Prolog
Hayden
Vergangenheit, 11 Jahre alt
Der Lichtstrahl der Taschenlampe leuchtete gegen mein Zelt aus Bettdecken. Ich streckte die Hand aus, um es zu richten, und zog die Decken höher über meinen Kopf. Nur ein winziger Lichtschimmer unter meiner Tür, und meine Eltern wären in Sekundenschnelle hier drinnen, um mein Buch zu beschlagnahmen.
Mit den Zähnen fuhr ich über meine Lippen und schaute auf die Uhr. Dreiundzwanzig Uhr dreiundvierzig. Um Mitternacht würde ich das Licht löschen. Aber zunächst einmal hatte Nancy Drew ein Rätsel zu lösen. Es wurde spannend.
Ich runzelte die Stirn, als von unten Stimmen ertönten. Meine Eltern waren Nachteulen, aber normalerweise verhielten sie sich mucksmäuschenstill. Woher ich dennoch wusste, dass sie lange wach blieben? Nun, ich war öfter beim Lesen erwischt worden, als ich zählen konnte.
Schritte polterten die Treppe hoch, und ich zog die Augenbrauen zusammen. Was zum Teufel war hier los?
Meine Zimmertür flog auf. „Hayden!“
Dieses einzelne Wort meiner Mutter war ein geflüsterter Schrei. Ich warf die Decken von mir, und meine Taschenlampe purzelte auf die Matratze.
„Mom?“
Als das Licht aus dem Flur auf sie fiel, sah ich den wilden Blick in ihren violetten Augen. Den gleichen violetten Augen, die sie mir geschenkt hatte. Sie ergriff meine Hand und zerrte mich aus dem Bett. „Beeil dich!“
„Was ist denn hier los?“
In einer Sprache, die ich nicht kannte, rief mein Vater etwas von unten, und Mom wurde blass. Wir hatten den gleichen hellen Teint, aber jetzt schimmerte ihr Gesicht in einem kränklichen Farbton. Einem, den ich nur einmal gesehen hatte, und das war, als sie sich beim Karottenschälen versehentlich in den Finger geschnitten hatte. Den Anblick von Blut hatte sie noch nie gemocht.
Mom zerrte mich in den Flur und in Richtung ihres Schlafzimmers.
„Mom?“, krächzte ich.
Sie zog mich in den kleinen begehbaren Kleiderschrank und wuchtete eine Zedernholztruhe in dessen Mitte. Sie kletterte auf die Truhe und drückte eine Platte in der Decke nach oben. Ich blinzelte verwundert. Ich hatte keine Ahnung gehabt, dass es in diesem Haus einen Dachboden gab, geschweige denn eine Luke in der Decke.
Der Blick meiner Mutter blieb an meinem hängen, und ihre Augen schimmerten von zurückgehaltenen Tränen. „Ich hebe dich hoch, und du schließt die Luke hinter dir. Rühr dich nicht und gib keinen Laut von dir. Was immer du hörst, komm nicht heraus.“
Meine Augen füllten sich ebenfalls mit Tränen. „Was ist los?“
Sie zog mich an ihre Brust und umarmte mich fest. „Ich liebe dich mehr, als du dir je vorstellen kannst. Du bist mein Wunder.“
Meine Tränen kamen schneller. „Mom –“
Unten ertönte ein Knall, und meine Mutter fuhr zusammen.
„Hoch mit dir, sofort!“, befahl sie, während sie mich anhob.
Meine Mutter war schon immer stark gewesen, aber an diesem Abend schien es, als wöge ich nicht mehr als eine Feder. Ich hielt mich an der Öffnung fest und hievte mich auf den Dachboden. „Komm du auch mit“, forderte ich sie auf.
Sie schüttelte den Kopf, sodass ihr blondes Haar in Kaskaden um ihre Schultern fiel. „Ich muss deinem Vater helfen. Denk dran, komm nicht raus, egal, was du hörst. Nicht, bevor die Polizei hier ist. Achte auf die Sirenen.“
Meine Tränen fielen, eine landete auf der Wange meiner Mutter, aber sie wischte sie nicht fort. „Verlass mich nicht!“
Schmerz zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab. „Niemals. Ich bin immer bei dir. Immer hier.“ Sie legte eine Hand auf ihr Herz.
Ein weiteres Geräusch ertönte von unten. Es klang fast wie eine Explosion.
Mom sprang von der Truhe herunter und schob sie zurück an die Wand. „Mach die Luke zu, Hayden!“
Einen Moment lang bewegte ich mich nicht. Konnte es nicht.
„Bitte!“, flehte sie.
Es war die Verzweiflung in ihrer Stimme, die mich dazu brachte, mich zu bewegen. Ich schloss die Luke.
Doch kurz bevor sie einrastete, hörte ich Mom flüstern: „Ich werde dich immer lieben.“
Dunkelheit umfing mich, schien mich ersticken zu wollen. Als ob sich ihre Ranken direkt um meine Kehle schlössen. Warum hatte ich nicht nach meiner Taschenlampe gegriffen? Irgendetwas, um die Schatten abzuwehren.
Dumpfe Rufe ertönten von unten, und dann schrie meine Mutter. Eine tiefere Stimme knurrte etwas in einer mir unbekannten Sprache. Dann ein Knistern und ein Knall.
Ich zuckte zusammen und drückte mich an die rauen Holzwände. Splitter gruben sich in meine Handflächen, und der Schmerz war eine willkommene Ablenkung. Mein Herz hämmerte gegen meine Rippen. Es dröhnte durch meinen Körper, der Puls so laut, dass er ohrenbetäubend war.
„Càit a bheil a’ bhana-phrionnsa?“, knurrte eine tiefe Stimme.
Meine Mutter erwiderte etwas in der gleichen unverständlichen Sprache. Ich hatte sie noch nie gehört. Nicht ein einziges Mal. Wie war es möglich, dass meine Eltern eine andere Sprache sprachen und ich sie nicht kannte?
„Bana-phrionnsa!“, keifte der Mann. Die Wucht seiner Stimme war so heftig, dass ich hätte schwören können, dass die Wände wackelten. „Wo ist sie?“
„Du wirst sie nie bekommen!“, fauchte meine Mutter zurück.
Einen Moment lang herrschte Stille, dann ertönte ein Schrei. Der Schrei meiner Mutter.
Ich griff eilig nach dem Metallring der Luke, dann aber hallten die Worte meiner Mutter in meinem Kopf: Komm nicht raus, egal, was du hörst.
Aber sie hatte geschrien! Es hatte wie ein Schmerzensschrei geklungen. Ich musste ihr helfen.
Wieder sprach der Mann in derselben fremdartigen Sprache. Eine andere tiefe Stimme antwortete, aber ich hörte weder die Stimme meiner Mutter noch die meines Vaters.
In der Ferne ertönten Sirenen, und ein gemurmelter Fluch erfüllte die Luft, dann folgten schwere Schritte.
„Ich habe alle Schlafzimmer durchsucht“, sagte eine jüngere Stimme. „Die Schränke. Den Keller. Sie ist nirgends.“
„Ein kleines Mädchen verschwindet nicht einfach“, knurrte der Mann.
„Vielleicht haben sie ihr befohlen, zu fliehen“, antwortete die jüngere Stimme. „Wir müssen uns beeilen. Die Bullen kommen.“
„Ich will, dass der Wald durchsucht wird. Ich lasse sie nicht entkommen. Nicht noch einmal.“
„Ja, Alpha“, sagte die jüngere Stimme.
Wieder waren Schritte zu hören. Die Sirenen wurden immer lauter, aber von unten kam kein weiteres Geräusch. Meine Finger umklammerten den Ring aus Metall. Ich konnte keine Sekunde länger warten. Ich riss die Luke auf und spähte hinunter.
Vom Schlafzimmer meiner Eltern strömte Licht herein, aber ich konnte nichts anderes erkennen als den Inhalt des Schrankes. Ich rutschte an den Rand der Öffnung, hielt mich an der Seite fest und glitt hinaus. In der Luke des Dachbodens hängend, blickte ich nach unten. Es war nur etwa ein Meter bis zum Boden. Ich hoffte nur, diese Männer waren nicht mehr da, denn sie würden meinen Aufprall hören.
Ich ließ los.
Meine nackten Füße schlugen auf dem Teppich auf, und mir entwich ein dumpfes „Uff“. In der Sekunde, in der ich landete, hob ich den Kopf und stand auf. Aber ich schaffte nicht mehr als drei Schritte, bevor ich erstarrte.
„Nein.“ Ich erkannte die Stimme nicht, auch wenn ich spürte, dass es meine war. Sie klang erstickt, unmenschlich.
Wie von selbst trugen mich meine Füße trugen mich vorwärts, dann aber fiel ich auf die Knie. In eine Lache aus Blut. Es war nicht leuchtend rot wie in den Filmen. Es war dunkler. Fast schon braun. Es floss aus meiner Mutter heraus und umgab sie.
Ihre violetten Augen standen offen und blickten leblos.
„Mom“, krächzte ich und legte meine Hände auf sie. Was sollte ich tun? Wie konnte ich ihr helfen?
Da war ein Loch in ihrer Brust. Genau dort, wo ihr Herz hätte sein sollen.
Ich legte meine Hände darauf, als könnte ich das Blut, das sie brauchte, irgendwie zurück in ihren Körper zwingen. Als könnte ich sie retten.
Aber ich konnte es nicht. Und ich konnte auch mich selbst nicht retten.
Kapitel eins
Hayden
Gegenwart, 19 Jahre alt
Der Reisebus ruckelte, als er durch ein Schlagloch fuhr. Ich hielt mich an der Armlehne fest, und die ältere Frau neben mir schenkte mir ein freundliches Lächeln. Ihre dunkle Haut runzelte sich um ihre Augen herum, was bedeutete, dass sie öfter lächelte.
Ich war es gewohnt, auf diese Art von Zeichen zu achten – ob jemand oft die Stirn runzelte oder lächelte. Es war eine Art Früherkennungssystem, und es hatte mir schon öfter den Hintern gerettet, als ich zählen konnte.
Die Frau ließ ihre Strickarbeit sinken. „Diese Straßen sind nichts für schwache Nerven.“
Ich schnitt eine Grimasse, musste aber lachen. „Ich bin froh, dass ich nicht allzu reichhaltig gefrühstückt habe, so viel steht fest.“
Seit einer Stunde schlängelten wir uns über Bergstraßen durch den Norden Kaliforniens. Straßen, die in keinem besonders guten Zustand waren.
Die Frau lachte. „Mein Sohn hat Glück, dass ich ihn genug liebe, um diesen Trip auf mich zu nehmen und ihn zu besuchen.“
Mir tat das Herz weh. Es spielte keine Rolle, wie viele Jahre vergangen waren, seitdem ich meine Eltern verloren hatte; wenn ich daran erinnert wurde, was mir alles fehlte, spürte ich immer noch diesen schrecklichen Schmerz. Ich hatte Glück gehabt, dass ich bei der dritten Vermittlung bei einer guten Pflegefamilie gelandet war. Einer Familie, die mich all die Jahre behalten und sogar noch bei sich wohnen gelassen hatte, nachdem ich achtzehn geworden war, damit ich die Highschool beenden konnte.
Aber trotz dieses Glücks und ihrer Freundlichkeit im Angesicht meiner Tragödie war es nicht dasselbe wie die Liebe meiner eigenen Eltern. Es fühlte sich immer ein wenig unnatürlich und unbeholfen an. Als ob man acht Jahre lang in einem Hotel wohnte anstatt in der eigenen Wohnung.
„Das ist schön. Wo wohnt er denn?“ Ich zwang mich zu einem Lächeln.
Die Frau nahm ihr Strickzeug wieder auf, ihre Finger bewegten geschickt das Garn. „In Hamilton – nur noch ein paar Stationen. Wohin wollen Sie?“
„Ember Hollow. Ich fange an der Evergreen University an.“
Es kam mir immer noch unwirklich vor. Nachdem ich im ersten Jahr nach dem Tod meiner Eltern zu kämpfen gehabt hatte, hatte ich meinen schulischen Weg gefunden. Ich hatte es geschafft, ein Stipendium für die kleine private Universität in den Redwoods zu ergattern.
Meine Sitznachbarin stieß einen leisen Pfiff aus. „Dann sind Sie ein schlaues Mädchen.“
„Ich bin ganz normal, aber ich habe viel gelernt und mich dahintergeklemmt.“ Die Schule hatte mir Halt gegeben. Wenn ich mich auf Analysis oder Anatomie konzentrierte, konnte ich nicht im Kummer ertrinken.
„Arbeitsmoral ist wichtiger als Talent.“
„Ich hoffe, Sie haben recht“, sagte ich lächelnd. Ich war entschlossen, gut abzuschneiden. Ich wollte alles aus dem Vordiplom herausholen, damit ich mir ein weiteres Stipendium für das Medizinstudium sichern konnte.
Als der Bus um eine Kurve bog, durchströmte mich ein Energieschub. Es fühlte sich an, als hätte mich der Blitz getroffen.
„Geht es Ihnen gut?“, fragte die Frau neben mir. „Sie sind ein bisschen blass geworden.“
Ich schüttelte das Gefühl ab, als ein Schild mit der Aufschrift Willkommen in Ember Hollow, Einwohnerzahl 2013 in Sicht kam. „Ich habe wohl Bammel vor dem neuen Lebensabschnitt.“
Sie schenkte mir erneut ein warmes Lächeln. „Sie werden das meistern, Schätzchen. Machen Sie sich keine Sorgen.“
Der Bus schaukelte, als er um eine weitere Kurve fuhr, und der Fahrer griff über seinen Kopf nach dem Mikrofon. „Wir nähern uns Ember Hollow. Erster Halt: Evergreen University.“
„Danke für das Vertrauen.“
Ich schaute aus dem Fenster, als der dichte Wald den Blick auf eine malerische Innenstadt freigab. Sie hatte Wildwest-Flair und war das komplette Gegenteil des Vororts von Seattle, in dem ich die letzten acht Jahre gelebt hatte. Hier gab es noch verschnörkelte Laternenpfähle und sogar alte Anbindebalken für Pferde. Ich konnte nicht umhin, mich zu fragen, ob die Leute immer noch zu Pferd in die Stadt ritten.
Der Bus bog erneut ab, weg vom Stadtzentrum und auf den Campus. Das Wappen der Evergreen University war in Stein gehauen. Es sah schick aus, und ein Gefühl des Unbehagens durchströmte mich.
In den letzten drei Jahren hatte ich in meinem Nebenjob hart gearbeitet, hatte gespart, um ein paar Dollar für das College beiseitezulegen. Aber ich schwamm nicht gerade im Geld.
Der Bus wurde langsamer und kam zischend zum Stehen.
„Ember Hollow, Evergreen University.“
Ich stand auf und schnappte mir meinen Rucksack, und die ältere Lady erhob sich, um mich aussteigen zu lassen.
„Mach sie fertig, Süße!“
Ich grinste sie an. „Ich werde mein Bestes geben.“
Ich warf mir den Rucksack über die Schulter, schnappte meinen Seesack aus dem Gepäckfach und trat in den Gang. Zwei andere Passagiere stiegen vor mir aus und gingen um den Bus herum zum Laderaum.
Ich war schon auf dem Weg über den Campus, als der Fahrer mir nachrief: „Haben Sie keinen Koffer?“
Ich drehte mich um und schüttelte den Kopf. „Ich habe alles hier.“
Ich besaß nicht viel. Die Johansens hatten versucht, so großzügig wie möglich zu sein, aber sie kümmerten sich um mehrere Kinder und waren nicht gerade reich. Und ich wollte mein Geld für die wichtigen Dinge aufsparen.
Der Fahrer winkte mir zu, und ich wandte mich wieder in Richtung Campus, betrachtete die Gebäude und schluckte schwer. Sie waren wunderschön. Roter Backstein mit weißen Akzenten. Sie sahen wichtig und stattlich aus, und ich machte mir wieder einmal Sorgen darüber, ob ich dazugehören würde.
Ich rückte den Seesack auf meiner Schulter zurecht, dann zwang ich meine Füße, sich zu bewegen. Es war ja nicht so, als wäre ich es nicht gewohnt, nicht dazuzugehören. Ich war schon immer eine Außenseiterin gewesen. In der Highschool hatte ich ein paar lockere Freundschaften gehabt, aber niemanden, dem ich wirklich nahestand. Es war, als ob meine Klassenkameraden befürchteten, dass jemand, der seine Familie verloren hatte, ansteckend sei.
Ich sah mich um und suchte nach Wegweisern zum Sekretariat. So oft, wie ich das Willkommenspaket durchgelesen hatte, kannte ich dessen Inhalt praktisch auswendig. Ich hatte mir auch den Campusplan öfter angesehen, als ich zählen konnte, aber tatsächlich an diesem Ort zu stehen, war doch etwas anderes. Vielleicht lag es aber auch an meinem schrecklichen Orientierungssinn.
Ich erblickte etwas, das wie ein Wegweiser aussah, und ging darauf zu.
Die Wege auf dem Campus waren ebenfalls aus Ziegelsteinen gelegt, sodass sie sich fast wie Kopfsteinpflaster anfühlten. Man konnte die Geschichte des Ortes um sich herum spüren. Ich würde meine Freude daran haben, mich in der Historie zu verlieren und mehr darüber zu lernen, während ich mich an mein neues Zuhause gewöhnte.
Vor der großen Karte blieb ich stehen und versuchte, mich zu orientieren. Es dauerte einen Moment, bis ich den ‚Sie sind hier‘–Stern und den Weg zum Sekretariat gefunden hatte. Es war nicht weit.
Aufregung stieg in mir auf, und ich grinste, als ich mich umdrehte, um auf das Zentrum zuzugehen. Aber stattdessen rannte ich direkt in etwas hinein, das sich wie eine Mauer aus Beton anfühlte.
Kapitel zwei
Hayden
Ich stieß ein dumpfes „Umpf“ aus, als ich mit dem Fremdkörper kollidierte.
„Scheiße“, murmelte eine kräftige Stimme, und große Hände legten sich um meine Schultern, um mich am Fallen zu hindern.
Diese Stimme. Sie klang wie ein rauchiges Versprechen und Trost in einem. Ich hatte das seltsame Bedürfnis, mich in ihr zu vergraben. Mich darin zu wälzen wie ein Hund, der eine herrlich schlammige Pfütze gefunden hatte.
„Geht es dir gut?“, fragte die Stimme. „Ich habe dir doch nicht wehgetan, oder?“
Ich blinzelte ein paarmal und versuchte, klar zu sehen. Mir war ein bisschen schwummerig. Als sich meine Sicht schließlich klärte, blinzelte ich einfach weiter. Als ob das den Kerl irgendwie weniger attraktiv gemacht hätte.
Ich legte den Kopf in den Nacken, um ihn vollständig zu erfassen. Ich war nicht groß, gerade mal etwas über eins sechzig, und dieser Typ überragte mich um mindestens einen Kopf.
Sein sandfarbenes Haar durchzogen goldene Strähnchen, die von viel Zeit in der Sonne zeugten. In seinen grünen Augen leuchteten goldene Flecken, die in mir den Wunsch weckten, ein wenig näher zu rücken, um sie alle zu entdecken. Und sein Kiefer war so kantig, dass er hätte Stein schneiden können.
Er war zweifellos einer der umwerfendsten Männer, die ich je gesehen hatte. Er musste zwangsläufig Kapitän des Footballteams oder Vorsitzender einer Studentenverbindung oder so sein. Jemand, in dessen Kreisen ich mich niemals bewegen würde.
„Tut mir leid“, quietschte ich.
Besorgt runzelte er die Stirn, und als er mich losließ, klang seine Stimme sanfter. „Bist du okay?“
Ich spürte ein seltsames Gefühl des Verlustes, als er seine warmen Hände von meinen Schultern nahm.
Mein Gesicht glühte. „Vollkommen okay. Tut mir leid. Ich habe nicht darauf geachtet, wohin ich gehe.“
„Kein Problem“, sagte er mit einem Lächeln. „Erstsemester?“
Ich nickte. „Ich bin auf der Suche nach dem Sekretariat.“
„Nun, ich bin auf dem Weg dorthin. Ich kann es dir zeigen. Wir wollen ja nicht noch mehr Zusammenstöße riskieren.“
Ich errötete noch mehr. „Das musst du nicht.“
Er zuckte mit den Schultern, was das T–Shirt, das er trug, straff über seine muskulöse Brust spannte. „Es macht mir nichts aus. Übrigens, ich heiße Knox.“
Der Wind frischte auf, wehte mir mein blondes Haar ins Gesicht, und ich beeilte mich, es mir hinter die Ohren zu streichen.
Knox’ Nasenflügel blähten sich, und seine grünen Augen wurden groß. „Hast du überhaupt was zum Schutz?“
Ich blinzelte zu ihm hoch. „Was zum Schutz?“
War dieser Kerl eine Art Widerling, der dachte, ich würde mit ihm schlafen, weil er mir den Weg zum Studentenzentrum zeigte?
Er blickte sich schnell um, bevor er seine Stimme senkte. „Deine Wächter.“
Ein Lachen brach aus mir heraus. „Kommen die meisten Studenten mit dem Geheimdienst hierher oder so etwas?“
Diesmal war es Knox, der blinzelte. Während er mich musterte, legte er die Stirn in Falten, dann trat er unbehaglich von einem Fuß auf den anderen, bevor er angestrengt lächelte. „Ich dachte, wir bräuchten vielleicht den kompletten Sicherheitsdienst, damit du keine Gehirnerschütterung davonträgst.“
Meine Lippen zuckten. „Spinner.“
Er grinste, aber da war immer noch ein gewisses Unbehagen in diesen herrlichen grünen Augen. „Komm. Ich spiele den Leibwächter von hier bis zum Studentenzentrum.“
„Das musst du wirklich nicht.“ Aber ich ging neben ihm her.
„Ich bin sowieso auf dem Weg zum Buchladen. Also hast du mich jetzt an der Backe.“
Als ob das so schlimm wäre.
Während wir über den Campus schritten, tauchten weitere Studenten auf. Ihre Blicke richteten sich alle auf Knox. Jungs nickten ihm zu und hoben die Fäuste zur Begrüßung, während die Mädchen ihm ein schüchternes Lächeln schenkten oder ihn anstarrten. Jeder schien seinen Namen zu kennen. Dann wanderten ihre Blicke verwirrt zu mir.
Ich konnte es ihnen nicht verdenken. Ich passte nicht ins Bild. Nicht in meinem abgetragenen Lieblings–T–Shirt mit der Aufschrift Wenn das Leben dir Schimmel gibt, mach Penicillin daraus und meinen abgewetzten Vans. Ich erschauderte. Ich hätte mir wirklich mehr Gedanken darüber machen sollen, was ich am Tag meiner Ankunft trug.
Knox blickte zu mir herunter. „Du hast mir noch nicht gesagt, wie du heißt.“
„Hayden. Hayden Parrish.“
„Schön, dich kennenzulernen, Hayden Parrish. Woher kommst du?“
„Aus einem Vorort von Seattle.“ Der tatsächliche Name der Stadt war nicht wichtig.
„Willkommen in Evergreen. Es ist ziemlich entspannt hier. Eine gute Mischung von Menschen.“
Ich nickte und spielte mit einem losen Faden an meinem T–Shirt. „Es ist wunderschön. Wie lange bist du schon hier?“
„Seit dem ersten Studienjahr. Jetzt bin ich im dritten.“
Daher kannte ihn jeder.
„In welchem Wohnheim bist du untergebracht?“, fragte Knox.
„Ridge Hall.“ Ich war es gewohnt, mir ein Zimmer zu teilen, aber die Ungewissheit, wer meine Zimmergenossin sein würde, machte mich nervös.
Sein herrlicher Mund verzog sich zu einem Lächeln. „Das ist ein gutes Haus. Es wurde vor etwa fünf Jahren renoviert.“
Da ich nicht wusste, was ich noch sagen sollte, nickte ich nur.
Knox ließ sich davon nicht beirren. „Was ist dein Hauptfach? Weißt du das schon?“
„Medizin.“
Er stieß einen leisen Pfiff aus. „Eine Intelligenzbestie.“
Hitze kroch mir in den Nacken. „Ich mag die Wissenschaft einfach.“
Das entsprach nicht ganz der Wahrheit. Ich liebte das Fach, sicher, aber es war mehr. Es war, als ob ich dachte, wenn ich jetzt Medizin studierte, könnte ich die Zeit zurückdrehen und meine Eltern retten. Ich wusste, dass das albern war, aber dennoch wollte ich es lernen. Um zu verstehen, wie man den Körper heilte. Und wenn ich sie schon nicht retten konnte, könnte ich wenigstens andere retten.
Knox’ Schritte gerieten ins Stocken. „Was ist los?“
„Hm?“ Ich wurde aus meiner Gedankenspirale gerissen.
„Du warst gerade ganz woanders. Schien kein besonders glücklicher Ort zu sein.“
Knox hatte also nicht nur ein hübsches Gesicht. Er war scharfsinnig und aufmerksam.
„Mir geht’s gut. Ich nehme nur alles in mich auf.“
Unmut machte sich auf seinem Gesicht breit. Er öffnete den Mund, um eine weitere Frage zu stellen, aber ich unterbrach ihn.
„Ich sehe die Anmeldetische. Danke, dass du mir den Weg gezeigt und mich vor einer Gehirnerschütterung am ersten Tag bewahrt hast. Man sieht sich, Knox.“
Bevor er ein weiteres Wort sagen konnte, stand ich schon in der Schlange der Studenten, die auf die Anmeldung warteten.
Aber was noch wichtiger war: bevor er eine weitere Frage stellen konnte. Denn mit diesen forschenden Augen und der verführerischen Stimme konnte Knox mich dazu bringen, all meine Geheimnisse preiszugeben.