Kapitel 1
– Matt –
»Was zur Hölle machst du denn hier?«, fragt mein Bruder mit hochgezogenen Augenbrauen, als er seine Wohnungstür öffnet und mich sieht. Ich stehe vor ihm, mein Koffer neben mir, die Gitarre über der rechten Schulter. Zwischen den Fingern halte ich eine Zigarette, an der ich gerade gezogen habe. Als ihm die Zigarette auffällt, verzieht sich sein Gesicht zu einer angewiderten Grimasse.
»Hör auf zu rauchen!«, beschwert er sich und verschränkt die Arme vor der Brust. Marius mochte es noch nie, wenn ich in seiner Gegenwart geraucht habe. Ich glaube, er hat bloß eine Abneigung dagegen, weil ich sein kleiner Bruder bin.
»Schon geschehen«, entgegne ich leichthin und schnippe die Kippe auf den Fußboden, um sie mit dem Fuß auszutreten.
»Scheiße, Matt, jetzt lass deinen Dreck doch nicht vor meiner Wohnungstür liegen! Was sollen die Nachbarn denn denken?«, braust Marius auf. Sein zorniger Blick trifft mich.
»Mir egal, was sie über mich denken«, entgegne ich schulterzuckend. »Ich kenne sie schließlich nicht.«
»Mir ist es aber nicht egal. Räum das gefälligst weg!« Er stampft zurück in die Wohnung, ohne jedoch die Tür zuzuziehen. Marius hat mit keiner Silbe erwähnt, dass ich nicht reinkommen kann. Also hebe ich die ausgetretene Kippe wieder auf, greife nach meinem Koffer und betrete den Flur.
»Was willst du überhaupt so plötzlich hier?«, fragt mein älterer Bruder nun etwas ruhiger, nachdem ich die Tür hinter mir geschlossen habe. »Du hast deinen Besuch gar nicht angekündigt. Üblicherweise hängst du mir bereits Wochen vorher in den Ohren, bevor du mich besuchen kommst.«
»Nach was sieht’s denn aus, Bruderherz? Ich ziehe bei dir ein«, kläre ich ihn breit grinsend auf und schiebe den großen Rollkoffer mit meinen Habseligkeiten an ihm vorbei durch den Flur. Marius sieht mir verwirrt hinterher, ehe er mir nachkommt. Scheinbar ist ihm der Koffer vorher gar nicht aufgefallen. Wenn ich die Ferien bei meinem Bruder verbringe, reicht oft eine kleine Reisetasche aus. Dieses Mal mache ich jedoch ernst und bleibe für immer.
»Ähm, Moment … Du kannst nicht einfach so hier einziehen. Was sagt Dad dazu? Weiß er überhaupt, dass du hier bist? Oder bist du schon wieder von zu Hause abgehauen, weil ihr euch in die Haare bekommen habt?« Mein großer Bruder stellt sich mir in den Weg, um mich am Weitergehen zu hindern. Er versucht bedrohlich zu wirken, aber sein böser Blick lässt mich nur milde lächeln. Marius war schon immer kleiner und zierlicher als ich, obwohl er fast fünf Jahre älter ist. Ich überrage ihn um zwei Köpfe, und meine Statur lässt nicht vermuten, dass ich erst vor Kurzem volljährig geworden bin. Die Leute schätzen mich immer auf Mitte zwanzig.
»Klar, hab ihm eine Nachricht hinterlassen. Er ist eh so sehr mit seiner Arbeit beschäftigt, dass ihm sicher kaum auffallen wird, wenn ich nicht mehr da bin. Gestern Abend hat er wieder im Büro übernachtet – oder wo auch immer. Außerdem lebe ich jetzt bei meinem großen Bruder, da wird sich Dad bestimmt keine Sorgen machen.« Beim Vorbeigehen spähe ich in Marius’ Schlafzimmer, um mich zu vergewissern, dass er am frühen Morgen nicht doch spontanen Männerbesuch hat, den er vor mir zu verstecken versucht. Dann schiebe ich den Koffer weiter durch den Flur, ehe ich ihn im Wohnzimmer neben der Couch abstelle.
»Oder störe ich?«, frage ich mit Unschuldsmiene.
»Nein, aber … du kannst nicht einfach so bei mir einziehen, ohne mich vorher um Erlaubnis gefragt zu haben. Das ist meine Wohnung und hier ist zu wenig Platz für zwei Personen«, entgegnet mein Bruder streng und fährt sich mit der Hand durchs Haar. Ohne auf sein Gemecker zu reagieren, lasse ich mich aufs Sofa fallen. Die Arme hinter dem Kopf verschränkt, beobachte ich Marius dabei, wie er unruhig vor mir auf und ab geht.
»Warum wirst du plötzlich so nervös? Bekommst du vielleicht doch noch Besuch, von dem ich nichts erfahren soll?«, frage ich schmunzelnd. Sofort läuft mein Bruder rot an. Ich weiß schon sehr lange, dass Marius auf Männer steht, doch noch nie habe ich einen von ihnen je zu Gesicht bekommen. Keine Ahnung, ob er seine Bekanntschaften vor mir versteckt oder ganz einfach keine hat. Vielleicht erfahre ich ja mehr, wenn ich mich für eine Weile bei ihm einquartiere. Durch die Entfernung und den Altersunterschied sehen wir uns einfach viel zu selten, um jedes noch so winzige Detail vom jeweils anderen zu kennen. Trotzdem weiß Marius mehr über mich, als mir lieb ist, während er um seine Gedanken und Gefühle ständig ein großes Geheimnis macht.
»Nein!«, zischt er, dann holt er tief Luft und seufzt. »Ich mag es nur nicht, wenn man mich am frühen Sonntagmorgen einfach so überfällt.« Er streicht sich die braunen, noch vom Schlaf zerzausten Haare aus der Stirn, dann lässt er sich neben mir aufs Sofa plumpsen. Sein herzhaftes Gähnen kann er nur mit Mühe unterdrücken.
Ich mustere ihn genauer. Er wirkt ziemlich erschöpft.
»Wilde Nacht gehabt?«, stichele ich, um ihn ein wenig aus der Reserve zu locken.
Marius boxt mir gegen die Schulter. »Ich konnte einfach nicht einschlafen, weil Vollmond war. Das ist alles.«
»Wirklich? Du bist echt langweilig, Mann. Aber keine Sorge, ich bin jetzt hier und kümmere mich um dich, damit du wieder zum Zug kommst«, verkünde ich im Brustton der Überzeugung.
»Misch dich nicht in mein Leben ein. Ich komme gut zurecht, danke auch«, brummt Marius verstimmt. Es ist ihm unangenehm, mit mir über sein nicht vorhandenes Liebesleben zu sprechen.
»Weil das so unglaublich spannend ist, dass du kaum weißt, wo du mit dem Erzählen beginnen sollst, Bruderherz?«, entgegne ich sarkastisch.
Mein Bruder war schon immer viel zu überfürsorglich, wenn es um mich geht. Bei jedem meiner Besuche hier in Denver hat er versucht, mir das kleinste bisschen Spaß auszureden. Doch seitdem ich achtzehn bin, kann er mich nicht stoppen. Ich habe keine Lust, mich an Regeln zu halten und lasse mich auch nicht in Schubladen stecken wie an meiner alten Schule. An der University of Denver will ich ganz von vorn beginnen. Bevor ich mir jedoch eine eigene Wohnung leisten kann, muss ich wohl oder übel mit meinem Bruder zusammenleben, was ihn scheinbar viel mehr stört als mich. Marius ist schon lange daran gewöhnt, allein zurechtzukommen. Vermutlich glaubt er, ich wäre ihm jetzt ein Klotz am Bein. Doch ich bin nicht mehr der heulende Siebenjährige, der sich bei der Trennung unserer Eltern wie ein trotziges Kleinkind aufgeführt hat. Heute bin ich ein erwachsener Mann mit einer Vergangenheit, die ich zu gern hinter mir lassen will.
»Vielleicht solltest du einfach mal aufhören zu rebellieren und dich um deine Zukunft kümmern? Was nutzt dir ein spannendes Leben, wenn du später auf der Straße landest? Hat dich deine Erfahrung nichts gelehrt?«, konfrontiert mein Bruder mich direkt mit dem unliebsamen Thema, das ich zu gern vergessen möchte.
»Schon«, brumme ich und presse die Lippen fest aufeinander, weil erneut Bilder vor meinem inneren Auge auftauchen, die mich schon viel zu lange begleiten. »Ich will aber auch nicht hier versauern wie du …« Ich weiß genau, worauf mein Bruder anspielt, und er hat recht. Ich habe aus meinen Fehlern gelernt. Genau deshalb bin ich hier. Deshalb habe ich mir die Uni in Denver ausgesucht, statt bei unserem Vater in Los Angeles zu bleiben …
Marius hat am Community College eine schulische Ausbildung zum Bäcker gemacht, weil er unbedingt Konditormeister werden und selbst einen kleinen Laden eröffnen will. Dafür braucht er jedoch noch einen Bachelor of Culinary Arts, der eine Menge Kohle kostet. Deshalb arbeitet er wie verrückt, macht ständig Überstunden und spart, wo er nur kann, um sich ein Studium am Culinary Institute of America leisten zu können. Trotzdem kann ihm ein bisschen Spaß auch nicht schaden. Ab und zu würde es auch ihm guttun, aus seinem Schneckenhaus herauszukommen. Er ist nicht der Einzige, der sich um andere sorgt. Mir geht es mit Marius genauso.
Mein Bruder erhebt sich vom Sofa. »Willst du Kaffee? Ich habe auch noch Brownies von gestern da.«
»Du weißt wirklich genau, wie du mir den Tag versüßen kannst!«, entgegne ich begeistert. Marius kann verdammt gut backen, auch wenn seine Kreationen nicht selten etwas ungewöhnlich sind.
»Wenn du schon hier bist, sollst du wenigstens nicht ohne Frühstück bleiben«, meint er mit einem Zwinkern in meine Richtung und geht voran in die Küche. Ich erhebe mich und folge ihm. Auch wenn mein Bruder immer so tut, als würde ich ihn nerven, liebt er mich. Und ich ihn, schließlich ist er der Teil meiner Familie, der immer zu mir gehalten hat, egal welchen Mist ich gebaut habe.
Als sich meine Eltern scheiden ließen und ich mit meinem Dad nach Los Angeles ziehen musste, war die Änderung meines Äußeren meine ganz persönliche Rebellion, immerhin hat nicht jeder Jugendliche blaue Haare und viele Piercings im Gesicht. Seitdem habe ich keinen Tag verstreichen lassen, ohne über die Stränge zu schlagen. Ich war ein Teenager, der nicht wusste, wo sein Platz im Leben ist. Unser Dad hatte mit dem neuen Job zu viel um die Ohren, um sich um mich zu kümmern. Lediglich die Ferien, die ich immer bei Marius und unserer Mom in Denver verbringen durfte, sind für mich schöne Erinnerungen. Mit der Zeit habe ich mich mit meinem Dad in dem Männerhaushalt zusammengerauft, doch trotzdem hat mich die Trennung meiner Eltern stark geprägt.
Marius stellt die Kaffeemaschine an, während ich es mir am Küchentisch bequem mache.
»Damit wir uns jedoch nicht falsch verstehen: Dein Brot wirst du dir gefälligst selbst schmieren«, sagt er zu mir und deutet mit einem Nicken zum Kühlschrank. »Wenn du hier wohnen willst, musst du auch etwas dafür tun. Ich bin nicht wie Mom. Falls du verhätschelt werden willst, solltest du vielleicht zu ihr ziehen.«
Ein Grinsen breitet sich auf meinem Gesicht aus. »Keine Sorge, Bruderherz. Ich kann auch anpacken, wenn’s sein muss. Und meine Brote schmiere ich mir schon selbst, seitdem ich sieben bin. Glaubst du etwa, Dad war jemals daheim, um mich zur Schule zu fahren oder das Mittagessen zu kochen?«
Ich bediene mich an seinem Kühlschrank, hole Brot, Wurst und Käse heraus und decke den Tisch für zwei. Nach der Trennung unserer Eltern musste ich früh lernen, für mich selbst zu sorgen. Es macht mir also nichts aus, auch mal den Abwasch zu erledigen oder das Bad zu putzen. Damit kenne ich mich aus.
Marius setzt einen Becher mit dampfendem Kaffee vor mir ab, ehe er eine Tupperdose mit besagten Brownies dazustellt.
»Ist Avocado drin«, klärt er mich auf, als ob ich mir nicht schon denken könnte, dass er wieder Gemüse unter den Teig gemischt hat. Seine Rezeptideen klingen schlimmer, als sie wirklich sind. Davon konnte mich mein Bruder bisher immer überzeugen.
»Deine Haare haben auch schon bessere Zeiten erlebt, Matt«, stellt Marius kauend fest, nachdem wir uns eine Weile schweigend gegenübersitzen. Ich schlucke den Bissen Brot hinunter und spüle mit Kaffee nach, dann streiche ich mir die viel zu langen blauen Strähnen meines Ponys aus der Stirn. Die blaue Farbe ist bereits am Ansatz rausgewachsen, sodass man meine dunklen Haare erkennt. Auch der Sidecut ist an beiden Seiten so weit nachgewachsen, dass man es gar nicht mehr Sidecut nennen darf. Zwar trage ich normalerweise mein Haupthaar zu einem Irokesen frisiert, doch komplett ausrasieren will ich mir die Seiten auch nicht. Das würde einfach zu extrem wirken bei meiner Größe und den ganzen Piercings, die ich im Gesicht habe. Außerdem mag ich es, wenn ich mir die Haare auch mal einfach nach hinten stylen kann und es nicht sofort wirkt, als wäre ich ein brutaler Schläger. Vor Semesterbeginn muss ich aber auf jeden Fall noch mal zum Friseur.
»Kannst du mir einen guten Friseur empfehlen?«
Marius nickt. »Sicher. Bei Miguel bist du in den besten Händen. Ich schicke dir nachher seine Nummer.«
»Hauptsache, ich sehe danach nicht aus wie du. Deine Frisur ist langweilig.«
Mein Bruder verdreht genervt die Augen. »Etwas Langeweile könnte dir nicht schaden, Mann. Du musst nicht mit allem hervorstechen wie ein bunter Hund. Reicht es nicht, dass dein Gesicht wie ein Nadelkissen aussieht? Mit deinem Aussehen provozierst du den Ärger geradezu.« Ein amüsiertes Funkeln zeigt sich in seinen Augen, obwohl seine Worte ernst klingen. Ich strecke ihm die Zunge heraus, um ihm mein Zungenpiercing zu präsentieren, welches ich vor gut einem Jahr habe stechen lassen.
»So schlimm ist es nicht«, stelle ich klar und wackle mit den Augenbrauen, in denen ebenfalls Silberringe stecken. »Ich stehe nun mal auf Körperschmuck. Wenn man erst mal damit angefangen hat, kann man nicht mehr aufhören. Das ist genauso wie mit Tattoos. Würdest du verstehen, hättest du selbst welche.«
»Ich will meinen Körper ganz sicher nicht verunstalten …«
»An den du sowieso niemanden ranlässt«, kontere ich frech. Marius verzieht den Mund. Keine Ahnung, wie lange seine letzte Beziehung her ist, aber dass er gerade Single ist, sehe ich ihm an der Nasenspitze an. Mein Bruder ist eindeutig untervögelt.
»Da fällt mir ein: Ich habe ein neues Kunstwerk, das kennst du noch gar nicht. Pass auf!« Ich springe vom Stuhl und öffne den Gürtel. Marius hebt skeptisch die Augenbraue.
»Sag mir nicht, du hast ein Piercing an deinem guten Stück …«, vermutet er mit Entsetzen in der Stimme und einem irritierten Blick zwischen meine Beine. Ich winke lachend ab.
»Quatsch, das würde doch nur beim Sex stören. Es ist viel besser!« Mit einem Ruck schiebe ich meine Jeans bis zu den Kniekehlen, dann drehe ich mich um und umfasse den Bund meiner Boxershorts.
»Scheiße, willst du jetzt in meiner Küche strippen, oder was?« Belustigung schwingt in seiner Stimme mit.
»Na und? Als hättest du noch nie einen Männerarsch gesehen. Außerdem bist du mein Bruder.«
Ich schiebe die Shorts ein kleines Stück runter, um Marius das Tattoo zu zeigen.
»Du hast tatsächlich ein Arschgeweih …«, kommt es fassungslos von ihm. Dann bricht er in schallendes Gelächter aus.
»Das ist doch kein Arschgeweih, Mann«, entgegne ich beleidigt und ziehe mich wieder an. »Es ist noch nicht fertig und noch ganz frisch. Siehst du nicht die roten Stellen? Sobald die Haut etwas abgeschwollen ist, wirst du es lieben.«
»Ich soll dein Arschgeweih lieben? Spinnst du nun völlig?« Marius zeigt mir einen Vogel und verdreht die Augen.
»Es ist eine Schlange«, erkläre ich ihm das Kunstwerk knapp oberhalb meines Hinterns. »Und ich muss mir wohl nicht nur einen guten Friseur, sondern auch einen neuen Tätowierer hier in Denver suchen, um das Bild zu vollenden.«
»Weiß Dad davon?«
»Wovon?«
»Von dem Arsch–« Mein Bruder lacht auf. »Ich meine von dem Tattoo.«
»Ich bin achtzehn und muss ihn nicht mehr um Erlaubnis fragen, schon vergessen?« Ich greife nach dem Kaffeebecher und leere ihn im Stehen.
»So, dann werde ich mal meinen Kram auspacken gehen. Räumst du mir nachher ein paar Schubladen frei?«, frage ich zuckersüß. Marius erhebt sich ebenfalls, um das Frühstücksgeschirr abzuräumen.
»Wo willst du überhaupt schlafen? Ich habe nur ein Schlafzimmer …«
»Na, dein Bett ist doch groß genug, Bruderherz!«
***
Der Sommer war endlos, zog sich wie ein alter Kaugummi, weshalb ich heilfroh bin, dass er nun endlich vorbei ist. Zufrieden blicke ich mich auf dem Unigelände um. Auf dem weitläufigen Campus der DU wimmelt es nur so von Studierenden. Kaum jemand nimmt Notiz von mir, doch als ich das Unigebäude betrete, merke ich sofort, wie sich die Leute nach mir umdrehen. Für mich ist diese Art von Aufmerksamkeit nicht neu, denn ich falle immer auf. In meiner alten Schule haben sie auch hinter meinem Rücken getuschelt, doch das war mir irgendwann egal. Ich habe mich an die Blicke der Leute gewöhnt. Grinsend recke ich das Kinn vor, hebe den Kopf und mache mich auf die Suche nach dem Raum, in dem die Einführungsveranstaltung für die Erstsemester stattfinden soll.
Kurz schaue ich noch einmal auf mein Smartphone, auf das ich den Plan vom Gebäude geladen habe, dann biege ich um die Ecke und stoße direkt mit jemandem zusammen.
»Oh, sorry, Mann. Hab dich wohl übersehen«, entschuldige ich mich bei dem Kerl, der ein wenig verwirrt vor mir steht. Er ist ein ganzes Stück kleiner als ich und ziemlich dünn. Seine Augen weiten sich erschrocken, als er stumm zu mir hochschaut.
»Hey, mach dir nicht gleich ins Hemd, ich werde dich nicht fressen«, entgegne ich belustigt über seinen panischen Gesichtsausdruck. »Es ist nichts passiert, okay? Ich habe mich doch bei dir entschuldigt.«
»Ähm, ja … okay …«, sagt er mit dünner Stimme. Für ihn muss ich wie der wahrgewordene Albtraum aussehen. Ein Riese mit blauem Irokesen und Army Boots. Typen wie ihn verspeise ich zum Frühstück und benutze ihre Knochen anschließend als Zahnstocher. Diesen Ruf hatte ich an meiner alten Schule, obwohl ich nicht mal einer Fliege etwas zuleide getan habe. Zumindest bis zu dem einen Zwischenfall mit Justin …
Um dem Kerl meine guten Absichten zu beweisen, lege ich ihm kameradschaftlich den Arm um die schmächtigen Schultern. Natürlich zuckt er bei dieser Berührung zusammen und macht sich in meinem Arm noch kleiner, als er es ohnehin schon ist.
»Vor mir brauchst du dich wirklich nicht zu fürchten, okay? Ich bin noch harmloser als ein Lämmchen, ehrlich«, versuche ich ihn zu beruhigen, damit der ängstliche Ausdruck aus seinen blauen Augen verschwindet. Mit seinem blonden Lockenschopf sieht er eher aus wie ein Lamm, ich hingegen bin der böse Wolf, der ihn fressen will. So komme ich mir zumindest vor.
Weil ihn meine Umarmung anscheinend noch nervöser macht, nehme ich den Arm wieder weg und strecke ihm stattdessen die Hand hin.
»Ich bin Amadeus-Johann«, stelle ich mich vor und schenke ihm ein, wie ich hoffe, einnehmendes Lächeln. Sobald ich jemandem meinen Namen verrate, reagiert derjenige immer mit totalem Unglauben. Auch dieser Typ kann gerade nicht wirklich zuordnen, ob ich die Wahrheit sage oder ihn verarschen will. Denn jemand, der so aussieht wie ich, kann nicht Amadeus-Johann heißen. Das passt einfach nicht. Keine Ahnung, was meine Eltern geraucht haben, als sie sich diesen ultrapeinlichen Namen für ihren Zweitgeborenen ausdachten, aber leicht haben sie es mir damit ganz sicher nicht gemacht. Dadurch haben sie es geradezu heraufbeschworen, dass ich so rebellisch werde, wie ich heute bin.
Sie hätten mich wenigstens nach meinem deutschen Opa Kurt-Ludwig nennen können. Kurt ist zwar auch nicht gerade der Renner in meiner Generation, aber so könnte ich wenigstens behaupten, mein Namensvetter wäre Kurt Cobain. Der hat im Gegensatz zu Wolfgang Amadeus Mozart und Johann Sebastian Bach wenigstens verdammt geile Musik gemacht. Da meine Mom für die Liebe ihres Lebens Deutschland verlassen und nach Colorado gezogen ist, wollte Dad sich ihr zuliebe nicht gegen den Wunsch sperren, seinen Söhnen deutsche Vornamen zu geben.
Mein großer Bruder wurde nach Marius Müller-Westernhagen benannt, weil mein Dad den skurrilen Musikgeschmack unserer Mutter geteilt hat und ein großer Fan des Sängers war. Marius ist zwar nicht so eine große Rocklegende wie Kurt, aber der Name klingt nur halb so bescheuert wie Amadeus-Johann. Außerdem fällt es vielen Leuten schwer, ihn richtig auszusprechen, weshalb diese Tatsache auch ständig für Gelächter sorgt.
»Du kannst mich Matt nennen, wie alle meine Freunde«, sage ich schnell hinterher, bevor sich der Typ über meinen originellen Vornamen lustig machen kann. Jetzt endlich zeigt sich ein scheues Lächeln auf seinem Gesicht.
»Ich bin Kevin«, stellt er sich schließlich vor und ergreift meine dargebotene Hand.
»Freut mich, Kev. Ich darf dich doch Kev nennen, oder?«, frage ich, während ich überschwänglich seine schmale Hand schüttle. »Jetzt, wo wir Freunde sind, kannst du mir einen Gefallen tun, oder? Du siehst nämlich so aus, als würdest du dich hier auskennen wie in deiner Westentasche. Heute ist mein erster Tag hier, und ich suche vergebens den Raum mit der Einführungsveranstaltung für alle Erstis … Ich fürchte, ich bin bestimmt schon dreimal im Kreis gelaufen, denn dieses seltsame Bild hier an der Wand kommt mir irgendwie bekannt vor …«
Kevin beginnt zu lachen. Endlich erwacht er aus seiner Starre und schüttelt seine anfängliche Angst vor mir ab.
»Klar. Da hast du wirklich Glück, denn ein wenig kenne ich mich tatsächlich an dieser Uni aus, und zufällig bin auch ich gerade auf dem Weg dorthin«, sagt er schließlich und geht an mir vorbei. Klasse, jetzt habe ich schon meinen ersten Freund an der DU gefunden. Läuft gar nicht mal so übel, würde ich sagen.
***
»Schau dir den mal an!«
»Mann, ist der riesig!«
»Seine Haare sind echt krass.«
»Aber ein süßes Lächeln hat er ja …«
Kevin und ich gehen an einigen Studentinnen vorbei, die am äußersten Tisch im Speisesaal sitzen und uns tuschelnd nachschauen. Grinsend stelle ich mein Tablett auf einem freien Tisch in ihrer Nähe ab und setze mich meinem neuen Freund gegenüber.
»Kaum drei Stunden hier und schon habe ich Eindruck bei den Ladys hinterlassen«, stelle ich zufrieden fest. Kevin zuckt die Schultern.
»Du fällst hier eben auf«, meint er nachdenklich. Nach der Einführungsveranstaltung hat er mich noch etwas auf dem Campus herumgeführt und mir etwas über die unterschiedlichen Fakultäten erzählt. Er hat sich als wirklich schlaues Kerlchen herausgestellt, denn Kevin studiert Humanmedizin im ersten Semester und ist somit eigentlich nicht in meiner Fakultät, weil ich mich beim Morgridge College of Education für das Lehramtsstudium eingeschrieben habe. Das Gelände ist riesig, und die verschiedenen Studienbereiche sind in unterschiedlichen Gebäuden untergebracht, sodass Kevin und ich uns vermutlich nur wenig über den Weg laufen werden.
Nachdem er sich daran gewöhnt hat, einen riesigen Punk im Schlepptau zu haben, wurde er sogar sehr redselig und hat ein bisschen über sich und seine Familie erzählt. Sein Dad ist Chefarzt in einem Kinderkrankenhaus in Colorado, der darauf besteht, dass sein Sohn seine Leidenschaft für Medizin ebenfalls teilt. Kevin ist es eigentlich egal, was er studiert, solange sein Dad ihn in Ruhe lässt.
»Als wäre mein Aussehen etwas Außergewöhnliches«, winke ich ab und schiebe mir einen Bissen von den Nudeln in den Mund.
»Das nicht, aber jemand, der so aussieht wie du, hat für gewöhnlich keinen Notendurchschnitt von 1,5 und will Grundschullehrer werden«, entgegnet Kevin kauend. Da mag er wohl recht haben. So wie er nicht wie der perfekte Chirurg aussieht, gebe ich vermutlich auch nicht das Paradebeispiel eines Pädagogen ab. Doch Menschen können sich ändern, wenn’s drauf ankommt. Und genau das habe ich vor, zumindest innerlich. Was mein Aussehen betrifft, bin ich da doch etwas eigen …
Zufrieden widme ich mich meinem Mittagessen, während ich die Leute um mich herum beobachte. Tatsächlich kann ich niemanden entdecken, der optisch so sehr aus der Reihe tanzt wie ich. Alle sind eher gewöhnlich gekleidet, mit durchschnittlichen Frisuren und gelangweilten Gesichtern. Ein bisschen bin ich schon stolz auf meinen blauen Iro. Da hat Marius’ Friseur Miguel wirklich gute Arbeit geleistet. Die Farbe in meinem Haar ist wieder frisch und kräftig, der Sidecut auf die passende Länge gestutzt. Außerdem hat er mir sogar den Namen eines guten Tätowierers verraten, den ich in den kommenden Tagen aufsuchen werde, um meine Schlange zu vervollständigen. Ich habe mir sogar schon ein neues Motiv ausgesucht, das ich auf meine Schulter tätowieren lassen will.
»Hey, die da drüben. Kennst du sie?«, frage ich Kevin, nachdem ich aufgegessen und mein Tablett zur Seite geschoben habe. Einige Tische entfernt sitzen zwei Frauen, von denen eine in ein Buch vertieft ist, während die andere sie zutextet, ohne daran Anstoß zu nehmen, dass ihre Freundin ihr vermutlich nicht einmal zuhört.
Kevin hebt den Kopf und sieht in die Richtung, in die ich deute.
»Du meinst Sarah?« Er nickt. »Ich kenne sie. Sie war auf meiner Schule. Verdammt schlau, aus gutem Hause, studiert Wirtschaft oder so etwas in der Art. Wenn mich nicht alles täuscht, saß sie bei der Einführungsveranstaltung in einer der ersten Reihen.«
Ich stütze mein Gesicht in die Hände und schaue zu Sarah rüber. Sie wirkt wie eine Einzelgängerin. Wie jemand, dem die Leute ziemlich egal sind, weil sie ihr eigenes Ding macht. Nicht wie die Frauen, mit denen ich sonst immer zu tun hatte. Es fasziniert mich, wie sehr sie in ihre Lektüre vertieft ist und das Gerede ihrer Freundin einfach ausblendet, das man bis zu unserem Tisch hören kann.
Als könnte sie spüren, dass ich sie beobachte, schaut Sarah kurz auf. Unsere Blicke treffen sich. Ich schenke ihr ein Lächeln und lecke mir über die Lippen. Der intensive Blick aus ihren blaugrauen Augen macht mich schlagartig nervös, womit ich überhaupt nicht gerechnet habe. Trotzdem sehe ich nicht weg, mustere sie, beobachte jede Regung ihrer Züge.
Sarah blinzelt irritiert, erwidert mein Lächeln jedoch nicht und wendet sich dann ihrer Freundin zu.
»Vergiss es, Mann.« Kevins Stimme holt mich in die Gegenwart zurück. Wie lange habe ich diese Frau angestarrt?
»Was?« Jetzt erst drehe ich mich wieder zu ihm. Er schüttelt den Kopf, als würde er genau wissen, was in mir vorgeht. Doch wie könnte er, habe doch nicht mal ich selbst gerade eine Ahnung, was gerade mit mir los war.
»Sarah«, sagt er, als würde allein ihr Name alles erklären. »Vergiss es. An eine Frau wie sie kommst du nicht ran.«
»Was macht dich so sicher, dass ich das vorhabe?« Eigentlich hatte ich bis eben nicht einmal mit dem Gedanken gespielt, mich an Sarah ranzumachen. Eigentlich … Aber irgendwas an ihrer Ausstrahlung macht mich ziemlich neugierig.
»Dein Blick hat dich verraten. Ich habe gleich bemerkt, wie deine Augen gefunkelt haben, als sie dich angesehen hat.« Er lacht über die Verwirrung in meinem Gesicht. »Du bist nicht der Erste und wirst sicher nicht der letzte Mann sein, der ihrer kühlen Schönheit zum Opfer fällt. Sie wird jedoch nicht mit dir ausgehen. Die Energie kannst du dir sparen, sonst wirst du nur enttäuscht«, meint er mit erhobenem Zeigefinger, als wäre er mein Lehrer.
»Wieso glaubst du das? Soll ich mich etwa vor ihr in Acht nehmen?«, frage ich ihn amüsiert. Jetzt bin ich sogar noch neugieriger, diese Frau näher kennenzulernen.
»Nein, ganz im Gegenteil. Aber sie hat seit Ewigkeiten einen Freund. Dem Typen kannst du nicht das Wasser reichen.«
»Jetzt bin ich ganz Ohr.« Ich beuge mich ein wenig über den Tisch. Kevin hat meine Neugier geweckt.
»Henry hat ein Sportstipendium irgendwo an einer Eliteuni in den Schweizer Bergen. Genaueres weiß ich nicht, weil solche supercoolen Typen wie er nicht mit jemandem wie mir befreundet sein wollen …«
»Jetzt hast du einen supercoolen Freund wie mich. Der Rest kommt dann von allein«, unterbreche ich ihn lachend und gebe ihm einen Klaps auf den Oberarm. Leider wohl etwas zu fest, denn Kevin schwankt bedrohlich auf seinem Stuhl.
»Jedenfalls … bin ich mir ziemlich sicher, dass ihre Familien es begrüßen werden, wenn die beiden nach dem Studium heiraten.«
»Aha«, mache ich nur, dann sehe ich mich noch mal nach Sarah um, um jedoch enttäuscht festzustellen, dass sie und ihre Freundin den Speisesaal bereits verlassen haben.
»Sarahs Eltern sind immer viel unterwegs. In Deutschland und auch in Europa. Businesscoaching. Sie sind richtig gefragt, vor allem in der Automobil- und IT-Branche. Außerdem hat ihr Dad noch etliche Immobilien. Du wärst nicht der ideale Schwiegersohn, das steht fest«, meint er trocken. Ich verziehe beleidigt den Mund. Wie kann er das behaupten, obwohl weder er noch Sarah mich kennen?
»Du redest ja so, als wüsstest du sehr gut über sie Bescheid«, sage ich gedehnt und verenge die Augen zu Schlitzen. »Stehst du heimlich auf sie?«
Kevin läuft rot an, schüttelt jedoch so heftig den Kopf, dass seine blonden Locken wild umherfliegen. »Na ja, in der Schule war sie immer nur mit ihrer besten Freundin Nicole oder eben mit Henry zusammen. Ich weiß nicht, ob sie noch mehr Freunde hat oder was sie sonst so mag. Man sieht sie oft mit einem Buch in der Hand.«
»War sie unbeliebt? Eine Außenseiterin?«, frage ich neugierig.
Kevin schüttelt abermals den Kopf. »Im Gegenteil. Jeder mochte sie auf Anhieb, obwohl sie niemandem das Gefühl gab, ihn auf irgendeine Art zu bevorzugen. Sie ist zu allen stets zuvorkommend, ohne wirklich sehr viel über sich zu verraten. Sarah geht nicht gern auf Partys, zumindest habe ich sie früher nie auf einer getroffen …«
Nachdenklich lege ich die Stirn in Falten. »Im Grunde kennt sie also niemand wirklich …«
Mein neuer Freund nickt zögernd. Mein Gesicht hellt sich auf, ich erhebe mich von meinem Platz.
»Prima. Dann habe ich doch gute Chancen, sie kennenzulernen, oder?« Weil die Mittagspause bereits fast vorüber ist, erhebe ich mich von meinem Platz und begebe mich mit meinem Tablett zum Ausgang. Als ich es auf dem viel zu vollen Servierwagen abstellen will, drängt sich jemand dicht an mir vorbei. Ich bekomme einen unsanften Stoß in die Rippen. Verärgert wirble ich herum, um demjenigen einen Fluch hinterherzurufen. Weil ich das Tablett immer noch in den Händen halte und nicht aufpasse, reiße ich beinahe Sarah von den Füßen, die geradewegs in mich hineinstolpert. Ich reagiere blitzschnell, lasse das Tablett fallen und strecke meine Arme nach ihr aus, um einen unsanften Aufprall auf den Boden zu verhindern. Sarah schreit überrascht auf und ein Schwall kalten Kaffees landet auf meinem Shirt, ehe sie sich mit einer Hand Halt suchend an meinen Arm klammert. Sarah ist wie erstarrt, ihre Augen sind schreckgeweitet, als hätte sie jetzt erst realisiert, was eben geschehen ist. Auch ich kann nicht anders, als sie perplex anzusehen.
»O Gott!«, presst sie hervor, den leeren Pappbecher mit dem Kaffee immer noch in der einen Hand. Sogleich lässt sie mich los und bringt einen Schritt Abstand zwischen uns. Dann wirft sie ihren Kaffeebecher in den Mülleimer neben dem Servierwagen. Ein Grinsen huscht über mein Gesicht.
»Danke, so eine Kaffeedusche habe ich gerade wirklich gebraucht. Jetzt bin ich wenigstens wach und startklar für die nächste Vorlesung!«
Sarah errötet leicht, rührt sich jedoch erst, als ihre Freundin neben sie tritt und ihr die Hand auf den Arm legt.
»Hast du dein Buch geholt? – Oh!« Nicole sieht zwischen Sarah und mir hin und her, dann schnellen ihre Augenbrauen in die Höhe. »Was ist denn hier passiert?« Sie erfasst das Ausmaß der Katastrophe, noch bevor einer von uns reagieren kann. Zu meinen Füßen liegt das Tablett, der Teller ist in Einzelteile zerbrochen und die Überreste meines Mittagessens verteilen sich auf dem Fußboden. Jetzt erst erwacht auch Sarah aus ihrer Starre. Ihre Gesichtsfarbe wird noch eine Spur dunkler. Einige der vorbeigehenden Studierenden werfen uns neugierige Blicke zu, ich höre sie miteinander tuscheln.
»Sorry, ich wollte nicht …« Sie bückt sich nach unten, um die Scherben vom Boden aufzuheben. Ich hocke mich ebenfalls hin, greife nach dem Tablett. Unsere Hände berühren sich kurz. Sogleich zuckt sie zurück, als hätte sie sich verbrannt.
»Nicht schlimm, ich habe einfach nicht aufgepasst«, beschwichtige ich sie mit einem aufmunternden Lächeln. »Du hast mich übersehen. Das kann schon mal vorkommen.«
Nicole lacht neben uns. »Wie kann man dich übersehen? Deine Frisur habe ich bereits vom anderen Ende des Flurs aus erspäht. Außerdem bist du so groß wie ein Bär! Aber Sarah neigt oft dazu, vor sich hin zu träumen. Da kann es schon mal passieren, dass sie nicht auf den Weg achtet.«
Sarah erhebt sich und funkelt ihre Freundin verärgert an. »Komm, wir müssen zurück«, zischt sie, schnappt Nicoles Arm und zieht sie aus dem Speisesaal.
»Und was ist mit deinem Buch?«, höre ich Nicole rufen, ehe sie aus meinem Blickfeld verschwinden. Nachdem ich die Scherben und die Essensreste grob eingesammelt habe, stelle ich das Tablett auf den Servierwagen, wische mir die Hände an der Jeans ab und schaue kurz über meine Schulter. Kevin kommt gerade zu mir rüber, als hätte er den Vorfall jetzt erst bemerkt.
»Dich kann man ja keine zwei Minuten aus den Augen lassen, oder?«, meint er kopfschüttelnd. Ich reagiere nicht auf seinen Kommentar, sondern gehe zu dem Tisch, an dem Sarah noch vor Kurzem mit ihrer Freundin gesessen hat. Auf einem der Stühle entdecke ich das Buch, das sie vergessen hatte, und stecke es in meinen Rucksack. Sicher laufe ich ihr erneut über den Weg.
Kapitel 2
– Sarah –
»Thomas und ich müssen übers Wochenende verreisen. Geschäftlich. Kommst du allein zurecht?« Beth rauscht an mir vorbei durch den Flur, um ihre Handtasche aus dem Ankleidezimmer zu holen. Thomas ist gar nicht mehr hier. Ich nicke. Natürlich komme ich allein zurecht. Bin ich doch schon immer. Mein Leben lang.
»Sicher. Viel Spaß euch«, entgegne ich mit einem aufgesetzten Lächeln. Beth kommt zu mir zurück und umarmt mich kurz. Zu kurz, als dass ich mich geborgen fühlen könnte. Aber das bin ich gewöhnt. Die Momente der Zuneigung wurden immer weniger, je älter ich wurde. Nun, mit achtzehn, brauche ich ihrer Meinung nach wohl gar keine mehr …
»Mit Spaß hat das leider wenig zu tun. Aber wir sind Sonntagabend zurück und können dann gemeinsam essen gehen. Was hältst du davon?«
»Finde ich super.« Die wenigen Augenblicke, in denen wir so etwas wie eine Familie sind, kann ich an einer Hand abzählen. Deshalb versuche ich, jeden dieser Momente einzufangen.
Es klingelt an der Haustür.
»Oh, das ist sicher das Taxi, das mir Thomas von seinem Kundentermin aus bestellt hat. Er wartet bereits am Flughafen. Ich muss los. Essen ist im Kühlschrank. Geld findest du wie üblich in der Schublade in der Kommode, falls du dir eine Pizza bestellen oder mit deinen Freunden ausgehen möchtest. Bis dann!« Sie drückt mich noch einmal, dann schnappt sie sich ihren Trolley, der bereits fertig gepackt neben der Tür steht, und verschwindet aus dem Haus. Eine Weile schaue ich ihr von dem Fenster neben der Haustür aus zu, wie sie ins Taxi steigt und davonfährt. Erst als das Auto um die nächste Straßenecke gebogen ist, wende ich mich ab.
Wieder habe ich das ganze Wochenende sturmfreie Bude. Meine beste Freundin Nicole würde jetzt vor Freude jubeln und sich sofort ans Handy hängen, um eine Party zu organisieren. Ich jedoch fühle mich niedergeschlagen, sobald ich das ganze Haus für mich habe. Alles ist so leer und groß und beängstigend. Mit zu viel Raum für meine Gedanken.
Als meine Grandma noch bei uns gewohnt hat, war ich weniger allein. Doch weil sie schon alt und pflegebedürftig ist, musste sie vor zwei Jahren in ein Heim ziehen. Beth und Thomas konnten keine Zeit erübrigen, um sich um sie zu kümmern, und ich musste mich auf die Schule konzentrieren, um mit einem herausragenden Abschluss an eine Eliteuni gehen zu können. Vermutlich ist Beth immer noch sauer auf mich, weil ich mich gegen ihre Empfehlung an der University of Denver eingeschrieben habe, statt nach Harvard oder Yale zu gehen. Dafür hätte ich jedoch umziehen müssen – und das wollte ich nicht. Ich fühle mich allein, irgendwie verloren, und obwohl dieses Haus immer weniger meine Heimat wird, habe ich Angst, es zu verlassen.
Ich schnappe mir meinen Rucksack und gehe hinauf in mein Zimmer. Wenn ich schon das ganze Wochenende zu Hause bin, kann ich es mir gleich mit einem neuen Buch gemütlich machen. In meinem Zimmer bleibe ich nachdenklich vor meinem Bücherregal stehen. Es quillt bereits über vor Liebesromanen. Eigentlich habe ich fast jedes meiner Bücher bereits zweimal gelesen. Bedauernd fällt mir der angefangene Roman ein, den ich Anfang der Woche im Speisesaal der DU vergessen habe. Wegen meines Missgeschicks habe ich es nicht direkt holen können und später war es nicht mehr dort.
Seufzend verlasse ich mein Zimmer erneut und beschließe, meinen Nachmittag mit einem Besuch in der Buchhandlung der Union Station zu starten, um mir einen neuen Roman fürs Wochenende zu kaufen.
Als ich gerade die Bushaltestelle einige Straßen weiter von unserem Haus erreiche, klingelt mein Handy.
»Hallo, Süße! Was steht am Wochenende an?« Es ist Nicole, die mir fröhlich ins Ohr brüllt. Im Hintergrund höre ich laute lateinamerikanische Musik.
»Wo bist du, dass ich dich kaum verstehen kann?«, entgegne ich stutzig. Wir haben uns vor nur wenigen Stunden in der Uni gesehen, doch es überrascht mich nicht, dass sie mich jetzt schon anruft. Nicole hängt wie eine Klette an mir, seitdem wir uns im Sandkasten um eine Schaufel gestritten haben. Und darüber bin ich verdammt froh, denn obwohl sie manchmal etwas anstrengend ist, ist sie die allerbeste Freundin, die ich mir wünschen könnte!
»Zumbakurs«, ruft sie, dann werden die Hintergrundgeräusche leiser. »Ist gerade vorbei und ich wollte wissen, was meine beste Freundin so treibt, wenn sie schon nicht mit mir Sport machen möchte.«
»Nicht viel«, antworte ich, löse den Fahrschein und steige in den Bus, der gerade vor mir zum Stehen kommt. »Wollte gerade zur Buchhandlung.«
»Sag bloß, du hast schon wieder nichts zum Lesen? Mensch, Sarah, du bist unverbesserlich. Du verschlingst die Bücher wie ich ein Stück Pizza. Apropos Pizza, willst du mit mir Mittag essen?«
»Na, wenn das nicht kontraproduktiv zu deinem Training ist …«
Meine Freundin lacht. »Ach was. Ich mache Zumba nur zum Spaß und nicht, um abzunehmen. Ernsthaft, du solltest das nächste Mal mitkommen, statt in deinem Zimmer zu hocken und in Liebesromanen zu versinken. Dadurch findest du deinen Traumprinzen auch nicht schneller.«
»Du vergisst, dass ich ihn schon gefunden habe …«
»Ja, natürlich. Henry ist der wahrgewordene Traum jeder jungen Frau«, meint sie seufzend. »Aber bist du dir sicher, dass er nicht längst eine andere gefunden hat? Du kennst ihn genauso gut wie ich … Er war schon immer ein Weiberheld.«
Jetzt bin ich es, die seufzen muss. Nicole hat verdammt recht, wenn sie meiner Beziehung nicht wirklich traut. Ich bin mit Henry schon so lange zusammen, dass ich nicht einmal sagen kann, wann sich meine Gefühle für ihn verändert haben. Als er mir vor dem Sommer eröffnet hatte, er wolle in der Schweiz studieren, hat es mich nicht einmal wirklich geschockt. Ich hätte todunglücklich sein sollen und ihn umstimmen müssen, bei mir zu bleiben. Stattdessen habe ich die Tage bis zu seiner Abreise gezählt. Zwar haben wir uns nicht offiziell getrennt, aber so richtig verliebt sind wir auch nicht mehr. Während unseres Studiums haben wir uns auf eine Beziehungspause geeinigt, von der ich jedoch niemandem erzählt habe. Ich will nicht, dass Thomas und Beth davon Wind bekommen, denn vermutlich wäre das für meine Adoptiveltern eine Katastrophe. Sie halten große Stücke auf Henry und sind richtig stolz darauf, weil wir schon so lange zusammen sind. Vermutlich plant Beth insgeheim schon unsere Hochzeit.
»Wie auch immer … Ich bin gerade auf dem Weg zur Union Station. Thomas und Beth sind nicht da, und ich brauche ein neues Buch fürs Wochenende«, erkläre ich Nicole, um vom Thema abzulenken. Über meine Gefühle zu Henry will ich jetzt einfach nicht nachdenken.
Der Bus setzt sich langsam in Bewegung.
»Das ist ja wie ein Wink des Schicksals! Wir können eine Party bei dir feiern, was meinst du? Schließlich sind wir jetzt an der Uni. Und da wir unterschiedliche Studiengänge belegt haben, wäre es doch vorteilhaft, wenn wir einige Kommilitonen aus unseren Kursen zusammentrommeln würden, um einander besser kennenzulernen«, ruft Nicki sofort begeistert. Im Hintergrund höre ich Wasser rauschen und Stimmengewirr. Ob ihr Smartphone wohl wasserfest ist? »Ich habe da so einen süßen Typ gesehen, den würde ich wirklich gern –«
»Das ist doch nichts Besonderes. Ich bin doch fast jedes Wochenende allein. Und auch unter der Woche. Eigentlich sehe ich die beiden kaum noch, seitdem ich fünfzehn bin«, unterbreche ich ihren Freudentaumel gekonnt. »Sollte ich eine Party in unserem Haus feiern, würde mich Thomas umbringen. Du weißt genau, was er von solchen Veranstaltungen hält.«
»Thomas ist eine Spaßbremse. Und du auch!«, entgegnet meine Freundin beleidigt. »Dann lass uns wenigstens auf einen Kaffee treffen, was meinst du? Ich springe kurz unter die Dusche und bin in zwanzig Minuten bei dir. Finde ich dich da, wo ich dich immer finde?« Sie kichert. Jetzt muss ich ebenfalls lachen, weil Nicki mich einfach zu gut kennt.
»Klar. Bis gleich!«
Nachdem ich am Einkaufsbahnhof angekommen bin, steuere ich direkt Tattered Cover an, einen der beliebtesten lokalen Buchläden Colorados. Die Buchhändlerin grüßt mich freundlich. Sie kennt mich bereits, denn ich bin hier so etwas wie eine Stammkundin. Lächelnd gehe ich direkt in die Abteilung mit den Liebesromanen. Nachdenklich suche ich die Regalreihen mit den Augen ab, nehme das ein oder andere Buch heraus, um mir den Klappentext genauer anzuschauen, aber heute spricht mich keins der Bücher an. Nicole hat einmal behauptet, ich würde durch diese Geschichten vor der Realität flüchten. Weil das Leben in den Liebesromanen meistens rosarot erscheint. Grandma meinte, im wahren Leben gibt es nicht immer ein Happy End.
Seufzend stelle ich das Buch zurück, das ich eben noch in der Hand gehalten habe. Henry ist schon den ganzen Sommer weg und bis auf ein paar Nachrichten haben wir nicht miteinander gesprochen. Es erschreckt mich, wie wenig ich ihn vermisse. Ihm wird es nicht anders gehen, sonst hätte er sich sicher öfter gemeldet. Die Schweiz hat nun mal sehr viel zu bieten, da ist es kein Wunder, wenn er viel unterwegs ist und kaum an seine Freundin in der Heimat denkt. Bestimmt konzentriert er sich auf das Eishockeytraining. Natürlich hätte er genauso gut in den Staaten studieren können, denn auch die DU bietet hervorragende Möglichkeiten für Wintersportarten an. Doch Henrys Eltern wollten ihren Sohn im Ausland sehen, und die Schweiz war ihrer Meinung nach die perfekte Wahl – also ist Henry ohne Widerworte gegangen. Ich weiß nicht einmal, ob es wirklich Liebe gewesen ist, die uns zusammengebracht hat. Vielleicht war es auch nur Pflichtbewusstsein unseren Familien gegenüber. Henrys Dad ist nämlich ein guter Freund von Thomas.
»Da bist du ja!«, ruft Nicole und umarmt mich so stürmisch von hinten, dass ich aufpassen muss, nicht gegen das Bücherregal zu stoßen. »Schon was gefunden?«
Ich schüttle den Kopf, ehe ich mich aus ihrer Umarmung befreie. Nicki lacht.
»Tja, wahre Liebe findest du auch nicht in Büchern«, meint sie mit erhobenem Zeigefinger. »Wahre Liebe passiert im echten Leben. Und wenn sie dich trifft, dann wirst du alles, was du bisher gelesen hast, vergessen!«
Genervt verdrehe ich die Augen. »Ich suche gar nicht nach der wahren Liebe, schließlich habe ich Henry.«
»Das sagt schon alles! Er ist sicher gerade mit einer anderen zusammen, so leid es mir tut, Süße! Und wenn du die Wahrheit nicht sehen willst, muss ich dich wohl immer wieder mit der Nase darauf stoßen, bis du endlich die rosarote Brille abnimmst. Ich will dich mit meinen Worten wirklich nicht verletzen, aber ich sorge mich um dich. Und ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass dir Henry das ganze Studium hinweg treu bleiben kann …« Sie sieht mich mitleidig an und holt ihr Smartphone hervor, das sie in die Seitentasche ihrer roten Lederjacke gesteckt hat, um mich wieder einmal auf Henrys Instagram-Profil aufmerksam zu machen. Ihre Worte hätten mich kränken müssen, aber sie tun es nicht. Weil Nicki vermutlich recht hat und ich noch nie wirklich verliebt gewesen bin. Nicht einmal in Henry. Das muss auch der Grund dafür gewesen sein, warum ich mich nie dazu bereit gefühlt habe, mit ihm zu schlafen, obwohl er mich oft genug dazu überreden wollte.
»Sorry, war nur ein Spaß, okay?«, entschuldigt sich Nicki gleich, als sie meinen traurigen Blick bemerkt. Sogleich lässt sie ihr Handy sinken und legt den Arm um meine Schulter. Dabei sind es nicht ihre Worte, sondern die Erkenntnis, dass mir tatsächlich Liebe in meinem Leben fehlt, was mich traurig stimmt. Ich dürste nach Zuneigung wie ein Vampir nach Blut. Dieser Gedanke ist beinahe schon unheimlich.
»Schon gut«, winke ich ab und setze ein Lächeln auf, hinter dem ich meine wahren Gedanken verstecke. »Wollten wir nicht Kaffee trinken? Ich habe nicht so lange Zeit, weil ich noch zu meiner Grandma ins Heim möchte.«
Nicole hakt sich bei mir unter und führt mich aus der Buchhandlung. Wir schlendern durch die Bahnhofspassage zu Pigtrain Coffee. Noch ein Ort, an dem ich gern bin, um meine Zeit totzuschlagen. Während der Schulzeit sind Nicole und ich immer nach dem Unterricht hier vorbeigekommen, um Kaffee zu trinken und zu quatschen. Dann haben wir immer am Fenster gesessen und die vorbeigehenden Reisenden beobachtet. Jetzt haben wir unterschiedliche Vorlesungen an der Uni, weil Nicki BWL studiert und ich mich für Rechtswissenschaften eingeschrieben habe. Nun können wir nur noch gemeinsam Kaffee trinken, wenn wir uns dafür verabreden, denn unsere Kurszeiten überschneiden sich nur selten.
»Hey, ist das nicht der Typ aus der Uni?«, raunt mir meine beste Freundin zu und zeigt auf den Typen hinterm Verkaufstresen. Überrascht hebe ich den Kopf und sehe in die Richtung, in die Nicole deutet. Es ist der Riese mit den blauen Haaren. Der, der mich immer so frech angrinst, sobald wir uns zufällig auf dem Unigelände, im Speisesaal oder in der Bibliothek begegnen. Wir sind uns in der Uni in den letzten Tagen einige Male über den Weg gelaufen. Er ist immer mit Kevin aus meiner alten Schule unterwegs. Kevin wirkt mit seinen blonden Locken, den blauen Augen und seiner geringen Körpergröße neben dem Typen wie ein Engel.
Nicki stößt mir den Ellenbogen in die Rippen, weil ich mitten in der Tür stehen bleibe und den Kerl anstarre, der gerade lächelnd einen Kaffee für eine junge Frau abkassiert. Seine blauen Augen strahlen freundlich. Als er den Kopf in unsere Richtung wendet und mir direkt ins Gesicht sieht, halte ich für einen Moment den Atem an. Sein durchdringender Blick geht mir bis ins Mark. Sogleich beginnt mein Herz zu rasen. Mir ist es immer noch total peinlich, weil ich ihn gleich am ersten Unitag mit Kaffee überschüttet habe. Sein Lächeln wird breiter. Ich atme tief ein, schnappe Nicole am Arm und gehe auf ihn zu, um meine plötzliche Unsicherheit durch offensives Auftreten zu überspielen.
»Einen großen Cappuccino für sie und für mich einen schwarzen Kaffee. To go«, bestelle ich tonlos und versuche, ihm dabei nicht in die Augen zu sehen. Nicole kichert, und auch der Mann scheint amüsiert über mein Verhalten zu sein. Aus dem Augenwinkel erkenne ich, wie er sogleich zwei Pappbecher nimmt und diese unter den Kaffeevollautomaten stellt.
»Ich heiße Nicole«, stellt sich meine Freundin direkt vor. Ich merke deutlich, wie aufgeregt sie plötzlich ist. »Scheiße, der Typ ist echt heiß«, raunt sie noch einmal in meine Richtung. Sie ist jedoch nicht leise genug, als dass er es nicht hören könnte. Trotz des Lärms der Kaffeemaschine kann sie jeder deutlich verstehen. Ich erröte, weil mir diese Situation peinlich ist.
»Freut mich. Und du heißt?«, will er an mich gewandt wissen. Sein Lächeln ist umwerfend. Als er spricht, sehe ich etwas in seinem Mund aufblitzen. Hat er etwa ein Zungenpiercing? Würde mich nicht wundern, denn seine Augenbrauen und beide Ohren sind bereits von etlichen Piercings durchstochen. Normalerweise würde mich so viel Körperschmuck und seine Frisur erschrecken, doch machen gerade diese Details ihn unglaublich attraktiv.
»Das ist Sarah«, sagt Nicki an meiner Stelle, weil ich beharrlich schweige. Abermals stößt sie mir den Ellenbogen in die Rippen, aber ich ignoriere den stechenden Schmerz geflissentlich. Sein Grinsen macht mich seltsam nervös.
»Ich kann gar nicht glauben, dass du der Schwarzer-Kaffee-Typ bist, Sarah«, stellt er ruhig fest.
»Wie bitte?«, frage ich perplex. Er lacht erneut, und es ist tatsächlich ein Zungenpiercing in seinem Mund. Ich muss meiner besten Freundin zustimmen. Er ist attraktiv. Verdammt attraktiv sogar. Punks habe ich hier in Denver schon genug gesehen, aber er ist irgendwie anders. Ich weiß nicht genau, was es ist, doch er scheint mich magisch anzuziehen. Das seltsame Gefühl in meiner Magengegend, das ich bereits in der Uni verspürt habe, verstärkt sich nur noch mehr, während er mit uns spricht. Es ist die Art, wie er spricht und sich bewegt, die im Gegensatz zu seinem Aussehen steht.
»Was hältst du davon, mal was Neues auszuprobieren?«, schlägt er vor.
»Ja, genau. Probiere doch mal einen-« Nicole legt grübelnd Daumen und Zeigefinger an ihr Kinn. »Einen Milchkaffee?«
»Lass dich mal überraschen, ja?«, sagt der junge Mann mit einem Zwinkern. Dann dreht er sich zum Kaffeevollautomaten um. Stumm betrachte ich seinen Hinterkopf, den kahl rasierten Nacken und die breiten Schultern unter dem schwarzen Shirt, während er unsere Getränke zubereitet.
»Arbeitest du schon lange hier?«, fragt ihn meine Freundin. »Ich habe dich bisher noch nie im Pigtrain gesehen. Und du wärst mir sicher aufgefallen, das steht fest.«
»Ist erst mein dritter Tag hier«, entgegnet er, ohne sich zu uns umzudrehen. Seine tiefe Stimme jagt einen Schauder über meinen Rücken. »Mein Bruder hat mir diesen Job besorgt. Ich wohne bei ihm.«
»Dann ist dein Bruder ja ein Heiliger«, entgegne ich spöttisch. Je länger wir hier auf unseren Kaffee warten, desto mulmiger fühle ich mich. Ich will so schnell wie möglich von hier verschwinden, denn so viel Herzklopfen hatte ich bisher noch nie in der Gegenwart eines Mannes. Liegt es daran, dass ich mich nicht richtig wegen der Kaffeedusche bei ihm entschuldigt habe?
»Nein. Er sorgt nur dafür, dass ich keine Dummheiten mache. So, hier sind eure Getränke, Ladys. Einen großen Cappuccino für dich und …« Er stellt den zweiten Becher vor mir ab. »… und hier einen Vanilla Flavoured Caramel Macchiato mit extra Sahne.«
Skeptisch hebe ich eine Augenbraue. »Steht der wirklich so auf der Karte? Den hast du dir gerade ausgedacht, oder?« Ich kenne die Karte dieses Cafés auswendig – zumindest habe ich das bis vor wenigen Sekunden geglaubt.
»Schon möglich«, meint er zwinkernd. Ich zahle für unsere Getränke, nehme meinen Becher und verlasse das Café so schnell wie möglich, ohne den Typen noch einmal anzusehen. Nicole folgt mir.
»Hey, wieso hast du es auf einmal so eilig?«, will sie überrascht wissen.
»Ich will meine Grandma nicht so lange warten lassen«, lüge ich. In Wahrheit kann ich dieses seltsame Gefühl, das ich so plötzlich in seiner Nähe verspürt habe, nicht länger ertragen. Ich habe immer noch Gänsehaut auf den Unterarmen, wenn ich an den stechenden Blick aus seinen Augen denke. Das Blau seiner Iris ist beinahe so dunkel wie seine Haarfarbe. Schulterzuckend nippt Nicki an ihrem Cappuccino.
»Wow, der schmeckt ja viel besser als sonst«, merkt sie an. Auch ich nehme einen Schluck. Tatsächlich, er hat den perfekten Kaffee für mich gemacht. Gedankenverloren drehe ich den Pappbecher in den Händen und entdecke eine Handynummer. Wann hat er denn geschafft, etwas auf den Becher zu schreiben?
***
Meine Grandma ist im Garten, als ich das Pflegeheim erreiche. Sie sitzt auf einer Bank im Schatten eines großen Baumes und liest in einem Buch. Meine Liebe zum Lesen habe ich eindeutig von ihr. Sobald sie mich sieht, hellt sich ihr faltiges Gesicht auf und ihre Augen beginnen vor Freude zu strahlen.
»Sarah, Darling, was für eine Überraschung, dass du mich besuchen kommst. Damit habe ich gar nicht gerechnet«, sagte sie und drückt mich an sich. Ich schmiege mich an sie und spüre endlich die Geborgenheit, die ich heute Mittag bei Beth vermisst habe. Meine Grandma streicht mir über den Kopf, dann schaut sie mich an. »Du solltest dir wieder die Haare schneiden lassen. Sie sind viel zu lang geworden.«
Grinsend setze ich mich zu ihr auf die Bank. »Ich mag sie so.«
Mit der Hand streiche ich mir einige der dunkelbraunen Strähnen hinters Ohr. Meine Haare sind tatsächlich länger als üblich. Zu Beginn des Sommers hatte ich mir einen modischen Bob schneiden lassen, doch der ist schon lange rausgewachsen. Jetzt fallen mir die Haare bereits wieder über die Schultern.
»So siehst du deiner Mutter wirklich ähnlich. Sie hatte das gleiche glatte Haar wie du und denselben nachdenklichen Blick«, meint meine Großmutter mit Wehmut in der Stimme. Dann lächelt sie erneut und schlägt ihr Buch zu, das auf ihrem Schoß liegt. »Komm, begleite mich in mein Zimmer. Es wird langsam zu kalt hier für meine alten Knochen.«
Der Oktober neigt sich dem Ende zu, obwohl es immer noch schöne Sonnentage gibt, die sie im Garten des Pflegeheims verbringt. Meine Grandma hakt sich bei mir unter, ich helfe ihr von der Bank auf. Gemeinsam betreten wir das Gebäude und steuern den Aufzug an, um in ihr Zimmer zu gelangen. Meine Grandma redet noch kurz mit einer Pflegerin, ehe sie zu mir in den Raum kommt.
»Ich habe Mary Bescheid gegeben, dass ich mein Abendessen gleich hier auf dem Zimmer einnehmen werde. Es wäre doch schade, wenn du so schnell wieder gehen musst, wo du doch eben erst gekommen bist, Darling.« Sie setzt sich zu mir auf das Sofa, das in der Ecke des Zimmers steht. »Wie gefällt es dir an der Uni?«
»Es ist wirklich anstrengend und ganz anders als Schule«, erzähle ich ihr. Ich ziehe die Beine an und umfasse meine Knie. »Irgendwie habe ich nicht gedacht, dass Rechtswissenschaft so umfangreich ist …«
»Ich frage mich sowieso, warum du nicht etwas anderes studierst. Warum nicht Musik? Du singst doch so gern.«
»Was soll ich mit einem Musikstudium anfangen? Damit kann ich mir keine Zukunft aufbauen.«
»Sagt wer?«, fragt sie mit hochgezogenen Augenbrauen. »Etwa Thomas? Du solltest weniger auf ihn, sondern mehr auf dein Herz hören. Du hast die Musik im Blut genau wie deine Eltern. Du könntest Karriere am Broadway machen.«
Seufzend lehne ich mich gegen ihre Schulter und schließe die Augen.
»Du weißt, dass ich nicht gern im Mittelpunkt stehe. Der Broadway wäre nichts für mich.« Eine kurze Pause entsteht, in der ich tief ausatme. »Erzähl mir von Mom«, bitte ich meine Grandma. Liebevoll tätschelt sie meinen Arm. Ich höre sie gern über meine Mutter reden, auch wenn ich jede Geschichte bereits auswendig kenne. Dadurch fühle ich mich weniger allein.
»Deine Mutter war wunderschön und herzensgut. Mit einer unglaublichen Stimme gesegnet. Es ist ungerecht, dass Gott sie schon so früh zu sich genommen hat. Sie wäre eine tolle Mom geworden …«, sagt sie mit zitternder Stimme. Auch ich habe einen Kloß im Hals. Jedes Mal, wenn meine Grandma über ihre Tochter spricht, fühle ich mich ganz eigenartig. Ich habe meine leibliche Mom nie kennengelernt, doch es kommt mir so vor, als wäre sie mir trotzdem näher als jeder andere Mensch. Sie war nur ein wenig älter als ich jetzt, als sie mit mir schwanger war. Und nicht einmal ein Jahr nach meiner Geburt starb sie an plötzlichem Herzversagen. Die Ärzte konnten sie nicht mehr retten, weil sie sich ihren Zustand nicht erklären konnten.
»Sie hat die Musik so sehr geliebt. Genau wie dein Vater …«
»Warum hat er sie verlassen?«, will ich von meiner Grandma wissen. Über meinen Dad weiß ich kaum etwas. Nur dass er lebt und mich nie kennenlernen wollte.
»Franky war begabt. Unglaublich begabt. Und er hat Christine über alles geliebt. Doch die Musik hat er noch mehr geliebt, denn sonst wäre er vermutlich nie fortgegangen, um Komponist am London Theatre zu werden. Es war sein großer Traum, weißt du. Leider weiß ich nicht, wie die beiden auseinandergegangen sind. Deine Mom hat nie viel über Franky gesprochen, doch er hat Christine das Herz gebrochen mit seinem Verschwinden. Zum Glück hatte sie dich. Ich weiß nicht, ob Franky von ihrer Schwangerschaft wusste. Vermutlich nicht, denn ich kann mir kaum vorstellen, dass er sonst gegangen wäre …«
Ein schwermütiges Lächeln umspielt ihre Lippen, als sie mich in ihre Arme zieht. »Sie hat dich vom ersten Augenblick an geliebt, glaub mir.«
Ich nicke stumm. Vermutlich. Doch weil ich sie nie kennenlernen konnte, fällt es mir manchmal sehr schwer, mir diese Liebe vorzustellen, von der Grandma immer wieder spricht. Hätte mich Thomas, der ältere Bruder meiner Mutter, nicht direkt nach ihrem Tod adoptiert, wäre dann das Sorgerecht an meinen Dad gefallen, den ich bisher nicht zu Gesicht bekommen habe? Ich weiß es nicht, und eigentlich sollte ich wirklich froh sein, dass mein Leben so verlaufen ist. Doch an manchen Tagen, vor allem wenn ich in unserem riesigen Haus allein bin, frage ich mich, wie es gewesen wäre, hätte mein Dad Mama nie verlassen. Sicher wären wir eine glückliche Familie, wonach ich mich vor allem als Kind immer so sehr gesehnt habe. Doch man kann nicht alles haben, also begnüge ich mich mit Thomas und Beth, die wirklich gut für mich sorgen, auch wenn sie ständig arbeiten.
»Worüber denkst du denn nach, Liebes?«, fragt meine Großmutter mit einem sorgenvollen Blick auf mein Gesicht. Ich schenke ihr ein Lächeln.
»Es ist nichts. Ich überlege nur, was ich mir gleich zum Abendessen machen werde, weil Thomas und Beth wieder auf einer Geschäftsreise sind«, beschwichtige ich sie, weil ich ihr meine Gedanken nicht anvertrauen möchte. Ihre Gesundheit ist nicht mehr so gut wie noch vor Jahren, weshalb ich ihr keine unnötigen Sorgen bereiten möchte. Meine Grandma soll nicht denken, dass ich unglücklich bin, denn das bin ich wirklich nicht. Ich mag mein Leben, wie es ist, auch wenn ich mich doch oft recht einsam fühle. Doch damit habe ich mich bereits arrangiert.
»Na hoffentlich isst du nicht wieder irgendwelches Junkfood. Ihr jungen Leute wisst gar nicht, was ihr eurem Körper damit antut. Also zu meiner Zeit gab es immer Gemüseeintopf oder etwas Deftiges mit viel Fleisch. Das macht stark und hält fit. Was glaubst du denn, warum ich in meinem Alter noch so gut auf den Beinen bin?«
Lachend erhebe ich mich von ihrem Bett. »Keine Sorge, ich werde mir ein Beispiel an dir nehmen und einen Gemüseeintopf kochen. Dafür müssten wir noch Zutaten haben.« Mit diesen Worten verabschiede ich mich von meiner Großmutter und mache mich auf den Heimweg.