Leseprobe Winterglück der Liebe | Eine winterliche Wholesome Romance

1 – Prolog

Abigail

Sitka, Alaska

Weihnachten – die schönste Zeit des Jahres.

Für Abigail aber war es vielmehr die schlimmste Zeit des Jahres. Nicht nur, weil sich ihr Zuhause in den nächsten Tagen in ein lautes Motel für alle Verwandten und Anverwandten verwandeln würde, sondern auch, weil es kein Entkommen gab. Für einen Moment fragte sich Abigail, ob ihre Familie wohl als Vorlage für den Film Kevin – Allein zu Haus gedient hatte. Sie hatte es nicht nur mit nervigen Geschwistern, Cousins und Cousinen zu tun, sondern auch mit Tanten, die gar nicht genug vom kollektiven Plätzchenbacken und Kochen bekamen, während ihre Onkel und ihr Vater das Haus und den Vorgarten mit Lichterketten schmückten. Es würde sie nicht weiter wundern, wenn man ihr Haus selbst vom Weltall aus sehen konnte, oder sich sämtliche Tiere im Umkreis von zehn Meilen panikartig in den Pazifik stürzten.

Aber am schlimmsten von allen war ihre Grandma Mathilda, die bereits seit einer Stunde im Zimmer nebenan ihre Posaune quälte, als gäbe es kein Morgen. Schließlich musste jeder Ton von Carol of the Bell bis White Christmas sitzen, wenn schon bald Martha, ihre Zwillingsschwester aus Little Falls, eintraf.

Beim Gedanken an Martha und ihren Mann Eugene hellte sich Abigails Gesicht schlagartig auf. Gleichzeitig fragte sie sich, wer so verrückt war, sich freiwillig in einen Flieger zu setzen, einmal quer über den Kontinent zu fliegen, um schließlich im abgelegensten Teil der USA Weihnachten zu feiern. Hier gab es weder eine anschauliche Main Street noch einen hübsch geschmückten Pavillon wie in der Kleinstadt in Connecticut, die sie nur von Fotos und Erzählungen kannte.

Eugene dagegen konnte gar nicht genug von all der Abgeschiedenheit und vom Mount Edgecumbe – einem inaktiven Vulkan – bekommen. Ihr Großonkel hatte sich eigens für seine seltenen Besuche in Sitka eine Art „Überlebensanzug“ gekauft, falls er in den verschneiten Wäldern verloren gehen sollte. Doch Abigail bezweifelte, dass ihn der gefütterte Thermoanzug mit Signallichtern auch vor hungrigen Tieren schützte. Zumindest hätte er bei seinen Wanderungen viel Ruhe, bei einer Bevölkerungsdichte von einem Einwohner je Quadratkilometer.

Abigail schnappte sich ihren Ugly-Christmas-Sweater aus der Kommode, zögerte einen Augenblick, dann zog sie sich das flauschige Etwas, das ihre Grandma höchstpersönlich mit viel Liebe gestrickt hatte, über den Kopf. Okay, so ugly war er nun auch wieder nicht. Ihre Grandma hatte sich glücklicherweise an ihre Vorgaben gehalten – Rudolph mit einer rot leuchtenden Nase, die per Knopfdruck sogar blinkte.

Sie hoffte nur, dass die Verwandten aus Little Falls ebenfalls an ihre Pullis dachten. Nicht auszudenken, wenn sie am Weihnachtsmorgen ohne passende Garderobe aufschlugen. Mathilda würde ihnen glatt die Geschenke verweigern oder sie zum Küchendienst verdonnern – und bei den Sinclairs gab es viel zum Spülen, sehr viel.

„Frühstück ist fertig!“

Abigails Herz setzte vor Schreck einen Schlag aus, als ihr Cousin Bernie ins Zimmer stürmte.

„Hey, hab ich dir nicht gesagt, dass du anklopfen sollst?“ Sie konnte nicht mehr mitzählen, wie oft sie dem kleinen Quälgeist schon erklärt hatte, dass sie viel Wert auf Privatsphäre legte. Immerhin war sie dreizehn und wollte nicht permanent von irgendjemandem überrascht werden. Erst gestern Abend war Onkel Marv hereingeplatzt, um sich ihre Lupe auszuleihen, weil er seine Lesebrille zu Hause vergessen hatte.

„Tut mir leid, Abby“, kam es nun kleinlaut zurück.

Warum erinnerte sie der kleine Bernie immerzu an Simon von den Chipmunks? Wahrscheinlich lag es daran, dass er wie das Eichhörnchen aus dem Film ebenfalls eine Brille trug und noch dazu ziemlich schlau war. Okay, und er liebte ebenfalls die Farbe blau.

„Schau mal, Grandma hat mir das Krümelmonster auf den Pulli genäht!“

Auch wenn der Kleine ziemlich nervte, und das tat er in den zwei Wochen seines Besuchs zweifelsohne, konnte Abigail ihm nicht böse sein. Mit einem liebevollen Lächeln erwiderte sie: „Der sieht toll aus und dann noch in deiner Lieblingsfarbe.“

Ihr Blick fiel auf die zwei angenähten Augen, die so groß waren wie Ping-Pong-Bälle und sie anglotzten.

„So einen hat sonst niemand“, fuhr Bernie mit Stolz fort. „Nur Großtante Martha.“

„Tante Martha hat auch das Krümelmonster?“, hakte Abigail überrascht nach.

Bernie kicherte übermütig. „Nein, aber auch jemanden aus der Sesamstraße.“ Der Kleine sah sich kurz um, ob sie ungestört waren, dann fuhr er in verschwörerischem Ton fort. „Sie bekommt Miss Piggy.“

„Was?“, entfuhr es Abigail laut. Sie wusste ja, dass sich die Zwillingsschwestern gerne kabbelten, aber Miss Piggy ging nun wirklich zu weit. Auch wenn sie verstehen konnte, dass ihre Grandma es Martha immer noch nachtrug, dass sie nicht zu ihrem Geburtstag erschienen war – das Stadtfest in Little Falls war wichtiger gewesen. Aber Martha war nun mal eine viel beschäftigte Karrierefrau, mal abgesehen davon, standen zwölf Stunden Flug und mindestens drei Zwischenstopps in keinem Verhältnis zu einer Feier, die sich jedes Jahr wiederholte.

„Das bleibt aber unter uns.“ Bernie strahlte sie an.

„Ja, sicher doch. Dann komm, lass uns nach unten gehen.“

Abigail nahm den Kleinen an die Hand und schloss vorsichtshalber hinter sich die Tür mit dem Schlüssel ab, nur für alle Fälle, falls seine Geschwister während ihrer Abwesenheit auf die Idee kamen, sich ungefragt umzusehen. Abigail horchte auf. Na endlich. Endlich hatte ihre Grandma ihre schräge Übungsstunde beendet – vermutlich roch sie ebenfalls den gebratenen Bacon. Schnell zog sie sich die beiden Stücke Ohropax aus den Ohren, die nun zusammen mit dem Schlüssel in ihrer Hosentasche landeten. Mittlerweile und nach jahrelangem Training war sie gerüstet für diese Familientreffen, die immer im Haus ihrer Eltern stattfanden. Sitka war ja so viel weihnachtlicher und authentischer als Texas oder Kalifornien – und so viel näher am Nordpol. Als ob sich Santa freiwillig bei den Sinclairs blicken lassen würde. Bei dieser Lautstärke würde sein Radar bereits über Kanada oder Russland ausschlagen, je nachdem von welcher Seite er kam, und er würde diesen Bereich weitläufig umfliegen.

Als Abigail mit Bernie die Küche erreichte, stieg ihr sofort der Duft von Pancakes und Kaffee in die Nase. Bei diesem Gewusel würde es sicher niemandem auffallen, wenn sie sich heute heimlich einen Schluck Kaffee mit viel warmer Milch genehmigte. Irgendwie musste sie den Tag ja überstehen, wenn sie bereits am Morgen durch Posaunenmusik geweckt wurde. Okay, jetzt hörte sie sich an wie ihre Mom.

„Guten Morgen, Abby!“, kam es beinahe im Chor, als sie die Kücheninsel erreichte, die unter dem Angebot an Platten und Karaffen fast zusammenbrach. Neben Waffeln, Pancakes und French Toast gab es auch allerlei Herzhaftes wie Bacon, Eier und Baked Beans.

Ja, das konnten die Sinclairs, gut auftischen und essen. Besonders ihre Grandma Mathilda und Großtante Martha.

„Schaut nur, sie hat schon ihren Pulli an und das einen Tag vor Weihnachten“, kam es von Bernies Vater. Ihr Onkel mütterlicherseits schenkte ihr einen rührseligen Blick. O nein, sie kannte diesen Ausdruck, diesen Hoffnungsschimmer, dass man ihr den Grinch doch noch irgendwie austreiben konnte. Hätte sie sich gestern Abend doch nur nicht zum weihnachtlichen Karaoke-Battle hinreißen lassen. Ihre Teilnahme hatte ihn sicher noch in seinem guten Glauben bestärkt. Besonders nachdem sie haushoch mit Santa Baby gewonnen hatte. Doch Onkel Harrys Worte gingen im Geräuschpegel und im Kampf um die letzte Waffel unter.

„Hey, die gehört mir. Du hast schon drei gegessen!“, holte sie die Stimme ihres älteren Bruders in die Wirklichkeit zurück, der mal wieder nichts weiter trug als Boxershorts – weihnachtliche Boxershorts. Herrgott, waren hier denn alle verrückt? Für einen Moment starrte sie auf das einzelne dunkle Haar auf seiner Brust, das sich seit Kurzem darauf kräuselte. Nein, so etwas wollte sie weder beim Frühstück sehen noch sonst wo.

„Aber die waren nicht für mich, sondern für Grandma“, kam es prompt von Bernie zurück, der sich von seinem ältesten Cousin Buddy nicht einschüchtern ließ. Ein Glück war sie nicht nach einem TV-Elfen getauft worden. Ihre Eltern hatten Will Ferrell in seiner Rolle geliebt und da ihr Bruder bereits mit zarten blonden Löckchen auf die Welt gekommen war wie der Schauspieler …

„Ja, klar. Du weißt aber schon, was mit Kindern passiert, die Lügengeschichten erzählen“, holte Buddy sie aus ihren Gedanken. „Santa setzt sie für immer auf seine Die-Bösen-Liste und sie bekommen nie wieder etwas zu Weihnachten!“

„So etwas würde ich nie tun!“ Für einen Moment starrte der kleine Bernie seinen Cousin an, während sich seine Augen hinter den Brillengläsern mit Tränen füllten und seine Lippen leicht zitterten. Auf Santas Liste? Weihnachten ohne Geschenke? Es gab wohl kaum etwas Schlimmeres für ihn.

„Hu hu, guten Morgen!“ Abigail drehte sich nach ihrer Grandma um, die in diesem Moment in die Küche schwebte und einen Teller mit verräterischen Krümeln und Sirupspuren auf dem Tresen abstellte. Selbst im Mundwinkel erkannte man noch die Überreste ihres vorfrühstücklichen Snacks.

„Da, ich hab die Wahrheit gesagt!“ Blitzschnell schnappte sich Bernie die Waffel von Buddys Teller und suchte damit das Weite.

„Huch, nicht so wild, mein Schatz!“ Mathilda Sinclair fasste sich theatralisch an die ausladende Brust und sah dem Kleinen im Krümelmonsterpulli schmunzelnd nach.

Abigail, die ihre Chance witterte, schnappte sich unauffällig die Thermoskanne und goss sich einen großzügigen Schluck des schwarzen Gebräus in die Tasse. Gerade in dem Moment, als sie die Kanne zurückstellte, drehte sich Mathilda zu ihr um.

„Guten Morgen, Abby. Ich hoffe, ich habe dich heute Morgen nicht zu sehr gestört mit meinem Getröte?“, hakte die ältere Dame mit einem entschuldigenden Lächeln nach.

„Nein, Grandma, ich weiß doch, wie gerne du spielst, besonders zur Weihnachtszeit“, erwiderte Abigail diplomatisch.

„Ich könnte mir ein Fest ohne gemeinsames Musizieren gar nicht vorstellen … ist es nicht toll, dass wir allesamt so musikalisch sind?“ Sie drehte sich zum großen Esstisch um, der mehrfach ausgezogen worden war und nun an die fünf Meter maß – eine Spezialanfertigung für die eine prächtige Sitka-Fichte hatte sterben müssen. Doch der Tisch reichte längst nicht mehr für alle Sinclairs aus, sodass der Kampf um die begehrten Plätze bereits vor dem Frühstück losging. Die Glückspilze bekamen einen Stuhl an der langen Tafel, die Pechvögel mussten auf die Couch. Solange sie nicht neben Onkel Herb sitzen musste, der laut schmatzte und ihr mit seinen langweiligen Geschichten das Ohr abkaute. Warum nur musste ihre Mom auch drei Brüder haben?

„Hu hu, Abigail, hast du mir überhaupt zugehört?“, holte Mathilda sie aus den Gedanken.

„Ja, Grandma. Wir sind sehr musikalisch“, erwiderte Abigail schnell und schnappte sich einen Teller vom Stapel, der auf dem Buffet bereitstand. Okay, wenn ihre Grandma damit Onkel Herbs Darmflöte und Onkel Marvs Arschgeige meinte, schoss es ihr amüsiert durch den Kopf, dann waren sie musikalisch. Sogar sie beherrschte einige schräge Akkorde auf der Gitarre. Nur Großtante Martha war, was Musik anging, das schwarze Schaf in der Familie. Sie war nicht einmal im Stande, die Glöckchen im Takt zu spielen. Vermutlich waren solche Fähigkeiten für ihr Amt als Bürgermeisterin ohnehin unwichtig.

Wie es wohl war, wenn man die alleinige Verantwortung für eine ganze Stadt trug? Insgeheim bewunderte Abigail ihre Großtante für das, was sie erreicht hatte. Im Gegensatz zu ihrer Zwillingsschwester war sie in ihrer Heimatstadt Little Falls geblieben und hatte Karriere gemacht. Ihre Grandma dagegen war bereits als junge Frau nach Alaska ausgewandert, weil sie sich Hals über Kopf verliebt hatte.

Abigails Mund verzog sich zu einem liebevollen Lächeln, als sie zu ihrem Grandpa Walther sah, der den besten Platz an der Tafel hatte. Er war nicht nur ihr Lieblingsmensch, sondern hatte in all den Jahren so ziemlich jeden Job ausgeübt, den man in den Wäldern Alaskas ausüben konnte. In jungen Jahren war er Wildhüter gewesen, später Rancher im Nationalpark und zwischenzeitlich flog er die kleine gelbe Propellermaschine, die Sitka mit der Außenwelt verband.

Abigail wandte sich wieder dem Buffet zu und verfolgte mit großen Augen, wie sich ihre Grandma einen zweiten Teller auflud. Dieses Mal mit French Toast und Baked Beans. Machte sich ihre Granny denn gar keine Sorgen um ihre Cholesterinwerte? Nicht dass Mathilda Sinclair je rank und schlank gewesen wäre, aber besonders zur Weihnachtszeit nahm ihre Schlemmerei überhand.

Gerade als Abigail sich etwas Rührei und Bacon auf den Teller lud, vernahm sie ein schiefes Tröten durch den Geräuschpegel von Stimmengewirr und Geschirrgeklapper. Hörte sie da etwa eine weitere Posaune?

Mathilda klappte der Mund auf, sodass ihr Doppelkinn leicht bebte.

„Nanu, das kann unmöglich schon der Posaunenchor sein … die kommen doch erst morgen früh“, bemerkte die ältere Dame leicht irritiert und warf einen skeptischen Blick zur Tür. Auch der Rest der Familie war augenblicklich verstummt und lauschte nun dem Tröten hinter der Tür, das vielmehr an einen Elefanten im Stimmbruch erinnerte.

Ehe sich die Familie weiter wundern konnte, wurde die Tür von Bernie geöffnet. Kurz darauf sah dieser ungläubig zwischen den Neuankömmlingen und seiner Grandma hin und her. „Ich glaub, mich tritt ein Elch!“ Erst da fiel Abigail wieder ein, dass Bernie bei ihrem letzten Besuch noch zu klein gewesen war, um sich an Mathildas Zwillingsschwester zu erinnern.

„Martha!“, entfuhr es ihrer Grandma lautstark, als diese den Teller ablegte und schnell um den Tresen herumkam. „Seit wann spielst du denn Posaune?“

Mathilda legte sich ergriffen die Hand auf die Brust, während Freudentränen in ihre Augen stiegen. Auch der Rest der Verwandtschaft war aufgestanden und staunte nicht schlecht, als eine weitere Dame mit Achtziger-Jahre-Dauerwelle – obwohl die Achtziger längst hinter ihnen lagen – in eine antiquierte Posaune schnaufte. Dazu trug sie einen gefütterten roten Mantel, der perfekt mit den rosigen Backen harmonierte.

„Ist uns die Überraschung gelungen?“ Eugene, Marthas Ehemann, strahlte bis über beide Ohren, während die Gute immer noch das Instrument quälte.

„Dann können wir endlich im Duett spielen!“ Mathilda hob ihre Hand und zeichnete einen imaginären Titel in die Luft. „Die Sinclair-Schwestern. Jetzt auf Tournee durch Alaska!“

Dieser Satz brachte Martha zum Lachen, sodass sie endlich von der Posaune abließ. „Hallo, mein Schwesterherz. Na, da staunst du.“

„Oh, Martha, du bist immer wieder für eine Überraschung gut. Wie konntest du das nur vor mir geheim halten?“

„Du glaubst gar nicht, wie schwer es für mich war, dichtzuhalten.“

Die Gäste aus Little Falls schüttelten sich den Schnee ab und betraten das Haus.

„Hu hu, alle zusammen. Wie ich sehe, sind schon alle da.“ Marthas Augen leuchteten auf, als sie sich einmal ringsum umsah. „Und wie gut das hier duftet!“

„Ihr kommt genau rechtzeitig zum Frühstück“, erwiderte Abigails Mutter Kate und nahm ihrer Tante das Instrument ab.

„Setzt euch und wärmt euch auf. Ihr müsst ja völlig müde sein nach der langen Reise.“ Ihr Dad erhob sich schnell von seinem Stuhl, und auch Onkel Marv stand auf, um Platz zu machen.

„Bis eben war ich tatsächlich etwas müde, aber diese Propellermaschine sorgt doch immer wieder für einen kleinen Adrenalinkick“, erwiderte Eugene mit ehrfurchtsvollem Blick.

Abigail verkniff sich ein Grinsen, denn der Mann ihrer Großtante war wirklich zu komisch, wie er da in seinem „Überlebensanzug“ stand und wie das personifizierte Michelin-Männchen aussah.

„Papperlapapp, du liebst doch die Aussicht … und eine Gruppe Bären haben wir auch schon entdeckt.“ Martha schälte sich aus ihrem Mantel und ließ sich auf den freien Stuhl plumpsen. „Hach, ich kann euch gar nicht sagen, wie sehr ich mich freue, euch alle wiederzusehen.“

Abigail lief zum Buffet und füllte zwei Becher mit Kaffee, die sie den beiden brachte. „Ich freu mich auch riesig, Tante Martha, dass ihr endlich wieder hier bei uns in Alaska seid.“

2

Matt

12 Jahre später

Matt konnte kaum glauben, dass schon bald sein zweites Weihnachten in Little Falls bevorstand und wie sehr sich sein Leben in den letzten fünfzehn Monaten verändert hatte. An manchen Tagen fühlte er sich wie ein komplett anderer Mensch. Noch vor zwei Jahren hatte er sich nichts Schöneres vorstellen können, als mit seiner Kamera unvergessliche Erinnerungen für die Ewigkeit festzuhalten. Brautpaare beim Anschneiden der Hochzeitstorte, Familienzusammenkünfte und sogar Fellnasen in ihrem schönen Zuhause.

Zu diesem Zeitpunkt hatte er in einer kleinen WG in Brooklyn gewohnt und sich selbst etwas vorgemacht. Denn all diese Fotos zeigten das, was er noch nicht gefunden hatte oder was er nicht mehr zurückholen konnte. Er hatte weder eine ernsthafte Beziehung noch Platz für einen ausgewachsenen Hund. Erst in Little Falls war ihm klar geworden, warum er sich so gerne unter die Hochzeitsgäste gemischt hatte – weil er diese Art von Familienbande nie kennengelernt hatte.

Es gab weder Geschwister noch Cousins und Cousinen, er hatte nicht einmal eine nervige Tante oder einen Onkel, mit dem er über Football streiten konnte. Seine Großeltern mütterlicherseits lebten in Europa und seinen Großvater väterlicherseits hatte er nie persönlich kennengelernt. Und seine Grandma June, zu der er regelmäßig Kontakt gehabt hatte, war nie wirklich der umsorgende Typ gewesen. Im Grunde waren sie immer nur zu dritt gewesen, seine Eltern und er – bis ein tragischer Unfall ihm alles auf der Welt genommen hatte. Seine Familie.

Fünf Jahre waren seitdem vergangen und Matt konnte nicht mehr mitzählen, wie viele Fotos er seitdem geschossen und entwickelt hatte. Von den unzähligen Bar-Mizwas im jüdischen Viertel in Williamsburg im Norden von Brooklyn mal ganz zu schweigen. Wie praktisch, dass er gleich um die Ecke wohnte und jüdisches Essen liebte. Wahrscheinlich würde er immer noch als Fotograf arbeiten und sich innerhalb dieser Gemeinschaft bewegen, hätten ihn nicht eines Tages diese Briefe erreicht. Ein notarielles Schreiben aus New Haven und ein Schreiben der Bürgermeisterin aus Little Falls höchstpersönlich, in dem sie ihn ebenfalls über das Ableben seines Großonkels Al in Kenntnis gesetzt hatte. Der Onkel seines Vaters, den er nie persönlich kennengelernt und den seine Eltern kaum erwähnt hatten. Dieses Schreiben hatte nicht nur die Trauer um seine Eltern wieder an die Oberfläche gespült, sondern ihn wachgerüttelt. Er musste schleunigst etwas ändern. Noch am selben Tag hatte er alle anstehenden Termine gecancelt und die Fotos der Goldberg Bar-Mizwa in einem Rutsch entwickelt. Eine Woche später hatte er New York verlassen, um sein Erbe anzutreten.

Mit einem stolzen Lächeln sah sich Matt im weihnachtlich geschmückten Foyer des Kinos um, das er seit nunmehr fünfzehn Monaten sein Eigen nennen durfte. Davor hatte Al das „Hollywood“ über fünfzig Jahre lang geführt, bis er im Alter von neunzig Jahren verstorben war.

Zum antiquierten Kino gehörte eine Wohnung im ersten Stock, die ebenfalls in die Jahre gekommen, doch im Vergleich zu seiner letzten Bleibe riesig war. Obwohl ihn die zusätzlichen Kosten, die er zweifelsohne in sein Erbe hineinstecken musste, etwas abgeschreckt hatten, war er geblieben. Nicht weil die Bürgermeisterin ihn mit ihrem rührseligen Schreiben überzeugt hatte, sondern weil er eine Kiste mit Erinnerungsstücken gefunden hatte. Voll mit Tagebüchern und Fotos von unschätzbarem Wert.

Zu Beginn hatte er sich wie ein Eindringling gefühlt, besonders als er die persönlichen Dinge seines Onkels durchgegangen war. Aber schon wenige Tage später war dieses Gefühl einer tiefen Verbundenheit gewichen. Nicht nur seinem Onkel gegenüber, sondern auch den Menschen in Little Falls, die offensichtlich wie Familie für Al gewesen waren. Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er sich als richtiger Teil einer Gemeinschaft.

Einer sehr einnehmenden Gemeinschaft, die noch nie etwas von Privatsphäre gehört hatte. Martha, die Bürgermeisterin, war die Erste gewesen, die ihn bei seiner Ankunft überfallen und ihm das Kino in den höchsten Tönen angepriesen hatte, trotz des zu offensichtlichen Verfalls und der altbackenen Ausstattung.

Keine Stunde später hatten die Golden Girls im Foyer gestanden, um ihm ihr Beileid auszudrücken und ihn in Little Falls willkommen zu heißen. Francis, Josephine und Dorothy. Drei toughe ältere Damen und Eigentümerinnen der Bäckerei, des Buchladens und des B&B. Am Abend im Diner hatte er schließlich die Cassidy-Brüder kennengelernt. Cole, Clayton und Chase, die zwischenzeitlich wie Familie für ihn waren.

Mit Cole, dem Ältesten verstand er sich am besten. Was nicht zuletzt daran lag, dass er beinahe täglich den Diner besuchte, den Cole von seinem Grandpa Larry übernommen hatte. Er kam nicht nur zum Frühstück vorbei, sondern auch zum Mittag- und Abendessen, wenn gerade keine Vorstellung im Kino lief. Und wo sonst, wenn nicht im Diner, konnte er sich unter die Einwohner mischen, um sie besser kennenzulernen? Schnell hatte er gelernt, dass die Menschen hier nicht nur sehr neugierig, sondern auch sehr herzlich und aufgeschlossen waren.

Clayton, der im selben Alter war wie er, arbeitete als Bauleiter im elterlichen Betrieb. Zusammen mit dem mittleren Bruder hatte er sein Kino fit fürs 21. Jahrhundert gemacht. Was wohl sein Großonkel Al zur neuen Technik und den bequemen Sesseln sagen würde? Selbstverständlich hatte er darauf geachtet, den ursprünglichen Charme zu wahren, und nur jene Dinge ausgetauscht, die es wirklich nötig hatten.

Selbst die Außenfassade im Stil der 50er-Jahre hatte er nahezu in ihrem Originalzustand belassen. Er liebte die verchromten Türrahmen und das große Leuchtschild über dem Eingang mit der Aufschrift „Hollywood“, das einladend leuchtete.

Der türkisfarbene Verkaufstresen und die kleinen Wandlämpchen im Saal waren der Nostalgie wegen ebenfalls geblieben. Zwischenzeitlich funktionierte sogar die alte Popcornmaschine wieder – Larry sei Dank. Der Senior hatte lediglich den defekten Brenner und den Thermostat ausgetauscht und sich wie ein kleines Kind gefreut, dass es endlich wieder original hausgemachtes Popcorn geben würde.

Dieses bot Matt detailgetreu in rot-weiß-gestreiften Tüten an und servierte dazu leckere Milchshakes wie auch schon damals sein Großonkel Al.

Plötzlich heulte der Wind, der seit einigen Stunden tobte, laut auf und rüttelte so heftig an den alten verchromten Türen, dass Matt überrascht aufsah.

Aus den leichten Flocken hatte sich ein richtiges Schneegestöber entwickelt. Fasziniert lief er auf die Scheibe zu, die alles andere als doppelwandig und gedämmt war, und sah hinaus.

Doch durch die dicken Schneeflocken, die wild durcheinandergewirbelt wurden, konnte er kaum etwas erkennen. Sein Blick fiel auf eine der Straßenlaternen, die man wie jedes Jahr traditionsgemäß mit Tannenkränzen und roten Schleifen geschmückt hatte.

Na, hoffentlich fliegt uns die Deko heute nicht um die Ohren, schoss es ihm durch den Kopf, als der Kranz gefährlich durchgeschüttelt wurde.

Ein Glück, dass man noch nicht damit begonnen hatte, den Pavillon und die Main Street herzurichten. Matt schmunzelte, als er sich an letztes Jahr erinnerte. Little Falls hatte für vier Wochen ausgesehen wie Christmas Town!

Matt verließ seinen Posten am Fenster und kehrte wieder zum Tresen zurück, auf dem bereits seine Kiste mit Weihnachtsdekorationen stand. Ein Sammelsurium an Erbstücken, die Al ihm hinterlassen hatte, und neue Dekoartikel und Lichterketten, die er in New Haven, zusammen mit den Popcorntüten, besorgt hatte.

Natürlich würde er, wie jeder Geschäftsinhaber in Little Falls, seinen Teil zur Dekoration beitragen. Nicht nur weil es Tradition war, dass jeder sein Schaufenster schmückte, sondern weil es ihm auch einen Riesenspaß machte. Wie praktisch, dass er so viel Platz hatte, um sich auszutoben. Matt holte einen batteriebetriebenen Weihnachtsmann aus dem Karton, der auf Knopfdruck mit den Hüften wackelte. Auf Als alten Fotos hatte er gesehen, dass diese Figur stets ihren Platz auf dem Tresen gefunden hatte, um die Kinobesucher mit einem Tänzchen zu begrüßen. Als er den Weihnachtsmann wieder genau auf seinen Posten stellte, bildete sich ein dicker Kloß in seinem Hals, der ihm das Schlucken schwer machte. Wie gerne hätte er seinem Onkel gezeigt, was er aus dem kleinen Kino gemacht hatte. Gleichzeitig bedauerte er, dass er den alten Mann nie persönlich kennenlernen konnte. Wie so oft beschlich ihn wieder das Gefühl, dass sein Großonkel ihm das Kino nicht ohne Grund hinterlassen und ihn so nach Little Falls gelockt hatte. Bereits als er den Karton mit den Erinnerungsstücken durchsah, war da dieses Gefühl gewesen, als ob ihm der alte Mann irgendetwas mitteilen wollte. Doch warum hatte er sich nie zu Lebzeiten bei ihm gemeldet?

Matt fischte einen weiteren, leicht angestaubten Dekoartikel aus dem Karton und strich vorsichtig mit der Hand darüber, um ihn vom Staub zu befreien. Es handelte sich um ein altes Blechschild mit der Aufschrift „Driving Home for Christmas“. Tränen traten in seine Augen, denn zum ersten Mal seit einer langen Zeit konnte er wirklich behaupten, dass er ein richtiges Zuhause und wieder eine Familie hatte. Selbst wenn er sich im Kokon der jüdischen Gemeinde in Brooklyn sehr wohl gefühlt hatte.

Auch dieses Andenken stellte er an seinen bestimmten Platz – direkt neben die Popcornmaschine. Onkel Al wäre sicher sehr stolz auf ihn, wenn er sehen könnte, dass er die Traditionen weiter pflegte und nicht zu viel veränderte, immerhin waren es die Menschen hier so gewohnt.

Josephine, die Buchhändlerin, hatte ihn bereits letztes Jahr rührselig in die Arme geschlossen und ihm gedankt, dass er das Kino nicht in einen futuristischen 3-D-Palast verwandelt hatte, wie es sie heutzutage überall gab. Sie bekam von den 3-D-Brillen nämlich Augenschmerzen und von den Effekten wurde ihr immer ganz schwindelig.

Matt schnappte sich die Lichterkette, die er selbst gekauft hatte, und hängte sie über dem Sofa in der Lounge auf. Dieser Bereich war neu dazugekommen und zwischenzeitlich sehr beliebt. Nicht nur um sich vor einem Film die Wartezeit zu verkürzen, sondern auch für andere „Events“.

Matts Mund verzog sich zu einem amüsierten Grinsen, als er sich an Coles Junggesellenabschied erinnerte, den sie hier gefeiert hatten. Dieser Abend, besonders die missglückte Überraschung mit der Stripperin, sorgte noch heute für herzhafte Lacher. Ebenso das Kalender-Fotoshooting, das sich Martha in den Kopf gesetzt hatte, um den Feuerwehrmännern aus New Haven nachzueifern und Geld für eine Klimaanlage im Bürgersaal zu sammeln. Die Bürgermeisterin aus Little Falls war schon sehr speziell, wie er zugeben musste, und hatte sich ausgerechnet ihn ausgesucht, wenn es um die Durchführung von Spezialaufgaben ging. Mittlerweile fungierte er neben seinem Job im Kino nicht nur als ehrenamtlicher DJ und Fotograf, sondern auch als Social-Media-Berater, wenn es darum ging, die Dame mit der Achtziger-Jahre-Dauerwelle perfekt in Szene zu setzen. Welch ein Glück, dass er schon immer sehr technikaffin gewesen war.

Matt kehrte zum Tresen zurück und klappte den Karton zu. Er hatte später genügend Zeit, um weiterzudekorieren, wenn im Kino die Abendvorstellung lief. Doch davor wollte er sich erst um seinen knurrenden Magen kümmern. Nach einem kurzen Blick zur Scheibe erkannte er, dass sich das Schneegestöber zwischenzeitlich gelegt hatte und nur noch vereinzelt dicke Flocken vom Himmel schwebten. Er griff nach seiner Daunenjacke und verließ, nachdem er das Licht ausgeschaltet und abgeschlossen hatte, das „Hollywood“. Ihm blieb noch eine gute Stunde fürs Abendessen im Diner, im Anschluss wollte er den Gehweg vor dem Kino für die Freitagabendvorstellung freischaufeln und neue Schmutzfangmatten im Foyer auslegen.

Matt setzte einen Fuß vor den anderen, dabei knirschte der Neuschnee leicht unter seinen Stiefeln. Ansonsten war es hier draußen mucksmäuschenstill, beinahe als wäre die ganze Stadt in eine Art Dornröschenschlaf versunken. Sein Blick fiel auf die Leuchtröhre über dem Eingang, die leicht flackerte und den Schnee um sie herum zum Funkeln brachte. Dieser Moment war geradezu magisch, nicht nur weil sämtliche Geräusche vom Schnee geschluckt wurden, sondern weil die Zeit auf einmal still zu stehen schien.

Mit einem melancholischen Lächeln auf den Lippen drehte sich Matt um und lief in Richtung Zentrum. Auf diesem Abschnitt der Main Street gab es nur das Kino, am Ende der Straße, und eine bunte Mischung aus historischen Gebäuden. Darunter mehrere Häuser im viktorianischen Stil, die nach und nach liebevoll restauriert worden waren. Er staunte jedes Mal, was Clayton und sein Dad aus ihnen gemacht hatten. Von sehr alten Aufnahmen, die zu Als Hinterlassenschaften gehörten, wusste er, dass die Gebäude nicht immer so einladend gewesen waren. Mit ihren teils dunklen Anstrichen hatten sie ihn vielmehr an verlassene Geisterhäuser erinnert. Davon war heute jedoch nichts mehr übrig. Die kleinen Türmchen und Erker erstrahlten mittlerweile in einem frischen vanillegelb oder türkis und waren bei jungen Familien, vor allem wegen der großzügigen Gärten, sehr beliebt. Auch die überdachten Veranden luden im Sommer zum Verweilen ein und waren zur Weihnachtszeit mit ihren Tannengirlanden und Lichterketten ein absoluter Hingucker. Doch das wirkliche Leben in Little Falls spielte sich rund um den Park ab. Hier gab es alle wichtigen Geschäfte, sodass er nur selten in die nächstgrößere Stadt New Haven fahren musste.

Matts Augen leuchteten auf, als er die Main Street erreichte. Auch hier hatte man bereits an jeder Straßenlaterne einen gebundenen Tannenkranz befestigt. Ebenso waren die Schaufenster der Bäckerei und des Buchladens weihnachtlich dekoriert. Matt klopfte sich die Stiefel ab und betrat anschließend den gut besuchten Diner.

„Hi, Matt!“, begrüßte ihn Cole gut gelaunt, als er mit einem Tablett Sandwiches aus der Küche kam.

„Hi, Cole.“ Matt nahm am Tresen Platz, an dem kein Hocker zum anderen passte, und sah sich lächelnd um. Er liebte diesen Mix aus alt und neu. Die meisten Möbelstücke stammten zweifelsohne noch aus der Zeit, als Larry den Diner geschmissen hatte. Wie der alte Einbauschrank am anderen Ende der Wand, in dem sich nicht nur überzählige Speisekarten und Salzstreuer befanden, sondern auch Tassen und T-Shirts mit der Aufschrift „Cole’s Diner“, die er zum Stadtfest hatte bedrucken lassen und die vor allem bei den Touristen sehr beliebt waren.

An der Fensterfront entdeckte er Coles Grandpa und seine Freunde, die in eine Partie Schach vertieft waren – heute mal nicht am Pavillon im Park. Sonst ließen sich die Senioren von der Kälte nicht aufhalten. Mit dicken Jacken und Thermoskannen ausgestattet, kam es durchaus vor, dass sie sich selbst im Winter bei Sonnenschein dort trafen.

„Das ist ein Wetter heute“, bemerkte Cole kopfschüttelnd, als er zurück zum Tresen kam und Matt ein Glas Cola einschenkte.

„Danke, Cole. Ja, ich dachte schon, das wars mit der Deko.“

„Keine Sorge, die fliegt schon nicht weg. Solange Chase die Endabnahme macht“, erwiderte er mit einem herzhaften Lachen, als er auf seinen jüngsten Bruder, den Sheriff, anspielte.

„Ist vielleicht auch besser so. Also ich möchte nicht von einer überdimensionalen Zuckerstange oder Santas Schlitten getroffen werden.“ Matts Mundwinkel zuckte amüsiert, als er sich an die Dekorationen aus dem letzten Jahr erinnerte, die ihm nur ein sprachloses Staunen entlockt hatten. Dagegen waren die Requisiten bei Macy’s ein Witz.

„Einen Burger mit Pommes?“, holte ihn Cole aus den Gedanken.

„Ja, gerne“, antwortete Matt lächelnd und sah dem ältesten Cassidy-Bruder nach, als dieser in der Küche verschwand, um die Bestellung aufzugeben.

„Wie geht es Jenna?“, hakte Matt nach, als Cole kurz darauf wieder zurückkehrte.

Bei dieser Frage hellte sich dessen Gesicht schlagartig auf. „Prima. Nur wär es mir lieber, wenn sie sich allmählich etwas schonen würde.“

Matt schnitt eine Grimasse, denn er konnte gut nachvollziehen, dass sich sein Freund um seine Frau sorgte. Jenna war hochschwanger und ließ es sich dennoch nicht nehmen, die halbe Nacht in der Backstube zu stehen.

„Solange sie sich wohlfühlt“, erwiderte Matt diplomatisch, denn er konnte auch Jenna verstehen, dass sie gerade jetzt zur Weihnachtszeit ihre Familie unterstützen wollte – auch wenn sie ihre Grandma Francis und ihre Eltern regelrecht zur Verzweiflung trieb.

„Zumindest komme ich dieses Jahr ums Dekorieren herum“, bemerkte Cole mit einem Augenzwinkern. „Martha hat mich von sämtlichen Pflichten freigestellt.“

„Du Glückspilz“, entgegnete Matt ehrlich, denn er wusste mittlerweile, dass Cole die Kleinstadtpflichten mitunter zu viel wurden und er sich nur sehr ungern zu etwas überreden ließ.

„Aber den Diner könntest du schon etwas weihnachtlich herrichten, oder nicht?“, fuhr Matt amüsiert fort.

„Keine Sorge, mach ich noch. Und neue rote Becher habe ich ebenfalls bestellt für Kakao, Eggnog und Gingerbread Latte.“

„So so“, erwiderte Matt mit einem Schmunzeln. „Sag bloß, du hast die Getränkekarte extra für Josephines Enkelin geändert?“

„Nun, jetzt wo Isabelle in Little Falls wohnt, soll sie sich doch wie zu Hause fühlen.“

Es war einfach zu süß, wie sich alle ins Zeug legten, um Chases Freundin, ein wenig New York-Feeling zu bieten. Dabei hatte sich die Autorin längst in der Kleinstadt eingelebt und liebte es hier auch ohne Starbucks. Dennoch hatte es sich Francis nicht nehmen lassen, eigens für die junge Frau einen neuen standesgemäßen Snack einzuführen, der sie an ihre Heimatstadt erinnern sollte – den Bacon & Egg Bagel. Der wirklich sehr lecker war, wie Matt zugeben musste. Ebenso wie die Zimtschnecken, die er sich fast täglich zum Frühstück gönnte.

„Wie kann man sich hier nicht wie zu Hause fühlen?“, bemerkte Matt mit einem wehmütigen Lächeln und fragte sich nicht zum ersten Mal, ob sein Großonkel ihn hier in Little Falls hatte gut versorgt wissen wollen. Zum ersten Mal in seinem Leben war er Teil einer großen Familie, wie er sie sich immer gewünscht hatte.

3

Abigail

„Ja, Onkel Harry, Grandpa holt euch mit dem Flieger ab. Ja, und für Bernies Freundin ist auch Platz, sie bekommt mein altes Zimmer. Eine Karaoke-Maschine? Nein, nein, das klingt toll. Ja, Bernie darf auch sein Keyboard mitbringen. Keine Sorge, ihr habt kein Übergepäck, außer Onkel Marv schleppt wieder drei Koffer mit. Okay, ich gebe allen Bescheid und bis bald!“

Abigail legte den Hörer auf und für einen Moment schien ihr der Gedanke an die kleine gelbe Propellermaschine, die an der Bergspitze des Mount Edgecumbe zerschellte, zu verlockend. So weit war es schon gekommen, dass ihr solche Fantasien durch den Kopf gingen. Nein, so etwas wünschte sie sich natürlich nicht. Weder für Onkel Harry noch für Onkel Marv oder Onkel Herb, die bereits alle angerufen hatten, um ihre Reise nach Sitka zu bestätigen und den Transfer klarzumachen. Ihr Grandpa würde mit dem Betanken des kleinen Flugzeugs und seinen Touren zwischen dem Festland und Sitka kaum mehr hinterherkommen. Und es wurde von Jahr zu Jahr schlimmer, denn mittlerweile kamen ihre Cousinen und Cousins alle in Begleitung. Für einen Moment war der Gedanke, selbst in ein Flugzeug zu steigen, zu verlockend. Doch sie selbst war die Einzige in der Familie, die zu Weihnachten nie verreist war. Dabei hatte sie sich als Kind mehr als einmal gewünscht, einfach wie Kevin am Flughafen verloren zu gehen, um endlich ihre Ruhe zu haben. New York wäre nicht schlecht gewesen … oder Little Falls.

Bald war es wieder so weit. Alle Sinclairs würden in Sitka, Alaska wie die Heuschrecken einfallen und ihr Zuhause in ein Irrenhaus verwandeln. Nein, nicht alle. Großtante Martha und Eugene waren dieses Jahr nicht dabei.

Abigail befüllte die Kaffeemaschine mit Bohnen und drückte den Knopf. Konnten sie denn nicht ein einziges Mal im kleinen Kreis feiern? Nur ihre Eltern, ihr Bruder und ihre Großeltern. Ohne die nervige Verwandtschaft und Anverwandtschaft, die aus dem ganzen Land anreiste. Aber sie kannte die Antwort bereits. In Alaska war es doch so viel authentischer, vor allem mit dem prasselnden Kaminfeuer und dem vielen Schnee.

„Hu hu, guten Morgen, mein Schatz! Na nu, sind denn schon alle weg?“

Abigail drehte sich nach ihrer Grandma um, die in diesem Moment in die Küche kam und schnaufend am Tresen Platz nahm.

„Hi, Grandma. Ja, bereits vor zwei Stunden. Für heute haben sich mehrere Reisegruppen angemeldet.“

Wie immer, wenn die junge Frau über den Arbeitsplatz ihrer Eltern und ihres Bruders sprach, verzog sich ihr Mund zu einem stolzen Lächeln. Alle waren im Sitka National Historical Park beschäftigt, der mit seinen Tlingit- und Haida-Totempfählen und dem größten Bärenreservat Nordamerikas Touristen aus aller Welt anzog.

„Auch einen Kaffee?“ Ihr Blick fiel auf die pinkfarbenen Lockenwickler, die den Kopf der älteren Dame schmückten und die sie gestern Abend in mühseliger Kleinarbeit eingedreht hatte. Warum auch musste sich die einzige Friseurin in Sitka kurz vor Weihnachten die Hand brechen? So langsam hatte sie das Gefühl, dass sich jeder gegen sie verschworen hatte.

„Ja, sehr gerne. Nur noch zwei Wochen, dann hast du’s endlich geschafft“, bemerkte Mathilda mit einem mitfühlenden Lächeln.

Abigail schnitt eine Grimasse, denn auch in ihrem Laden lief es seit einigen Tagen drunter und drüber. Nicht nur dass es Verzögerungen mit den Bestellungen gab, nein, in diesem Jahr häuften sich auch die Irrläufer in ihrer Poststelle. Mittlerweile sollte es sich herumgesprochen haben, dass sie weder für Santa arbeitete noch dass es ihr Job war, diese Briefe weiterzuleiten. Sah sie etwa aus wie ein verdammter Elf?

Santa Claus Post Office - 45 North Kringle Place - Santa Claus, IN 47579, lautete die offizielle Anschrift.

„Dein Grandpa holt sie heute alle ab“, fuhr Mathilda mit einem verräterischen Zucken um den Mundwinkel fort, „und sorgt dafür, dass die Wunschzettel rechtzeitig ankommen.“

Die ältere Dame legte sich ergriffen die Hand auf die Brust, während sie mit der anderen Hand einen imaginären Titel in die Luft malte. „Walther Sinclair, Santas tüchtiger Helfer in Alaska!“

Auch wenn Abigail mit Weihnachten nicht viel anfangen konnte, ließen sie diese Briefe dennoch nicht kalt. Sie wusste, dass es unter den typischen Wunschlisten auch Herzenswünsche gab, die selbst Santa nicht erfüllen konnte.

Sie reichte ihrer Grandma ebenfalls eine Tasse Kaffee, als ein sonores Brummen ihre Aufmerksamkeit zum Fenster lenkte. Wie zum Beweis erkannte sie über den schneebedeckten Bergen die kleine gelbe Propellermaschine, die ihr Herz vor Liebe überfließen ließ.

„Grandpa ist zurück!“ Die junge Frau verfolgte, wie die Maschine immer näher kam und schließlich auf der Wasseroberfläche zur Landung ansetzte. Nicht nur sie hatte vor Weihnachten viel zu tun, sondern auch ihr Grandpa, der zwischen dem Festland und Sitka hin- und herflog. Er war quasi Lieferant und Chauffeur in einer Person.

„Ich hoffe, dass er heute endlich das Quittengelee dabei hat. Allein der Gedanke, dass es die Gans ohne Gelee gibt …“, holte Mathilda sie aus ihren Gedanken.

„Das sollte heute dabei sein. Ebenso wie deine Bürsten und die Gleitcreme“, erwiderte Abigail grinsend. Selbst nach all den Jahren fiel es ihr noch schwer, dieses Wort laut auszusprechen.

„Posaunengleitcreme“, korrigierte Mathilda ihre Enkeltochter. „Ich habe die Tröte schon auseinandergebaut und weiche sie später in der Wanne ein.“

Oh ja, diese Prozedur war ihr gut bekannt, denn als Kind hatte sie ihrer Grandma oft dabei geholfen. Auch wenn sie es nie zugeben würde, hatte es ihr einen Riesenspaß gemacht, die Züge der Posaune mit den langen Bürsten zu reinigen, damit sie wieder sauber waren und glänzten.

„Dann hast du ja einiges vor dir.“ Abigail schenkte ihrer Grandma ein warmes Lächeln und kippte dann den Rest ihres Kaffees hinunter. Sie würde später eine Kleinigkeit im Laden essen, denn dort gab es nicht nur Lebensmittel und die örtliche Poststelle, sondern auch eine respektable Auswahl an Snacks und eine kleine Tee- und Kaffeebar. Im Grunde deckte sie alle Läden und Dienstleistungen ab, die man fernab der Zivilisation zum Leben brauchte. Im neuen Jahr wollte sie ihr Serviceangebot um Rundflüge erweitern. Aber bis dahin wollte sie noch einige Flugstunden sammeln, auch wenn ihr Grandpa ihr bereits jetzt blind sein Leben anvertraute. Aber diese neue Geschäftsidee und die Tatsache, dass sie Fliegen konnte, waren noch streng geheim. Nicht auszudenken, wenn sie in diesem Jahr den Transfer von Onkel Harry, Onkel Marv und Onkel Herb samt Familien und Karaoke-Maschine übernehmen müsste!

Das Talent und die starken Nerven dafür hatte sie eindeutig von ihrem Grandpa geerbt, wie sonst hätte sie fünfundzwanzig Jahre Weihnachtswahnsinn mit den Sinclairs überleben können?

Abigail stellte ihre leere Tasse in der Spüle ab, dann drückte sie ihre Grandma kurz zum Abschied. „Ich bring deine Bestellungen in der Mittagspause mit, dann kannst du direkt loslegen.“

„Das wär toll. Die Tröte hat es bitternötig. Ich hoffe nur, dass Martha genauso pfleglich mit ihrem Instrument umgeht. Weißt du was, ich werde sie gleich anrufen und fragen.“

„Mach das, und richte ihr schöne Grüße aus.“

Little Falls war Sitka vier Stunden voraus und Abigail konnte sich ihre Großtante geradezu bildlich vorstellen, wie sie mit Eugene gerade im Diner zu Mittag aß. Von Bildern im Internet wusste sie, dass man dort die leckersten Sandwiches und Burger im ganzen County servierte. Für einen Moment war der Gedanke an die Kleinstadt fernab von Alaska und ihrer Großfamilie zu verlockend.

„Das werde ich. Bis später, Abby.“

„Bis dann, Grandma.“

Als Abigail wenige Augenblicke später dick eingemummelt das graue Holzhaus verließ, warf sie wie immer einen Blick zum Mount Edgecumbe. Selbst im Sommer war die Kuppe des Berges schneebedeckt, jetzt aber verschmolz er mit dem umliegenden Weiß seiner Umgebung. Am Hafen erkannte sie einige bekannte Gesichter, vor allem Fischer mit dicken Wollmützen, die bereits von ihrer Tour zurückgekehrt waren und sich nun bereit für den Besucheransturm machten. Gegen zehn Uhr würde die erste Fähre mit Touristen eintreffen. Der Großteil buchte bereits im Voraus die Whale-Watching- und Marine-Life-Tour. Diese beinhaltete ein zweistündiges Erlebnis auf einem Glacier-Bay-Katamaran. Auf dieser Tour konnte man nicht nur die Landschaft bewundern, sondern auch Buckelwale, Robben und allerlei Wildtiere.

Doch um diese Zeit lag der Hafen noch im Dornröschenschlaf. Die Boote waren fest vertäut und hinter den Fenstern der bunten Holzhäuser leuchtete nur hier und da ein schwaches Licht. Hinter all dem ragten die schneebedeckten Hemlocktannen und der Mount Edgecumbe in der Morgendämmerung auf. Ein beliebtes Foto- und Postkartenmotiv für Touristen.

Abigail zog sich die dicke Wollmütze tiefer ins Gesicht und machte sich auf den Weg zur Lincoln Street, die sich im historischen Zentrum befand. Diese Straße erinnerte sehr an eine verlassene Wild-West-Stadt, was an den teils saloonartigen Ladengeschäften lag. Darunter ein Geschäft für Felle, ein Buchladen, ein Bekleidungsgeschäft und am Ende der Straße ihr ganzer Stolz – „Abby’s Hut“. Ein Gebäude, das ihr Grandpa einst von seinen Eltern geerbt hatte und das einige Jahre vermietet worden war. Seit drei Jahren war sie die Chefin des Häuschens, das mittlerweile in einem kräftigen Rot erstrahlte und eine Bereicherung für die gesamte Stadt darstellte.

Abigail zog den Schlüssel aus der Jackentasche und öffnete die Tür. Sofort schlug ihr der Duft von getrockneten Früchten und altem Papier entgegen. Eine Geschäftsidee, die sie erst seit einigen Wochen verfolgte. Neben dem „öffentlichen Bücherschrank“, den sie in einem alten Kanu mit Regalböden eingerichtet hatte, gab es bei ihr auch eine große Auswahl an verschiedenen Tees, selbstverständlich zum Mitnehmen. Am beliebtesten war die Mischung „Kaminfeuer“, die neben getrockneten Apfelstücken, Hibiskusblüten und Hagebuttenschalen auch eine Note Zimt beinhaltete und an kalten Tagen den Magen wärmte.

Ein Poltern im hinteren Teil des Gebäudes zauberte ihr augenblicklich ein Lächeln ins Gesicht.

„Guten Morgen, Grandpa!“, begrüßte sie den grauhaarigen Mann in Flanellhemd und Daunenweste, der in diesem Moment vier große Säcke mit Briefen hereinschleppte.

„Guten Morgen, Abby. Ich fürchte, heute gibt es wieder einiges zum Aussortieren.“ Er zwinkerte seiner Enkelin amüsiert zu.

„Das darf doch wohl nicht wahr sein. Wie kommen die Leute nur darauf, dass sich hier Santas Poststelle befindet?“

„Puh, da bin ich überfragt. Aber wenn du mir eine Tasse Tee ausgibst, damit ich wieder auftaue, helfe ich dir schnell beim Sortieren.“ Walther sah seine Enkeltochter verschmitzt an. „Allemal besser, als deiner Grandma beim Reinigen ihrer Posaune zu helfen.“

„Das wär toll, ich bin in einer Minute wieder zurück!“

Ohne Walthers Antwort abzuwarten, eilte Abigail nach vorne und füllte den Wasserkessel auf. Natürlich hätte sie ihrem Grandpa auch ohne Gegenleistung eine Tasse Tee angeboten – so wie sie es jeden Morgen tat, wenn er von seiner Tour zurückkehrte.

Sie griff nach einer der unzähligen Blechdosen, die in einem alten Holzschrank ihren Platz gefunden hatten, und maß eine Portion mit der Teezange ab. Anschließend räumte sie die Pfefferminzmischung zurück. Der Schrank mit den Teedosen, den Rae-Dunn-Tassen und To-Go-Bechern machte wirklich etwas her. Obwohl sie kein Weihnachtsfan war, mochte sie die Kombination aus Rot, Silber und Grün. Die Tannengirlande und Lichterkette im Fenster hatte sie natürlich nur aufgehängt, um ihren Kunden etwas Weihnachtsstimmung zu bieten, wenn sie schon fernab der Heimat waren. Das Pfeifen des Wasserkessels ließ sie aus ihren Gedanken hochschrecken. Sie füllte den großen Becher mit kochendem Wasser auf.

„Wie ich befürchtet hatte, sind die Hälfte davon Irrläufer!“, kam es vom hinteren Teil des Ladens. „Ich werde heute wohl noch mal losmüssen, damit sie rechtzeitig vor Weihnachten ankommen.“

Sie wusste, dass Widerspruch zwecklos war, denn für den älteren Herren war es so kurz vor Weihnachten eine Ehrensache, Sonderschichten einzulegen.

„Wenn Santa wüsste, dass er so einen fleißigen Helfer in Alaska hat, würde er dich vom Fleck weg einstellen“, erwiderte Abigail schmunzelnd, als sie zurück zu ihrem Grandpa ging und ihm die Tasse reichte.

„Danke, Abby.“ Walther nahm die Tasse lächelnd entgegen und stellte sie auf dem kleinen Schränkchen neben der Frankiermaschine ab, dann widmete er sich wieder dem offenen Jutesack. „Oh, der hier ist sogar aus New York. Ist das zu glauben?“

Abigail warf ebenfalls einen Blick auf den Absender und fragte sich für einen Moment, was sich diese Lilly Carmichael wohl wünschte? Ein neues Spielzeug oder war es einer jener Herzenswünsche, den nicht einmal Santa erfüllen konnte?

New York. Wie gerne würde sie sich einmal den Weihnachtsbaum am Rockefeller Center ansehen und am Wollman Rink Schlittschuhlaufen. Unwillkürlich fielen ihr wieder die Kevin-Filme ein, und wie sehr sie sich als Kind gewünscht hatte, dass man sie daheim vergaß, oder noch besser, dass sie am Flughafen das falsche Gate nahm und im Plaza Hotel einchecken konnte. Allein, ohne die McAllisters, ähm die Sinclairs.

Doch dieser Wunsch hatte sich bis heute nicht erfüllt, weil sie zu Weihnachten nie weggefahren waren. Stattdessen gab es jedes Jahr dasselbe Programm und Onkel Herb, Marv und Harry waren ein fester Bestandteil davon. Ebenso die verstopften Toiletten, die auf Bernies Kappe gingen.

Was war ihre Grandma auch nur so gebärfreudig gewesen?

Während ihre Zwillingsschwester Martha kinderlos blieb.

Ob Cousin Bernies neue Freundin wusste, auf was sie sich einließ? Mit Sicherheit wusste sie noch nicht einmal etwas von der kleinen gelben Propellermaschine, in die sie einsteigen sollte. Schulter an Schulter mit dem Rest der Sippe und der Karaokemaschine.

„Alles klar, mein Kind?“ Walther unterbrach die Durchsicht seines Briefestapels und sah Abigail mit einem besorgten Lächeln an.

„Ach, ich hab mich gerade nur gefragt, wie es wohl wäre, mal fernab von Sitka zu feiern.“

Walther lachte herzhaft. „Du meinst alleine? Glaube mir, deine Grandma würde dich aufspüren, egal wo du dich aufhältst.“

Okay, was das anging, konnte es sich nur um eine dezente Übertreibung handeln. Jeder wusste, dass Mathilda Sinclair ihr geliebtes Alaska nicht verlassen würde und erst recht nicht zur Weihnachtszeit.

Abigail schnappte sich ebenfalls einen Stapel Briefe und begann, diesen nach „Santa“ oder „Sitka“ zu sortieren. Umso schneller sie damit fertig waren, desto besser. In einer halben Stunde öffnete ihr Geschäft und sie wollte noch die Kartons mit den „Sonderbestellungen“ durchgehen. Produkte, die sie für gewöhnlich nicht im regulären Sortiment führte und nur orderte, wenn ihre Kunden etwas Spezielles benötigten.

Wie zum Beispiel Mathildas Posaunen-Gleitcreme, Frank Meyers Hämorrhoiden-Salbe oder die Lotion aus Lebertran und Walfett, die sich der alte Mike immer ins Gesicht schmierte, um seine Haut vor Kälte und salziger Gischt zu schützen, wenn er mit dem Boot unterwegs war.

„Oh, du hast uns ja noch gar nicht gesagt, ob du jemanden zum Fest mitbringst.“ Walther sah seine Enkelin erwartungsvoll an. „Diesen netten jungen Mann zum Beispiel, mit dem du dich schon öfters bei Moe getroffen hast.“

Vor Schreck fielen Abigail fast die Briefe aus der Hand. Nicht nur weil sie sehr diskret vorgegangen war, wenn sie sich mit ihm getroffen hatte, sondern auch, weil da rein gar nichts zwischen ihr und dem Reise-Fotografen lief. Sie hörte ihm einfach nur gerne zu, wenn er von seinen Abenteuern erzählte.

Wahrscheinlich war der Barbesitzer Moe selbst die undichte Stelle, denn sonst hatte sie dort außer den schweigsamen Fischern, die sich für Tratsch und Klatsch nicht interessierten, niemanden gesehen.

„Wir sind nur Freunde, Grandpa, und ich werde ihn ganz sicher nicht zu Weihnachten anschleppen“, erwiderte sie mit einem herzhaften Lachen.

„Schade, ich finde nämlich, dass ihr ein hübsches Pärchen abgebt. Und so selten, wie sich junge Burschen hierher verirren, muss man die Gelegenheit am Schopfe packen“, fuhr der Senior unbeirrt fort, ehe er von seinem Tee kostete.

„Du hörst dich gerade wie Grandma an. Warum werde ich das Gefühl nicht los, dass ihr mich unbedingt verkuppeln wollt?“ Abigail schnappte sich einen leeren Jutesack um die Flut an Briefen, die für den Polarkreis bestimmt waren, hineinzugeben.

Walther schenkte ihr ein gequältes Lächeln. „Weißt du, in letzter Zeit mache ich mir oft darüber Gedanken, ob du hier wirklich glücklich bist. Klar, du hast dein eigenes Geschäft, viele Freunde und eine Familie, die dich über alles liebt, aber …“

„Aber die große Liebe wird mir hier oben wohl nie über den Weg laufen?“, beendete Abigail Walthers Satz.

Der Senior räusperte sich, dann sah er sich kurz um, ob sie auch wirklich alleine waren, ehe er im Flüsterton fragte: „Was hältst du davon, wenn du die nächste Tour für Santa übernimmst?“

„Das mach ich sehr gerne, Grandpa“, erwiderte Abigail mit einem breiten Lächeln und freute sich, dass ihr Grandpa sie endlich miteinbezog. Auch wenn er noch sehr fit für sein Alter war, wollte sie ihm gerne ab und zu unter die Arme greifen.

„Aber ich versteh nicht, warum du mich auf einmal so ansiehst, als handelt es sich dabei um ein Verbrechen? Ja, ich weiß, es wird erst mal ein Schock für alle sein, wenn sie mich plötzlich alleine im Flieger sehen, aber ich …“

Walthers verschmitztes Lächeln brachte sie zum Schweigen. „Es ist auch ein Verbrechen, bist ja auf der Flucht. Du wirst nämlich vom Festland aus direkt einen Flug nach New Haven nehmen, wo Eugene dich dann abholt. Martha wird aus allen Wolken fallen, wenn du auf einmal ins Rathaus hereinschneist.“

Abigail klappte der Mund auf. „Ich glaub, mich tritt ein Elch! Das hast du alles heimlich eingefädelt?“ Die junge Frau fiel ihrem Grandpa stürmisch um den Hals. „Ich träume schon so lange davon, endlich Little Falls kennenzulernen!“

„Ich weiß, mein Schatz. Aber noch kein Wort zum Rest der Familie. Die machen mich einen Kopf kürzer, wenn herauskommt, dass ich dafür verantwortlich bin.“