Leseprobe Verbrechen mit Meerblick | Ein fesselnder Cosy Crime über Ermittler in Rente

1

MOIRA

So beginnen die wenigsten Tage. Normalerweise wäre Moira um diese Zeit auf dem Weg nach Hause, nachdem sie frühmorgens schwimmen war, oder sie wäre bereits zurück im Haus, würde ihren Seesack in der Küche abstellen, bevor sie mit ihren drei Hunden zu einem flotten Spaziergang über das Gelände aufbrechen würde. Stattdessen sitzt sie auf dem Beifahrersitz von Ricks Knochendurchrüttler von einem Jeep, der durch die fast menschenleeren Straßen des Ocean Mist-Distrikts der The Homestead Seniorengemeinschaft rast. Sie fahren zum größten Haus in Paradise Palms – einem der Nachbarbezirke. Es ist eine der wenigen Villen, die hoch oben auf dem Bergkamm stehen, mit Blick über die gesamte Community. Diese Anwesen sind Premium-Immobilien – die teuersten Häuser in The Homestead. In der Gegend sind sie als „Millionaires’ Row“ bekannt.

Rick erreicht eine Kreuzung und biegt, ohne zu bremsen, rechts ab. Moira flucht leise und packt den Griff über dem Fenster, um das Gleichgewicht zu halten. Sie blickt zu Rick hinüber. „Du vermisst wohl die Verfolgungsjagden von früher.“

„Kann schon sein“, sagt er mit einem spitzbübischen Grinsen.

Obwohl sie es hasst, wie ein Martini auf einer James-Bond-Convention durchgeschüttelt zu werden, kann Moira nicht anders, als zu lächeln; Ricks Grinsen ist ziemlich entwaffnend. Der Jeep ist ein großes Fahrzeug, aber mit Rick auf dem Fahrersitz wirkt er wie ein Kinderspielzeug, das von einem Riesen gesteuert wird – einem Riesen, der Cargo-Shorts, ein marineblaues Polohemd und Sandalen trägt. Trotz der zweimonatigen medizinischen Zwangspause, die ihm seine Ärzte nach der Schussverletzung verordnet haben, hat Rick nichts von seiner muskulösen Masse verloren. Moira fragt sich, ob er sich den Anordnungen des Arztes widersetzt und heimlich trainiert. Sie würde es ihm zutrauen.

Als ob er spüren würde, dass sie ihn mustert, schaut Rick in ihre Richtung. „Du weißt doch, wer Olivia Hamilton Ziegler ist, oder?“

Moira schüttelt den Kopf. „Nie von ihr gehört.“

Rick hebt die Augenbrauen. „Im Ernst? Na, du wirst sie sicher wiedererkennen, wenn du sie siehst. Sie ist eine tolle Schauspielerin. Hat in einer ganzen Reihe von Kassenschlagern mitgespielt. Towards the Devil, After the Sun Dies, Jasmine Dreaming, A Bucketful of Courage, Tomorrowlandia – klingelt’s da bei dir?“

„Nicht wirklich“, sagt Moira und packt den Griff fester, als Rick den Jeep über ein paar Bodenwellen brettern lässt.

Rick starrt sie über seine Sonnenbrille hinweg an. „Du stehst nicht auf Filme? Wow.“

„Sind für mich keine große Sache. Mir ist ein gutes Buch oder das Fernsehprogramm einfach lieber, das ist alles.“

„Sicher.“ Er schiebt seine Sonnenbrille wieder nach oben. „Du wirst sie vielleicht nicht erkennen, aber du solltest wissen, dass sie in ihrer Glanzzeit ein großer Star war und es für viele Leute immer noch ist. Sie ist mit einem jüngeren Mann verheiratet, Cody Ziegler. Sie gelten als eines der glücklichsten Ehepaare der Filmindustrie.“

„Kapiert.“

Moira hat sich noch nie für Neuigkeiten aus der Promiwelt und deren Lebensstil interessiert.

All der Glanz, der Glamour und die Instagram-Filter gehen ihr auf die Nerven – das ist nicht das echte Leben, nicht einmal das echte Leben der Prominenten, sondern eine Scheinwelt, in der sie und ihr Leben perfekt aussehen sollen.

So ist das wahre Leben nicht. Im wahren Leben geht es darum, herauszufinden, wie viel Scheiße man verkraften kann, um dann noch mehr davon über sich ergehen zu lassen, bis man daran zerbricht.

Als DCI bei der Metropolitan Police in London hatte Moira aus erster Hand erfahren, wie sich das anfühlt. Deshalb hat sie sich hier in Florida zur Ruhe gesetzt: um zu vergessen und zu heilen. Bei allem, was in letzter Zeit passiert ist, bezweifelt sie allerdings, dass es in nächster Zeit eine Chance auf Vergessen oder Heilung geben wird. Aber immerhin hatte sie keine Panikattacke mehr, seit sie Anfang letzten Jahres hierher gezogen ist. Vor ein paar Monaten hatte sie einen Angstanfall, aber sie hatte es geschafft, ihre Atmung unter Kontrolle zu bringen und eine ausgewachsene Panikattacke zu vermeiden. Das ist ein Fortschritt, und sie freut sich über jeden noch so kleinen Sieg.

Rick biegt links in die Straße ein, die das Ende des Ocean Mist-Distrikts von The Homestead und den Anfang des Paradise Palms-Distrikts markiert. Zu ihrer Rechten befindet sich ein einstöckiges Gebäude – ein Pförtnerhaus, in dem das Sicherheitsteam untergebracht ist, das das Kommen und Gehen in der The Homestead Gemeinde überwacht. Rick lenkt auf die Fahrspur für Anwohner auf der anderen Seite, wird langsamer, damit die Kameras das Nummernschild des Jeeps erfassen können, und beschleunigt, sobald die Ampel von Rot auf Grün umschaltet. Er lenkt den Jeep durch eine Schikane und auf eine Hauptstraße, dann gibt er wieder Gas.

„Woher kennst du eigentlich diese Olivia Hamilton Ziegler?“, fragt Moira.

„Ich habe sie noch nie getroffen. Hank von der Überwachungszentrale hat ihr meine Nummer gegeben. Sie fragte ihn, wie sie mit den Leuten, die den Mord im Manatee-Park aufgeklärt haben, in Kontakt kommen könnte. Er gab ihr meine Handynummer. Sie rief an. Und hier sind wir nun.“

„Richtig.“

Es ist etwas über zwei Monate her, dass sie den Mord an einer jungen Frau aufgeklärt haben, deren Leiche Moira gefunden hatte – in einem Sportbecken im Manatee-Erholungspark treibend, umgeben von Tausenden von Dollarscheinen. Ex-DEA-Agent Rick, das britische Ehepaar Philip und Lizzie Sweetman – ein Ex-DCI und eine Ex-CSI – sowie Moira selbst, eine Ex-DCI, die auf verdeckte Ermittlungen spezialisiert war, hatten sich zusammengetan und den Fall vor der örtlichen Polizei gelöst.

Die lokalen Zeitungen und die Facebook-Seite der The Homestead Seniorengemeinschaft waren ganz verrückt nach dieser Geschichte. Moira vermutet, dass Olivia Hamilton Ziegler aus einer dieser Quellen von ihnen erfahren hat.

„Und ihr Mann ist verschwunden?“

Rick biegt links in einen breiten, von Bäumen gesäumten Boulevard ein. Er nickt.

„Das hat sie gesagt.“

„Und sie will unsere Hilfe?“

„Auch das hat sie gesagt.“ Es liegt ein Lächeln in seiner Stimme, als er es ausspricht. „Und dass es dringend sei.“

Moira nickt. Sie kennt dieses Gefühl: die Aussicht auf einen neuen Fall. Es fühlt sich gut an. Heute ist kein normaler Tag, und Moira ist dankbar dafür. Der Ruhestand kann ziemlich langweilig sein, und im Moment hat sie nur eine Untersuchung am Laufen. „Ein Enthüllungsjournalist hat mich kontaktiert.“

Ricks Kiefer spannt sich an. Er sieht zu ihr herüber. „Wegen deiner Theorie über die Nachrichtensperre?“

„Es ist mehr als nur eine Theorie. Die Leitung von The Homestead unterbindet systematisch alle negativen Berichte oder aufkommende Fragen. Wir haben gesehen, wie sie auf den Mord im Manatee-Park und die Einbrüche davor reagiert haben. Außerdem hat dieser Journalist selbst die Erfahrung gemacht, dass seine Story abgewürgt wurde.“

„Weißt du, welche Story das war?“, fragt Rick.

Moira schüttelt den Kopf. „Das hat er nicht gesagt. Er meinte, er wolle die Details lieber persönlich als am Telefon bereden.“

„Das ist clever.“ Rick fährt sich mit der Hand über die Stoppeln an seinem Kinn.

Er lenkt den Jeep um eine weitere Kurve und fährt einen steilen Hang hinauf. „Aber sei wachsam, okay? Das Management von The Homestead scheint wirklich großen Einfluss zu haben – jedenfalls auf die Presse, vielleicht sogar auf die Cops. Du solltest vorsichtig vorgehen, weißt du, was ich meine?“

„Ich habe noch gar nicht entschieden, ob ich mich überhaupt mit dem Journalisten treffen werde“, sagt Moira und kämpft gegen den Drang an, Rick zu sagen, dass sie auf sich selbst aufpassen kann. Sie weiß, dass sie das nicht muss, er mahnt zur Vorsicht, weil er sich um sie sorgt, nicht weil er sie für unfähig hält. Sie weiß, dass Rick recht hat und sie aufpassen muss. Mehr, als er es sich vorstellen kann. Aus der Art und Weise, wie die Presse vor ein paar Monaten über den Mord im Manatee-Park berichtete – erst als Unfall und dann als Verbrechen, das vermeintlich von jemandem von außerhalb begangen worden war, obwohl es in Wirklichkeit ein Anwohner von The Homestead gewesen war, weiß sie, dass die Leitung von The Homestead Einfluss hat. Die Polizei wirkte desinteressiert an dem Mordfall und sie vermutet, dass Druck auf sie ausgeübt worden war, die Ermittlungen zu stoppen. Auch die Informationen, die Rick von Hawk, seinem Kontaktmann bei der Strafverfolgung, erhalten hat, deuten darauf hin, dass die Polizei an diesem Ort auf seltsame Weise arbeitet.

Seitdem hat es sich Moira zur Aufgabe gemacht, die Wahrheit herauszufinden, aber hinter die Ruhestandsrethorik von glücklich bis ans Lebensende zu blicken, hat sich als schwieriger erwiesen, als zu erwarten war. Dieser Journalist könnte ihr helfen, tiefer zu graben, aber ihn einzubeziehen, ist ein Risiko. Was, wenn er neugierig wird und mehr über sie erfahren will? Jeder hat Geheimnisse, und manche sind tödlicher als andere. Was, wenn er herausfindet, dass ‚Moira Flynn’ gar nicht existiert? Sie will nicht wieder untertauchen müssen. Rick biegt scharf von der Straße ab und bringt das Auto zum Stehen. „Da sind wir.“

Aus ihren Gedanken gerissen, blickt Moira auf das hohe, schwarze Metalltor, das ihnen den Weg versperrt. Oben am Tor und entlang der hohen Mauern sind Stacheln angebracht. An beiden Seiten des Tors starren Überwachungskameras auf sie herab. „Das sind eine Menge Sicherheitsvorkehrungen“, bemerkt Moira.

„Allerdings“, antwortet Rick, während er das Fenster herunterkurbelt. Er drückt auf den Knopf der Gegensprechanlage, schaut in die Kamera und sagt: „Rick Denver und Moira Flynn. Wir möchten zu Mrs. Hamilton Ziegler.“

Aus der Sprechanlage kommt keine Antwort, aber wenige Sekunden später öffnet sich das Tor langsam.

„Ich schätze, wir dürfen rein“, sagt Moira, blinzelt in die Sonne und schaut durch das Tor und die lange Auffahrt hinauf.

Während Rick durchfährt, sieht Moira links von der Auffahrt ein kleines Torhaus und rechts hinter den ordentlich gemähten Rasenflächen einen doppelten Tennisplatz. Die Auffahrt biegt nach links ab, und Rick bleibt vor einem kunstvollen Brunnen stehen, in dem Wasser aus drei weißen Marmorpferden in die Höhe schießt, bevor es in das Becken darunter hinabstürzt.

Das Wasser sieht verlockend aus. Die Temperatur liegt bereits bei über 30 Grad, ungewöhnlich warm für diese Jahreszeit, selbst für Zentralflorida. Als sie aus dem Jeep steigt und Rick zum Haus folgt, wobei weißer Kies unter ihren Füßen knirscht, spürt Moira, wie sich Schweiß auf ihrer Haut bildet. In diesem Moment wünscht sie sich, das langärmelige T-Shirt aus schwerer Baumwolle, das sie trägt, wäre etwas leichter.

Als sie die Eingangstreppe erreichen, bleibt sie einen Moment stehen und blickt das Haus hinauf, nimmt das gewölbte Glasatrium wahr, das von weiß getünchten Eichenpfeilern getragen wird, die doppelstöckigen Fenster und die Türmchen – eines an jeder Ecke der Villa – und stößt einen langen Pfiff aus. Die Häuser hier oben in der Millionaires’ Row sind wirklich beeindruckend.

Rick sieht sie lächelnd an. „Cool, oder?“

„Interessant, wie die andere Hälfte so lebt“, sagt Moira und folgt ihm die drei Marmorstufen hinauf zu der gewaltigen Eingangstür aus Eichenholz, doppelt so breit und doppelt so hoch wie gewöhnlich.

Er nickt, tritt vor die Tür und klopft zweimal entschlossen mit dem Türklopfer. Seine Augen funkeln, als er sagt: „Ja, wirklich interessant.“

Moira versucht, sich von dem Funkeln nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. Sie ignoriert das elektrisierende Gefühl, das sie verspürt, als Rick ihrem Blick einen Moment zu lange standhält. Sie ignoriert, wie seine Bräune seine silberne Tolle betont und die helleren Flecken in seinen dunkelbraunen Augen hervorhebt. Sie bricht den Blickkontakt ab; sie kann es sich nicht leisten, ihm zu nahe zu kommen. Sie wird nie wieder ihr Schutzschild komplett sinken lassen können, egal vor wem, nicht einmal vor Rick. Es ist zu gefährlich, für sie beide.

Ihr Handy vibriert. Kurz darauf ertönt der elektronische Klingelton. Sie zieht das Telefon aus ihrer Tasche und schaut auf die Nummer auf dem Display. Sie erkennt die Nummer nicht, und es ist auch nicht der Journalist – seine Nummer hat sie bereits gespeichert. Wahrscheinlich ist es ein Werbeanrufer, der ihr etwas verkaufen möchte, dass sie weder benötigt noch möchte. Sie lehnt den Anruf ab, schaltet den Klingelton aus und steckt das Telefon zurück in ihre Tasche. Sie muss sich darauf konzentrieren, so viel wie möglich über diese Schauspielerin Olivia Hamilton Ziegler herauszufinden und warum sie glaubt, dass sie ihr helfen können.

Hinter der Tür ist eine Reihe von Klickgeräuschen zu hören, als Schlösser und Riegel geöffnet werden. Angesichts der zahlreichen Schlösser und Kameras ist klar, dass Olivia Hamilton Ziegler sehr auf Sicherheit bedacht ist. Moira wirft Rick einen Blick zu. „Das ist ein großes Haus. Lebt sie hier allein mit ihrem Mann?“

Rick zuckt mit den Schultern. „Das werden wir gleich herausfinden.“ Er lächelt sein breites, großzügiges Lächeln, und Moiras Bauch kribbelt ein wenig.

In diesem Moment öffnet sich die Tür.

2

MOIRA

„Cody ist letzte Nacht nicht nach Hause gekommen.“ Olivia Hamilton Ziegler presst die Hände zusammen, ihre Fingerknöchel werden weiß vor Anspannung. „Und er hat mir nicht gesagt, dass er über Nacht wegbleibt. Das ist noch nie passiert. Niemals. In all den Jahren, die wir verheiratet sind.“

Sie sitzen in der Küche an der Kücheninsel, die den Essbereich von den Sofas am anderen Ende des Raumes trennt. Es ist ein riesiger Raum. Das gesamte Erdgeschoss meines Hauses ist wahrscheinlich kleiner als dieser eine Raum, denkt Moira. Obwohl die Schränke dunkelblau sind, wirkt der Raum durch die weißen Wände, die marmornen Arbeitsplatten und Rückwände sowie die Glasfalttüren, durch die viel Licht hereinfällt, hell und luftig. Die Wohnung ist zweifellos luxuriös, aber auch wohnlich. Gemütlich. Der Stapel Post am Ende der Arbeitsplatte, die Teller und Tassen auf dem Abtropfgestell neben der Spüle und die Kühlschrankmagnete mit Motiven aus aller Welt, die kreuz und quer auf der Vorderseite des massiven Doppelkühlschranks haften, geben Hinweise auf die Menschen, die hier leben.

Das hat Moira von einem Promi-Haushalt nicht erwartet. Und auch Olivia Hamilton Ziegler ist nicht das, was Moira erwartet hat. Erstens wirkt sie eher wie eine ganz normale Person als wie ein Filmstar. Gestresst, ja, aber bodenständig. Echt. Jemand, den man einfach sympathisch finden muss. Und zweitens ist sie auch wie eine ganz normale Person gekleidet – Blue Jeans, ein weißes Hemd, minimaler Schmuck: Diamantohrstecker und ihr Ehering. Ihr Make-up ist natürlich, und ihr weißblondes Haar ist zu einem langen Bob geschnitten, der ihr Kinn umspielt. Sie ist barfuß, und das Aufsehenerregendste an ihr sind ihre Zehennägel, die in leuchtendem Fuchsia lackiert sind. Es ist schwer zu sagen, wie alt sie ist, aber Moira schätzt sie auf Mitte sechzig.

„Bitte schön“, sagt Olivia, stellt zwei Tassen Kaffee auf die Arbeitsplatte und schiebt sie zu Moira und Rick hinüber. „Das ist der reinste Raketentreibstoff. Aber anders kann ich ihn nicht zubereiten.“

„Das ist perfekt, vielen Dank, Ma’am“, sagt Rick und dreht den Henkel der Tasse nach rechts. Er wartet, bis Olivia sich ihnen gegenüber hingesetzt hat, bevor er fragt: „Also, wie können wir Ihnen helfen?“

Olivia holt tief Luft. Ihre Augen werden feucht. „Wie ich bereits sagte, geht es um meinen Mann. Er wird vermisst und ich kann ihn nicht erreichen.“

„Haben Sie die Polizei verständigt?“, fragt Rick mit sanfter, freundlicher Stimme.

Olivia nickt. „Ja, aber sie haben mich behandelt, als wäre ich eine hysterische Ziege. Und, verdammt, ich war kurz davor, mich am Telefon auch so zu verhalten. Sie haben mich einfach nicht ernst genommen. Sie haben mir nicht zugehört. Sie sagten mir, er sei ein erwachsener Mann und würde wahrscheinlich bei einem Freund übernachten oder einen Ausflug machen, den ich vergessen hätte. In einem Tonfall, als würde ich ihre Zeit verschwenden und wegen nichts so ein Theater machen, wissen Sie? Das war respektlos.“

Moira weiß, wovon sie spricht. Sie hat das Gleiche bei dem Mordfall im Manatee-Park erlebt – die Cops taten so, als wären sie und ihre Freunde das Problem und nicht der Mörder der jungen Frau im Pool. „Es tut mir leid, dass Sie das durchmachen mussten.“

„Danke.“ Olivia zieht ein Taschentuch aus ihrem Ärmel und tupft sich die Augen ab. „Es tut mir leid, ich …“

„Bitte entschuldigen Sie sich nicht“, sagt Rick. „Wie sind Sie mit der Polizei verblieben?“

Olivia tupft sich weiter unter den Augen mit dem Taschentuch ab. „Sie sagten, sie würden jemanden vorbeischicken.“

Moira wirft Rick einen Blick zu. „Die Polizei kommt her?“

„Ja“, sagt Olivia. „Deshalb wollte ich, dass sie sofort herkommt. Damit Sie da sind, wenn die Polizei eintrifft.“

Rick runzelt die Stirn. „Aber wenn Sie sie verständigt haben, warum brauchen Sie dann …“

„Okay, hören Sie. Ich mag keine Cops. Ich habe sie verständigt, ja, weil ich dachte, dass ich das in dieser Situation tun muss, aber ich traue ihnen kein bisschen.“ Sie schaut von Rick zu Moira. Sie atmet tief aus. „Am Anfang meiner Karriere, wissen Sie, vor etwa einer Million Jahren, wurde ich angehalten, weil mein Rücklicht nicht funktionierte. Der Verkehrspolizist hätte eine Verwarnung aussprechen oder mir ein Bußgeld aufbrummen können oder was auch immer, aber das haben er und sein Partner nicht getan. Sie wollten einen Alkoholtest machen und sagten, sie müssten mich dafür nach Downtown mitnehmen. Ich sagte ihnen, dass ich gerade auf dem Weg nach Hause wäre, nach einem ganzen Tag am Set, und dass ich nichts getrunken hatte. Aber diese Grünschnäbel von Cops hatten mich erkannt und schienen entschlossen, eine große Show daraus zu machen. Ich musste mein Auto am Rand des Highways stehen lassen, und auf dem Rücksitz des Polizeiautos haben sie mich zum Revier gebracht. Als wir ankamen, führten sie mich in Handschellen durch den Haupteingang hinein, wo die Paparazzi schon warteten. Es war fast 2 Uhr morgens und es gab keinen Grund, warum all diese Fotografen dort hätten sein sollen. Am nächsten Tag stand in der Presse, ich sei wegen Trunkenheit am Steuer verhaftet worden. Das war Blödsinn. Es wurde keine Anklage gegen mich erhoben, weil ich keinen Alkohol im Blut hatte. Aber das war den Cops egal. Sie hatten mich reingelegt.“

Moira schüttelt den Kopf. „Arschlöcher.“

„Das waren sie ganz sicher“, sagt Olivia. „Seitdem habe ich nie wieder einem Cop getraut.“

Rick lächelt verlegen. „Sie wissen aber, dass wir ehemalige Cops sind, oder?“

Olivia nickt. „Aber keine, die auf Streife gehen. Ich habe mich informiert. Sie, Rick Denver, kommen aus einem anderen Bundesstaat und haben Ihre gesamte Karriere bei der DEA verbracht.“ Sie sieht Moira an. „Sie sind Britin und haben als Detective in London gearbeitet. Und Ihre beiden Freunde sind ein weiterer Detective und eine CSI. Ich habe die Briten schon immer gemocht – Sie haben gute Manieren.“ Olivia lächelt. „Und außerdem sind Sie alle im Ruhestand. Ich bezweifle, dass Sie Kontakte zu Paparazzi haben.“

„Ich kann Ihnen versichern, dass wir keine haben“, sagt Rick.

„Erzählen Sie uns etwas über Ihren Mann“, sagt Moira. „Wann haben Sie bemerkt, dass er verschwunden ist?“

„Ich habe mir Sorgen gemacht, als er gestern Abend um zehn noch nicht zu Hause war. Sicher, er arbeitet oft lange oder geht zum Essen, aber er sagt mir immer Bescheid. Als er gestern Abend nicht nach Hause kam und auch nicht angerufen hat, fand ich das seltsam.“

„Und haben Sie ihn angerufen?“

„Natürlich, aber es sprang sofort die Mailbox an. Das fand ich ungewöhnlich – Cody hat sein Handy immer eingeschaltet und aufgeladen. Die Filmindustrie schläft nie, deshalb ist er mit dem Ding verwachsen. Dass ich direkt auf der Mailbox landete, war merkwürdig.“ Sie seufzt. „Wissen Sie, ich habe gestern Abend darüber nachgedacht, die Cops zu rufen, aber ich dachte mir, die würden sagen, er wäre wahrscheinlich unterwegs und vergnügt sich, also habe ich gewartet. Vielleicht hätte ich auf mein Bauchgefühl hören sollen.“

„Ihr Mann ist in der Filmindustrie?“, fragt Rick.

„Er macht Independent-Filme, ganz anders als Hollywood“, erklärt Olivia etwas spitzzüngig. „Er ist Produzent und Eigentümer der Firma – DVIZION. Ihm geht es um ethisches Filmemachen und die reine Kunst der bewegten Bilder, nicht darum, um jeden Preis Kassenschlager zu produzieren. Das ist ehrlich gesagt sehr erfrischend, und er hat eine große Fangemeinde, die ihn und die Filme, die er mit produziert, verehrt.“

In Moiras Tasche vibriert es. Es ist ihr Handy. Moira ignoriert es und achtet auf Olivias Wortwahl – Verehrung – und denkt sofort an verrückte Fans und besessene Stalker. Das erwähnt sie Olivia gegenüber jedoch nicht. Stattdessen fragt sie: „Wissen Sie, wann er gestern früh das Haus verlassen hat?“

„Gegen zehn, halb elf würde ich sagen. Er war früh in seinem Arbeitszimmer, und als ich um halb zehn mit einer Freundin zum Einkaufen ging, hörte ich ihn noch telefonieren, also war er wohl noch da. Aber er hatte mir gesagt, dass er um halb zwölf zu einem Termin ins Büro fährt, also glaube ich nicht, dass er später als halb elf losgefahren ist.“

„Und wo ist sein Büro?“, fragt Moira.

„Es liegt in Richtung Orlando“, sagt Olivia. „Die Fahrt dauert etwa vierzig Minuten.“

Das Summen in Moiras Tasche hört auf. Sie atmet auf. „War gestern Morgen noch jemand hier, der Ihren Mann vielleicht hat wegfahren sehen?“

„Nein, wir leben allein, obwohl fast jeden Tag jemand vorbeikommt. Dienstags und donnerstags kommt der Gärtner, montags und freitags unsere Haushälterin und freitags außerdem der Poolreiniger.“

Gestern war Mittwoch. Das scheint der einzige Wochentag zu sein, an dem niemand vorbeikommt. Moira fragt sich, ob das relevant ist. Sie vermutet, dass es das ist. „Und das Pförtnerhaus ist nicht besetzt?“

Olivia zieht scharf die Luft ein. Beißt sich auf die Lippe. Nickt. „Nein. Nicht mehr.“

Moira fängt Ricks Blick auf. Olivias Stressreaktion bei der Erwähnung des Pförtnerhauses ist interessant. Moira möchte mehr wissen. Sie will gerade eine weitere Frage stellen, doch ihr Telefon vibriert erneut.

Rick kommt ihr zuvor. „Und ist das Auto Ihres Mannes auch verschwunden?“

„Ja. Es ist nicht hier, und als ich heute Morgen als Erstes in seinem Büro angerufen habe, ist seine Assistentin – Donna Neale, eine sehr nette Dame – zum Parkplatz gegangen und hat nachgesehen. Sie sagte, dass es dort auch nicht steht.“

Moira versucht, sich auf Olivias Worte zu konzentrieren, aber das Vibrieren in ihrer Tasche lenkt sie ab. Sie hätte das Telefon besser ganz ausschalten sollen, statt nur den Klingelton. Sie fragt sich, ob es derselbe Anrufer ist, wie auf der Fahrt hierher und vorhin wieder – die unbekannte Nummer. Und wenn ja, warum ruft er dann so schnell wieder an? Sie hat ein ungutes Gefühl.

„Hat Cody so etwas schon einmal gemacht?“, fragt Rick.

„Nein. Niemals.“ Olivia schüttelt den Kopf. „Irgendetwas stimmt nicht, ich spüre es. Cody ist ein guter Kerl, er würde niemals einfach so verschwinden, ohne mir Bescheid zu sagen.“ Ihre Stimme versagt. „Jemand ist dafür verantwortlich. Jemand hat ihn entführt. Wir müssen ihn finden.“

Moira fällt auf, dass Olivia kein einziges Mal gesagt hat, dass sie ihren Mann liebt. Ihrer Erfahrung nach betonen die Ehefrauen oder Ehemänner von Vermissten immer, wie sehr sie ihren verlorenen Partner lieben, selbst wenn sie selbst hinter dem Verschwinden stecken. Olivias Reaktion ist anders. Ihre Angst scheint echt zu sein, aber irgendetwas an der Situation kommt ihr nicht ganz richtig vor. Moira wirft Rick einen Blick zu. Sie wettet, dass er dasselbe denkt: Was verschweigt Olivia ihnen? Sie öffnet den Mund, um eine Frage zu stellen, aber ihre Worte werden von einem lauten Alarm übertönt, der aus einer Gegensprechanlage an der Tür ertönt.

„Das ist das Haupttor“, sagt Olivia mit weit aufgerissenen Augen und plötzlich voller Angst. Sie eilt zur Gegensprechanlage, späht auf den kleinen Bildschirm und drückt dann einen Knopf auf dem Bedienfeld darunter. Sie dreht sich zu Moira und Rick um, wirft einen Blick auf die Haustür und schaudert. „Die Cops sind da.“

3

MOIRA

Die Atmosphäre ist völlig anders, seit die Polizisten da sind. Anstatt sie in die Küche zu führen, hat Olivia sie in das formellere Esszimmer gebracht. Jetzt sitzen sie alle an dem riesigen Eichentisch – Olivia, Moira und Rick auf der einen Seite und die beiden uniformierten Beamten auf der anderen. Olivias Verhalten hat sich verändert. Sie ist spröde und förmlich. Die Atmosphäre ist gereizt, obwohl sie noch nicht einmal die Vorstellungsrunde hinter sich haben. Die Anspannung lässt Moira mit den Zähnen knirschen.

In diesem Moment spürt sie ihr Handy wieder in ihrer Tasche vibrieren. Moira versucht, es zu ignorieren, und beobachtet den älteren Polizisten, wie er ein Notizbuch herausholt, es auf den Tisch legt und eine neue Seite aufschlägt. Er ist stämmig gebaut, hat einen entschlossenen Blick, blondes, kurzgeschnittenes Haar und eine rötliche Gesichtsfarbe, die eher auf regelmäßigen Alkoholkonsum und Fast Food als auf eine aktive Lebensweise hindeutet. Moira schätzt ihn auf etwa vierzig.

Der Beamte räuspert sich. „Ich bin Officer Schofield, Ma’am, und meine Kollegin hier ist Officer Rodriguez.“

Officer Rodriguez lächelt. Sie unterscheidet sich sehr von ihrem Kollegen – zierlich, wahrscheinlich in den Zwanzigern, mit langen braunen Haaren, die zu einem tiefsitzenden Pferdeschwanz zusammengebunden sind. „Ich freue mich, Sie …“

„Wir sind hier, weil Sie uns heute Morgen angerufen haben“, fährt Schofield fort, ohne auf Rodriguez zu achten, die ihn irritiert ansieht. „Es geht um Ihren Mann.“

Olivia setzt sich aufrechter hin. „Wie ich bereits am Telefon gesagt habe, wird mein Mann vermisst.“

„Können Sie uns sagen, wann und wo Sie ihn zuletzt gesehen haben?“, fragt Rodriguez. Ihr Tonfall ist sanfter als der ihres Kollegen, mitfühlender.

Während Olivia den zeitlichen Ablauf schildert, bemerkt Moira, dass Olivia sie und Rick den Polizisten nicht vorgestellt hat. Das stört sie nicht. Es ist einfacher, wenn die Polizisten ihre Namen nicht kennen; das verringert die Wahrscheinlichkeit, dass sie herausfinden, dass sie den Mord im Manatee-Park aufgeklärt haben. Zwischen Philip und dem leitenden Ermittler in diesem Fall – Detective James R. Golding – herrschte böses Blut. Wenn diese Cops den Zusammenhang herstellen, könnte das die Spannung noch weiter erhöhen.

Wieder beginnt ihr Handy in ihrer Tasche zu vibrieren. Moira beißt die Zähne zusammen. Sie möchte das Telefon während des Gesprächs nicht herausholen, aber es lenkt sie wirklich ab. Nach achtmaligem Vibrieren schaltet es auf die Mailbox um. Moira wirft Rick einen Blick zu. Sein Gesichtsausdruck ist neutral. Seine Augen sind auf Olivia gerichtet, die ihre Geschichte erzählt.

„… und wie ich bereits sagte, sein Auto ist weg und Anrufe gehen direkt auf die Mailbox. Als ich versucht habe, ihn über die Finde mein Handy-App zu orten, wurde das Telefon nicht angezeigt, also nehme ich an, dass es ausgeschaltet ist.“

„Was für ein Auto fährt er?“, fragt Schofield.

„Einen silbernen Lexus“, sagt Olivia. „Das Kennzeichen ist personalisiert – 100 CTZ. Auf dem Kennzeichen sind Palmen abgebildet, also kein Standardkennzeichen.“

Schofield nickt. „Okay. Und erzählen Sie mir von Ihrem Mann – Alter, Aussehen, solche Dinge.“

„Er ist etwa 1,80 m groß, athletisch, 55 Jahre alt. Attraktiv.“ Olivia steht auf, nimmt ein silbergerahmtes Foto von der Kommode hinter ihnen, bringt es zum Tisch zurück und stellt es vor die Polizisten. „Das wurde letzten Frühling aufgenommen.“

Schofield betrachtet das gerahmte Foto von Cody und Olivia, die nebeneinander unter blühenden Kirschbäumen stehen. Er wirft einen Blick auf Rodriguez. Er hebt die Augenbrauen. Olivia kneift die Augen zusammen, als sie den Blick zwischen den beiden Beamten sieht. Sie schaut von Schofield zu Rodriguez. „Wollen Sie sich denn nichts notieren?“

„Ich habe ein gutes Gedächtnis, Ma’am“, sagt Rodriguez.

Olivia wendet sich an Schofield. „Und Sie?“

„Mein Gedächtnis ist in Ordnung“, sagt er mit mürrischem Tonfall.

Olivia runzelt die Stirn. „Ihr Notizbuch, das da auf dem Tisch liegt, sagt mir etwas anderes.“

„Hören Sie, Ma’am. Ihr Mann ist erwachsen, und er ist kaum länger als 24 Stunden weg. Nach dem, was Sie uns erzählt haben, gibt es keine Anzeichen für ein Verbrechen. Es scheint wahrscheinlicher, dass er auf Geschäftsreise ist oder einen Abend unterwegs war, der sich bis in die Nacht hineingezogen hat, als dass ihm etwas Schlimmes zugestoßen ist. Er ist ein Mann in den besten Jahren, ein attraktiver Mann, wie Sie selbst sagen. Meiner Erfahrung nach erzählen Ehemänner ihren Frauen nicht immer alles, was sie tun.“

Olivia schnaubt. „Sie glauben mir also nicht. Sie denken, er betrügt mich?“

Rodriguez schüttelt leicht den Kopf. „Was mein Kollege meint, ist …“

„Was Ihre Kollegin meint, ist, dass zwischen mir und meinem Mann ein großer Altersunterschied besteht und er deshalb wahrscheinlich eine andere Frau hat.“ Olivias Stimme zittert, als sie das Wort „Frau“ ausspricht. Sie zeigt mit dem Finger auf Schofield und macht dabei stechende Bewegungen, wobei ihre Stimme vor Wut immer lauter und höher wird. „Ja, es gibt einen Altersunterschied, aber wir sind seit fünfunddreißig Jahren glücklich verheiratet. Ich bin vielleicht fünfundachtzig Jahre alt, aber unterstehen Sie sich, mich nicht für voll zu nehmen. Wagen Sie es ja nicht.“

Moira ist überrascht. Sie hatte Olivia auf zwanzig Jahre jünger geschätzt. Sie hat offensichtlich etwas machen lassen, aber sehr dezent. Und Hut ab vor ihr, dass sie einen dreißig Jahre jüngeren Mann hat. Warum auch nicht?

Schofield zuckt mit den Schultern. „Wie ich schon sagte, Ma’am, Ihr Mann ist erwachsen und es gibt keine Anzeichen für ein Verbrechen. Ich empfehle Ihnen, achtundvierzig Stunden abzuwarten, und wenn er bis dahin nicht nach Hause gekommen ist oder sich gemeldet hat, rufen Sie mich an.“

Olivia verengt die Augen zu Schlitzen. „Und wenn ich Ihrer Empfehlung nicht folgen möchte?“

Rodriguez sieht sie mitfühlend an. „Wir können …“

„Ma’am. Ich schlage vor, dass Sie es tun“ sagt Schofield und wirft Rodriguez einen bösen Blick zu, die daraufhin errötet. Er zieht eine Karte aus seiner Brusttasche und schiebt sie Olivia über den Tisch. „Unter diesen Nummern können Sie mich erreichen, aber erst nach achtundvierzig Stunden, verstanden?“

„Absolut“, sagt Olivia mit sarkastischem Unterton. „Sie glauben mir nicht, dass mein Mann in Schwierigkeiten steckt, und es ist Ihnen egal, wenn es so ist.“

Rodriguez schüttelt den Kopf. „Nein, Ma’am, das ist nicht, was mein …“

„Doch, genau das hat er gemeint, und ich werde nicht tolerieren, dass Sie in mein Haus kommen und mich beleidigen.“ Olivias Stimme ist eiskalt. Sie steht auf und deutet zur Tür. „Es ist Zeit für Sie zu gehen.“

Als Olivia die beiden Polizisten zur Haustür hinausbegleitet, bleiben Moira und Rick zurück. Moira zieht ihr Handy aus der Tasche und schaut auf das Display. Sie hat fünf Anrufe in Abwesenheit, alle von derselben Nummer, die sie nicht kennt. Wieder wurde keine Nachricht hinterlassen.

Sie runzelt die Stirn. Wenn jemand so dringend mit ihr sprechen will, warum hinterlässt er dann keine Nachricht? Das ergibt keinen Sinn. Das ungute Gefühl, das sie bereits zuvor verspürt hat, wird stärker. Fünf Anrufe in so kurzer Zeit scheinen selbst für den hartnäckigsten Werbeanrufer übertrieben. Moira möchte wissen, was der Anrufer will, aber sie kann es nicht riskieren, zurückzurufen oder den Anruf anzunehmen, bevor sie nicht weiß, wer es ist. Das ist zu gefährlich. Sie filtert ihre Anrufe aus gutem Grund: Sie muss ihre Privatsphäre schützen, um sich selbst zu schützen.

„Alles in Ordnung?“, fragt Rick. Er sieht sie besorgt an.

„Ja, alles bestens.“ Moira zwingt sich zu einem Lächeln. Sie will Rick nicht beunruhigen und steckt ihr Handy wieder in die Tasche. „Sollen wir uns mit Olivia besprechen? Es ist ziemlich hitzig geworden.“

„Gute Idee“, sagt Rick. Während Moira ins Atrium geht, um Olivia zu suchen, verdrängt sie die Gedanken an die verpassten Anrufe. Im Moment kann sie nichts tun, und sie muss sich auf Olivia und den Fall konzentrieren.

Wenn diese mysteriöse Person mit ihr sprechen will, muss sie sich zuerst zu erkennen geben.

4

RICK

Nachdem die Polizei fort ist, führt Olivia Rick und Moira aus dem Esszimmer und durch einen breiten Flur zu Cody Zieglers Arbeitszimmer. Auf beiden Seiten des Flurs stehen raumhohe Bücherregale, die bis unter die Decke mit Büchern gefüllt sind; es müssen Tausende sein.

Rick wirft einen Blick auf Moira – er weiß, dass sie gute Bücher mag –, aber sie schaut auf den Parkettboden. Sie ist abgelenkt. Er sieht an ihrer angespannten Miene, dass sie sich Sorgen macht, obwohl sie seine Frage, ob alles in Ordnung sei, bejahte. Er versucht, sich nichts daraus zu machen. Moira ist eine sehr zurückhaltende Person, und er will sich nicht in ihre Angelegenheiten einmischen. Trotzdem wünscht er sich irgendwie, dass sie mit ihm darüber reden würde. Vielleicht ist es eine britische Eigenart. Die Briten sind bekannt dafür, dass sie eher verschlossen sind. Aber manchmal, wenn sie alleine sind und sich unterhalten, hat er das Gefühl, dass Moira langsam Vertrauen zu ihm fasst und sich ein wenig öffnet.

„Hier entlang, ganz am Ende“, sagt Olivia und deutet den Flur hinunter.

„Super“, sagt Rick und hält inne, um Moira vorzulassen.

Moira sagt nichts. Als sie an ihm vorbeigeht, wirkt sie tief in Gedanken versunken. Sie gehen weiter den Flur entlang.

Während er geht, denkt Rick an den Besuch von Moira im Krankenhaus vor ein paar Monaten und an den Abend, als sie etwa eine Woche später am Meer entlang spazierten. Damals hatte sie sich ihm geöffnet und ihm von ihrem Leben in London erzählt, von dem Einsatz, der schiefgegangen war und sie in den Ruhestand gezwungen hatte. Er glaubt, dass er sie besser kennt als Philip und Lizzie, aber oft fragt er sich, ob er vielleicht nur an der Oberfläche gekratzt hat. Ihre Art ist faszinierend und macht ihn neugierig. Vielleicht ist es gerade dieses Geheimnis, das sie so anziehend macht.

„Die Polizei wird mir nicht helfen, oder?“, fragt Olivia und dreht sich zu Moira und Rick um, wobei ihr Tonfall vermuten lässt, dass sie die Antwort bereits kennt.

Rick schüttelt den Kopf. Die Nachwuchspolizistin Rodriguez schien nett zu sein, aber ihr Partner Schofield scherte sich keinen Deut um Cody Ziegler und ließ Rodriguez nicht zu Wort kommen. Rick hasst solche Typen. „Nicht vor Ablauf von mindestens achtundvierzig Stunden.“

„Und wenn wir ehrlich sind, wahrscheinlich auch dann nicht.“ Olivia runzelt die Stirn. „Die dachten, ich wäre nur eine hysterische Frau, die ihre Zeit verschwendet.“

„Officer Rodriguez hat Sie ernst genommen“, sagt Moira.

Olivia denkt einen Moment über Moiras Einwand nach und nickt dann. „Ja, das stimmt, das hat sie. Aber ihr Grobian von einem Partner hat mich überhaupt nicht ernst genommen und sich über sie hinweggesetzt.“

„Nun, wir sind hier, um zu helfen“, sagt Moira. „Und wir nehmen Sie ernst.“

„Und dafür bin ich dankbar“, sagt Olivia und öffnet eine Tür am Ende des Flurs. „Das Kameraüberwachungssystem ist mit einem speziellen Computer verbunden, der in einem eigens dafür gebauten Schrank auf der anderen Seite des Raums untergebracht ist. Ich weiß nicht, wie er funktioniert, aber Sie können sich das gerne einmal ansehen.“

„Danke“, sagt Rick. „Moira und ich werden das sicher herausfinden.“

Olivia nickt. „Okay, dann lasse ich Sie mal allein und hole noch etwas zu trinken.“

„Vielen Dank“, sagt Rick.

Während Olivia den Flur entlang zurück in die Küche geht, wirft Rick einen Blick in Cody Zieglers Arbeitszimmer. Es ist ganz anders, als er es sich vorgestellt hatte. Anstelle eines Arbeitszimmers mit dunklen Holzregalen an den Wänden und einem dieser großen, schweren Eichenschreibtische, die den Raum dominieren – eine professionelle Männerhöhle –, ist dieses Arbeitszimmer absolut modern eingerichtet. Helle weiße Wände, auffällige moderne Kunstdrucke, große Doppelflügeltüren mit Blick auf einen gepflegten Garten, ein Schreibtisch mit Glasplatte und ein ergonomischer grauer Netzstuhl. Es ist ordentlich und aufgeräumt – auf dem Schreibtisch und in den Aktenschränken liegen keine Papiere herum. Tatsächlich befindet sich außer einem Computerbildschirm und einem Kabel, das wohl zum Anschließen eines Laptops dient, nichts auf dem Schreibtisch. Es gibt nicht einmal einen Papierkorb. Rick ist ein ordentlicher Mensch – er mag keine Unordnung und Schnickschnack –, aber dennoch glaubt er nicht, dass er in diesem Raum arbeiten könnte. Es ist zu steril. Wo ist das Papier zum Schreiben oder wenigstens ein paar Haftnotizen?

Während Moira auf der anderen Seite des Raums nach dem Schrank mit der Überwachungstechnik sucht, holt Rick sein Handy aus der Tasche und tippt eine Nachricht in den Gruppenchat des ,Retired Detectives Club‘. Lizzie und Philip wissen, dass sie sich heute Morgen mit Olivia Hamilton Ziegler treffen. Er muss sie auf den neuesten Stand bringen.

Rick: Treffen mit Olivia Hamilton Ziegler interessant. Seit 35 Jahren verheiratet – Cody Ziegler. 55. Seit gestern Morgen vermisst. Keine Anzeichen für ein Verbrechen. Die Polizei unternimmt nichts – sagt, 48 Stunden warten. Olivia will, dass wir ihren Mann finden. Sie befürchtet, etwas Schlimmes ist passiert. Wir überprüfen gerade die Überwachungskameras im Haus. Melde mich später wieder.

Drei Punkte zeigen an, dass jemand tippt. Rick starrt auf den Bildschirm und wartet auf die Nachricht.

„Gefunden“, ruft Moira. Sie steht mit dem Rücken zu ihm vor einem schmalen begehbaren Kleiderschrank. Die Türen stehen offen und er kann die Computerbildschirme im Raum dahinter sehen.

Rick schaut wieder auf sein Handy; die Person tippt immer noch eine Nachricht, aber sie ist noch nicht erschienen. Macht nichts, er wird sie später lesen. Er steckt sein Handy wieder in die Tasche und geht zu Moira. Genau wie Olivia gesagt hatte, wurde der Schrank zu einer maßgeschneiderten Überwachungsstation umgebaut. Es gibt zwei Regalebenen, auf denen jeweils zwei Computermonitore stehen. Jeder Monitor zeigt vier verschiedene Livebilder von Kameras. Insgesamt sind es sechzehn. Darunter befindet sich ein schmaler Schreibtisch, der auf Stehhöhe eingestellt ist und nur wenige Zentimeter tiefer als die Regale ist. Darauf liegen eine kabellose Tastatur und eine Maus.

„Weißt du, wie das funktioniert?“, fragt Rick.

„Vielleicht“, sagt Moira. „Die Bilder werden live auf dem Bildschirm angezeigt. Ich muss nur herausfinden, wie ich auf die gespeicherten Aufzeichnungen zugreifen kann, falls das System aufzeichnet.“

Sie zieht die Tastatur und die Maus näher zu sich heran. Nachdem sie sich kurz mit dem System vertraut gemacht hat, klickt sie ein paar Mal mit der Maus, ruft das Hauptmenü auf und wählt ,Verlauf‘. Ein Ordner mit Miniaturansichten von Videoclips erscheint, die nach Kameranummer und Datum gespeichert sind.

Moira überfliegt die Liste. Sie runzelt die Stirn.

„Problem?“, fragt Rick. Er blinzelt auf den Bildschirm, aber der Text ist sehr klein und ohne seine Brille schwer zu lesen. „Das ist der Aufzeichnungsverlauf. Er reicht einen Monat zurück.“

„Das sind gute Nachrichten.“

„Nein, sind sie nicht.“ Moira dreht sich zu ihm um. „Weil es keine Kameraaufnahmen von gestern gibt.“

Rick fährt sich mit der Hand über das Kinn. „Hat sie jemand gelöscht?“

„Vielleicht“, sagt Moira, klickt auf das Menü und ruft „Einstellungen“ auf. Sie scrollt durch einige Menüs und klickt sich durch. „Verdammt. Die automatische Aufzeichnung wurde deaktiviert. Die Kameras sind nur im Live-Modus.“

„Weißt du, wer die Aufzeichnung ausgeschaltet hat?“

Moira schüttelt den Kopf. „Das steht hier nicht, aber es muss gestern früh gewesen sein, da es keine Aufzeichnungen nach Mitternacht gibt.“ Rick nickt. „Wenn sie hier alleine leben, dann …“ Er verstummt, als Olivia das Arbeitszimmer betritt. Olivia schaut von ihm und Moira zu den Überwachungsmonitoren. „Haben Sie alles gefunden, was Sie brauchen?“

„Es gibt keine Aufzeichnungen aus den letzten vierundzwanzig Stunden“, sagt Moira. „Das System scheint am Vorabend gegen Mitternacht auf Live-Übertragung zurückgesetzt worden zu sein.“

Olivia sieht nachdenklich aus. „Wissen Sie, in dieser Nacht gab es einen Stromausfall. Ich war gerade auf dem Weg ins Bett, es muss kurz nach Mitternacht gewesen sein, als plötzlich alles ausging. Wir standen etwa eine Minute lang im Dunkeln, dann kam der Strom wieder. Könnte das die Überwachungskameras beeinträchtigt haben?“

Rick bezweifelt das – hochwertige Sicherheitssysteme verfügen in der Regel über Notfalllösungen für Stromausfälle –, aber er will sichergehen, bevor er Olivia davon erzählt. Wenn der Stromausfall nicht die Ursache für die Änderung im System war, dann waren nur Cody und Olivia im Haus, als die Systemkonfiguration geändert wurde. Das bedeutet, dass einer von beiden dafür verantwortlich sein muss, und die Motive dafür könnten sehr unterschiedlich sein. Er verbirgt seinen Verdacht hinter einem Lächeln. Er hält seinen Tonfall leicht und locker. „Könnte sein. Wir müssen das mit dem Hersteller klären, um sicher zu sein.“

Olivia presst die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen. Sie legt die Hände auf die Hüften. „Ich bin Schauspielerin und habe mein Leben damit verbracht, Menschen zu studieren – wie sie sich verhalten, wenn sie schauspielern, und wie sie sich verhalten, wenn sie nicht schauspielern. Behandeln Sie mich also nicht wie eine Idiotin. Sie vermuten, dass ich meinen Mann umgebracht und die Aufnahmen gestoppt habe, um das zu vertuschen, habe ich recht? Oder vermuten Sie, genau wie diese Polizisten, dass Cody weggelaufen ist und deshalb zuerst die Aufnahmen manipuliert hat, um das zu vertuschen?“

Rick spürt, wie ihm die Hitze in den Nacken und über die Wangen steigt. „Das habe ich nicht gesagt …“

Olivia sieht Rick weiterhin an. Sie schüttelt den Kopf. „Schätzchen, Sie müssen es nicht aussprechen, Ihr Gesicht sagt alles.“

„Sie haben uns hergerufen, damit wir Ihnen helfen“, sagt Moira in freundlichem, aber entschlossenem Ton. „Und genau das tun wir. Wir suchen nach allem, was Aufschluss darüber geben könnte, warum und wohin Ihr Mann gegangen ist. Wenn Sie es sich anders überlegt haben und uns nicht hier haben möchten, können Sie uns jederzeit bitten zu gehen, und wir werden gehen. Aber wenn Sie unsere Hilfe wollen, müssen wir alles überprüfen, was uns helfen könnte, Ihren Mann zu finden.“

Olivia sagt nichts. Sie hält Moiras Blick stand und verengt die Augen. Moira zuckt nicht und schaut nicht weg. Sie schaut Olivia weiterhin direkt an.

Rick versucht, nicht zu lächeln. Moira hat wirklich Schneid, findet er. Das ist eine der vielen Eigenschaften, die er an ihr bewundert.

Olivia bricht als Erste die Pattsituation. Sie atmet tief aus und sagt: „Hören Sie, entweder hat der Stromausfall dazu geführt, dass die Überwachungskameras keine Aufnahmen mehr gespeichert haben, oder jemand ist in dieses Haus gekommen und hat das System manipuliert, denn ich kann Ihnen hundertprozentig garantieren, dass weder Cody noch ich etwas an den Einstellungen verändert haben.“

Rick sieht, wie Moira ihn ansieht. Er vermutet, dass sie dasselbe denkt, wie er – normalerweise ist die wahrscheinlichste Erklärung die Wahrheit, und hier gibt es drei höchstwahrscheinliche Erklärungen. Die Kameraeinstellung hat sich aufgrund des Stromausfalls geändert oder weil Cody oder Olivia die Einstellungen geändert haben. Er sieht Olivia wieder an. „Wie war der Ablauf gestern Morgen?“

Olivia seufzt. „Ich habe es Ihnen doch schon gesagt, Cody hat gestern früh hier im Arbeitszimmer gearbeitet. Ich bin gegen halb zehn mit einer Freundin zum Einkaufen gegangen, und Cody wollte kurz danach ins Büro fahren. Als er nicht nach Hause kam, bevor ich ins Bett ging, machte ich mir Sorgen und rief ihn auf seinem Handy an, aber ich erreichte nur die Mailbox. Ich habe dann überlegt, die Polizei zu rufen, mir aber gesagt, dass er vielleicht nur spät essen gegangen ist oder so. Trotzdem hatte ich ein ungutes Gefühl. Er sagt mir immer Bescheid, wenn er nicht nach Hause kommt, damit ich die Türen abschließen kann. Er hält sich immer an unsere Abmachung.“

Rick hört Olivias Worte und weiß, dass mehr dahintersteckt, als sie zugeben will. Sie liebt ihren Mann offensichtlich und ihre Sorge, dass ihm etwas zugestoßen sein könnte, scheint echt zu sein, aber als sie davon sprach, dass er nicht nach Hause gekommen war, und von ihrer Routine für solche Fälle, veränderte sich ihre Stimme. Er kann es nicht genau sagen, aber er ist sich verdammt sicher, dass Olivia Hamilton Ziegler ihnen etwas verheimlicht.

Moira schüttelt den Kopf, und Rick merkt, dass sie die Situation genauso einschätzt wie er. Moira sieht Olivia an und sagt: „Wenn Sie wollen, dass wir Ihnen helfen, müssen Sie ehrlich sein. Sagen Sie uns, was hier wirklich los ist.“

Olivia schaut zur Seite und sagt lange nichts. Rick wirft Moira einen Blick zu, in der Hoffnung, dass ihre direkte Herangehensweise funktioniert. Moira hält ihren Blick auf Olivia gerichtet. Ihr Ton ist bestimmt. „Hören Sie, Olivia, damit das funktioniert, müssen wir alles wissen. Wenn Sie nicht ehrlich zu uns sind, könnte das die Suche nach Cody behindern.“

Olivia seufzt. Sie schaut Rick an, dann Moira, und nickt einmal. „Okay, es ist so: Cody und ich sind seit fast fünfunddreißig Jahren zusammen, aber unsere Beziehung – ich als Cougar, er als Goldgräber – ist ganz anders, als alle gedacht haben.“ Sie lacht, aber es klingt nicht fröhlich. „Die Presse, die Studios, andere Schauspieler, alle – wir haben sie alle getäuscht.“