lichtblick zu viel versprechen.

„Geld kann man auf mehrere Arten auftreiben“, sagte Sabrina – und wechselte das Thema, so abrupt, wie sie es immer tat.

Ohne Vorwarnung.

„Was ist mit Hauke – und warum zieht dir das den Schlüppi vom Hintern?“

***

„Bei Papa bin ich nicht so gerne“, hörte Ilka ihre Nela munter plappern, während als Antwort ein leises Brummen erscholl, das ähnlich wie ein: „Aha“, klang. Ilka, die die Autotür zuwarf, eine düstere Gewitterwolke über dem Kopf – alle lobenden und schlichtenden Worte von Sabrina wie weggeblasen – machte einen Schritt auf das geschlossene Tor zu, das geradewegs auf den Hof führte. Sie schob den von Kälte befallenen Riegel zurück, vernahm das vertraute Quietschen der Scharniere und hörte Kugelblitz wiehern.

„Aber in der Schule habe ich immer sehr viel Spaß. Da schaukele ich am liebsten mit Lille und Melody in der Nestschaukel. Da sind wir immer richtig hoch. So hoch, dass es im Bauch kribbelt.“

„Okay.“

„Am besten finde ich aber den Entdeckerkurs in der OGS. Das musst du dir mal ansehen. Ich habe letztens ein gekochtes Ei in eine Flasche flutschen lassen. Weißt du, wie das geht?“

„Äh … Nein …“

„Das ist ganz einfach. Warte, ich hole mal kurz eine Flasche und … Oh, hallo Mama!“

Nela kam winkend auf Ilka zu und strahlte dabei so zauberhaft süß über ihr ganzes Gesicht. So gelöst und frei, ohne einen düsteren, nachdenklichen Schatten, der sich in Form einer steilen Falte zwischen Augenwurzel und Stirn abzeichnete. Da war nur das aufgeregte Blitzen eines Kindes in ihren Augen zu sehen, das etwas erledigen musste.

Ilka, die ein kurzes „Hey, Süße“, herausbrachte, schaffte es nicht, ihr obligatorisches „Bekomme ich bitte noch ein Küsschen von dir?“, loszuwerden und hinterherzuschieben: „Du weißt doch, ohne Küsschen ist alles doof.“

Sie stand wie angewurzelt am halb offenen Gatter und starrte über den Hof hinweg zu dem auf dem heute Morgen noch mit Frost überzogenen Boden sitzenden, schwarzhaarigen Mann. Der, wie es schien, das aufs Haus zueilende Kind keines Blickes mehr würdigte.

Ilka irrte sich.

Denn in dem Moment, als Nela durch die Hintertür des Hauses schlüpfte, lag auf den schmalen, weich geschwungenen Lippen des knienden Mannes ein entzücktes, träumerisches Lächeln. Ein Blick, den Ilka nur selten bei einem Mann gesehen hatte. Der sie glauben ließ, er würde sich vorstellen, ernsthaft Zeit mit Nela verbringen zu wollen. Sich anzuschauen, wie sie ein hart gekochtes, gepelltes Ei durch Wärme in eine leere Plastikflasche bekam.

„Ein süßes Mädchen“, sagte er, als er den Kopf drehte, Ilka aus seinen dunklen, ihr damals schon gefallenden Augen anschaute.

„Hauke“, flüsterte sie und schaffte es nicht, sich von ihrem Platz zu lösen. Obwohl sie sah, dass Kugelblitz sich in Bewegung setzte. Das bullige, fassförmige Pony kam geradewegs auf sie und das offene Gatter zu.

„Ilka“, begrüßte er sie und blieb hocken, die Hand am Hals der Ziege. „Schön, dich zu sehen.“

„Hauke“, sagte sie und wünschte sich, nicht so hin- und hergerissen zu sein. Nicht wieder daran denken zu müssen, wie es früher gewesen war. Wie es sich anfühlte, als er sie nach der Schule gefragt hatte, ob sie nicht zusammen hinunter zum Strand gehen wollten.

Er, charmant und selbstsicher, immer geradeaus. Während sie sich unentwegt unsicher fühlte, mit wilden Träumen im Kopf, die ihr zuraunten, wie es sei, wenn sie beide sich küssten.

Sie wollte ebenso locker sein, lässig auf das zurückgreifen, was Sabrina ihr gesagt hatte. Die mit einer solchen Selbstverständlichkeit erklärt hatte, wie Ilka eine erste Begegnung mit Hauke angehen sollte.

Bestimmt nicht, wie sie es gerade tat.

Verlegen mit der Hand durch ihre struppigen und in Eile zu einem Pferdeschwanz gebundenen Haare zu fahren. Nicht ihm schief lächelnd zu zeigen, dass sie sich freute, ihn zu sehen.

Dabei das in ihren Ohren dröhnende Pochen ihres Herzens, das immer schneller, immer wilder in ihrer Brust zu schlagen begann.

Insgeheim ärgerte sie sich darüber, dass sie so stark auf Hauke reagierte. Dass er es schaffte, sie nach so vielen Jahren emotional um den Finger wickeln zu können.

Sie hatte stets gehofft – vergeblich, wie sich zeigte – dass sie ihn und die Sehnsucht nach seiner Nähe längst hinter sich gelassen hatte. Dass die von ihr neu beschriebenen Seiten ihres Lebensbuchs sich nicht mit solch einer Leichtigkeit zurückblättern ließen. Hin zu Orten und Momenten, als sie dachte, die Tage würden niemals enden. Dass sie ihrem Glück immer treu bleiben würde.

Sie hatte sich geirrt.

Ilka fühlte, wie die längst abgeschlossenen Kapitel wieder geöffnet wurden und sie die gleichen, albernen, teeniehaften Gedanken in sich aufsteigen spürte, wie damals, als sie begriff, was sie für Hauke empfand.

Der, neben der Ziege hockend, fragte: „Mein Dad war wie oft hier?“

Sie blinzelte.

Ihre Stimme versagte.

Ilka schaffte es nicht, ihren Blick von Haukes Haarsträhne zu nehmen, die ihm lockig in die Stirn gefallen war. Ihr war es nicht möglich, einen Fuß ins Gehege zu setzen, um auf den Mann zuzugehen, der ihr vorhin schon auf der Straße entgegengekommen war. Der es schaffte, sie mit einer flüchtigen Begegnung völlig aus dem Konzept zu bringen.

Und das mit Peter geführte Gespräch ganz zu vergessen, dachte sie, während sie ein eisiger Windhauch traf, der geradewegs vom Meer herüber über ihren Resthof fegte. Der so klirrend kalt war, dass sie fröstelnd die Schultern hochnahm und ihr Gesicht instinktiv in ihrem Schal vergrub.

Sie schüttelte innerlich den Kopf und war froh darüber, dass das Pony geradewegs auf sie zuhielt. Sie einen schnellen Schritt auf den Hof zumachen musste, um das Gatter hinter sich ins Schloss zu werfen.

Kugelblitz“, sagte sie und war glücklich darüber, dass das Pony sich ihr näherte. Dass es sie mit seinem bulligen Kopf anstieß und wiehernd verlangte, von ihr gefüttert zu werden. „Du bist fett genug. Du bekommst jetzt nichts von mir.“

„Das hätte ich auch vorgeschlagen“, mischte sich Hauke ein, während er sich erhob und die Hände an seiner vor Dreck stehenden Hose abklopfte. „Der gute Junge ist etwas pummelig um seinen dicken Hintern.“

„Kann man einem so süßen Gesicht Nein sagen?“

Sie nahm den Kopf des Ponys zwischen die Hände, machte eine Schnute und gab sich selbst die Antwort, als sie mit verstellter - hoffentlich niedlich klingender - Stimme sagte: „Nein, kann man nicht. Ich auf jeden Fall nicht. Mir ist es unmöglich, auch nur eine Sekunde zu dir, süßem Kerl, Nein zu sagen.“

„Werden Sie disziplinierter, junge Dame“, sagte Hauke mit mahnend erhobenem Zeigefinger. „Ponys neigen dazu, Zucker zu entwickeln.“

„Dann gibt es Medikamente dagegen“, sagte sie mit der gleichen, albern klingenden Stimme. „Nicht wahr, mein Schatz? Dann geben wir dir einfach eine Tablette und du kannst weiterfuttern. Was sagst du dazu? Na? Was sagst du?“

Kugelblitz wieherte. Befreite sich aus der Umklammerung seiner verrückt gewordenen Besitzerin und stampfte protestierend mit dem rechten Vorderhuf auf.

„Medikamente sollten niemals die erste Wahl sein“, sagte Hauke, der sich seine Hände rieb und einen für Ilka beängstigenden Schritt auf sie zumachte.

Will er mir die Hand reichen? Mich umarmen? Mir ein Küsschen geben? Wie soll ich darauf reagieren? Unter ihm wegtauchen? Den Reisigbesen nehmen und anfangen zu fegen? Stehen bleiben und verharren? Oder ihn ebenfalls küssen? Aber wo? Auf den Mund? Die Wange? Nur ein Küsschen hauchen? Auf die Zehenspitzen stellen? Oder warten, dass er sich zu mir herunterbeugt? Ich …

Ahhhhhhhhhh!

„Ich bin dafür, dass du dem kleinen dicken Bengel da etwas
Gehaltvolleres zu fressen gibst und ihn dazu ermutigst, sich mehr zu bewegen. In seinem Alter sicherlich nicht immer leicht, aber alles ist besser, wenn wir ihn …“

„Hey“, sagte sie, einem Impuls folgend, als sie sah, dass Hauke ihr näher kam, und streckte ihm die Hand entgegen. „Hatte schon gehört, dass du wieder auf der Insel bist. Du hast dich hoffentlich eingelebt?“

„Bin noch dabei. Und ich versuche gerade, aus den Dokumenten meines Dads schlau zu werden“, erzählte er, und legte sich die Hand in den Nacken, als wüsste er nicht, wie er weiterreden sollte. Um dann unverblümt zu sagen: „Deshalb mache ich demnächst eine Bestandsaufnahme. Ich muss mir eine Übersicht verschaffen, wer denn alles überhaupt noch meine Dienste in Anspruch nehmen muss.“

„Ich“, meinte Ilka und fügte hastig hinzu: „Und die Tiere natürlich. Eigentlich nur die Tiere. Ich kann mich gut allein versorgen.“

Er machte ein verdutztes Gesicht. Dann lächelte er verlegen, blieb stehen und schien das erste Mal seine zur Schau getragene Selbstsicherheit zu verlieren. Er griff zögerlich nach der ihm gereichten Hand, umfasste sie sanft und ließ Ilka ein Ohhhh denken, das sie erschreckend an Amy Farrah Fowler aus The Big Bang Theory erinnerte, als diese dem gut aussehenden Zack begegnet war. Wie sie zusammengezuckt war und nicht zu verstehen schien, was das für Gefühle waren, die da durch ihren Unterleib zuckten.

Ilka fühlte sich gerade genauso.

Wieder auf Schwingen ihres jugendlichen Ichs sitzend; den Wind der Entzückung im Gesicht und das inbrünstige Verlangen danach, von Hauke geküsst zu werden.

Was verrückt war.

Total irre.

Sie kannte ihn nicht mehr. Er war über fünfzehn Jahre weg gewesen. Hatte, wenn sie richtig informiert war, unten in Hessen, bei Frankfurt, eine eigene erfolgreiche Tierarztpraxis unterhalten.

Er war völlig aus ihrem Leben verschwunden gewesen. Der damals lose über E-Mails gehaltene Kontakt war ebenso eingeschlafen, wie das von ihnen beiden gegebene Versprechen, als er auf die Fähre in Richtung Festland stieg, sich niemals aus den Augen zu verlieren.

Und jetzt bringt er mich durch sein schüchternes Lächeln völlig um den Verstand. Das ist doch irre, dachte sie. Im nächsten Augenblick war es ihr, als kämen ihre wild durcheinanderkreischenden Gedanken ein wenig zur Ruhe. Als würden sie aus dem Sturm ihrer eigenen Gefühle hinausgetragen, hin zu einem ruhigen, im Schatten eines Baums liegenden Plätzchen, wo man entspannen konnte.

Was Ilka gelegen kam.

Sehr sogar.

Sie wollte den Wust an Gedanken abstellen. Wollte nicht ununterbrochen zwischen Vergangenheit und Gegenwart hin und her huschen. Nicht immer wieder von ihren eigenen Überlegungen und Gefühlen übermannt werden und sich fragen, ob sie alle inneren Schranktüren offenstehen hatte.

Was sie dazu brachte, ruhiger zu werden, war Hauke selbst.

Als sie ihm ihre Hand hinstreckte, war das auf seinen Lippen liegende Lächeln zum Erliegen gekommen. Obwohl es noch da war, es seinen hübschen, von einem Dreitagebart umgebenden Mund diesen verführerischen, küssenswerten Ausdruck verlieh, hatte sich etwas an ihm verändert.

Seine Haltung.

Er schien so, als wäre er plötzlich kleiner und in sich gekehrter. Seine Augen musterten sie und sie hörte aus seiner stockend gestellten Frage Unsicherheit heraus: „Mein Dad … also … hat ehrenamtlich für dich die medizinische Versorgung über … äh … also … Er hat den Hof kostenlos versorgt?“

„Ja, das hat er.“

„Okay.“

Für einen klitzekleinen Moment stieg die Befürchtung in ihr auf, dass Hauke wie Peter sagen könnte, dass es nicht wirtschaftlich sei, was er hier tat. Dass er es sich beim besten Willen nicht leisten konnte, Medikamente und Arbeitszeit kostenlos zur Verfügung zu stellen. Nur um dann zu merken, dass sein Okay anders geklungen hatte. Nicht abschätzend, nicht berechnend, nicht nach einer Möglichkeit suchend, wie er ihr etwas schonend beibringen konnte.

Es hatte einen anderen Klang gehabt. Einen leisen, einen – bestätigenden?

„Ich würde mich sehr freuen, die Tradition …“

In diesem Moment kehrte Nela rufend zurück aus dem Haus.

„Hier habe ich die Flasche und da habe ich ein Ei. Musste es noch pulen, sonst wäre ich schon viel schneller hier gewesen. Hi, Mami. Guck mal, was ich Hauke zeigen will.“ Nela hielt die alte Plastikflasche in die Höhe und das rosa schimmernde Ei.

„Wo hast du denn den alten Bunsenbrenner?“, wollte Nela wissen und eilte in Richtung des baufälligen Schuppens, der vollgestopft war mit in die Jahre gekommenen Dingen, die sie bis heute nicht geschafft hatte, zu entsorgen und zum Recyclinghof zu bringen.

„Bunsenbrenner?“

„Wegen der Hitze!“

„Du benutzt ganz bestimmt keinen Bunsenbrenner“, sagte Ilka, die sich von ihrem Platz löste und auf ihre Tochter zueilte.

„Aber das Experiment aus dem Kurs …“

„Machst du nicht hier.“

„Mama!“

„Nein!“

Nela stemmte die Hände in die Hüften und funkelte Ilka böse an. Sie riss die Arme in die Luft und rief: „Nie darf ich was!“, um dann provozierend hinterherzuschieben: „Dann darf Hauke bestimmt auch nicht zu meinem Schulfest kommen und sich vom Weihnachtsmann etwas schenken lassen, oder? Danke, Mami. Richtig toll von dir.“ Sie schaute zu Hauke. „Schade. Wirklich. Der Weihnachtsmann hätte bestimmt für dich was richtig Tolles gehabt.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Kannst dich bei Mama bedanken. Die verbietet immer alles.“

***

„Wenn du jetzt nicht endlich mit der Sprache rausrückst und mir sagst, was mit Hauke war, komme ich persönlich von Neuseeland nach Amrum und ziehe dir die Hammelbeine lang. Also?“

Ilka musste lachen, obwohl ihr gar nicht danach war.

Sie war aufgewühlt, nicht in der Lage zu sagen, was in ihr vorging.

Sie wusste nur, dass sie verwirrt war – von Haukes Einladung.

Erst, als er sich verabschiedet hatte und Nela meinte, er sei nett, dämmerte ihr: Was hatte Hauke gerade gesagt?

Er hatte sie eingeladen – warum?

Weil er sie wiedersehen wollte?

Was sollte das?

Er hatte doch in den Unterlagen seines Vaters gesehen, was dieser getan und wie oft er ihren Resthof besucht hatte. Dafür musste sie nicht in seine Praxis kommen und so tun, als wäre alles in Ordnung, oder?

„Ich hör dich denken“, riss Sabrina sie aus ihrem inneren Karussell. „Und ich wette, deine Gedanken drehen sich nicht nur um Hauke.“

„Nein“, gab Ilka zu.

Sie saß in der geräumigen Küche, vor sich eine dampfende Tasse Spekulatius-Tee, dessen Duft langsam in der Luft zerfaserte.

„Ich muss an all diese Typen denken.“

„Bente?“

„Natürlich.“

„Peter?“

„Ach, hör bloß auf.“ Sie winkte ab. „Der hält gar nichts von meiner Idee mit dem Naschspender. Zu teuer, zu aufwendig, zu wenig Nachfrage, hat er gesagt. Dabei hat er es nicht einmal ernsthaft durchdacht.“

„Was ich sogar ein bisschen nachvollziehen kann.“

„Stehst du jetzt auf seiner Seite?“

„Ganz und gar nicht“, erwiderte Sabrina lachend. „Aber ich finde, du solltest dich trauen, neue Wege zu gehen.“

„Und welche wären das?“

„Ihr habt Touristen auf der Insel. Menschen, die sich gerne begeistern lassen.“

„Ich bin kein Wanderzirkus.“

„Hab ich auch nie behauptet“, sagte Sabrina mit dem Tonfall, den Ilka so gut kannte – warnend, wenn sie zu negativ wurde.

Sabrina hatte in der Schule schon so mit ihr gesprochen. Immer dann, wenn Ilka an sich zweifelte. Wenn sie nicht wusste, wie sie sich entscheiden sollte – sei es bei Prüfungen oder bei Bente und Hauke.

Ilka seufzte.

„Und was genau schwebt dir vor?“

„Braves Mädchen“, lobte Sabrina. „Du könntest so viel aufbauen. Lade Leute ein, die sich für Tiere interessieren. Du hast doch Kaninchen, Meerschweinchen, Kugelblitz und die Schweine. Die beiden blöden Ziegen, die einen immer anstupsen. So viel Potenzial, das du ungenutzt lässt.“

„Sorry, aber ich versteh gerade nur Bahnhof.“

„Denk weiter. Tierparks machen das doch auch.“

„Bitte komm zum Punkt“, bat Ilka, der die Energie fehlte weiterzudenken.

Sie wollte in Ruhe mit ihrer besten Freundin telefonieren, dabei aus dem Fenster schauen und zusehen, wie der immer stärker werdende Wind durch die Bäume fuhr.

Sie freute sich auf das Pfeifen der Böen, die ums Haus fegten – erste Boten des nahenden Winters und der für Nela so wichtigen Weihnachtszeit.

„Wie wär’s mit Patenschaften für deine Tiere – solange sie leben?“

„Patenschaften?“

„Ist da ein Echo oder warum wiederhole ich mich ständig?“, stöhnte Sabrina. „Natürlich Patenschaften. Kleine Beiträge, jeden Monat. Dafür bekommen die Leute eine Urkunde, ein Foto – und ihr Name wird am Gehege ausgehängt. Mit einem netten Spruch wie: Hier hilft XY mit, dass wir glücklich sind. Oder sowas in der Art. Hauptsache, es motiviert.“

„Das mit den Urkunden …“

„Du hast einen Drucker und zum Laminieren wirst du auch was finden“, fiel Sabrina ihr ins Wort. „Und jetzt komm mir bloß nicht mit einem Aber. Ich höre schon, wie es in dir brodelt.“

„Aber …“

„Lass es!“

Ilka lachte.

„Und da du gerade so schön lachst – was ist nun mit den Männern in deinem Leben? Machen sie dich wahnsinnig?“

„Allerdings.“

„Bente?“

„Der hat mir heute so eine blöde E-Mail geschrieben. Wegen der Besuchskontakte. Er meint, Nela fühle sich bei ihm wohl und habe gesagt, sie wolle ihn öfter sehen.“

„Davon träumt er wohl.“

„Sag ich doch.“

„Wie kommt er auf diesen Quatsch? Ich erinnere mich noch gut daran, wie sie neulich meinte, sie wolle am liebsten gar nicht mehr zu ihm.“

„Heute Mittag hat sie zu Hauke gesagt, dass sie ihren Papa nicht besonders mag.“

„Zu Hauke?“

„Die beiden haben geredet, als würden sie sich schon ewig kennen. Nela wollte ihm ein Experiment zeigen.“

„Wir sprechen vom selben Hauke Christensen? Der mal meinte, Männer sollten lieber gegen Heizungen spritzen, damit Kinder nur einmal stinken?“

„Genau der.“

„Und er hat es mit sich machen lassen?“

Ilka nickte, auch wenn Sabrina es nicht sehen konnte.

„Es sah ganz so aus.“

„Verrückt.“

„Und wie.“

„Er wirkte dabei nicht angeekelt oder unangenehm berührt?“

„Ganz ruhig. Gelassen sogar.“

„Hmm. Vielleicht eine Alien-Invasion, von der wir nichts mitbekommen haben, und er wurde von ihnen ausgetauscht.“

„Könnte sein.“

„Anders kann ich’s mir nicht erklären.“

Ilka tat das Gespräch gut.

Sie spürte, wie sich die Anspannung, die sie bis eben begleitet hatte, langsam löste.

Dass sie bereit war, sich auf das einzulassen, was vor ihr lag.

Sie hob die Tasse, pustete über die heiße Oberfläche und nippte vorsichtig an dem nach Weihnachten duftenden Tee.

Sie wollte Sabrina erzählen, wie sie Bente auf seine E-Mail antworten wollte, als ein gellendes Jaulen durch das Haus drang.

Ein heftiger Windstoß ließ die Fenster klirren.

Er prallte gegen das Haus, fächerte sich zischend über den Hof, tobte in wildem Wirbel über das Gelände.

„Scheiße“, sagte sie – und im selben Moment hörte sie ein Krachen und Scheppern.

„Was ist passiert?“, fragte Sabrina besorgt.

„Meine Scheune“, flüsterte Ilka.

Sie traute sich kaum, aufzustehen.

„Der Wind hat irgendwas zerstört …“

Sie seufzte.

***

„Momme!“, rief Nela und sprang aus dem Seat, als die Fähre anlegte und langsam ihre Schotten öffnete. Ilka stieg ebenfalls aus – weniger leichtfüßig, nicht von derselben Freude getragen – und versuchte zu lächeln.

Obwohl sie die Fahrt nach Wyk sonst genoss und es liebte, den anlegenden Fähren zuzusehen, war ihr unwohl. Nicht nur, weil ihr Bruder kam, sondern weil sie ihm erklären musste, was der Sturm vor drei Tagen auf dem Hof angerichtet hatte.

Ihr schlimmster Albtraum war sogar noch übertroffen worden.

Nicht nur war die ohnehin schon wackelige Scheunentür aus den Angeln gerissen worden, auch das Dach war beschädigt. Schindeln hatten sich gelöst und waren auf die provisorisch errichteten Ställe gestürzt.

Der Hühnerstall war kaum noch zu retten. Zwei faustgroße Löcher klafften im Dach.

Ilka wagte es nicht, sich auszumalen, wie Momme reagieren würde. Was er sagen würde – und ob er die Gelegenheit nutzte, ihr einen weiteren seiner Pläne zu präsentieren, wie er aus dem alten Hof etwas vollkommen Neues machen könnte.

Sie atmete tief durch und schaute zu ihrem Bruder hinüber, der einen klobigen Koffer hinter sich herzog. Daneben hüpfte Gina aufgeregt auf und ab – und streute … Glitzer?

Ilka traute ihren Augen nicht. Zuerst wollte sie sich einreden, dass sie sich täuschte, dass sie sich das Ganze nur einbildete. Doch als die ersten Autos rumpelnd die Fähre verließen, musste sie sich eingestehen: Gina sprang tatsächlich herum und warf golden schimmernden Glitzer in die Luft.

„Weihnachten!“, trällerte sie und lief direkt auf Nela zu, die über den nassen Bürgersteig rannte.

„Gina!“, rief Ilkas Tochter und warf sich ihrer Tante in die Arme. Diese fing sie auf, wirbelte sie herum und sagte: „Du kannst fliegen!“

„Ich fliege!“, juchzte Nela, ihr Lachen hell und herzlich – so schön, dass es Ilka mitten ins mütterliche, schwere Herz fuhr.

Momme hingegen blieb nüchtern.

Er stampfte auf Ilka zu und sagte: „Moin.“

„Moin“, erwiderte sie. „Mehr hast du nicht dabei?“, fragte sie und deutete auf den Koffer, während der Nordwind ihm durch die lockigen Haare fuhr.

„Mehr brauch ich nicht.“

„Weil?“

„Ich versorg mich hier mit neuer Kleidung.“

„Ah.“

„Ja, ah.“

Ilka wollte nicht schnippisch klingen, aber die Selbstverständlichkeit, mit der Momme hier auftauchte, ärgerte sie. Sie hätte sich ein Gespräch gewünscht, das ihr erklärte, warum er jetzt kam und alles umkrempeln wollte.

Sie setzte an, etwas zu sagen – und stand plötzlich in einem Regen aus glitzerndem Staub. Im dämmrigen Winterlicht wirbelten goldene Partikel um sie herum.

Ilka wollte sich ärgern, ihre schlechte Laune an Gina auslassen, aber dann musste sie lachen.

„Du bist so bekloppt“, sagte sie und sah zu, wie Gina lachend um sie herumsprang und dabei unentwegt ein Weihnachtslied sang.

„Nur für dich“, trällerte sie, stellte sich mit dem Rücken zu Ilka und rief begeistert: „Sieh mal, was meine Flügel können!“

„Echt jetzt? Die bewegen sich?“

„Irre, oder?“

Ilka lachte lauthals. Ihre schlechte Laune verflüchtigte sich, getragen vom Wind, hinaus auf die raue Nordsee – dorthin, wo Möwen ihre Sorgen weiterschrien, immer weiter dem Horizont entgegen.

„Und wie meine Flügel, so wackelt auch mein Poschi“, rief Gina und begann einen wilden Tanz, der Ilka den Kopf schütteln ließ.

Bin ich langweilig?, dachte sie und sah, wie Gina Nelas Hände ergriff.

„Es schneit, es schneit, kommt alle aus dem Haus!“, sangen die beiden und sprangen umher.

„Sing mit!“, rief Gina und zog Ilka zu sich.

Ilka ließ es geschehen – so verrückt es auch klang.

Anfangs steif, zögerlich, nicht dazu bereit, sich zum Affen zu machen. Als Gina eine Handvoll Kunstschnee über sie warf, fiel etwas von ihr ab.

Erinnerungen stiegen in ihr auf – an Rolf Zuckowskis Weihnachtslieder, an Kassetten und CDs, die sie als Kind geliebt hatte. An das weihnachtlich geschmückte Haus, den Duft kandierter Äpfel, den Naschteller voller Leckereien … Marzipankartoffeln, Schokokringel, Nugatkugeln, gefüllte Weihnachtsmänner.

All das durchströmte sie mit wohliger Wärme.

„… die Welt, die Welt sieht wie gepudert aus“, sang sie – und griff nach Nelas Hand.

Sie tanzten gemeinsam.

Und für einen kurzen Moment war alles andere vergessen.