Leseprobe Verlorene Schwester | Ein spannender Psychothriller

Kapitel eins

Elise McDonald, März 2014

Ich wusste immer, dass ich sie sofort erkennen würde, wenn ich sie wiedersehe.

Für mich war dieses Wiedersehen eine absolute Gewissheit, nur eine Frage der Zeit. Und heute war es so weit. Grace war keine zehn Meter von mir entfernt. Die Familienähnlichkeit war unverkennbar: hohe Wangenknochen, eine etwas zu lange Höckernase, weit auseinanderstehende blaue Augen und volle Lippen. Merkmale, die mir jeden Zweifel nahmen: Das war meine Schwester. Ihre Nähe brachte mein Herz zum Rasen, und trotz der Klimaanlage in dem riesigen Geschäft waren meine Handflächen feucht.

Grace bemerkte nicht, wie ich sie musterte – ihre Aufmerksamkeit war voll und ganz auf ein Regal mit überteuerten Jeans gerichtet. Nachdem ich zu einem besseren Aussichtspunkt neben einem der Ganzkörperspiegel gewechselt hatte, konnte ich ungestört ihr Spiegelbild anstarren, ohne selbst gesehen zu werden. Ihre Frisur war die gleiche, die ich als Teenager am liebsten getragen hatte: langes, honigblondes Haar, seidenglatt, mit einem dichten Pony, der ihr fast in die Augen hing. Die Ähnlichkeit war fast schon unheimlich.

Plötzlich marschierte Grace los, setzte sich mit einer Entschlossenheit in Bewegung, die meinen ohnehin schon nervösen Verstand in Panik versetzte. Ich durfte sie nicht schon wieder verschwinden lassen. Aber ich hatte keinen Plan, keine Ahnung, wie oder ob ich auf sie zugehen sollte. Deshalb folgte ich ihr in einem armseligen Zickzackkurs und berührte dabei jedes Regal und jeden Kleiderständer, an dem ich vorbeikam, um Interesse an den Produkten vorzugeben.

Grace verließ die Bekleidungsabteilung und hielt direkt auf den Aufzug zu, weshalb ich meinen Schritt beschleunigen musste, um sie im Blick zu behalten. Sie wollte das Geschäft verlassen. Wenn ich sie in dem überfüllten Einkaufszentrum verschwinden ließ, würde ich sie vielleicht ganz aus den Augen verlieren – aber ich war immer noch unsicher, ob ich sie ansprechen sollte. Meine Beine zitterten und mein Atem war ein unregelmäßiges Keuchen, als ich beinahe rannte, um sie rechtzeitig einzuholen, bevor sie die Tür erreichte. Dann – noch immer ohne eine Idee, was ich sagen sollte – fing ich sie ab, als sie kurz anhielt, um eine neue Parfummarke auszuprobieren und den Duft großzügig auf ihr Handgelenk zu sprühen.

„Hi.“ Ich zwang mich zu einem Lächeln, bemühte mich um einen beiläufigen Tonfall. „Du bist Grace, richtig?“

„Nein, tut mir leid, Sie verwechseln mich.“ Das Mädchen erwiderte mein Lächeln. Ihr jugendliches, unschuldiges Gesicht hätte meine Entschlossenheit fast im Keim erstickt. Es war, als hätte ich eine gefällige Mischung aus meiner Mutter und mir vor mir, aber Grace bemerkte das offensichtlich nicht. Ich wollte damit herausplatzen, dass sie meine lang vermisste Schwester war, auch wenn sie es nicht wusste. Ich hatte sie nicht gesehen, seit sie drei Jahre alt war – aber ich wusste, das war Grace!

„Entschuldigung.“ Sie lächelte wieder, einen sanften Ausdruck im Gesicht, während sie geduldig darauf wartete, dass ich mich bewege. Während ich weiterhin den Ausgang blockierte, suchte ich fieberhaft nach einer Möglichkeit, diese junge Frau aufzuhalten, um mehr über sie herauszufinden – aber mir fiel nichts ein, das nicht nach Verzweiflung gestunken hätte. Dann kam mir das Schicksal gnädig zu Hilfe: Das Baby in meinem Bauch verpasste mir einen Tritt und verursachte dabei einen stechenden Schmerz zwischen meinen Rippen. Ich schnappte hörbar nach Luft und legte meine Hand auf meinen riesigen Bauch.

„Geht es Ihnen gut? Kann ich irgendetwas tun?“ Das höfliche Lächeln war ehrlicher Besorgnis gewichen, und ich nutzte die Gelegenheit.

„Vielleicht sollte ich mich kurz hinsetzen?“

„Natürlich, direkt vor der Tür ist eine Bank – kann ich Ihnen dorthin helfen?“

Ich erlaubte Grace, meine Tasche zu tragen, die ohnehin federleicht war, und wir verließen gemeinsam das Geschäft. Als wir uns auf die Bank setzten, fragte sie nervös nach, ob es mir schon besser ginge.

„Ja, viel besser, danke. Es ist ein Junge, und ich glaube, er trägt jetzt schon Fußballschuhe.“

Ein Lachen hellte Grace’ gesamtes Gesicht auf, und ich musste mich zwingen, nicht die Arme um sie zu schlingen – in einem sinnlosen Versuch, die verlorenen Jahre nachzuholen. Dann fragte sie höflich nach, wie lange es noch bis zum Geburtstermin wäre.

„Nur noch sechs Wochen.“

„Nun, wenn es sonst nichts gibt, was ich für Sie tun kann, gehe ich jetzt besser.“

Eiskalte Panik ergriff mich. Ich hatte auf mehr Zeit gehofft. Auf eine Gelegenheit, dieses Mädchen zu ihrem Leben befragen zu können, zu ihren Erinnerungen. Aber wieso sollte sie Zeit mit einer Fremden verbringen wollen?

„Oh, du warst so freundlich. Kann ich dich vielleicht nach Hause fahren?“

„Danke, aber ich wohne außerhalb der Stadt, in Carlton Wells.“ Grace stand auf, um zu gehen.

„Ich würde dich gerne fahren – es ist ja nicht weit.“ Bitte, lass mich nicht zu verzweifelt klingen.

„Ehrlich gesagt treffe ich mich noch mit meinem Dad. Er ist Arzt im städtischen Gesundheitszentrum, aber danke für das Angebot.“

Mein Gehirn arbeitete auf Hochtouren, und ich versuchte mich erfolglos an einem beiläufigen Tonfall, als ich fragte: „Das ist aber nicht Doktor Carter, oder?“ Ich hatte keine Ahnung, welche Ärzte es dort gab – ich sagte einfach den ersten Namen, der mir einfiel.

„Nein, Doktor Solomon, und ich bin übrigens Ruth.“

„Ich bin Elise. Es war schön, dich kennenzulernen, und noch mal vielen Dank für deine Hilfe.“ Mit einem Namen und einem ungefähren Ort konnte ich mich entspannen und Ruth Solomon gehen lassen, bevor sie Verdacht schöpfte. Ich beobachtete, wie sich die schlanke Gestalt geschmeidig und gleichmäßig von mir entfernte, die Handtasche lässig über der linken Schulter baumelnd.

Während ich dem Drang widerstand, sie zurückzurufen, die Arme um sie zu werfen und sie fest an mich zu drücken, blinzelte ich die Tränen aus den Augen. Sie war am Leben! Ich hatte die Hoffnung nie aufgegeben – auch nicht, als der Rest meiner Familie sie längst verloren hatte. Und jetzt gab es nicht einmal die Spur eines Zweifels in mir, dass dieser wunderschöne Teenager meine verlorene Schwester Grace war!

Kapitel zwei

Margaret Bryson, 2000

Wenn ich mich für einen Grund hätte entscheiden müssen, warum wir das Haus in der River View – einer der schönsten, ruhigsten Straßen in den Vororten von Leeds – gekauft hatten, wäre es der Garten. Nicht dass ich Lilac House – das Fliederhaus – selbst nicht lieben würde. Das tat ich, obwohl so viel daran gemacht werden musste. Aber der Garten zog mich in seinen Bann. Er war in zwei Abschnitte aufgeteilt und senkte sich sanft nach Süden, wo eine hohe Backsteinmauer Privatsphäre zu dem Fluss dahinter bot, und zu dem überwucherten Pfad, der am Ufer entlangführte.

Eine Reihe von Obstbäumen bildete die westliche Grenze des Grundstücks und bot einen Überfluss an Äpfeln, Birnen und Pflaumen. In diesem Obstgarten stellte ich mir Kinder vor, die vergnügt lachten, während sie unsere eigene Ernte einholten. Der einzige spießige Teil des Gartens war direkt hinter dem Haus, wo eine großzügige Terrasse angebaut war, an die ein gepflegter Rasen anschloss und üppige Blumenbeete in bunten Farben strahlten.

Zwei große Fliederbäume an den Ecken der Rasenfläche verliehen dem Haus seinen Namen und spendeten im Frühsommer wunderbar duftenden Schatten. Dahinter fiel der Garten ab und alte Sträucher wuchsen wild. Das ließ ein Paradies für Vögel entstehen. Es war auch traumhaft für kleine Säugetiere, über die ich lieber nicht nachdenken wollte. Alte Wege aus rotem Backstein schlängelten sich durch die Sträucher. Sie waren zwar überwuchert, aber trotzdem von einer prächtigen, natürlichen Schönheit, die einen aufregenden Ort zum Spielen für Kinder versprach.

Wir wollten drei Kinder, vielleicht vier, und als wir ins Lilac House einzogen, war ich gerade schwanger mit unserem ersten Kind, Elise. Stephen und ich wussten zu schätzen, wie gesegnet wir waren. Kein Paar hätte glücklicher sein können. Als Elise sechs war, kam dann unsere zweite Tochter Grace zur Welt.

Grace’ dritter Geburtstag war am achten August – der perfekte Monat für eine Geburtstagsparty im Freien. Ich genoss es durch und durch, die Feier vorzubereiten, zu der acht von Grace’ Freunden eingeladen waren. Das Herzstück war die Torte – ein Biskuit in Form eines Teddybären mit Schokoladenfell. Seine Beine steckten in Smarties-Hosen, die von Lakritz-Hosenträgern gehalten wurden. Grace liebte Teddybären, sie hatte bereits eine beachtliche Sammlung in ihrem Zimmer.

Elise erfüllte die Rolle der großen Schwester mit Begeisterung und stellte dabei unter Beweis, welche wertvolle Hilfe sie in ihrem weisen Alter von neun Jahren war. Die Gäste waren überwiegend in Grace’ Alter, sechs kichernde kleine Mädchen und zwei Jungs – aber statt sich ausgeschlossen zu fühlen, schaffte Elise es, die Kinder zu beschäftigen und unter Kontrolle zu halten. Wie eine kleine Mama-Henne. Die jüngeren Kinder himmelten Elise an, und ihre endlose Energie war besonders deswegen eine Hilfe, weil ich fast sicher war, dass ich mit unserem dritten Kind schwanger war. Stephen und ich waren außer uns vor Freude.

Bea und Peter kamen vorbei, um bei der Party zu helfen, wofür ich dankbar war. Meine Schwester hatte sich außerdem um den Großteil des Essens gekümmert. In solchen Situationen war sie wie ein Fels in der Brandung, und obwohl ich wusste, dass sie sich sehnlichst eigene Kinder gewünscht hatten, beschwerte sich Bea nie. Stattdessen investierte sie all ihre Liebe großzügig in unsere Kinder. Ich hatte darüber nachgedacht, meiner Schwester an diesem Nachmittag von dem Baby zu erzählen, aber irgendwie hatte es sich nicht richtig angefühlt. Der ganze Tag schien die Tatsache zu unterstreichen, dass ich so viel Gutes in meinem Leben hatte, auf das sie verzichten musste.

Unsere Nachbarin, Christine Robinson, war ebenfalls für jede Hilfe zur Stelle. Sie und ihr Ehemann Harry waren in den neun Jahren, die wir in Lilac House leben, zu guten Freunden geworden. Christine war immer begeistert davon, mir mit den Mädchen helfen zu können, wenn ich sie brauchte. „Übung“ nannte sie es immer – ein Praxiskurs für ihre eigene Familie. Aber leider, obwohl sie Kinder haben wollten, hat es nie geklappt.

Die Party war magisch: perfektes Wetter, zufriedene Kinder und eine fröhliche, entspannte Atmosphäre, als wir nach dem Tee Spiele spielten. Unser Garten war ein hervorragender Ort, um sich zu verstecken, und vergnügtes Quieken erfüllte die Luft, jedes Mal, wenn ein Kind mit Suchen dran war, während die anderen sich versteckten.

Elise half Bea, das Teegeschirr ins Haus zu tragen, während Christine und ich das Spiel beaufsichtigten. James, der jüngere der zwei kleinen Jungs, lehnte sich an den Fliederbaum, die Augen fest zusammengepresst und langsam bis zwanzig zählend. Oder so weit, wie er eben zählen konnte. Die anderen Kinder verschwanden eilig in dem Labyrinth aus Sträuchern, ihr Gekicher verwandelte sich in Geflüster und schließlich in Stille, als sie sich in die engsten Verstecke zwängten oder sich hinter den Bäumen im Obstgarten so klein wie möglich zusammenkauerten.

Ich nahm James’ Hand und half ihm, nach seinen Freunden zu suchen. Das war eine überwältigende Aufgabe für einen einzigen kleinen Jungen in einem riesigen, fremden Garten. Dem Geräusch gedämpften Gekichers folgend, fanden wir die ersten beiden Mädchen, versteckt hinter Baumstämmen, und bahnten uns mit ihnen im Schlepptau unseren Weg durch das Labyrinth aus Sträuchern, das im unteren Teil des Gartens ungehindert wild wuchs.

Bald hatte ich eine Reihe von Kindern hinter mir, die mir im Gänsemarsch folgten wie kleine Babyenten ihrer Mama. Wir fanden alle Kinder außer Grace, was kaum überraschend war: Natürlich war sie diejenige, die die besten Verstecke kannte. Ich rief sie, als die anderen ungeduldig wurden und auf ein neues Spiel warteten, aber meine Tochter blieb verschollen. Elise war in den Garten zurückgekehrt, und ich bat sie, weiter nach Grace zu suchen. In der Hoffnung, dass sie die perfekten, geheimen Verstecke ebenfalls kannte.

Zehn Minuten können sich für Kinder unfassbar lang anfühlen, und Grace’ Gäste waren gelangweilt von dem endlosen Versteckspiel, deshalb ging ich mit ihnen zurück auf den Rasen, während Elise weiter nach ihrer Schwester suchte. Weitere fünf Minuten vergingen, und meine Mädchen blieben verschwunden. Ein kleiner Knoten der Sorge formte sich in meinem Magen, eine Befürchtung, die ich abzuschütteln versuchte. Die Logik sagte mir, dass sie irgendwo im Garten sein musste. Sie konnte ihn unmöglich ungesehen verlassen haben.

Bea kam aus der Küche, und ich bat sie, gemeinsam mit Christine auf die Kinder aufzupassen, während ich Elise half, die unaufhörlich alle Wege ablief und nach ihrer Schwester rief.

„Grace antwortet nicht, Mummy. Glaubst du, sie hat sich irgendwo schlafen gelegt?“

„Ich weiß nicht, Schätzchen. Aber wir werden sie sicher bald finden, wenn wir zu zweit suchen.“

Ich war besorgt und nervös. Wir gingen bis zur Mauer am Ende des Gartens, wo es still war. Das Geräusch der spielenden Kinder auf dem Rasen war hier nur noch ein Flüstern in der leichten Sommerbrise.

Bestimmt konnte Grace unser Rufen hören. Ich hob die wuchernden Sträucher an und sah darunter nach. In der Hoffnung, Elise hatte recht und ihre Schwester wäre irgendwo eingeschlafen. Meine Hände zitterten, und ich konnte nur schwer atmen.

Zu meiner Erleichterung tauchte Stephen an meiner Seite auf. Sein aufmunterndes Lächeln erreichte seine Augen nicht ganz. „Bea hat gesagt, ihr könnt Grace nicht finden? Sie muss hier irgendwo sein.“

„Ich weiß, aber wir haben überall gesucht. Vielleicht ist sie eingeschlafen und hört uns nicht.“ Ich warf einen Blick auf meine Uhr. Zwanzig Minuten waren vergangen, seit wir das Spiel gestartet hatten. Keine besonders lange Zeit, aber genug, um Panik in mir auszulösen.

„Bist du sicher, dass ihr überall nachgesehen habt?“

„Ja, aber sie könnte sich bewegt haben, um unentdeckt zu bleiben.“

Ich sah Stephen hoffnungsvoll an, der etwas strenger rief: „Grace, das Spiel ist jetzt vorbei und deine Freunde warten auf dich. Komm raus aus deinem Versteck. Es ist Zeit, die Kerzen auszupusten!“

Elise rückte näher an mich heran, schlang ihre dünnen Arme um meine Taille. „Sie ist nicht hier, oder, Mummy?“

Dicke Tränen rollten ihr über das Gesicht. Ich wollte sie trösten, aber mir war selbst zum Weinen zumute.

Stephen schickte uns zurück zum Haus, um Peter zu holen. Sie würden gemeinsam weitersuchen, während ich bei den anderen Kindern blieb. Es war unfassbar mühsam, mich zu bewegen. In meinem Kopf rasten grauenhafte Gedanken um die Wette, aber ich musste mich zusammenreißen.

Grace musste irgendwo im Garten sein. Ich war dumm und hatte meine Nervosität auf Elise übertragen. Entschlossen nahm ich ihre Hand, und gemeinsam gingen wir zielsicher zu den anderen zurück. Wir versuchten, unbesorgt zu wirken, konnten unsere Tränen aber kaum verbergen.

Bea warf mir einen fragenden Blick zu, als wir ankamen.

„Wo ist Peter?“, fragte ich.

„Er ist reingegangen, um sich ein Bier zu holen und nach den Fußballergebnissen zu sehen. Soll ich ihn holen?“

Mein knappes Nicken reichte, damit Bea nach drinnen huschte, um ihren Ehemann zu holen. Einen Moment später standen sie beide vor mir, und ich deutete auf das untere Ende des Gartens.

„Könntest du Stephen helfen?“ Mehr brachte ich nicht heraus. Hätte ich laut ausgesprochen, dass wir Grace nicht finden konnten, wäre ich zusammengebrochen, und ich hatte acht kleine Kinder unter meiner Aufsicht.

Bea und Christine organisierten mit kühlem Kopf eine Runde „Reise nach Jerusalem“ und baten Elise, den CD-Player zu bedienen, um sie von Grace abzulenken. Ich fühlte mich nutzlos. Ich versuchte mich an einer logischen innerlichen „reiß dich zusammen, sie werden sie bald finden“-Rede, aber mein Herz brach langsam auseinander. Alle möglichen Szenarien blitzten vor meinem inneren Auge auf. Verstörende und grauenvolle Bilder, die sich stur weigerten, aus meinem Verstand zu verschwinden.

Weitere fünfzehn Minuten vergingen, bevor Stephen auftauchte und auf uns zu eilte. Gefolgt von Peter, aber ohne Grace. Sein Gesichtsausdruck verriet mir alles, was ich wissen musste, als er mich an der Hand nahm und ins Haus führte. Bea und Peter brauchten keine Aufforderung, um auf die Kinder aufzupassen. Die beiden waren eine fantastische Hilfe. Sie machten unbeirrt mit den Spielen weiter, obwohl ich mir sicher war, dass sie unsere Sorgen und Ängste um Grace teilten.

Stephens Gesicht war aschfahl. „Ich glaube, wir müssen die Polizei rufen.“

Kapitel drei

Margaret Bryson

Noch nie zuvor hatte ich einen Grund gehabt, den Notruf zu wählen, und Stephen ebenfalls nicht. Ich lauschte seiner Seite der Konversation, wie er unsere Adresse angab und Grace beschrieb – Worte, die mich immer tiefer in mein Verderben rissen. Ein tiefes, klagendes Raunen drang an mein Ohr, gefolgt von einem lauten Schluchzen. Mir wurde bewusst, dass diese Geräusche von irgendwo tief aus meinem Inneren kamen. Der Schmerz war beinahe greifbar, als ich die Arme um mich selbst schlang, um mich davon abzuhalten, auf dem Boden zusammenzubrechen.

Stephen beendete das Telefonat und nahm mich in die Arme, zog mich fest an sich und strich mir übers Haar.

„Sie kann nicht weit sein, Margaret. Sie werden sie bald finden … oder sie wird hereinspazieren, lachend, wie immer.“ Aber ich wusste, dass er seinen Worten kaum mehr glaubte als ich.

Stephens Umarmung bot mir nur einen geringen Trost, während wir einfach so dasaßen und uns gegenseitig hielten, bis die Polizei eintraf. Ich hatte gehofft, Grace wäre auf wundersame Art bei ihnen – wie in der Szene in Mary Poppins, wo ein freundlicher Constable die Banks-Kinder nach Hause bringt. Aber das hier war die blanke Realität, nicht irgendein netter Film mit Happy End.

Zwei uniformierte Polizisten betraten unser Zuhause, um uns Fragen zu stellen, und das Geräusch weiterer Beamter verriet uns, dass unser Garten erneut durchsucht wurde. Bald schloss sich ein weiterer Polizist unserer kleinen Gruppe an und stellte sich selbst als Detective Inspector Tom Duncan vor – ein kleiner Mann mit einer gewissen Ausstrahlung von Effizienz, der offenbar die Ermittlungen leitete.

Kurz nachdem die Polizei eingetroffen war, kamen nach und nach die Eltern vorbei, um ihre Kinder abzuholen. Christine begleitete die Besucher hinaus, nachdem ein Beamter die Kontaktdaten jeder Familie notiert hatte. Es war surreal, ein Albtraum. Das konnte nicht wirklich geschehen. Tat es aber.

Ich verlor jedes Zeitgefühl. Bea und Peter gingen mit Elise in den Wintergarten – ein vergeblicher Versuch, ihr den Anblick der Polizisten zu ersparen, die überall in unserem Haus und unserem Garten ausschwärmten. Ich sehnte mich nach dem Trost, Elise bei mir zu haben, wollte ihr aber gleichzeitig unsere Verzweiflung ersparen – und die Bürde, der Polizei endlose Fragen beantworten zu müssen.

Also saß ich in unserem Wohnzimmer und klammerte mich an Stephens Hand, während unzählige uniformierte Beamte jeden Quadratzentimeter unseres Gartens durchkämmten und immer noch kein Lebenszeichen von Grace ausfindig machen konnten. Dann, irgendwann, tauchte ein gewisser Detective Sergeant Jack Priestly auf, der uns als unser Familienverbindungsbeamter vorgestellt wurde – ein Family Liaison Officer, kurz FLO. Bei dem Begriff klickte etwas in meinem Verstand, und ich verlor gänzlich die Fassung. Das Schluchzen setzte wieder ein, noch heftiger als zuvor.

„Sie denken, sie ist tot“, raunte ich gegen Stephens Schulter. Das Glashaus unseres perfekten Lebens war grausam in Millionen spitze Scherben zerschlagen worden.

Jack Priestly machte sich mit seinen eins achtzig klein, ging vor mir in die Hocke und nahm meine Hand in seine, sah mich aus großen, braunen Augen an, sein rundes Gesicht offen und ehrlich.

„Hören Sie mir zu, Margaret. Das glauben wir überhaupt nicht. Meine Aufgabe ist es, Sie über das, was wir tun, und unseren Fortschritt auf dem Laufenden zu halten – deshalb bin ich hier. Grace wird erst seit zwei Stunden vermisst – die Chancen, sie zu finden, stehen gut. In diesem Moment suchen Beamte das Gebiet ab und klopfen an Türen. Wir tun alles Menschenmögliche, um Ihr kleines Mädchen zu finden.“

Diese freundlichen Augen sprühten vor Mitgefühl. Irgendetwas an dem Mann weckte ein tiefes Vertrauen in mir, und ich nickte dankend – dankbar, jemanden an unserer Seite zu wissen, der so verständnisvoll war. Ich fragte ihn, weshalb so viele Menschen in unserem Haus waren – es kamen Geräusche aus nahezu jedem Raum, polternde und schabende Töne, die durch meinen schmerzenden Kopf hallten.

„Das müssen wir tun – das übliche Vorgehen. Leider muss jeder Raum durchsucht werden, aber sie werden bald weg sein.“

Ich wandte mich entsetzt an Stephen. „Sie denken, wir hätten sie umgebracht! Unsere eigene Tochter – und sie glauben, wir hätten sie ermordet und irgendwo versteckt!“ Konnte das noch schlimmer werden?

„Liebling, das ist genau das, was Jack gesagt hat: das übliche Vorgehen. Das ist alles.“ Er sah so müde aus, nicht länger ein Mann in seiner Blütezeit. Die Haut um seine Augen war rot und geschwollen, und er war in den letzten zwei Stunden um mindestens zehn Jahre gealtert.

Ich fühlte mich hilflos. Ich wusste, dass ich Stephen auf irgendeine Art trösten sollte, aber ich konnte mich selbst kaum zusammenreißen.

Irgendwann brachten Bea und Peter Elise zu uns. Sie hatten sie mit zu sich nach Hause genommen, das war die vernünftigste Entscheidung gewesen. Ich umarmte meine Tochter und versuchte mich an einem aufmunternden Lächeln. Bea und Peter gaben mir einen Kuss, umarmten Stephen und sagten, wir sollten anrufen, wenn sie irgendetwas tun könnten.

Als sie gingen, tauchten Christine und Harry auf und fragten besorgt, ob sie helfen könnten. Harry verwickelte Jack in ein Gespräch. Ich konnte der Unterhaltung kaum folgen, aber Christine erzählte mir, dass er angeboten hatte, bei der Suche zu helfen. Ich wusste nicht, wie ich auf ihre Hilfsbereitschaft reagieren sollte. Sie umarmte mich verständnisvoll ein zweites Mal, bevor sie gingen.

Mein Verstand raste, und das Wort „Entführung“ schlich sich in meine Gedanken – ein Wort, das man kaum ohne „Lösegeld“ sagen kann. Ich wandte mich an Jack. „Falls sie entführt wurde, um Geld zu erpressen – glauben Sie, dass vielleicht jemand anruft?“

Mit ernstem Gesicht antwortete er: „Entführungen gegen Lösegeld sind nicht so häufig, wie die meisten Menschen denken, und da Sie nicht besonders reich oder berühmt sind, ist das ein unwahrscheinliches Szenario. Es kommt aber jemand vorbei, der ein Gerät an Ihr Telefon anschließt, nur für den Fall.“

Seine Antwort war kein Trost. Wenn Grace nicht für Geld entführt wurde, warum dann? Ich versuchte, meinen Verstand davon abzuhalten, an noch dunklere Orte zu reisen.

Ich musste auf die Toilette und stand auf, um nach oben zu gehen. Unser Haus war noch immer voll von uniformierten Polizisten – einer oder zwei grüßten mich mit einem knappen Nicken, als ich an ihnen vorbeiging. Die Badezimmertür war offen und ein Polizist kniete gerade vor der Badewanne, um die seitliche Abdeckung abzunehmen. Er hörte mich nicht kommen – es war viel zu laut im Haus. Entsetzt beobachtete ich, wie er mit einer Taschenlampe die finstere Enge hinter der Abdeckung ableuchtete. Als ich hörbar nach Luft schnappte, drehte er sich zu mir um und sah mich entschuldigend an. In diesem Moment wusste ich, dass die Wahrscheinlichkeit, Grace lebendig zu finden, gering war. Die Polizei suchte nach einer Leiche, nicht nach einem Kind.

Es war Detective Priestly, der unseren Hausarzt anrief. Jack blieb stundenlang bei uns – eine ruhige, unerschütterliche Präsenz, die am laufenden Band Kaffee kochte. Er hatte die Gabe, unauffällig im Hintergrund zu bleiben, um uns ein gewisses Maß an Privatsphäre zu gewähren, und gleichzeitig immer zur Stelle zu sein, um zu helfen und Fragen zu beantworten.

Meine Gefühle in dieser dunkelsten aller Zeiten kann ich kaum beschreiben: betäubt, verstört, verzweifelt … ein wilder Mix aus Emotionen. Jedes Mal, wenn das Telefon läutete oder ein Polizist den Raum betrat, sprang ich auf, erwartungsvoll und gleichzeitig voller Angst, irgendwelche schlechten Nachrichten zu erhalten.

Dr. Morrison war freundlich und verständnisvoll. Er war unser Hausarzt, seit wir geheiratet hatten. Er wollte uns beiden etwas geben, damit wir schlafen können, aber ich wollte an Schlaf nicht einmal denken, bis wir Gewissheit hatten … so oder so. Ein Döschen mit Schlaftabletten wurde auf den Kaminsims gestellt, für den Fall, dass wir es uns anders überlegten, und bevor er ging, gab uns der Arzt den sanften Rat, gut auf uns zu achten, für Elise – und für uns selbst.

Um Mitternacht waren wir völlig erschöpft, und Stephen nötigte mich beinahe dazu, eine Tablette zu nehmen und schlafen zu gehen. Ich war zu müde für eine Diskussion und krabbelte gehorsam – voll bekleidet – in unser Bett, wo ich meine letzten, kraftlosen Schluchzer mit dem Kissen dämpfte. Stephen blieb mit Jack Priestly unten. Ich glaube, sie schlugen sich die ganze Nacht mit kurzen Nickerchen um die Ohren, weil keiner der beiden das Telefon aus den Augen lassen wollte.

Ich zwang mich, die Augen zu schließen, um die Dunkelheit vor dem Fenster nicht sehen und nicht daran denken zu müssen, wie viel Angst Grace haben musste. Aber es ist unmöglich, nicht wahr? Die eigenen Gedanken zu kontrollieren. Je mehr man versucht, nicht an etwas zu denken, desto mehr denkt man daran.

Schließlich erfüllte die Pille ihren Zweck und ich fiel in einen unruhigen Schlaf. Falls ich träumte, konnte ich mich nicht daran erinnern. Das Nächste, woran ich mich erinnerte, war, wie ich aufwachte, als es fast schon hell war, und die kalte Nässe der Laken unter mir spürte. Als ich die Bettdecke zurückschlug, kam eine Blutlache zum Vorschein.

Ich schrie nach Stephen, und einen Augenblick später stand er neben mir. Wir wussten beide, was passiert war, und beweinten gemeinsam den Verlust unseres Babys und Grace’ Verschwinden.

Stephen wollte mich ins Krankenhaus begleiten, aber ich lehnte ab – ich wusste, dass ich wahrscheinlich aufgenommen und innerhalb weniger Stunden wieder entlassen werden würde, und ich wollte, dass jemand zu Hause war, wenn Grace zurückkommt. Außerdem hatte ich Angst, dass er eins und eins zusammenzählte und ihm klar wurde, dass es meine Schuld sein könnte. Dr. Morrison hätte erfahren müssen, dass ich schwanger war, bevor er uns Medikamente verschrieb. Ich hatte einfach nicht daran gedacht, es ihm zu sagen.

Eine tiefe Schuld ergriff mich meinem Baby und Grace gegenüber. Sie stand unter meiner Aufsicht, als sie verschwand – wie konnte ich das nur zulassen? Wie konnte ich mein Kind derartig im Stich lassen?

Die Stunden im Krankenhaus verschwammen hinter Tränen. Ich kann mich nicht erinnern, mich jemals so elend gefühlt zu haben. Die Schuld fraß mich auf und ließ nur Selbsthass übrig. Ich machte mir Vorwürfe für die Ereignisse der letzten vierundzwanzig Stunden. Es war alles meine Schuld, und es gab immer noch nichts Neues von Grace.

Stephen holte mich noch am selben Nachmittag ab. Als wir das Krankenhaus verließen, sah ich für einen Augenblick mein Spiegelbild in der Glastür. Es sah aus wie eine alte Dame an der Seite meines Ehemanns – es steckte kein Leben in mir, nicht der Hauch von Jugend, als ich neben ihm zum Auto schlurfte.

Die Kirchenglocken läuteten, als wir zu Hause ankamen, sie riefen die Gemeindemitglieder zum Abendlied. Das Geräusch klang hohl und weit entfernt. Nichts hatte sich verändert, als ich den Blick über unser Zuhause schweifen ließ, und doch hatte sich alles verändert.

Jack Priestly öffnete in frischer Kleidung die Tür. Stephen hatte mir erzählt, dass er nach Hause gefahren war, um ein paar Stunden zu schlafen. Jack schüttelte den Kopf, bevor wir überhaupt fragen konnten, ob es etwas Neues gab – es waren mehr als vierundzwanzig Stunden vergangen, und ich wusste, dass die Hoffnung mit jeder Minute, die verging, weiter schwand.

Während meines Krankenhausaufenthalts hatte die Polizei Stephen gebeten, im Fernsehen aufzutreten und die Bevölkerung um Informationen zu bitten – ein eilig arrangiertes Interview, das die Polizei sofort umsetzen wollte, solange die Chance bestand, dass sich irgendjemand an irgendetwas erinnerte. Er hatte mir im Auto auf dem Heimweg davon erzählt, und ich hatte deutlich bemerkt, dass diese emotionale Erfahrung ihm einiges abverlangt haben musste.

Wir sahen uns das Interview gemeinsam in den Vorabendnachrichten an. Der Beitrag begann mit Aufnahmen von Polizeitauchern, die den Fluss hinter unserem Haus durchsuchten, und ich schnappte nach Luft. Der Gedanke, dass Grace ertrunken sein könnte, erschütterte mich. Dass sie so nah hätte sein können, mich gebraucht hätte, und ich war nicht da gewesen – das war ein Szenario, das mir bis jetzt nicht in den Sinn gekommen war.

Ein kurzer Bericht ging Stephens Interview voraus – kurz, weil es nichts zu sagen gab. Kurz, weil nichts passiert war. Die Trauer meines Ehemanns war ihm auch hinter dem Flackern des Bildschirms deutlich anzusehen, als er um Hilfe jeglicher Art flehte. In mir breitete sich das Gefühl aus, ihn im Stich gelassen zu haben, weil ich nicht an seiner Seite gewesen war, und dieses grauenhafte Gefühl der Schuld verdichtete sich noch mehr.

Jack erklärte mir, warum sie mit dem Interview nicht auf mich warten konnten, und ich verstand das. Er erinnerte mich daran, dass immer noch Polizisten im Einsatz waren, um nach Grace zu suchen, und Harry Robinson hatte Nachbarn und Freunde mobilisiert, die die Suchaktion unterstützten. Die meisten Worte streiften meinen Verstand kaum, aber ich erinnerte mich daran, wie ich dachte, wie lieb das von Harry war, und dass man erst wusste, wer die wahren Freunde waren, wenn man in einer schrecklichen Situation Hilfe brauchte.

Jack ließ uns allein und ging in die Küche. Mehr Kaffee, nahm ich an, aber er kam fünfzehn Minuten später zurück, um uns zu sagen, dass das Essen fertig war. Während der letzten vierundzwanzig Stunden hatte ich nicht ein einziges Mal auch nur an Essen gedacht – ich hatte einfach nur überlebt und hin und wieder ohne jeden Genuss an einem Keks geknabbert, den ich mit Kaffee oder Tee runterspülte –, aber jetzt war ich plötzlich hungrig.

Stephen führte mich in die Küche, wo unser kleiner Frühstückstisch für drei gedeckt war und eine riesige Auflaufform in der Mitte stand, daneben ein Teller voll mit frischem Gemüse. Ich ließ meinen Blick zwischen meinem Ehemann und Jack pendeln.

„Wo kommt das denn her?“ Sofort fühlte ich mich noch schuldiger, weil mir klar wurde, dass ich es hätte sein müssen, die sich um das Essen für diese beiden Männer kümmerte.

„Ich würde gern behaupten, ich hätte das gemacht“, sagte Jack. „Aber meine Frau hat das für Sie hergerichtet. Sie dachte irgendwie, Essen wäre das Letzte, worum Sie sich jetzt Gedanken machen würden, also … voilà!“

„Das ist so freundlich – bitte richten Sie ihr meinen Dank aus, das ist so aufmerksam.“

Wir setzten uns und aßen in Stille. Das Essen war gut, und ich schaffte mehr, als ich gedacht hatte.

Jack bestand darauf, aufzuräumen und führte mich ins Wohnzimmer, wo ich mit einer Tasse Tee in der Hand dankbar auf das Sofa sank, völlig erschöpft, sowohl physisch als auch emotional. Ich bat um eine Schlaftablette, wollte einfach nur in ein betäubtes Vergessen sinken und der Realität entfliehen, schlafen und mir eine Pause gönnen von dem Albtraum, in dem wir gerade lebten.

Stephen brachte mich ins Bett und der Schlaf kam schnell – aber leider auch der nächste Morgen, an dem der Albtraum weiterging.