Leseprobe Tür an Tür mit dem Tod

Kapitel 1

„Charlie!“ Mildred, eine meiner Stammkundinnen, riss die Haustür auf und winkte mich hinein, direkt in eine Wolke aus blumigem Parfüm – so durchdringend, dass mir sofort die Augen tränten. Ihr himmelblauer Hosenanzug war faltenfrei, und das silbergraue Dauerwellen-Haar saß perfekt, als käme sie geradewegs vom Friseur. „Ach, das wäre doch wirklich nicht nötig gewesen, dass du extra vorbeischaust. Aber wo du nun schon mal da bist – los, komm rein!“

„Kein Problem“, sagte ich, während ich versuchte, mir unauffällig die tränenden Augen zu trocknen. Hoffentlich würden sie sich schnell an die Duftwolke gewöhnen. „Ich war sowieso für Besorgungen unterwegs, dein Haus lag praktisch auf dem Weg.“

„Na, dann kannst du bestimmt eine kleine Pause gebrauchen. Ich mache uns eine schöne Tasse Tee. Setz dich ruhig und entspann dich ein bisschen.“

Ehe ich etwas erwidern konnte, war sie schon in Richtung Küche verschwunden. Ich wischte mir erneut über die Augen, hängte meine Frühlingsjacke auf und strich mir mein heute besonders widerspenstiges Haar hinter die Ohren, bevor ich ihr folgte.

Ehrlich gesagt, hatte ich das schon erwartet. Mildred war eine liebenswürdige, wenn auch leicht aufdringliche ältere Dame – eine pensionierte Lehrerin, nie verheiratet, kinderlos. Aber mit einem wachsamen Auge auf alles, was in der Nachbarschaft vor sich ging. Und wehe dem, der sich nicht regelmäßig ihre Geschichten anhörte – dem entging so einiges.

Ich wusste mehr über die Ehe der Thompsons, als mir eigentlich lieb war („Er trinkt zu viel, aber wer kann es ihm verübeln? Sie kommt ja ständig sehr spät von der Arbeit zurück … Ich kann mich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal etwas Anständiges für ihn gekocht hat“), kannte sämtliche Schul-Aktivitäten der Swann-Kinder („Jamie kandidiert für den Schülerrat, und der kleine Teddy ist jetzt im Basketball-Nachwuchsteam – ist das zu glauben?“), auch über Mrs. Millers Schwangerschaft war sie bestens informiert („Sie ist so kugelrund – ich schwöre dir, das werden Zwillinge!“).

Ja, Mildred war neugierig, vielleicht ein bisschen zu sehr, aber völlig harmlos. Und auch ein bisschen einsam. Deshalb machte es mir nichts aus, bei der Lieferung ihrer Bestellung etwas länger zu bleiben.

Ich hatte ein kleines Geschäft für Teemischungen und Kräutertinkturen in meinem Haus und war ein paar Mal pro Woche auf Achse, um meine Kundschaft zu beliefern. Manche baten mich regelmäßig, noch ein Weilchen zu bleiben, also plante ich meine Lieferungen entsprechend, damit genug Zeit für ein kleines Schwätzchen blieb. Heute war Mildreds Liefertag.

„Ach du meine Güte, ich habe dir so viel zu erzählen!“, rief sie aufgeregt, während sie eine Kanne Tee und einen Teller mit Buttergebäck auf dem Tisch platzierte. Das filigrane weiße Porzellanservice war mit rosafarbenen Rosenknospen und Goldrändern verziert – wirklich entzückend.

„Du glaubst nicht, was bei den Thompsons los war!“

Ich hörte ihrem Geplauder zu, während ich an meinem Tee nippte – einer von mir entworfenen Mischung aus Kamille und Rosenblüten, die sie immer für meine Besuche aufhob – und genüsslich an einem Keks knabberte. Wie immer war ihre Küche einladend. Es war hell, das Sonnenlicht fiel durch die blitzblanken Fenster. Der allgegenwärtige Parfümgeruch enthielt eine Nuance von Zitrone und Bleichmittel. Sogar ihr orangefarbener Kater, der zusammengerollt in seinem Körbchen schlief, passte farblich perfekt zum gelb-weißen Dekor.

„Aber das ist noch gar nichts gegen diese wirklich aufregende Neuigkeit!“, fuhr Mildred fort, nachdem sie die dramatische Geschichte von Terris falschem Alarm – sie dachte, die Wehen hätten eingesetzt – zum Besten gegeben hatte. Mildred hatte sie natürlich höchstpersönlich ins Krankenhaus gefahren. Doch wie sich herausstellte, waren es nur Übungswehen gewesen.

Sie atmete tief durch, trank einen Schluck Tee und verzog das Gesicht, da der inzwischen kalt geworden war.

„Jonas hat wohl einen Haussitter engagiert.“

„Wirklich?“ Jonas, der direkt neben Mildred wohnte, war ein alleinstehender Mann mittleren Alters, der im Postamt von Redemption arbeitete. Viel hatte ich bisher nicht über ihn gehört … offenbar bestand sein Alltag aus Arbeiten, Nach-Hause-Kommen, dem Aufwärmen eines Fertiggerichts und das aß er vor dem Fernseher, mit ein, zwei Bier, bevor er ins Bett ging. Und das Ganze am nächsten Tag wieder von vorn. Da war es kein Wunder, dass Mildred ihm weitaus weniger Aufmerksamkeit schenkte als dem Rest ihrer wesentlich interessanteren Nachbarn.

Mildred nickte eifrig, während sie nach der Teekanne griff, um ihre Tasse aufzufüllen. „Ich weiß. Ich kann’s ja selbst kaum glauben. Ich war mir sicher, er hätte davon erzählt, wenn er verreisen wollte – aber kein Sterbenswörtchen! Ich kann mich nicht mal erinnern, wann er das letzte Mal Urlaub genommen hat.“

„Vielleicht hat er seine Urlaubstage gesammelt“, mutmaßte ich.

Mildred runzelte die Stirn. „Mag sein, aber das erklärt trotzdem nicht, warum er niemandem etwas gesagt hat. Ich weiß weder, wann er losgefahren ist, noch wann er zurückkommt! Das ist sehr beunruhigend.“

„Wenn du ihn nicht wegfahren sehen hast, woher weißt du dann, dass er wirklich weg ist?“, fragte ich.

„Sein Auto ist nicht da“, erklärte Mildred.

„Er parkt sein Auto draußen?“

„Nein, in der Garage. Aber da steht es nicht mehr.“

Ich bemühte mich, mein Gesicht ausdruckslos zu halten. „Du … hast in seine Garage geschaut?“

„Natürlich! Ich hatte ihn ein paar Tage lang weder zur Arbeit fahren noch nach Hause kommen sehen, und da dachte ich, dass er vielleicht krank ist. Oder verletzt und Hilfe braucht. Also bin ich rübergegangen, um nach dem Rechten zu sehen, aber niemand hat aufgemacht. Da war ich völlig aufgelöst. Was, wenn er einen Herzinfarkt erlitten hatte? Oder einen Schlaganfall? Oder vielleicht im Badezimmer ausgerutscht ist und nun schon seit Tagen in der Badewanne liegt – nass, durchgefroren und halb verhungert! Ich meine, wie hätte ich einfach nichts tun können, wenn er womöglich entsetzliche Qualen durchlitt? Ich habe ernsthaft überlegt, die Polizei zu rufen, aber ich wollte sie nicht mit so etwas belästigen. Sie haben doch bestimmt wichtigere Dinge zu tun. Und ich wollte ja auch keine Steuergelder verschwenden, wenn es doch eine einfachere Lösung gab.“

„Natürlich“, murmelte ich und versteckte ein Lächeln hinter meiner Teetasse.

„Bevor ich also irgendwen anrief, dachte ich mir, ich prüfe erst mal die Türen – vielleicht war ja eine zufällig nicht abgeschlossen. Ich habe mit der Garage angefangen. War natürlich verschlossen. Aber als ich durch das Fenster schaute, sah ich, dass sein Auto weg war und stattdessen ein anderes drinstand.“

„Vielleicht hat er sich ein neues gekauft?“

Mildred schürzte die Lippen. „Der Gedanke kam mir auch, aber das Auto ist alt. Viel älter als sein Wagen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er seines gegen so eine alte Karre eingetauscht hat. Du erinnerst dich doch, Jonas hat seinen Wagen erst vor ein paar Jahren gekauft – der ist praktisch noch neu. Und dann hat das Auto noch ein Nummernschild aus Illinois! Das passt doch vorne und hinten nicht.“

„Du konntest das Nummernschild von draußen erkennen?“

„Ach, um Himmels willen, nein. Dafür war es viel zu dunkel.“

Ich blinzelte. „Ich dachte, du hast gesagt, das Garagentor war abgeschlossen.“

„Ich meinte die Tür zum Haus“, sagte Mildred. „Die war abgeschlossen.“

Sie sah mich an, nippte an ihrem Tee und setzte eine so unschuldige Miene auf, die mich unwillkürlich stutzen ließ. Kurz fragte ich mich, ob vielleicht die Seitentür zur Garage offen war – so wie sie es andeutete – oder ob Mildred sich im Zuge ihrer neugierigen Schnüffeleien inzwischen auch das Knacken von Schlössern angeeignet hatte.

Ich entschied, dass ich das lieber nicht so genau wissen wollte.

„Also warst du dir dann sicher, dass Jonas weg ist?“

„Das dachte ich jedenfalls. Aber ich wollte auf Nummer sicher gehen, deshalb habe ich bei seinem Arbeitgeber angerufen.“

„Sehr klug“, sagte ich.

„Die meinten, Jonas sei im Urlaub. Für einen Monat. Einen ganzen Monat! Kannst du dir das vorstellen?“ Sie schüttelte fassungslos den Kopf. „Jahrelang war er nie im Urlaub, und jetzt haut er einfach für vier Wochen ab? Und sagt niemandem ein Wort?“

„Na ja, es wurde offensichtlich mal Zeit“, erwiderte ich.

„Schon möglich. Aber er hätte der Nachbarschaft wenigstens Bescheid sagen sollen. Ich hätte doch auf sein Haus aufgepasst. Stattdessen engagiert er irgendeinen merkwürdigen Haussitter!“

„Du hast seinen Haussitter getroffen?“

Sie schüttelte den Kopf. „Noch nicht. Ich war schon zweimal drüben, um mich vorzustellen, aber niemand hat aufgemacht. Und ich weiß, dass er da war – denn sein Auto stand in der Garage. Wirklich nicht besonders nachbarschaftlich, wenn du mich fragst.“

„Nein, das klingt nicht besonders nachbarschaftlich“, stimmte ich zu. Natürlich hätte es auch daran liegen können, dass jemand sich heimlich in seiner Garage herumtrieb, dachte ich, doch das behielt ich lieber für mich.

„Aber ich habe ihn gesehen“, fuhr Mildred fort. „Einmal. Er ist mitten in der Nacht draußen im Garten herumgelaufen. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, was er da gemacht hat. Man konnte doch kaum etwas sehen!“

„Vielleicht hat er ein Geräusch aus dem Garten gehört … ein Tier oder so?“

„Ich habe nichts gehört“, entgegnete Mildred. „Ich bin mir sicher, da war nichts. Aber das ist noch nicht mal das Merkwürdigste an ihm. Komm mal rüber.“

Sie erhob sich ächzend und winkte mir mit einer energischen Geste zu, damit ich ihr zum Fenster folgte.

„Siehst du das?“ Sie zeigte auf das unscheinbare Ranchhaus direkt nebenan. Soweit ich das beurteilen konnte, sah es aus wie immer.

„Was genau soll ich sehen?“

Sie seufzte theatralisch. „Die Fenster! Siehst du nicht, dass alle Rollos runtergelassen sind?“

Tatsächlich – jedes einzelne Fenster war blickdicht verschlossen.

„Warum lässt jemand an so einem schönen Tag alle Rollos runter?“, fragte sie.

Vielleicht, dachte ich, um sich vor neugierigen Nachbarn zu schützen, die keinerlei Hemmungen haben, sich in fremden Garagen umzusehen. Laut sagte ich jedoch: „Vielleicht arbeitet er nachts und schläft tagsüber?“

„Aber ich sehe ihn ja nie wegfahren“, konterte sie. „Ich sehe ihn überhaupt nie – außer wenn er mitten in der Nacht im Garten herumgeistert.“

Ich musste zugeben, ein bisschen seltsam war das schon. „Vielleicht ist er Künstler oder Schriftsteller und hat einfach ungewöhnliche Arbeitszeiten.“

„Möglich. Aber trotzdem … das ist doch nicht normal.“ Sie stemmte die Hände in die Hüften und schüttelte den Kopf. „Ich frage mich wirklich, was aus dieser Nachbarschaft wird.“

„Da bin ich genauso ratlos wie du, Mildred.“

Kapitel 2

„Hast du schon Redemptions neue Wahrsagerin gesehen?“, fragte Pat und nahm sich einen Brownie. Wir saßen in meiner warmen, sonnendurchfluteten Küche, tranken Tee und gönnten uns einen kleinen Nachmittagssnack. Nachtschatten, mein schwarzer Kater, hatte sich dazugesellt und auf einem der Stühle zusammengerollt – natürlich dem, der dem Fenster am nächsten war, mit Blick auf meinen Garten, der zu dieser Jahreszeit noch sehr braun und kahl wirkte. Der Frühling hatte sich bisher kaum blicken lassen. Nachts war es immer noch bitterkalt, also war es definitiv zu früh, um die Blumen und Kräuter zu pflanzen, die ich üblicherweise für meine Teemischungen anbaute. Aber das würde sich bald ändern.

„Du meinst, das ist kein Scherz?“, fragte ich. Ich hatte von der angeblichen Wahrsagerin gehört, die sich pünktlich zur kommenden Touristensaison auf der Main Street niedergelassen hatte, aber ich hielt das für typischen Dorfklatsch.

„Wenn’s ein Scherz ist, dann einer, für den sie Miete zahlt“, erwiderte Pat trocken. Sie war mindestens zehn Jahre älter als ich, und die treffendste Beschreibung für sie war wohl einfach: rund. Sie hatte ein rundes Gesicht, trug eine runde Brille mit schwarzem Rand, und ihre kurzen braunen Haare waren mittlerweile von einigen grauen Strähnen durchzogen. Sie war eine meiner ersten Teekundinnen gewesen und mittlerweile eine gute Freundin.

„‚Madame Rowena, Wahrsagerin‘ – das steht jedenfalls auf dem Schild.“

Ich hob eine Braue. „Rowena? Echt jetzt?“

„Mit vollem Namen heißt sie Rowena Tanveer.“

„Klingt komplett erfunden.“

Pat schüttelte den Kopf. „Man spottet besser nicht zu früh.“

„Ich riskiere es.“ Angesichts der Tatsache, dass ich in einem „Spukhaus“ lebte und mindestens die Hälfte der Stadt mich für eine Hexe hielt, die heimlich Zaubertränke verkaufte – getarnt als „Kräutertees und Tinkturen“ –, glaubte ich, mir ein gewisses Urteilsvermögen in Sachen Magie und Wahrsagerei anmaßen zu dürfen. „Hat sie denn schon geöffnet?“

„Noch nicht. Nächste Woche soll die große Eröffnung sein.“

„Eine große Eröffnung für eine Wahrsagerin. Das könnte unterhaltsam werden.“

„Wir sollten hingehen“, befand Pat und hob ihre Tasse an. „Vielleicht kannst du mit ihr über den Verkauf deiner Tees in ihrem Laden sprechen.“

„Klingt nach einer großartigen Idee“, sagte ich trocken. „Bei meinem Glück nennt sie meinen Lavendel-Rosen-Tee dann Amors Pfeil – Rowenas Mischung oder so einen Unsinn, und ich habe noch mehr Leute an der Backe, die Liebestränke wollen.“

Amors Pfeil … Das ist eigentlich gar nicht schlecht“, sagte Pat mit einem Grinsen. „Aber Wahrsagerinnen und Liebestränke beiseite – gibt’s sonst neuen Klatsch? Oder einen neuen Fall, an dem du gerade arbeitest?“ Sie wackelte vielsagend mit den Brauen.

Sosehr ich mich auch dagegen sträubte, mein Ruf als Hobby-Detektivin schlich sich immer weiter ein. Dabei hatte ich das nie angestrebt. Eigentlich war ich ganz zufrieden damit, ein ruhiges Leben zu führen – mit Backen, Teemischen und Gartenarbeit. Aber in den letzten Monaten hatte ich zwei Dinge herausgefunden. Erstens: Ich besaß offenbar ein Talent für das Lösen von Kriminalfällen. Zweitens: Meine Kundinnen und Kunden neigten dazu, in genau solche Fälle hineinzustolpern, bei denen dieses Talent gefragt war.

„Im Moment nicht“, sagte ich, woraufhin Pat ein enttäuschtes Gesicht machte. Im Gegensatz zu mir hatte sie keinerlei Bedenken, was das Hobby-Ermitteln anging. „Außer“, fügte ich hinzu, „man zählt den Fall des verschwundenen Nachbarn.“

Wie erwartet, leuchteten ihre Augen sofort auf.

„Verschwundener Nachbar? Das klingt vielversprechend. Los, erzähl!“

„So viel gibt’s da gar nicht zu erzählen, der Fall war eigentlich schon gelöst, als ich darauf aufmerksam gemacht wurde“, sagte ich. „Es geht um einen von Mildreds Nachbarn.“

„Ach so. Klar, Mildred weiß natürlich sofort, wenn jemand in der Nachbarschaft verschwindet. Aber ich versteh’s nicht ganz – ist der Nachbar denn nun verschwunden? Oder doch nicht?“

„Also … irgendwie schon. Es geht um Jonas – du weißt schon, der von der Post. Anscheinend ist er für einen Monat im Urlaub, und Mildred ist ganz außer sich, weil er ihr nicht vorher Bescheid gesagt hat. Noch schlimmer findet sie aber den Haussitter, den er anscheinend engagiert hat.“

Pat musterte mich überrascht. „Ein Haussitter? Jonas scheint mir nicht der Typ zu sein, der so jemanden braucht, selbst wenn er einen Monat lang weg ist. Vor allem nicht mit Mildred direkt nebenan. Die hätte das Haus mit Freuden gehütet, da bin ich mir sicher.“

„Mildred hätte sich der Aufgabe garantiert mit Feuereifer gewidmet“, stimmte ich zu. „Aber vielleicht wollte er einfach nicht, dass die Klatschkönigin der Nachbarschaft in seiner Hausapotheke und seiner Unterwäscheschublade herumschnüffelt. Jedenfalls hat sie weder gesehen, wie Jonas abgereist ist, noch, wie der neue Haussitter eingezogen ist, und das wurmt sie gewaltig.“

Pat schürzte die Lippen. „Also, das fände ich auch merkwürdig. Und ehrlich gesagt ein bisschen gruselig. Du weißt ja, mit welchen Adleraugen Mildred alles in der Nachbarschaft beobachtet. Damit ihr nichts auffällt, müssten sie das Ganze regelrecht inszeniert haben, und zwar zu einer Zeit, von der sie wussten, dass sie nichts mitbekommen würde. Warum sollte man sich so viel Mühe geben? Was wollen sie verbergen?“

„Da ist was dran“, sagte ich. „Aber ich nehme an, Jonas wollte einfach nur seine Ruhe. Und der Haussitter vielleicht auch.“

„Aber warum sollte Jonas ausgerechnet beim Verreisen auf seine Privatsphäre pochen?“

„Vielleicht dachte er, wenn er sich rausschleicht, merkt Mildred es gar nicht.“

Pat schnaubte. „Na klar. Und ich bin die Zahnfee. Falls er wirklich gehofft hat, seine Ruhe zu haben, wird er bei seiner Rückkehr ein böses Erwachen erleben.“

„Ich möchte jedenfalls nicht in seiner Haut stecken.“

Pat vertilgte den Rest ihres Brownies und wischte sich die Hände an einer Serviette ab. „Also, was diesen Haussitter angeht … Ich kann verstehen, dass der seine Ruhe will. Ich nehme an, es ist ein er?“

„Ja, Mildred hat ihn gesehen. Und ich gebe dir recht, er scheint großen Wert auf Privatsphäre zu legen.“ Ich erzählte ihr von den zugezogenen Rollos und dem nächtlichen Herumschleichen.

„Das ist tatsächlich seltsam“, sagte Pat.

„Schon. Aber wie ich Mildred auch gesagt habe: Vielleicht arbeitet er nachts.“

„Trotzdem – die meisten Leute mit Nachtschicht lassen sich tagsüber irgendwann blicken“, entgegnete Pat.

„Vielleicht ist er eine Art Künstler, der nur bei Dunkelheit kreativ sein kann.“

Pats Augen weiteten sich theatralisch. „Oder er ist ein Vampir.“

Ich verdrehte die Augen. „Klar. Das wird’s sein.“

Pat schlug mit der Hand auf den Tisch. „Ich meine es ernst! Das würde alles erklären. Dauerhaft geschlossene Rollos, nur nachts draußen …“

„Mit Taschenlampe“, warf ich ein. „Ein Vampir, der Licht braucht? Der müsste doch im Dunkeln sehen können.“

Pat machte eine abwehrende Handbewegung. „Es gab bestimmt einen guten Grund für die Taschenlampe.“

„Ja, nämlich den, dass er kein Vampir ist und eben nicht im Dunkeln sehen kann.“

„Oder er wollte ein Tier verscheuchen, ohne dabei Aufmerksamkeit zu erregen“, sagte Pat. „Aber vergiss die Taschenlampe – wenn er ein Vampir wäre, würde das auch erklären, warum er nicht auffallen will. Das Letzte, was er gebrauchen kann, ist eine Mildred, die ständig bei ihm auf der Matte steht. Also versucht er, unauffällig zu sein … und erreicht damit genau das Gegenteil. Er zieht Mildred magisch an, wie Honig die Bienen.“

„So, wie du das sagst, ergibt das natürlich total Sinn“, erwiderte ich trocken. „Jonas’ Haussitter ist ein Vampir. Warum bin ich da nicht gleich drauf gekommen? Fall gelöst.“

Pat sprühte vor Stolz. „Tja, nicht jeder ist mit so viel Scharfsinn und gutem Aussehen gesegnet wie ich.“

„Dem kann ich nicht widersprechen“, sagte ich. „Und natürlich würde ausgerechnet Jonas – der langweiligste, zuverlässigste Mensch weit und breit, dessen aufregendste Aktivität das Rasenmähen am Samstag ist – nicht nur einen Vampir als Haussitter wählen, sondern auch genau wissen, wo er einen findet.“

„Vielleicht hat der Vampir ihn gefunden“, sagte Pat und wackelte erneut mit den Brauen. „Vielleicht hat er ihn verhext und ihm befohlen, in den Urlaub zu fahren, damit er in seinem Haus untertauchen kann.“

„Weil Jonas’ Haus der ideale Unterschlupf für einen Vampir ist?“

„Wer weiß? Vielleicht. Woher willst du wissen, was einem Vampir gefällt … oder eben nicht?“

„Touché. Ich habe noch nie einen getroffen.“

„Soweit du weißt“, erwiderte Pat mit einem schelmischen Grinsen. „Aber wir reden hier immerhin von Redemption. Wäre es wirklich so abwegig, wenn in diesem Städtchen der ein oder andere Vampir herumspuken würde?“

Redemption, Wisconsin, hatte eine bewegte Vergangenheit. Im Jahr achtzehnhundertachtundachtzig verschwanden während eines schlimmen Schneesturms plötzlich alle Erwachsenen spurlos. Nur die Kinder blieben zurück. Sie schworen, keine Ahnung zu haben, was mit ihren Eltern passiert war. Und bis heute blieb dieses Rätsel ungelöst.

Doch das war nur die Spitze des Eisbergs an merkwürdigen Dingen, die in Redemption vor sich gingen. Neben spurlos Verschwundenen gab es Schauergeschichten über Morde, Wahnsinn – und nicht zu vergessen: Geister und Spuk. Man nahm nur mein eigenes Haus. Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts hatte Martha Blackwell, die damalige Besitzerin, erst ihre Dienstmagd Nellie umgebracht, und dann sich selbst. Die Leute hier waren fest davon überzeugt, Martha spukte bis heute durch mein Haus. Ich hatte da so meine Zweifel. Allerdings konnte ich auch nicht behaupten, dass ich noch nie etwas … nun ja, Seltsames erlebt hätte.

„Ein paar herumspukende Geister sind noch lange nicht dasselbe wie Vampire“, sagte ich.

„Stimmt“, gab Pat zu. „Aber wenn es irgendwo welche gäbe, dann doch wohl hier.“

„Da hast du recht“, räumte ich ein. „Falls Vampire existieren, dann ist Redemption ihr Hotspot.“

„Wir sollten der Sache wirklich mal nachgehen“, meinte Pat. „Vielleicht besuchen wir Mildred …“

Ich schüttelte entschieden den Kopf. „Wir erzählen Mildred auf gar keinen Fall irgendwas davon. Die braucht nicht noch mehr Flausen im Kopf über ihren mysteriösen Nachbarn.“

Pat schmollte. „Spielverderberin.“ Dann lehnte sie sich in ihrem Stuhl zurück und dachte kurz nach. „Vielleicht sollten wir einfach Madame Rowena fragen, ob sie was über den Vampir weiß. Vielleicht hat sie ja etwas gesehen … in ihrer Kristallkugel oder so.“

„Klar, super Idee. Wir fragen die Pseudo-Wahrsagerin nach dem Pseudo-Vampir.“

„Du weißt nicht, ob sie echt sind oder nicht. Das müssen wir erst noch herausfinden.“

Ich verdrehte die Augen. „Na schön. Dann befragen wir Madame Rowena zu ihrer Einschätzung der Lage. Leider müssen wir bis zur großen Eröffnung nächste Woche warten.“

„Eigentlich könnten wir auch schon morgen gehen“, sagte Pat. „Sie hat ja geöffnet, nur eben noch nicht offiziell.“

„WIR müssen morgen auf eine Party, schon vergessen?“

Pat schlug sich gegen die Stirn. „Stimmt ja! Wie konnte ich das vergessen?“

Claire, meine erste Freundin hier in Redemption, feierte den zweiten Geburtstag ihrer kleinen Tochter Daphne. Die Party sollte im Hinterzimmer von Aunt May’s Diner stattfinden – dort, wo ich Claire auch kennengelernt hatte. Sie war damals Kellnerin gewesen, und ich war hereingeschneit, um eine Kleinigkeit zu essen, während ich herauszufinden versuchte, wie ich mich so gründlich verfahren konnte. Ich war schon immer ein hoffnungsloser Fall in Sachen Orientierung. Das eine führte zum anderen, und irgendwie blieb ich in Redemption hängen.

„Tja, dann muss Madame Rowena wohl noch ein bisschen warten“, sagte ich.

„Scheint so“, seufzte Pat. „Hoffentlich bekommt der Vampir bis dahin nicht Hunger auf einen kleinen Snack. Oder schlimmer noch … eine ganze Mahlzeit.“

Kapitel 3

„Gott sei Dank bist du da“, sagte Claire und begrüßte mich mit einer herzlichen Umarmung. Sie wirkte noch zerzauster als sonst. Ihre erdbeerblonden Haare waren zu einem unordentlichen Pferdeschwanz gebunden, und aus ihren haselnussbraunen Augen sprachen deutlich die Erschöpfung und der Stress. „Ich glaube, die Idee mit der Party war ein Fehler“, flüsterte sie mir ins Ohr.

Als ich das Chaos aus schreienden, heulenden Kleinkindern und Müttern betrachtete, die genauso gestresst aussahen wie Claire, dachte ich: Das ist noch milde ausgedrückt.

„Sieh es als soziales Training“, sagte ich. „Du weißt doch, wie wichtig das ist, damit Kinder später halbwegs vernünftige Erwachsene werden.“

Claire schenkte mir ein mattes Lächeln, nachdem sie einen Schritt zurückgetreten war. „Ich versuch’s ja.“

Wir waren zwar im selben Alter, aber die Strapazen des Mutterseins hatten bei Claire Spuren hinterlassen – sie wirkte deutlich älter. Oder vielleicht steckte auch etwas anderes dahinter. Nach der Schwangerschaft war sie gesundheitlich nie wieder ganz auf die Beine gekommen.

„Du bist eine gute Mutter“, sagte Pat und legte einen Arm um sie, während sie unter dem anderen ein bunt verpacktes Geschenk hielt. Wir hatten gemeinsam eine Cabbage-Patch-Puppe besorgt. Eigentlich wollte ich Daphne eine American-Girl-Puppe schenken, aber Pat hatte mich davon überzeugt, dass das zu viel für ein Kleinkind sei. Also einigten wir uns auf eine Cabbage Patch.

„Ich weiß nicht …“, seufzte Claire und warf einen Blick hinter sich, gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie Daphne einem anderen Mädchen einen Stoff-Snoopy aus der Hand riss. Die Kleine begann sofort laut zu weinen.

„Da muss ich wohl einschreiten“, sagte Claire und eilte davon, um die Lage zu entschärfen. Während Pat zum Geschenketisch schlenderte, ließ ich den Blick durch den Raum schweifen.

Aunt May’s Diner war im Stil eines altmodischen amerikanischen Diners gehalten, und auch der Hinterraum bildete da keine Ausnahme: schwarz-weiß karierte Vinylböden, gemütliche rote Kunstlederbänke und stabile Holztische. Der Geruch von Cheeseburgern und frittierten Zwiebeln lag in der Luft und erfüllte mich mit Wehmut.

Kellnern bei Aunt May’s war mein erster Job gewesen, nachdem ich nach Redemption gezogen war. Und auch wenn ich diesen Job längst hinter mir gelassen hatte, vermisste ich manchmal die Leute und das tägliche Treiben dort.

„Charlie?“ Ich sah auf und schnappte hörbar nach Luft, als ich die blonde, blauäugige Eiskönigin erkannte, die mich angesprochen hatte. „Was machst du hier?“, fauchte sie.

„Vermutlich dasselbe wie du. Claire hat mich eingeladen“, erwiderte ich.

Louise stiefelte mit zusammengekniffenen Augen auf mich zu. Claire, die gerade versuchte, zwischen Daphne und dem weinenden Kind zu vermitteln, murmelte eine rasche Entschuldigung an die andere Mutter und eilte zu uns. „Fang nicht damit an, Louise“, bat sie erschöpft.

Früher waren wir drei – Louise, Claire und ich – mal Freundinnen gewesen, als ich gerade neu in die Stadt gekommen war. Doch alles änderte sich, als Louises Bruder Jesse verschwand. Seitdem war Louise überzeugt, ich hätte etwas damit zu tun gehabt. Nichts, was ich oder andere sagten, konnte sie vom Gegenteil überzeugen. Und seitdem gehörte es offenbar zu ihrem Lebensziel, mich aus Redemption zu vertreiben. Zu ihrem Pech würde das nicht passieren.

Louise wandte sich wütend an Claire. „Aber sie hat doch gar kein Kind! Warum ist sie dann eingeladen?“

Tatsächlich hatte Louise auch Claire beschuldigt, etwas mit Jesses Verschwinden zu tun zu haben. Da ihre Kinder allerdings zur selben Zeit geboren wurden, hatten sie einen oberflächlichen Waffenstillstand geschlossen. Doch sobald man etwas tiefer grub, kam der ganze Groll wieder hervor.

„Sie ist Daphnes Patentante“, sagte Claire leise. „Natürlich ist sie eingeladen.“

Louise presste die Lippen zu einem schmalen, festen Strich zusammen. Sie war immer noch eine attraktive Frau, doch Kummer und Wut hatten Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen. Ihr Bruder Jesse war einst umwerfend gut aussehend gewesen, und auch ihrer Tochter Jessica war anzusehen, dass sie einmal eine Schönheit werden würde.

„Niemand will sie hierhaben“, zischte Louise.

„Louise, jetzt sei nicht so“, sagte Claire müde.

„Ich sage nur die Wahrheit“, erwiderte Louise mit erhobener Stimme. „Niemand will sie hier, weder auf dieser Party noch in Redemption! Je eher sie nach New York zurückgeht, desto besser.“

„Meine Güte“, murmelte Pat, die neben Louise aufgetaucht war und die Hände in die Hüften stemmte. „Was würde deine Mutter wohl dazu sagen, dass du so unhöflich bist?“

Vor Wut lief Louise knallrot an. „Ich sage nur, was alle anderen denken“, verteidigte sie sich. „Wenn dir das nicht passt, ist das nicht mein Problem.“

„Das ist keineswegs die Wahrheit, und das weißt du auch“, erwiderte Pat, mich in Schutz nehmend.

„Schon gut“, sagte ich schnell, packte Pat am Arm und zog sie fort, bevor sie in einen mütterlichen Vortrag verfallen konnte. „Wir sehen uns später, Claire.“

Claire biss sich auf die Lippe. „Du musst nicht gehen.“

„Doch, ich glaube, es ist besser so“, erwiderte ich.

Louise grinste triumphierend. „Na klar, mach, was du am besten kannst – davonlaufen.“

„Echt jetzt, Louise“, sagte ich erschöpft. Ich wünschte, ich müsste mich nicht ständig mit ihr streiten. Warum konnte sie sich nicht einfach über ihren Sieg freuen? Warum musste sie immer noch einen draufsetzen? „Du willst, dass ich gehe, doch selbst wenn du deinen Willen durchsetzt, musst du mich noch beleidigen. Wär’s dir lieber, ich bliebe?“

„Mir wär’s lieber, du wärst nie gekommen“, erwiderte sie.

„Das stand leider nicht zur Wahl“, sagte ich ruhig. „Genau wie es keine Option für mich ist, Redemption zu verlassen. Aber im Gegensatz zu dir will ich keinen Aufstand machen und die Party eines unschuldigen Kindes ruinieren. Also gehe ich lieber.“ Ich warf ihr noch einen schiefen Blick zu, drehte mich auf dem Absatz um und marschierte hinaus.

„Du hättest nicht klein beigeben müssen“, sagte Pat, während sie mir nach draußen folgte.

„Warum noch mehr Ärger für Claire machen?“, fragte ich. „Sie hat schon genug um die Ohren. Da muss ich nicht noch Öl ins Feuer gießen.“

Pat stieß einen Seufzer aus. „Louise sollte sich nicht so aufspielen“, sagte sie. „Sie hat nicht zu entscheiden, wer in dieser Stadt bleiben darf und wer nicht.“

„Stimmt, das ist die Aufgabe von Redemption“, sagte ich mit einem Lächeln und stupste sie an. Die Leute in der Stadt waren fest überzeugt, dass Redemption selbst entschied, wer bleiben durfte und wer nicht – als ob es hier nicht schon genug seltsame Ereignisse gab. „Aber im Ernst … auch Louise hat einiges durchgemacht. Sie wollte Jessica nie wirklich, immerhin hatte sie mit ihrer Ältesten schon genug zu tun. Und dann verschwindet auch noch ihr Bruder nach diesem furchtbaren Streit … Kein Wunder, dass sie das bis heute nicht verarbeitet hat.“

„Trotzdem“, sagte Pat entschieden. „Jeder von uns hat seine Bürden zu tragen. Das gibt uns noch lange nicht das Recht, anderen Vorschriften zu machen. Sie benimmt sich wie ein Kind – und es wird Zeit, dass sie erwachsen wird und sich zusammenreißt.“

„Dem kann ich nur zustimmen“, sagte ich.

Pat seufzte noch einmal irritiert, dann schüttelte sie sich kurz. „Na gut. Unsere Pläne haben sich wohl geändert, und wir haben jetzt etwas Zeit – willst du dir Madame Rowena anschauen?“

Ich schüttelte den Kopf. „Im Ernst, Pat?“

„Todernst. Komm schon, das wird lustig! Und das Beste: Es ist gleich um die Ecke.“ Sie hakte sich bei mir unter und zog mich die Straße entlang.

Die letzte Person, die ich gerade sehen wollte, war diese sogenannte Wahrsagerin, aber Pat würde wohl keine Ruhe geben, ehe sie mich durch deren Tür gezerrt hatte – also warum nicht jetzt?

Es war ein perfekter Frühlingstag für einen Spaziergang. Die Sonne schien, die Luft war frisch und klar, die Tulpen und Narzissen reckten zaghaft die Köpfe aus der dunklen Erde. Ich atmete tief durch, dankbar, einen weiteren Wisconsin-Winter überlebt zu haben.

Madame Rowena befand sich im ehemaligen Eisenwarengeschäft von Redemption. Ted, der Besitzer, war im letzten Sommer in ein größeres Gebäude ein paar Blocks weiter gezogen. Bis auf ein neues Schild hatte Madame Rowena nichts verändert. Die Fenster waren noch immer staubig, und der Laden wirkte von außen geschlossen.

„Bist du sicher, dass sie geöffnet hat?“, fragte ich Pat, als wir vor der Metalltür standen. Der Rollladen war heruntergelassen, und das wenige, was man durch die Lamellen erkennen konnte, wirkte düster und wenig einladend.

„Das hat Nancy zumindest behauptet“, erwiderte sie und drückte die Tür auf. „Aber schauen wir mal.“

Ein Glöckchen bimmelte fröhlich beim Eintreten und bildete einen starken Kontrast zur trüben Stimmung im Inneren. Die Regalreihen waren natürlich entfernt worden, und die eingebauten Verkaufstheken waren mit Kerzen und Räucherstäbchen übersät, welche den feinen Geruch nach Sägemehl und Maschinenöl allerdings nur bedingt überdeckten. Offenbar wollte Madame Rowena mithilfe des Kerzenscheins eine geheimnisvolle Atmosphäre schaffen, was ihr leider nicht so recht gelang. Das flackernde Licht betonte eher die Schatten und ließ den Laden verlassen wirken.

„Ich weiß ja nicht …“, begann ich, als sich plötzlich der Vorhang im hinteren Teil des Ladens bewegte. Eine schemenhafte Gestalt trat hervor.

„Willkommen“, sagte sie, während sie die Arme ausbreitete und ins Licht trat. „Bitte entschuldigen Sie den Staub … wir sind noch beim Einrichten.“

Alles an Madame Rowena war so grell und funkelnd, dass ich mir fast die Hand vor die Augen halten musste. Sie war über und über mit Schmuck behängt: von ihrem goldenen Turban über unzählige Ketten und Armreife bis hin zu den weichen Lederschuhen. Zudem war sie stark geschminkt, und bei dem schummrigen Licht war es schwer zu erkennen, wie alt sie eigentlich war.

„Ich bin Madame Rowena, zu Ihren Diensten. Wie können die Geister Ihnen heute helfen?“ Ihre tiefe, warme Bariton-Stimme erinnerte mich an heiße, buttrige Karamellsauce.

„Äh“, stammelte ich und warf Pat, die ebenso verdattert wirkte wie ich, einen Blick zu. „Wir dachten, Sie hätten vielleicht schon geöffnet, aber es sieht so aus, als wären Sie noch mitten beim Einrichten. Wir können auch ein andermal wiederkommen …“

Madame Rowena winkte ab. „Unsinn. Die Botschaften der Geister dulden keinen Aufschub. Ein bisschen Staub und Sägemehl hat noch niemandem geschadet. Also – wie kann ich helfen? Haben Sie eine bestimmte Frage an die Geister? Oder wünschen Sie eine allgemeinere Lesung, vielleicht mit Tarotkarten? Oder möchten Sie Kontakt zu jemandem aufnehmen, der ins Jenseits übergegangen ist?“

Ich hatte keine Ahnung, was wir hier eigentlich wollten. Das war ganz und gar nicht das, was ich erwartet hatte. Am liebsten hätte ich Pat einen Stups gegeben – das Ganze war schließlich ihre Idee gewesen –, aber das wäre wohl zu auffällig.

Zum Glück fand Pat ihre Stimme wieder. „Eigentlich“, sagte sie, „hatten wir gehofft, dass Sie uns vielleicht eine Frage beantworten könnten.“

„Natürlich“, erwiderte Madame Rowena. Ihre Augen waren dick mit Kajal umrandet, die Lippen tiefrot geschminkt. „Dafür sind die Geister schließlich da. Worum genau geht es? Liebe? Geld? Karriere … oder vielleicht Gesundheit?“

Pat zögerte. „Eigentlich passt keine dieser Kategorien so richtig“, sagte sie langsam. „Vielleicht … Gesundheit.“

„Sehr gut. Wessen Gesundheit? Ihre eigene oder die eines geliebten Menschen?“

„Weder noch“, sagte Pat. „Es geht eher um … das Wohl der Allgemeinheit.“

Ich musste mich wirklich beherrschen, nicht die Augen zu verdrehen.

Madame Rowena runzelte die Stirn. „Ich verstehe nicht ganz.“

„Uns ist zu Ohren gekommen, dass … nun ja …“ Pat senkte die Stimme. „Dass es in Redemption womöglich eine Art Gefahr gibt.“

Jetzt sah Madame Rowena noch verwirrter aus. „Gefahr? Was für eine Gefahr?“

„Ich … wir können es nicht genau sagen“, erklärte Pat. „Wir wissen selbst zu wenig.“

„Ich bin mir nicht sicher, wie ich Ihnen da weiterhelfen kann.“

Pat warf mir einen fragenden Blick zu. Ich zuckte nur mit den Schultern. Du hast damit angefangen, also bring du es auch zu Ende.

„Also, wir haben eine Freundin, die überzeugt ist, dass … sagen wir mal, eine nicht gerade nette Person nach Redemption gezogen ist. Sie wissen schon, was ich meine.“

Madame Rowena hob eine perfekt gezupfte Augenbraue. „Haben Sie die Polizei verständigt?“

„Eben nicht. Die Person hat ja nichts getan. Es ist bloß so ein Gefühl, das unsere Freundin hat. Wir wollten nur wissen, ob da vielleicht doch was dran ist oder ob sie sich unnötig Sorgen macht.“

Vermutlich war das die lahmste Frage, die jemals jemand einer Wahrsagerin gestellt hatte. Ich rechnete fest damit, dass Madame Rowena uns gleich rauswerfen würde, überzeugt, wir machten uns über sie lustig.

Was ziemlich ironisch gewesen wäre, denn es war tatsächlich eine ernst gemeinte Frage … na ja, abgesehen von dem Teil mit den Vampiren.

Doch Madame Rowena tat nichts dergleichen. Stattdessen betrachtete sie uns schweigend, den Kopf leicht zur Seite geneigt. „Zwanzig Dollar“, sagte sie schließlich.

Ich riss die Augen auf. Pat schnappte hörbar nach Luft.

Madame Rowena lächelte zuckersüß. „Normalerweise kostet eine dreißigminütige Sitzung fünfunddreißig Dollar, aber ich denke nicht, dass wir heute so lange brauchen, oder?“

Pat schüttelte den Kopf. „Nein, nein, ganz sicher nicht.“ Sie wühlte in ihrer Handtasche. „Ich hab nur einen Zehner“, zischte sie mir zu.

Super. Nicht nur verschwendete ich gerade meine Zeit, die ich nie zurückbekommen würde – jetzt zahlte ich auch noch zehn Dollar dafür. Seufzend holte ich einen weiteren Zehner aus der Tasche und reichte ihn Pat.

Madame Rowena strahlte, als sie das Geld entgegennahm. „Hier entlang, bitte.“ Sie führte uns in eine düstere Ecke des Ladens, die durch einen Vorhang abgetrennt war. Dort stand ein runder Tisch mit zwei Stühlen. Sie schob einen der Stühle neben den anderen und bedeutete uns, Platz zu nehmen. Dann verschwand sie kurz und kam mit einem dritten Stuhl, einer brennenden weißen Kerze und einem abgenutzten Tarotkartendeck zurück.

„Sie haben Glück“, sagte sie, während sie die Karten mischte. „Die Verbindung zur Geisterwelt ist heute besonders stark. Und da bisher kaum jemand im Laden war, ist die Energie nicht getrübt – wir sollten also problemlos eine Antwort bekommen.“

Ich musste mich sehr beherrschen, um nicht das Gesicht zu verziehen. Eines musste man Madame Rowena allerdings lassen … Sie verstand es, eine mystische Stimmung zu erzeugen, auch wenn rundherum noch immer der Charme eines alten Eisenwarenladens herrschte.

Sie hielt uns die Karten hin, damit wir zwei Stapel bilden konnten. Ich lehnte dankend ab, also übernahm Pat.

Sie drehte einige Karten um und legte sie vor sich hin. Das Licht war so schlecht, dass ich beim besten Willen keine der Abbildungen erkennen konnte.

„Hmmm“, machte Madame Rowena und betrachtete die Karten, während sie mit einem perfekt manikürten Fingernagel auf die Glasplatte des Tisches tippte. „Ihre Freundin hat allen Grund zur Sorge. Sehen Sie das hier? Das bedeutet, eine große Dunkelheit ist eingekehrt – und sie bringt jede Menge Gefahr mit sich.“

Dann erklärte sie uns die einzelnen Karten und ihre Bedeutungen, aber unterm Strich lief alles auf das Gleiche hinaus: Mildred hatte jeden Grund dazu, sich über ihren seltsamen Nachbarn Gedanken zu machen, auch wenn von Vampiren keine Rede war.

„Haben Sie noch weitere Fragen?“, erkundigte sich Madame Rowena, als sie fertig war.

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, das war sehr hilfreich, danke.“ Ich stand rasch auf, bevor Pat noch auf die Idee kam, eine weitere Frage zu stellen – vor allem, weil ich vermutlich wieder zahlen müsste.

„Ja, vielen Dank“, sagte Pat und erhob sich ebenfalls.

Madame Rowena tat es ihr gleich. „Ich freue mich, dass ich helfen konnte“, sagte sie. Mit ernster Miene fügte sie hinzu: „Sagen Sie Ihrer Freundin auf jeden Fall, sie soll vorsichtig sein.“

Ein eisiger Schauer lief mir über den Rücken, und ich drehte mich abrupt um, sicher, dass mich jemand beobachtete. Doch hinter mir waren nur Schatten und eine leere Theke.

„Das werden wir“, hörte ich Pat sagen, als ich mich wieder zu ihr umdrehte. Madame Rowena schenkte Pat jedoch keinerlei Beachtung. Stattdessen starrte sie mich an.

„Sie kommen mir bekannt vor“, sagte sie. „Haben wir uns schon mal getroffen?“

„Ich glaube nicht“, erwiderte ich, plötzlich mehr denn je überkommen von dem Wunsch, diesen Laden zu verlassen. Mein Unbehagen wuchs mit jeder Sekunde.

„Das ist Charlie, unsere Teespezialistin“, sagte Pat. „Vielleicht haben Sie schon von ihr gehört. Sie stellt Tees und Tinkturen her.“

Etwas blitzte in Madame Rowenas Blick auf. „Ah, natürlich“, erwiderte sie. „Sie sind die, die in dem Spukhaus wohnt?“

„Genau die“, sagte Pat fröhlich.

„Da muss es eine Menge dunkler Energie geben“, murmelte die Wahrsagerin.

„Ach, so schlimm ist es nicht“, sagte ich. „Die Geister benehmen sich meistens ganz anständig.“ Madame Rowena starrte mich weiter unverwandt an. „Das war ein Scherz“, fügte ich schnell hinzu.

„Stimmt, die Geister sind eigentlich total ungezogen“, meinte Pat sarkastisch.

Ich warf ihr einen Blick zu. Das war nicht sehr hilfreich. Madame Rowena sah alles andere als amüsiert aus.

„Ihr solltet wirklich mal miteinander reden“, plapperte Pat weiter. „Vielleicht besteht ja die Möglichkeit einer Zusammenarbeit.“

Ich hätte Pat am liebsten einen Tritt gegeben, nur damit sie aufhörte.

„Sollten wir“, sagte Madame Rowena. „Ich habe zwar bereits einen Teelieferanten, aber ich bin immer offen für neue Optionen.“

„Klingt gut, nur leider müssen wir jetzt wirklich los“, sagte ich und schob Pat unsanft in Richtung Tür. „Und Sie haben sicher alle Hände voll zu tun vor der großen Eröffnung.“

„Ja, ich bin tatsächlich sehr eingespannt“, stimmte sie zu. „Aber vielleicht sprechen wir danach noch mal.“

„Vielleicht“, sagte ich und trieb Pat vor mir her, während Madame Rowena uns zur Tür begleitete.

„Danke für die Lesung!“, rief Pat, als wir den Laden verließen – begleitet vom fröhlichen Bimmeln des Türglöckchens.

„Ich kann nicht glauben, dass wir ihr gerade zwanzig Dollar gezahlt haben“, sagte ich, kaum dass wir wieder draußen auf dem Gehweg standen. „Wessen glorreiche Idee war das noch mal?“

„Hey, ich kann nichts dafür“, verteidigte sich Pat. „Woher sollte ich wissen, dass das so laufen würde? Ich dachte, das wäre ein ganz normaler Laden, in dem man rumschlendern und sich Kerzen und Kristallkugeln anschauen kann oder so. Ich hatte erwartet, Madame Rowena säße hinter der Kasse, und wir könnten einfach ein bisschen quatschen und nebenbei die Frage einwerfen, ob sie bezüglich des neuen Nachbarn vielleicht etwas spürt.“

„Aha, du wolltest sie also reinlegen, damit sie uns kostenlos was voraussagt“, fasste ich zusammen.

„Woher hätte ich wissen sollen, dass sie gleich die Karten auspackt?“, erwiderte Pat. „Mir hätte auch eine spontane Einschätzung gereicht, ob es da Grund zur Sorge gibt oder nicht.“

„Das klingt natürlich viel besser.“

„Hey, wenigstens haben wir was gelernt“, verteidigte sich Pat.

Ich hob eine Braue. „Und war diese Information zwanzig Dollar wert?“

„Man kann ein Leben nicht mit Geld aufwiegen“, sagte Pat.

„Wessen Leben steht denn auf dem Spiel?“

„Mildreds natürlich. Jetzt kannst du ihr sagen, dass sie recht hatte – mit ihrem gruseligen Nachbarn stimmt definitiv etwas nicht, und sie sollte sich besser von ihm fernhalten.“

„Ich lasse sie wissen, dass die neue Wahrsagerin der Stadt dieser Ansicht ist“, erwiderte ich trocken. „Obwohl du keine Namen genannt hast, was bedeutet, dass du buchstäblich jeden gemeint haben könntest.“

„Ach, die Geister wissen schon, um wen es geht“, meinte Pat leichthin.

Ich verzog das Gesicht. Da hatte sie wohl recht. „Basierend auf dieser Logik können wir wohl ausschließen, dass es sich bei Mildreds neuem Nachbarn um einen Vampir handelt. Andernfalls hätten die Geister das doch sicher erwähnt.“

Pat seufzte. „Ja, das ist ein wenig enttäuschend. Es wäre so aufregend gewesen, einen Vampir in der Stadt zu haben.“

Kapitel 4

„Ich hab’s rausgefunden.“ Mildreds Stimme am anderen Ende der Leitung klang triumphierend. „Der Haussitter ist ein Vampir!“

Ich blinzelte überrascht. „Hast du etwa mit Pat gesprochen?“

„Pat?“, fragte sie verwundert. „Pat wer? Pat Barron? Warum, wohnt bei ihr etwa auch ein Vampir nebenan?“

Wir drohten, vom Thema abzuschweifen. „Vergiss Pat“, sagte ich und klemmte mir den Hörer zwischen Schulter und Ohr, während ich weiter die Küche aufräumte. „Warum denkst du, dass der Haussitter ein Vampir ist?“

„Weil das die einzig logische Erklärung ist“, sagte sie, als wäre es das Offensichtlichste der Welt.

Ich schloss kurz die Augen. „Dir ist schon klar, dass es Vampire nicht wirklich gibt?“

Sie schnaubte. „Genau das wollen sie uns glauben machen.“

„Da stimme ich dir sogar zu – wenn es sie gäbe, wäre das sicher ihr Ziel. Aber das heißt nicht, dass sie wirklich existieren.“

Mildreds Ton wurde plötzlich sehr streng, als wäre sie wieder eine Lehrerin, die mir deutlich machen wollte, wie enttäuscht sie von mir war. „Charlie, ich weiß, du wohnst noch nicht lange hier, aber du musst doch inzwischen zumindest ein paar der Gerüchte und Geschichten gehört haben. Hier in Redemption sind im Laufe der Jahre viele seltsame und unerklärliche Dinge passiert. Allein die Anzahl der verschwundenen Personen ist erschreckend. Ganz ehrlich … dass sich ein Vampir unter uns befindet, ergibt wesentlich mehr Sinn als manch andere Erklärung.“

„Oder er ist einfach ein Serienmörder.“

„Ach Charlie, sei nicht albern. Er ist kein Serienmörder.“ Sie seufzte tief. „Gerade du solltest der Vorstellung gegenüber offen sein, dass Vampire existieren – immerhin wohnst du in einem Spukhaus.“

„Ich gebe dir ja recht, dass Redemption … seltsam ist. Aber ein Vampir? Das ist vielleicht doch ein bisschen weit hergeholt.“

„Du hast nicht gesehen, was ich gesehen habe.“ Mit gedämpfter Stimme fuhr sie fort: „Ich erinnere mich noch, als vor Jahren dieses Mädchen … Wie hieß die Kleine gleich wieder? Ich habe ihr Gesicht noch genau vor Augen. So ein süßes Ding. Eines Tages war sie jedenfalls einfach verschwunden. Tagelang hat niemand etwas von ihr gesehen oder gehört. Wir haben überall nach ihr gesucht, aber sie war wie vom Erdboden verschluckt. Puff! Einfach weg. Und dann, eines Nachts, tauchte sie so plötzlich wieder auf, wie sie verschwunden war. Als wäre es Magie gewesen.“

Wider Willen zog mich ihre Geschichte in den Bann. „Ging es ihr gut?“ Claire hatte mir eine ähnliche Geschichte erzählt, als ich noch neu in der Stadt war … Ob es sich um dasselbe Mädchen handelte? Ich nahm mir vor, Pat mal zu fragen, wie viele Kinder hier in Redemption schon verschwunden und später wieder aufgetaucht waren.

„Körperlich ja. Aber geistig …“ Mildred schnalzte mit der Zunge. „Sie hatte keinerlei Erinnerung an das, was passiert war. Nichts. Als wäre sie hypnotisiert worden oder so.“ Sie senkte die Stimme zu einem rauen Flüstern. „Genau wie Vampire es machen. Die können Erinnerungen auslöschen, weißt du?“

„Gab es denn eine Ermittlung?“ Ich versuchte, das Vampirgerede zu ignorieren und das Gespräch auf eine greifbarere Ebene zu lenken.

„Natürlich! Aber es kam nie etwas dabei heraus.“

Ich atmete tief durch. Angesichts all der merkwürdigen Dinge, die sich in Redemption abspielten, klang die Idee eines Vampirs weniger absurd, als sie sein sollte.

Andererseits redeten wir hier von Vampiren.

Trotz allem Unerklärlichen fiel es mir schwer, das wirklich ernst zu nehmen.

Außerdem fragte ich mich langsam, wie es um Mildreds geistige Verfassung stand. Normalerweise war sie sehr klar im Kopf, aber in letzter Zeit hatte es ein paar Aussetzer gegeben – zum Beispiel, als sie überzeugt war, mich angerufen zu haben, um eine Bestellung aufzugeben, obwohl sie das nie getan hatte. Oder als sie sich nicht erinnern konnte, Tee bestellt zu haben, als ich ihn vorbeibrachte.

Damals hatte ich das als Lappalie abgetan. Sowas passierte eben, besonders wenn man ein gewisses Alter erreicht hatte. Ehrlich gesagt passierte es mir auch hin und wieder – und ich war deutlich jünger als Mildred.

Aber jetzt, mit dem Vampirgerede, schlichen sich doch langsam Zweifel ein.

Ich entschied mich für einen anderen Ansatz. „Warum denkst du, dass der Haussitter ein Vampir ist?“

„Nun, ich sehe ihn nur nachts“, sagte sie. „Und er hat immer noch die Vorhänge zu. Sogar das Fenster an der Haustür ist verhängt.“

„Er könnte ein Nachtmensch sein“, sagte ich, ohne anzumerken, dass er sich vielleicht einfach vor den Blicken neugieriger Nachbarn schützen wollte.

„Wenn er ein Vampir ist, dann ist er definitiv nachtaktiv.“

„Obwohl alle Vampire nachtaktiv sind, sind nicht alle Nachtmenschen zwangsläufig Vampire“, gab ich zu bedenken. „Warum glaubst du sonst noch, dass er einer ist?“

Mildred sog scharf die Luft ein. „Erinnerst du dich daran, wie ich dir erzählt habe, dass er sich nur nachts im Garten herumtreibt?“

„Ja. Macht er das immer noch?“

„Nicht nur das“, sagte sie und senkte die Stimme abermals zu einem Flüstern. „Er gräbt Löcher.“

Okay, das war wirklich seltsam. „Bist du dir sicher?“

„Absolut“, sagte sie. „Ich habe ihn erst gestern dabei gesehen.“

„Gestern Nacht?“

„Ja. Es war ungefähr ein Uhr nachts, und ich wollte mir gerade eine Tasse Tee in der Küche machen. Ich schlafe nicht mehr durch wie früher. Deshalb liebe ich deinen Lavendel-Kamillentee so sehr. Der ist das Einzige, was mich wieder einschlummern lässt.“

Jetzt schweiften wir schon wieder vom Thema ab. „Das freut mich sehr. Bitte erzähl weiter … Dein Nachbar hat also Löcher gegraben?“

„Genau, als ich in der Küche das Wasser aufkochte, dachte ich, ich hätte etwas gehört. Es klang, als würde jemand etwas über den Boden ziehen. Etwas Großes.“

Ich bezweifelte ernsthaft, dass Mildred so etwas gehört haben konnte. „Hast du deinen Nachbarn dabei gesehen, wie er etwas durch seinen Garten schleifte?“

„Na ja … nein“, gab sie zu. „Er musste es bereits zu dem Loch gezogen haben, bevor ich rausgeschaut habe.“

„Ah, natürlich.“

„Ich habe nur gesehen, wie er ein Loch in Jonas’ Garten grub.“

„Das konntest du im Dunkeln erkennen?“

„Er hatte eine Taschenlampe auf den Boden gestellt.“

Wieder kam sie mit der Taschenlampe daher. „Aber wenn er ein Vampir wäre, bräuchte er doch keine, oder?“

„Woher soll ich das wissen?“ Mildred klang ungehalten. „Oder du? Vielleicht können Vampire im Dunkeln nicht gut sehen. Hast du schon mal einen gefragt?“

Touché. „Okay, er hat also ein Loch ausgehoben. Hast du gesehen, was er als Nächstes gemacht hat?“

„Er hat eine Leiche darin vergraben.“

„Du hast ihn eine Leiche begraben sehen?“

„Nun, nicht direkt“, erwiderte Mildred mit einem Schniefen. „Aber als ich heute Morgen nachgesehen habe, war das Loch weg. Also muss er wohl etwas vergraben haben.“

Das klang wirklich verdächtig. „Hast du ihn mittlerweile mal getroffen? Um ihn zu fragen, was er da gemacht hat?“

„Machst du Witze? Natürlich nicht! Er lässt sich bei Tageslicht ja nie blicken. Deshalb gehe ich jetzt rüber … um das endlich ein für alle Mal zu klären.“

Wie bitte?“ Die Vorstellung, dass Mildred zu ihrem Nachbarn marschierte, um ihn des Vampirseins zu beschuldigen, brachte mich so aus dem Konzept, dass ich meine Tasse umstieß und den letzten Rest Tee über die Arbeitsplatte verschüttete. „Du kannst nicht einfach rübergehen.“

„Warum nicht? Es ist mitten am Tag, also ist er jetzt am schwächsten. Wobei …“, fügte sie nachdenklich hinzu. „Ich bin mir nicht sicher, ob er mich an der Tür hören wird.“

Ich schnappte mir einen der Schwämme und versuchte, das Chaos zu beseitigen, ohne es weiter zu verbreiten. „Warum sollte er dich nicht hören können?“

„Weil er wahrscheinlich in seinem Sarg schläft. Wenn er nicht aufmacht, kann ich mich vielleicht einfach selbst reinlassen …“

Nein!“, rief ich in wesentlich schärferem Ton als beabsichtigt, und fuhr mit bemüht ruhiger Stimme fort: „Mildred, du kannst nicht einfach in jemandes Haus einbrechen.“

„Aber jemand muss ihn aufhalten! Wir können doch nicht einfach zulassen, dass ein Vampir in der Nachbarschaft sein Unwesen treibt und Leichen vergräbt. Das ist … unschicklich.“

Ich warf den Schwamm in die Spüle. Die Arbeitsplatte war zwar immer noch nicht ganz sauber, aber zumindest sah sie besser aus als vorher. „Bleib, wo du bist. Ich bin gleich da!“

„Ach, mach dir meinetwegen keine Umstände. Du hast bestimmt eine Million anderer Dinge zu tun.“

„Das macht mir nichts aus“, erwiderte ich mit aufgesetzter Fröhlichkeit. „Außerdem will ich ja helfen. Ich würde mich zu Tode sorgen, wenn ich zu Hause bliebe und mich die ganze Zeit fragen müsste, ob dir etwas zugestoßen sei.“

„Also gut … wenn du meinst.“ Sie klang erleichtert, als hätte sie gehofft, dass ich ihr meine Hilfe anbieten würde. „Ich muss zugeben, dass ich mich sicherer fühlen würde, wenn jemand dabei wäre. Man weiß ja nie, was in einer solchen Situation passieren kann.“

„Ganz genau“, stimmte ich zu, während ich in meiner Tasche nach meinem Schlüsselbund kramte. „Ich mache mich jetzt auf den Weg. Unternimm bloß nichts, bis ich da bin!“

„Würde mir nicht mal im Traum einfallen.“

***

„Ich denke, du solltest mir das Reden überlassen“, sagte ich zu Mildred, als wir die Einfahrt hinaufgingen.

Sie starrte mich überrascht an. „Aber warum?“

Ich nagte an meiner Unterlippe und suchte nach einer plausiblen Erklärung. Tatsächlich war ich mir ziemlich sicher, dass der Haussitter uns die Polizei auf den Hals hetzen würde, noch bevor wir die Veranda verlassen konnten, wenn ich Mildred die Führung überließ.

Mildred war über und über mit Knoblauch und Kruzifixen behängt und trug eine kleine Tasche, in der sich ihrer Aussage nach „wichtige Ausrüstung“ befand. Ich wagte gar nicht zu fragen, was genau sie damit meinte. Sie hatte auch für mich eine Knoblauchkette gebastelt, was meine Vermutung nur bestätigte, dass sie gar nicht vorhatte, den Nachbarn allein zu konfrontieren. Zu ihrem Missfallen weigerte ich mich, die Kette zu tragen, aber sie hatte sie trotzdem mitgebracht, für den Fall, dass ich sie doch brauchte. Jedenfalls bereitete mir der Knoblauchgeruch in Kombination mit ihrer üblichen Parfümwolke Kopfschmerzen.

„Ich, äh, denke nur, es wäre besser, wenn du nicht negativ auffällst“, sagte ich. „Du bist schließlich diejenige, die neben ihm wohnt. Wenn, dann sollte er lieber mich aufs Korn nehmen.“

Mildred runzelte die Stirn. „Das gefällt mir nicht, Charlie. Ich will nicht, dass er es auf dich abgesehen hat.“

„Ich komme schon klar“, sagte ich hastig. „Er weiß wahrscheinlich nicht mal, wo ich wohne, also dürfte nichts weiter passieren.“

Ihre Züge entspannten sich. „Das stimmt. Nun, wenn du dir sicher bist …“

„Ganz sicher“, sagte ich fest, als wir die Veranda erreichten. Ich streckte die Hand aus, um die Klingel zu drücken. Mildred versuchte erneut, mir die Knoblauchkette umzuhängen, aber ich schob sie mit einer nicht gerade sanften Geste beiseite.

„Ich wünschte, du würdest sie tragen“, beschwerte sie sich in einem Flüsterton.

„Ich habe dir doch gesagt, dass ich von zu viel Knoblauch einen Hautausschlag bekomme.“ Das war eine Lüge, aber es war die einzige Erklärung, die sie akzeptierte.

„Ein Ausschlag ist ein kleiner Preis dafür, dich davor zu bewahren, dass er dir in den Hals beißt“, sagte sie besorgt.

„Es wird schon gut gehen. Wie du gesagt hast, es ist mitten am Tag. Vampire greifen nicht tagsüber an.“

Sie murmelte etwas Unverständliches.

Während wir warteten, sah ich mich um. Im Gegensatz zu den anderen Häusern in der Nachbarschaft, die von hübschen Blumenbeeten und stattlichen, großen Bäumen umsäumt waren, war Jonas’ Haus schlicht, aber ordentlich. Lediglich ein paar Büsche waren um das Gebäude herum gepflanzt. Die Veranda war völlig leer, es gab nicht einmal einen Fußabtreter. Wie Mildred gesagt hatte, waren alle Fenster abgedunkelt, und das Haus lag vollkommen still da.

„Ich habe es dir doch gesagt“, zischte sie, als ich erneut klingelte. „Er kann uns nicht hören, weil er bestimmt in seinem Sarg schläft.“

„Wir brechen nicht ein“, zischte ich zurück, während ich noch ein paar Mal auf die Klingel drückte. „Wenn er da ist, wird er schon an die Tür kommen.“

„Nicht, wenn er uns nicht hören kann“, setzte Mildred an, doch wir verstummten beide, als wir Schritte auf uns zukommen hörten.

„Denk dran, mir das Reden zu überlassen“, flüsterte ich ihr zu, als wir das Scharren von Riegeln hörten, die zurückgeschoben wurden, und das Klicken von Schlössern, die sich drehten.

„Ich bin nicht taub“, beschwerte sich Mildred. „Und im Oberstübchen stimmt auch noch alles.“

Angesichts ihres Aufzugs war ich mir da nicht so sicher.

Die Tür wurde einen Spaltbreit geöffnet, und ein schmales, sehr blasses Gesicht erschien. „Kann ich Ihnen helfen?“

Ich legte eine Hand auf Mildreds Arm, während ich mein freundlichstes Lächeln aufsetzte. „Das hoffe ich doch. Wir sind Freunde von Jonas und wollten nach ihm sehen. Wir haben schon eine Weile nichts mehr von ihm gehört und wollten sicherstellen, dass bei ihm alles in Ordnung ist.“

Ein äußerst hellblaues Auge musterte uns durch den Spalt. „Jonas ist nicht hier.“

„Das weiß ich“, sagte ich schnell, bevor er die Tür wieder zuschlagen konnte. „Wir wollten wissen, ob Sie uns sagen können, wo er ist?“

Dieses Auge betrachtete uns starr. „Er ist im Urlaub.“

Ich nickte. „Ah, genau. Er hatte etwas in der Art erwähnt. Und Sie sind …?“

„Das geht Sie nichts an.“ Er knallte die Tür zu.

„Das lief ja hervorragend“, murmelte Mildred hinter mir. „Wie gut, dass du das übernommen hast.“

Ich ignorierte sie und klingelte erneut.

Wieder wurde die Tür einen Spaltbreit geöffnet. „Wenn Sie nicht sofort von diesem Grundstück verschwinden, rufe ich die Polizei.“

„Nur zu“, sagte ich. „Die Polizei wird bestimmt sehr interessiert daran sein, mehr über Ihre nächtlichen Aktivitäten zu erfahren. Löcher in einem Garten zu graben, ist definitiv eine ungewöhnliche Freizeitbeschäftigung, besonders auf einem Grundstück, das Ihnen nicht gehört.“

Er zögerte kurz, dann öffnete er die Tür etwas weiter. „Was wollen Sie?“

Der Mann, der vor uns stand, war so blass, dass er fast durchsichtig wirkte. Sein Haar hatte die Farbe von verblasstem Stroh, und es schien, als hätte er weder Wimpern noch Augenbrauen. Neben mir hörte ich Mildred scharf einatmen. „Ich hab’s dir doch gesagt“, flüsterte sie.

„Nun, vielleicht könnten wir uns einander erst mal vorstellen und uns ein bisschen kennenlernen“, sagte ich. „Ich bin Charlie Kingsley, und das ist Mildred Schmidt.“

Er starrte Mildred an. „Ist das … Knoblauch?“

„Stört Sie der Geruch?“, fragte sie und schielte ihn misstrauisch an.

Er verzog das Gesicht. „Er ist ziemlich … penetrant.“

„Also stört er Sie doch!“ Mildred wandte sich an mich. „Siehst du? Was habe ich dir gesagt?“

„Stört er Sie etwa nicht?“, entgegnete er.

„Dient dem Schutz.“

„Schutz wovor?“

„Und ist gut für das Immunsystem“, unterbrach ich sie schnell. „Knoblauch kann vielen Krankheiten vorbeugen. Tatsächlich benutzte eine Gruppe von Grabräubern im vierzehnten Jahrhundert Knoblauch zusammen mit anderen Kräutern, um sich vor der Pest zu schützen.“

Während ich redete, richtete der Mann seinen intensiven, unheimlichen Blick auf mich. „Also denken Sie, ich habe die Pest?“

Mildred kramte in ihrer Tasche.

„Natürlich nicht“, sagte ich hastig. „Knoblauch hat viele gesundheitliche Vorteile.“ Ich warf Mildred einen Blick zu, fragte mich, was sie wohl dabeihatte, und hoffte inständig, dass sie nicht gleich einen Holzpflock herausziehen würde. „Aber genug von Knoblauch. Wir würden einfach gern ein wenig mehr über Sie erfahren. Da Sie neu hier sind, wissen Sie vermutlich noch nicht, wie sehr sich die Leute in dieser Nachbarschaft umeinander kümmern.“

„Wo ist es?“, murmelte Mildred vor sich hin, während sie weitersuchte. „Ich weiß, dass ich es eingepackt habe.“

Der Mann starrte mich an, und ich spürte, wie meine Zuversicht sank. Er würde wohl keine Antwort geben, vor allem nicht, während Mildred wie wild in ihrer Tasche wühlte. Doch zu meiner Überraschung gab er schließlich nach.

„Drake. Drake Crimson.“

Mildred hob ruckartig den Kopf. „Drake Crimson?“

Er wandte sich wieder ihr zu. „Kennen wir uns?“

Ich legte meine Hand auf Mildreds Arm. „Es ist schön, Sie kennenzulernen, Drake. Woher kennen Sie Jonas?“

Drake sah aus, als wollte er uns am liebsten erneut die Tür vor der Nase zuschlagen, und ehrlich gesagt konnte ich ihm keinen Vorwurf machen, so wie das Gespräch verlief. Die eigentliche Frage war, warum er es noch nicht getan hatte. „Sein Cousin hat uns einander vorgestellt“, sagte er. „Ich war … gerade auf Jobsuche, und Jonas brauchte jemanden, der auf das Haus aufpassen und einige Projekte für ihn erledigen würde, während er weg war.“

„Wie etwa mitten in der Nacht ein Grab ausheben?“, fragte Mildred spitz.

Drake blinzelte sie erstaunt an. „Wie bitte? Ich habe kein Grab ausgehoben!“

„Was haben Sie dann mitten in der Nacht im Garten gemacht?“

„Ich habe ein Beet angelegt“, sagte Drake. „Nicht, dass es Sie etwas angehen würde.“

„Ein Beet?“ Mildred runzelte die Stirn. „Seit wann interessiert sich Jonas fürs Gärtnern?“

„Woher soll ich das wissen?“, antwortete Drake. „Alles, was ich weiß, ist, dass er mich gebeten hat, eines anzulegen, also habe ich das getan.“

„Mitten in der Nacht?“

Drake trat von einem Fuß auf den anderen und sah zum ersten Mal unsicher aus. „Ich habe … eine Erkrankung“, sagte er zögernd. „Es ist so eine Art Sonnenallergie.“

Mildreds Augen weiteten sich. „Eine Allergie? So nennt man das heutzutage also?“

Ich stieß sie unsanft in die Seite, woraufhin sie laut „Autsch!“ rief.

„Ich habe gesagt, es ist wie eine Allergie“, wiederholte Drake. „Deshalb werden Sie mich wahrscheinlich nachts öfter draußen sehen, während ich am Haus arbeite.“

Mildred öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, aber ich fiel ihr eilig ins Wort. „Wow“, sagte ich und warf ihr einen strengen Blick zu. „Das muss wirklich schlimm sein, eine Sonnenallergie zu haben. Ganz zu schweigen davon, wie schwierig es sein muss, nachts draußen zu arbeiten.“

„Es ist nicht einfach, aber ich bin daran gewöhnt“, entgegnete Drake. „Da ich mich schon mein ganzes Leben lang mit dieser Krankheit herumschlage, kenne ich es nicht anders. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden …“

„Ich hätte da noch ein paar Fragen“, setzte Mildred an, aber ich unterbrach sie streng, während ich etwas zurücktrat und sie mit mir zog.

„Selbstverständlich. Hat uns gefreut, Sie kennenzulernen, Drake. Danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben.“

Doch Drake antwortete nicht, da er die Tür bereits schwungvoll geschlossen hatte – etwas schwungvoller, und er hätte sie uns vor der Nase zugeknallt.

„Ich kann nicht glauben, dass du ihn hast gehen lassen“, beschwerte sich Mildred, als ich sie von der Veranda hinunter und die Einfahrt entlangschleifte.

Ihn gehen lassen? Was soll das heißen? Es ist sein gutes Recht, sich in das Haus zurückzuziehen, auf das er aufpasst.“

„Wir haben nur sein Wort, dass Jonas ihm die Erlaubnis erteilt hat“, schnaubte Mildred. „Mir gegenüber hat er nie einen Cousin erwähnt.“

Ich wies sie nicht darauf hin, dass es womöglich so einiges gab, was sie nicht über Jonas wusste, da sie kaum miteinander sprachen. „Nun, zumindest wissen wir jetzt, dass er wirklich im Urlaub ist. Das hat man dir doch bestätigt, als du beim Postamt angerufen hast, nicht wahr? Und den Haussitter einige Arbeiten im und ums Haus verrichten zu lassen, erscheint mir wie eine kluge Idee.“

„Jonas gärtnert aber nicht“, erwiderte Mildred ungehalten. „Und ich weigere mich zu glauben, dass er einen Vampir darum bitten würde, auf sein Haus aufzupassen.“

„Ich denke nicht, dass Drake ein Vampir ist.“

Mildred riss die Augen auf. „Wie bitte? Natürlich ist er einer! Hast du nicht gesehen, wie blass er ist?“

„Na ja, er sagte, das liege an einer Erkrankung …“

Mildred schnaubte verächtlich. „Ja, klar. Eine Sonnenallergie! Hast du so was schon mal gehört?“

„Nur, weil ich noch nie davon gehört habe, bedeutet das nicht, dass sie nicht real ist“, erwiderte ich. „Seine Blässe wirkte tatsächlich etwas unnatürlich. Vielleicht bekommt er schnell Sonnenbrand.“

„Oh, mit Sicherheit“, murmelte Mildred grimmig. „Und dann noch dieser Name … Drake, was offensichtlich die Abkürzung von Dracula ist, und Crimson – wenn sich das mal nicht auf die Farbe von Blut bezieht!“

Widerwillig musste ich zugeben, dass sein Name ziemlich seltsam klang.

„Okay, du hast recht, an Drake ist so einiges merkwürdig. Aber das bedeutet trotzdem nicht, dass er ein Vampir ist“, entgegnete ich.

Mildred bedachte mich mit einem missbilligenden Blick. „Wie kannst du das sagen? Sieh dir doch nur die ganzen Beweise an!“

„Der Knoblauch hat ihn nicht gestört“, gab ich zu bedenken.

„Er sagte, er mag den Geruch nicht.“

„Er sagte, der Geruch sei sehr penetrant“, korrigierte ich sie. „Und das stimmt ja auch. Er ist penetrant.“

Mildred stieß einen tiefen Seufzer aus. „Wie schade, dass ich meinen Spiegel nicht finden konnte.“

Einen Spiegel? Was für eine Erleichterung, dass sie nicht tatsächlich nach einem Holzpflock gesucht hatte. „Danach hast du also in deiner Tasche gekramt?“

„Ja“, grummelte sie, während wir die Stufen zu ihrer Haustür hinaufstiegen. „Damit hätten wir sehen können, ob er ein Spiegelbild hat, und dann wärst selbst du überzeugt gewesen. Ich war mir so sicher, ihn eingepackt zu haben. Vielleicht sollten wir ihn suchen und noch mal rübergehen …“

„Nein“, erwiderte ich streng, als ich die Tür öffnete und Mildred hineinschob. „Das ist viel zu riskant.“ Auf keinen Fall wollte ich, dass sie mit immer neuen Vampir-Enttarnungsmethoden bei Drake auftauchte.

Riskant?“ Sie drehte sich auf dem Absatz um und musterte mich verwirrt. „Du sagtest doch, du glaubst nicht daran, dass er ein Vampir ist.“

„Ich weiß nicht, was er ist“, entgegnete ich. Obwohl ich nicht von ihrer Theorie überzeugt war, hielt ich ihn nicht für harmlos. Etwas an ihm beunruhigte mich, und es war mehr als nur die Tatsache, dass er mitten in der Nacht im Garten eines Hauses, das ihm nicht gehörte, Löcher buddelte. „Trotzdem solltest du vorsichtig sein, da er ein Fremder ist. Bis wir mehr wissen, wäre es besser, du würdest dich von ihm fernhalten.“

Mildred musterte mich schockiert. „Aber was, wenn er eine Gefahr für andere ist und wir nichts unternehmen? Machen wir uns dadurch nicht mitschuldig?“

„Wir wissen nicht, ob er eine Gefahr für andere darstellt“, erwiderte ich mit fester Stimme. „Alles, was wir mit Sicherheit sagen können, ist, dass er ein wenig merkwürdig rüberkommt. Mehr nicht.“

„Aber …“, wollte Mildred protestieren.

„Hör zu“, fiel ich ihr ins Wort. „Warum behältst du ihn nicht im Auge? Beobachte ihn und schreib alles auf, was dir seltsam vorkommt …“

„Was könnte seltsamer sein, als mitten in der Nacht Löcher zu graben?“

„Ja, das natürlich auch“, sagte ich. „Aber notiere dir trotzdem alles, was du siehst. Und wenn wir den Eindruck haben, dass wir doch besser die Polizei einschalten sollten, kannst du ihnen deine Aufzeichnungen als Beweis vorlegen.“

Ich wartete mit angehaltenem Atem, während Mildred über meinen Vorschlag nachdachte. Der Gedanke, sie könnte hinüberstürmen und Drake mit einem Spiegel oder einer Flasche Weihwasser konfrontieren, bereitete mir Kopfschmerzen. Im besten Fall würde er einfach die Polizei rufen.

Im schlimmsten Fall … Darüber wollte ich nicht einmal nachdenken. Nein, ich glaubte nicht, dass er ein Vampir war, dennoch könnte er sie verletzen, vor allem, wenn er glaubte, aus Selbstschutz zu handeln.

„Okay, da ist was dran“, sagte sie schließlich, und ich atmete erleichtert auf. „Es ist immer gut, einen Papiernachweis zu haben.“

„Sehr schön“, stimmte ich zu. „Und du meldest dich bei mir, wenn es etwas Neues gibt, ja?“

„Natürlich“, erwiderte sie mit einem Schniefen. „Wem soll ich denn sonst Bescheid sagen?“

„Und du wirst auch nicht noch mal rübergehen?“

Sie zögerte, als wollte sie am liebsten widersprechen.

„Mildred“, sagte ich. „Versprich mir, dass du nicht noch einmal zu ihm rübergehst.“

„Aber was, wenn ich sehe, wie er jemanden … verletzt?“

„Dann rufst du die Polizei“, entgegnete ich. „Und mich auch. Aber auf keinen Fall gehst du rüber.“

Mildred stieß einen Seufzer aus. „Also gut.“

Kapitel 5

„Gibt’s was Neues vom Vampir?“, fragte Pat, während sie in ihrem Chefsalat herumstocherte.

Wir hatten uns nach meiner morgendlichen Teeauslieferung zu einem späten Mittagessen in Aunt May’s Diner getroffen.

„Abgesehen davon, dass er weiterhin Löcher im Garten gräbt, nicht wirklich“, erwiderte ich und nahm einen Bissen von meinem gemischten Salat.

„Immer noch mitten in der Nacht?“

„Mildred zufolge schon.“

„Das ist doch total verrückt“, meinte Pat kopfschüttelnd. „Der muss irgendwas zu verbergen haben.“

„Genau das denkt Mildred auch. Aber bisher sieht es wirklich so aus, als würde er genau das machen, was er gesagt hat – einen Garten anlegen.“

„Und wie sieht dieser angebliche Garten aus?“

„Die Beete sollen wohl entlang der Rückseite von Jonas’ Grundstück verlaufen“, sagte ich. „Vielleicht ist es aber gar kein Blumenbeet, sondern eher Platz für eine Hecke oder Baumreihe. Hinter den Häusern von Mildred und Jonas steht bisher noch nichts, aber du weißt ja, das kommt früher oder später. Fürs Grundstück wäre das jedenfalls ein echter Gewinn.“

„Mir kommt das Ganze trotzdem reichlich schräg vor“, sagte Pat und versuchte, ein besonders widerspenstiges Salatblatt aufzuspießen. „Wenn Jonas wirklich jemanden wollte, der auf sein Haus aufpasst und nebenbei ein paar Arbeiten erledigt, warum hat er dann ausgerechnet diesen Vampir damit beauftragt? Wer stellt denn einen Handwerker ein, der nicht mal in die Sonne kann?“

Sie gab den Kampf mit dem Salat fürs Erste auf, legte die Gabel nieder und sah mich mit ernster Miene an.

„Glaubst du ihm das mit seiner Krankheit?“

„Möglich wäre es“, sagte ich. „Es gibt tatsächlich ein paar seltene Erkrankungen, bei denen Menschen extrem lichtempfindlich sind. Sie sind zwar nicht weit verbreitet, aber sie existieren.“

„Weißt du, was einen ebenfalls lichtempfindlich macht? Ein Vampir zu sein“, erwiderte Pat trocken und griff wieder zur Gabel.

„Jetzt klingst du schon wie Mildred“, seufzte ich.

Pat grinste. „Hast du schon mal vom Vampir des Highgate-Friedhofs gehört?“

Mir fiel beinahe die Gabel aus der Hand. „Willst du mich veräppeln? Reicht es nicht, dass der Friedhof hier in Redemption von Wasserspeiern bevölkert ist? Jetzt erzählst du mir, es gibt noch einen zweiten Friedhof im Ort, auf dem ein Vampir sein Unwesen treibt?“

Pat lachte. „Ich würde es Redemption ja zutrauen, aber nein – soweit ich weiß, haben wir hier nur ein Wasserspeierproblem. Highgate liegt in London und ist angeblich einer der am meisten heimgesuchten Friedhöfe der Welt.“

„Na klar, wenn da ein Vampir wohnt, ist das ja wohl kein Wunder.“

„Ob da wirklich einer haust, weiß ich nicht, aber zumindest waren in den Siebzigern einige Leute davon überzeugt.“

Ich musterte sie eindringlich. „Moment … Du meinst das ernst.“

Pat nickte. „Todernst. Aber im tatsächlichen Todesfall bitte nicht in Highgate beerdigen.“

Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen.

„Die Leute dachten wirklich, da läuft ein Vampir rum?“

„O ja. Es gab eine Riesenpanik damals. Irgendein Okkultismus-Experte hat angeblich Hinweise auf satanische Rituale gefunden und dann behauptet, man hätte versucht, mit deren Hilfe einen Vampir zum Leben zu erwecken.“

Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück. „Kaum zu fassen, dass die Menschen heutzutage ernsthaft an die Existenz von Vampiren glauben.“

„Ich will damit nur sagen, dass diese Angst seit Jahrhunderten besteht“, erwiderte Pat. „Das soll nicht heißen, dass es sie gibt – aber ich behaupte auch nicht, dass es sie nicht gibt.“

Sie zuckte mit den Schultern. „So gesehen ist Mildreds Verdacht vielleicht gar nicht so weit hergeholt.“

„Die Leute sind auch so schon seltsam genug“, sagte ich. „Da muss man sie nicht noch zu Vampiren machen.“

Pat wollte gerade etwas erwidern, als plötzlich ein lauter Tumult am Tresen entstand.

„Was ist denn da los?“, fragte ich, während ich versuchte, einen Blick zu erhaschen.

„Keine Ahnung“, antwortete Pat.

Ich spitzte die Ohren, versuchte, die Gesprächsfetzen am Nachbartisch aufzuschnappen, aber das Einzige, was zu mir durchdrang, war das Wort „verschwunden“.

Ein kalter Schauer lief mir den Rücken hinunter. Plötzlich wirkte Mildreds Gerede über Vampire nicht mehr ganz so abwegig.

„Hast du das auch gehört?“, fragte ich Pat leise. „Ist jemand verschwunden?“

Pat nickte mit weit aufgerissenen Augen – offenbar hatte sie denselben Gedanken wie ich.

Bevor ich etwas hinzufügen konnte, löste sich Sue, unsere Kellnerin, aus der Menge und kam zu uns herüber.

„Darf’s noch etwas sein?“, fragte sie und deutete auf mein Glas Cola. Ihr braunes lockiges Haar war länger als sonst und zeigte ein bisschen Spliss an den Spitzen.

„Gern“, erwiderte ich, weniger, weil ich wirklich mehr Cola wollte, sondern weil es mir die Gelegenheit gab, sie auszufragen. „Was ist denn los?“

Ihre Miene wurde ernst. „Oh, ihr habt es nicht mitbekommen? Polly Pembrook ist verschwunden.“

Pat klappte die Kinnlade herunter. „Polly? Ist die nicht eine der Jüngsten der Pembrook-Kinder?“

„Eher so in der Mitte“, korrigierte Sue sie und pustete sich eine Haarsträhne aus der Stirn. „Sie ist gerade siebzehn geworden.“

„Ach stimmt ja“, erwiderte Pat. „Ich vergesse immer die, die gerade auf die Highschool gekommen ist. Und was ist jetzt mit Polly? Ist sie einfach nicht nach Hause gekommen, oder wie?“

„Hast du gerade Polly gesagt?“ Ein schmales, zierliches Mädchen tauchte plötzlich neben Sue auf. Ihr Haar war glanzlos und schlaff, ihr braunes Kleid wenig schmeichelhaft.

„Oh, hey, Linda – ich habe gar nicht gesehen, dass du reingekommen bist“, sagte Sue. „Du bist zum Abholen da, oder?“

„Ja“, antwortete Linda geistesabwesend. „Aber habe ich das eben richtig gehört? Geht es um Polly Pembrook? Ist ihr etwas zugestoßen?“

„Das weiß niemand so genau. Sie ist verschwunden.“

Lindas Augen weiteten sich. „Verschwunden?“

„Ja, furchtbar, oder?“

Linda wurde, wenn möglich, noch ein bisschen blasser. „Was ist passiert? Wie lange wird sie schon vermisst?“

„Ich bin mir nicht sicher. Ich glaube, sie ist letzte Nacht nicht nach Hause gekommen.“ Sue hielt inne, als ein Pärchen am Nebentisch wild zu winken begann. „Oh, ich muss mal kurz zu denen … Ich schau gleich nach eurer Bestellung, bin sofort zurück.“

Nachdem Sue davongeeilt war, rutschte ich von meiner Sitzbank und trat mit meinem freundlichsten Lächeln auf Linda zu.

„Hey, willst du dich nicht zu uns setzen, während du auf dein Essen wartest?“ Linda sah nicht besonders gut aus, und ich befürchtete, dass sie einfach umkippen könnte, wenn sie stehen blieb.

Sie blinzelte ein paar Mal, bevor sie ihre Aufmerksamkeit auf mich richtete. „Ich … ich sollte eigentlich zurück ins Büro.“

Aus nächster Nähe fiel mir auf, dass sie älter war, als ich zuerst gedacht hatte – eher Mitte zwanzig als jugendlich. Ich legte ihr sanft eine Hand auf den Arm.

„Aber du brauchst doch erst mal dein Essen, oder? Ich glaube nicht, dass es schneller kommt, wenn du hier rumstehst.“

Sie sah aus, als wollte sie widersprechen, doch dann atmete sie tief durch und ließ sich von mir zu unserem Tisch führen.

„Ich bin übrigens Charlie“, sagte ich. „Und das hier ist …“

„Pat!“, rief Linda. „Ich habe dich gar nicht gesehen.“

„Ihr kennt euch?“, fragte ich und zwängte mich wieder auf meinen Platz.

Pat verdrehte die Augen. „Bitte. Hast du etwa immer noch nicht gemerkt, dass ich hier jeden kenne? Wie geht’s deiner Mutter, Linda?“

„Gut“, antwortete diese, genauso geistesabwesend wie gerade bei Sue. Sie setzte sich vorsichtig neben mich auf die Sitzbank. „Aber Polly … Wisst ihr, was mit ihr passiert ist?“

„Nein, wir haben es auch gerade erst erfahren“, erwiderte Pat.

„Die Familie muss am Boden zerstört sein“, sagte Linda mitfühlend. „Ich sollte vielleicht mal vorbeischauen, sehen, ob ich irgendwas tun kann.“

„Ich bin nur überrascht, dass sich das erst jetzt herumspricht – es ist schon nach Mittag“, merkte ich an.

„Ich vermute, bei den Pembrooks herrscht ziemliches Chaos“, meinte Pat. „Wie viele Kinder haben sie noch mal? Acht?“

„Acht?“, wiederholte ich ungläubig.

„Tatsächlich sind es neun“, korrigierte Linda sie.

Neun?“

„Wie gesagt, bei denen ist es wahrscheinlich schon an einem normalen Morgen chaotisch genug“, meinte Pat, dann musterte sie Linda aufmerksam. „Du warst doch mit dem Ältesten in der Schule, oder?“

Linda lief knallrot an. „Mit dem Zweitältesten.“

Pat nickte. „War das Donny oder Jillian?“

Sie wurde noch röter. „Donny.“

„Ja, richtig.“

„Also, bei so vielen Kindern kann ich schon verstehen, dass man mal den Überblick verliert“, sagte ich.

„Ehrlich gesagt wundert es mich, dass das nicht öfter passiert“, pflichtete Pat mir bei.

„Das ist so furchtbar“, murmelte Linda und blickte sich um, während sie nervös an der Ecke meiner Serviette zupfte.

„Finde ich auch“, sagte Pat. „Trotzdem hoffe ich, dass nichts Schlimmes passiert ist. Vielleicht hat sie ein bisschen zu viel getrunken und schläft irgendwo ihren Rausch aus.“

„Nein, ich meine … der ganze Tag ist einfach furchtbar“, erklärte Linda. „Auf der Arbeit lief es schon mies, dann die Sache mit Polly, und das Mittagessen lässt auf sich warten … Ach, ihr haltet mich jetzt bestimmt für schrecklich. Polly ist verschwunden, und ich beschwere mich über solche Kleinigkeiten.“

„Nein, das tun wir nicht“, versicherte ich ihr, während Pat überrascht den Kopf schüttelte. „Du kanntest Polly ja offensichtlich. Natürlich beeinflusst dich das. Und wenn der Tag sowieso schon schlecht angefangen hat … na ja, dann ist das einfach ätzend.“

„Ja“, erwiderte Linda leise und zupfte noch nervöser an meiner Serviette herum, wobei sie die winzigen Papierschnipsel auf dem Tisch verteilte. „Mein Chef flippt immer aus, wenn ich mit dem Essen zu spät dran bin“, platzte sie heraus. „Ich bin schon viel zu spät los, um es zu holen, und jetzt habe ich auch noch das mit Polly erfahren …“

„Tut mir leid, dass es ein wenig länger gedauert hat“, sagte Sue, die wie aus dem Nichts auftauchte und eine Papiertüte in der Hand hielt. „Brauchst du sonst noch was?“

„Nein, ich muss los“, erwiderte Linda und sprang hastig auf. „Vielen Dank, dass ich bei euch sitzen durfte.“

„Keine Ursache“, sagte ich, aber sie war schon auf dem Weg zur Tür. „Ich hoffe, ihr Chef ist nicht allzu hart zu ihr“, fügte ich, an Pat gewandt, hinzu.

Sue verdrehte die Augen. „Der ist ein echtes Ekel. Aber vielleicht zeigt er ja ein bisschen Mitgefühl, wenn er von Polly hört. Kann ich euch noch etwas bringen?“

***

„Hast du heute schon einen Blick in die Zeitung geworfen?“, brüllte Mildred mir ins Ohr.

Ich verzog das Gesicht und klemmte mir den Hörer zwischen Schulter und Wange, in der Hoffnung, sie würde sich ein wenig beruhigen.

„Ich bin gerade dabei“, sagte ich, während ich sie mit einem mulmigen Gefühl entfaltete.

„Da steht, ein Mädchen ist verschwunden!“, schrie Mildred erneut, und ich hielt den Hörer etwas weiter weg.

Das war nicht gut. Ich hatte wirklich gehofft, Pat hätte recht gehabt und Polly würde einfach irgendwo ihren Rausch ausschlafen, weil sie ihren Eltern nicht betrunken unter die Augen treten wollte. Aber offenbar war die Lage ernster.

„Und du weißt, was das bedeutet.“

Ich seufzte innerlich. Ich wusste genau, worauf sie hinauswollte, konnte jedoch nicht anders, als zu fragen: „Was denn?“

„Es war der Vampir!“

Und da hatten wir es.

„Du glaubst doch nicht ernsthaft …“

„Wir wissen beide, dass Drake Crimson keine Beete in Jonas’ Garten anlegt“, unterbrach mich Mildred. „Ich wette, genau dort finden wir das arme Mädchen.“

O nein. In meinem Kopf schrillten sämtliche Alarmglocken. „Bitte sag mir, dass du nicht in Jonas’ Garten herumgeschnüffelt hast.“

„Natürlich nicht“, brummte Mildred. „Aber, Charlie, wir müssen etwas tun! Ein Mädchen ist bereits verschwunden. Wie lange wird es wohl dauern, bis das nächste dran ist?“

Zugegebenermaßen war es schon seltsam, dass genau zu dem Zeitpunkt, als ein Fremder in die Stadt zog und nächtelang Löcher in seinem Garten grub, plötzlich ein Teenager verschwand.

„Gib mir eine halbe Stunde. Ich hole dich ab.“

„Du holst mich ab?“ Mildred klang überrascht. „Willst du nicht lieber direkt zu Drake und ihn zur Rede stellen?“

„Nein“, sagte ich ernst. „Es wird Zeit, dass wir zur Polizei gehen.“

***

„Setzen Sie sich“, sagte Officer Brandon Wyle und deutete auf die beiden Stühle vor seinem Schreibtisch. Während er sich durch die Papierstapel wühlte, um einen Stift zu finden, fragte er: „Sie haben also Informationen zum Fall Polly Pembrook?“

„Ja“, sagte Mildred eifrig und ließ sich auf die Kante ihres Stuhls sinken. Es hatte einiges an Überredungskunst gebraucht, sie dazu zu bringen, überhaupt mit der Polizei zu sprechen. Sie war überzeugt, dass man ihr sowieso nicht glauben würde, und wenn doch, dann würden die Beamten garantiert alles vermasseln. Schließlich hatte ich ihr klargemacht, dass die Polizei so oder so eingeschaltet werden würde. Da stimmte sie widerwillig zu. Die Alternative wäre gewesen, Jonas’ Garten selbst umzugraben … in dem Fall hätte Drake die Polizei vermutlich direkt selbst gerufen.

„Wahrscheinlich ist es wirklich besser, wenn wir zuerst mit denen reden“, hatte sie gemurmelt, alles andere als begeistert klingend.

„Stell dir nur mal vor, wie froh die Pembrooks wären, wenn wir der Polizei helfen würden, ihre Tochter zu finden“, versuchte ich sie aus ihrer negativen Gemütslage herauszuholen. Wenn Mildred gleich beim Gespräch mit dem Beamten schnippisch wurde, wäre das ganz sicher nicht förderlich.

Offenbar gefiel ihr die Vorstellung, bei der Suche nach Polly zu helfen – vielleicht sogar ein bisschen zu sehr, dachte ich, und machte mir Sorgen, dass sie sich in ihrem Eifer zu weit aus dem Fenster lehnen könnte. Wir hatten vorher besprochen, das Thema Vampir nicht zu erwähnen, und sie hatte auch gesagt, sie verstehe meine Argumentation, allerdings sah sie dabei enttäuscht aus.

Worüber ich ebenfalls wenig erfreut war: Ausgerechnet Brandon Wyle war derjenige, der uns befragte. Von allen Polizisten in Redemption war er der, mit dem ich am häufigsten zu tun hatte, ob ich nun wollte oder nicht.

Er sah auch nicht gerade begeistert aus, mich zu sehen.
„Warum überrascht mich das nicht?“, fragte er, als er uns am Empfang stehen sah.

„Es ist auch schön, dich zu sehen“, erwiderte ich trocken.

Wyle schüttelte den Kopf und bedeutete uns, ihm zu seinem Schreibtisch im hinteren Bereich des Reviers zu folgen. Ich hatte ihn seit jenem Wochenende nicht mehr gesehen, als wir während eines Schneesturms mit Claires Familie und einem toten Anwalt in einer abgelegenen Hütte eingeschneit gewesen waren. Ein Wochenende, das man nicht so schnell vergaß. Obwohl das nun schon ein paar Monate zurücklag, wirkte Wyle noch immer erschöpft. Sein dunkles Haar war nach wie vor zu lang, kringelte sich im Nacken, und die Schatten unter seinen Augen ließen vermuten, dass er nicht besonders gut schlief. Ich fragte mich, ob er sich Sorgen um Polly machte … oder ob er womöglich wieder mit Lucy, Claires Cousine, zusammen war. Die konnte ziemlich anstrengend sein. Zuletzt hatte ich gehört, dass sie sich getrennt hatten – und auch wenn es mich eigentlich nichts anging, störte mich der Gedanke, dass sie vielleicht wieder zusammen waren, aus irgendeinem Grund.

Er setzte sich uns gegenüber, wobei seine Uniform über seiner breiten Brust spannte.

„Also, zu Polly“, sagte Wyle, als er endlich einen Stift gefunden und seinen Notizblock aufgeschlagen hatte. Das Klappern von Schreibmaschinen, Klingeln von Telefonen und Gemurmel von Stimmen erfüllte die Luft. Der Geruch war derselbe wie immer – eine ranzige Mischung aus verbranntem Kaffee, Schweiß und alten Socken. Ich versuchte, durch den Mund zu atmen. „Was für Informationen haben Sie?“

„Wir wissen, wo sie ist“, sagte Mildred.

„Das stimmt nicht ganz“, warf ich ein, als Wyle die Brauen hob. „Aber wir haben einen Hinweis, den ihr euch vielleicht ansehen solltet.“

„Und je schneller, desto besser“, ergänzte Mildred. „Es könnte sein, dass er sie noch nicht umgebracht hat.“

„Umgebracht?“ Wyle, der sich in seinem Stuhl zurückgelehnt hatte, beugte sich so abrupt vor, dass die vorderen Stuhlbeine mit einem dumpfen Knall auf dem Boden landeten. „Sie fangen besser ganz von vorne an.“

„Es ist mein Nachbar“, sagte Mildred, bevor ich antworten konnte.

„Ihr Nachbar?“ Obwohl Wyle sein typisches „Polizistengesicht“ aufgesetzt hatte – also keine Miene verzog –, konnte ich das plötzliche Interesse in seinen Augen sehen. „Warum glauben Sie, dass es Ihr Nachbar ist?“

„Nicht direkt ihr Nachbar“, warf ich ein. „Sie meint den Haussitter ihres Nachbarn.“

„Und wo ist Ihr Nachbar?“

„Wir gehen davon aus, dass er im Urlaub ist“, sagte Mildred.

Wyle runzelte die Stirn. „Sie gehen davon aus, dass er im Urlaub ist? Sie wissen es also nicht?“

„Nein!“, rief Mildred und beugte sich leicht nach vorn. „Jonas hat mir nicht gesagt, dass er für einen Monat in den Urlaub fährt. Finden Sie das nicht auch seltsam? Und anscheinend hat er einen Haussitter engagiert, den ich noch nie zuvor gesehen oder getroffen habe. Ich finde das alles sehr verdächtig.“

Wyle atmete einmal tief durch, vermutlich, um sich einen Moment Zeit zum Verarbeiten dieser Wortflut zu verschaffen.
„Also, wie haben Sie überhaupt von dem Haussitter erfahren, wenn – Sie sagten Jonas? Wenn Jonas Ihnen nichts davon erzählt hat?“

„Na ja, wir sind natürlich rübergegangen.“

Wyle blickte von ihr zu mir.

Wir?“

„Ja, ich habe sie begleitet“, antwortete ich.

Es sah aus, als bekäme Wyle langsam Kopfschmerzen.

„Gab es einen bestimmten Grund, warum Sie den neuen Haussitter unbedingt kennenlernen wollten?“

„Weil Charlie fand, dass das Ganze nicht sicher wirkte“, sagte Mildred.

Ein Muskel zuckte in Wyles Kiefer.

„Und was genau war daran nicht sicher?“

Mildred wollte gerade antworten, doch ich legte ihr eine Hand auf den Arm.
„Er hatte ein paar … merkwürdige Angewohnheiten. Und wir dachten, es wäre vielleicht besser, wenn wir uns ihm einfach mal vorstellen und ihm die Gelegenheit geben, sich zu erklären.“

Wyle verzog das Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen. „Und was genau waren das für merkwürdige Angewohnheiten?“

„Er lässt sich nur nachts blicken!“, platzte Mildred heraus. „Sogar zum Graben im Garten.“

„Zum Graben im Garten?“, wiederholte Wyle, aber Mildred war jetzt in Fahrt.

„Und nicht nur das – alle Fenster sind verhängt. Wirklich alle. Ganz offensichtlich kann er das Sonnenlicht nicht ertragen. Er ist sogar mitten in der Nacht eingezogen. Und Jonas muss auch mitten in der Nacht abgereist sein … falls er überhaupt weggefahren ist, denn ich habe ihn nicht dabei gesehen.“

Falls er überhaupt weggefahren ist … Ich warf Mildred einen flüchtigen Seitenblick zu und fragte mich, woher diese neueste Schnapsidee kam. Gleichzeitig hoffte ich, dass Wyle die Bemerkung nicht registriert hatte.

Ich hätte es besser wissen müssen. Natürlich hatte er es gehört.

„Wie meinen Sie das, falls er überhaupt weggefahren ist?“

Mildred richtete sich auf. „Ich habe mir gedacht, es könnte durchaus sein, dass Polly gar nicht Drakes erstes Opfer war. So heißt der Haussitter. Ich meine, es gab schon längere Pausen zwischen dem Verschwinden von Leuten, aber wenn er mit Jonas angefangen hat … Das würde einiges erklären.“

Ich schloss die Augen. O nein.

Wyle hob eine Hand. „Moment mal. Es klingt, als wären Sie nicht besonders überrascht darüber, dass der Haussitter Ihres Nachbarn … äh … Leute verschwinden lässt. Warum?“

„Na, weil er ein Vampir ist“, sagte Mildred völlig ernst.

Wyle starrte sie an. Ich glaube nicht, dass ich ihn jemals sprachlos erlebt hatte – bis jetzt. Mildred hatte es tatsächlich geschafft.

„Ein Vampir?“, wiederholte er schließlich.

„Wir wissen natürlich nicht mit Sicherheit, ob er ein Vampir ist“, warf ich schnell ein.

Mildred verdrehte die Augen. „Natürlich ist er einer. Was denn sonst?“

Wyle rieb sich die Nasenwurzel. „Und warum genau glauben Sie, dass er ein Vampir ist?“

Mildred begann, ihre Argumente an den Fingern abzuzählen.
„Erstens: sein Name. Er heißt Drake Crimson. Also bitte … vampirischer geht’s ja wohl kaum.“

„Natürlich“, murmelte Wyle tonlos.

„Und er kommt nur nachts raus, weil ihn die Sonne umbringen würde.“

„Das hat er so nicht gesagt“, wandte ich ein. „Er meinte, er sei gegen Sonnenlicht allergisch.“

Mildred schüttelte den Kopf.
„Jaja, eine Allergie. Ist klar.“

Wyle warf mir einen Blick zu. „Meinen Sie das ernst?“

„Ja“, beharrte Mildred, doch ich legte erneut eine Hand auf ihren Arm.

„Also gut, es ist möglich, dass Drake Crimson wirklich eine Sonnenallergie hat“, sagte ich. „Er ist extrem blass – wirklich fast so weiß wie ein Albino –, von daher könnte das durchaus sein. Es ist selten, aber möglich.“

„Und wenn er so eine Allergie hätte – würde das sein Verhalten erklären?“, fragte Wyle.

„Ja. Je nachdem, wie schlimm es ist, kann selbst minimale Sonnenexposition starke Schmerzen verursachen. Wir reden von schweren Sonnenbränden, Blasenbildung, dem ganzen Programm. Wenn er wirklich so eine Erkrankung hätte, würde er die Sonne unter allen Umständen meiden.“

„Okay, und was hat es mit dem nächtlichen“, Wyle warf einen Blick auf seine Notizen, „Graben auf sich?“

„Er behauptet, er lege Beete für Jonas an, aber ich habe Jonas noch nie gärtnern sehen“, sagte Mildred.

„Was genau macht er denn?“

„Er gräbt Löcher im Garten hinter Jonas’ Haus“, erklärte Mildred mit hörbarer Ungeduld. „Ich glaube allerdings, es sind eigentlich Gräber.“

„Gräber … für seine Opfer?“

Mildred nickte eifrig. „Genau. Officer Wyle, wir müssen ihn aufhalten. Ich meine, ich weiß, dass er sich ernähren muss und so, aber wir können doch nicht zulassen, dass ein Vampir durch die Nachbarschaft streift und Leute umbringt.“

„Nein, das können wir wirklich nicht“, sagte Wyle mit einem tiefen Seufzer.
„Also sehen Sie sich das mal näher an?“, fragte Mildred hoffnungsvoll.

„Ja. Aber ich habe noch ein paar Fragen. Haben Sie diesen Drake Crimson jemals mit Polly gesehen?“

„Nein“, entgegnete Mildred ungeduldig. „Ich habe Ihnen doch gesagt, er kommt nur nachts raus.“

„Ja, das haben Sie erwähnt. Und er ist immer allein?“

Mildred druckste ein wenig herum. „Na ja, es ist ja nicht so, als würde er jemanden lebendig begraben, oder?“

„Das kann ich nicht sagen“, erwiderte Wyle in neutralem Ton. „Haben Sie sonst noch etwas Verdächtiges beobachtet?“

„Sie meinen etwas noch Verdächtigeres als alles, was wir Ihnen bereits erzählt haben?“

„Ich dachte an so etwas wie … ihn dabei zu sehen, wie er tatsächlich etwas vergräbt“, stellte Wyle klar.

Mildreds Miene erhellte sich. „Ich habe ihn mit einem Sack gesehen!“

„Einem Sack?“

„Ja. Ich konnte nicht genau erkennen, was es war, aber was auch immer darin war, war so schwer, dass er ihn hinter sich herschleifen musste.“

Wyles Blick wurde wachsamer, als er sich eine Notiz machte. „Und wann war das?“

Mildred runzelte nachdenklich die Stirn. „Vor etwa einer Woche. Vielleicht auch ein bisschen länger her.“

„Also bevor Polly verschwunden ist?“

„Ja“, setzte Mildred an, bevor sie die Augen aufriss. „Das war Jonas!“, keuchte sie. „Ich muss gesehen haben, wie Drake Jonas in den Garten geschleift hat.“ Sie schlug sich erschrocken die Hand vor den Mund. „Ach, der arme Jonas.“

Wyle sah mich an.
„Sonst noch etwas?“

Mildred, die ganz blass geworden war, schüttelte den Kopf, die Hand immer noch vor dem Mund.

„Brauchen Sie etwas? Ein Glas Wasser? Eine Tasse Kaffee?“

Mildred schüttelte erneut den Kopf, ihre Augen waren ganz glasig. „Nein, es ist nur … Mir war nicht bewusst, was ich gesehen habe. Ich habe das alles erst jetzt verstanden.“

„Wir wissen nicht, ob es Jonas war“, sagte ich. „Du erinnerst dich doch sicher daran, dass sein Chef dir gesagt hat, er sei im Urlaub. Also ist Drake wahrscheinlich tatsächlich ein legitimer Haussitter.“

„Ja, aber warum habe ich Jonas dann nicht wegfahren sehen?“, fragte Mildred in gequältem Tonfall.

Wyle winkte einem Polizisten hinter uns zu. „Officer Smitty wird Sie begleiten, damit Sie sich eine Tasse Kaffee holen können.“

Officer Smitty erschien an Mildreds Seite. Er war mittleren Alters, hatte einen dichten Schnurrbart und ein leichtes Bäuchlein. „Ma’am“, sagte er respektvoll. „Setzen wir uns doch wohin, wo es ein bisschen bequemer ist.“

„Ich weiß nicht“, murmelte Mildred unglücklich. „Jonas hat es wahrscheinlich gerade auch nicht besonders bequem. Warum sollte ich es dann besser haben?“

Smitty wechselte einen Blick mit Wyle. „Kommen Sie. Wenn wir darüber reden, geht es Ihnen vielleicht besser.“

Mildred wirkte, als wolle sie protestieren, aber Smitty war offenbar nicht der Typ, der ein Nein akzeptierte. Er half ihr auf und führte sie davon.

Als wir allein waren – zumindest so allein, wie man in einer belebten Polizeiwache eben sein konnte –, stützte Wyle die Ellbogen auf den Schreibtisch und sah mich eindringlich an. „Charlie, was läuft hier eigentlich wirklich?“

„Ich bin mir nicht sicher, aber da ein Mädchen vermisst wird, dachte ich, du hättest vielleicht gern von dem Typen gewusst, der gerade neu in die Stadt gezogen ist und mitten in der Nacht Löcher im Garten gräbt.“

Wyle rieb sich erneut die Nasenwurzel. „Das meine ich nicht. Warum unterstützt du die Wahnvorstellungen einer älteren Dame?“

„Mildred ist nicht wahnsinnig“, sagte ich hitzig.

„Sie glaubt, dass ein Vampir neben ihr wohnt“, konterte Wyle. „Denkst du nicht, das ist wahnsinnig?“

„Nun, es wäre nicht das erste Mal, dass eine Vampirhysterie ausbricht“, sagte ich. „Ich meine, vor gerade mal zwanzig Jahren, 1970, gab es den Highgate-Vampir in London …“

„Das hier ist nicht 1970 und auch nicht London“, unterbrach mich Wyle.

„Ja, aber manche würden sagen, dass Redemption wesentlich abgedrehter und verwunschener ist als London.“

„Ich stimme zu, dass es in Redemption mitunter sehr merkwürdig zugeht, aber ein Haussitter-Vampir geht selbst für diese Stadt zu weit.“

„Schau“, sagte ich und lehnte mich leicht nach vorne. „Ich weiß nicht, was mit dem Typen los ist. Aber es ist seltsam, dass er mitten in der Nacht Löcher buddelt, Sonnenallergie hin oder her. Besonders in einem Garten, der ihm nicht gehört. Findest du nicht?“

Wyle seufzte. „Ja, stimmt schon, aber du hättest nicht einfach bei ihm auftauchen sollen.“

„Willst du damit sagen, dass ich Mildred allein hätte gehen lassen sollen? Denn genau das hatte sie vor.“

„Nein, ich sage, du hättest die Polizei rufen sollen.“

Ich warf ihm einen genervten Blick zu. „Im Ernst?“

Er kniff die Augen zusammen. „Du verstehst schon, dass das, was du getan hast, nicht sicher war?“

Ich zog die Brauen hoch. „Sicher? Wyle, das war vor einer Woche. Polly war noch nicht verschwunden. Tatsächlich war noch niemand verschwunden, außer Jonas, dessen Chef jedoch sagte, er sei für einen Monat im Urlaub. Und da hätten wir die Polizei rufen sollen, weil der Haussitter im Garten Löcher buddelt?“

„Mitten in der Nacht“, fügte Wyle hinzu.

„Genau! Deswegen haben wir vorbeigeschaut, um der Sache auf den Grund zu gehen. Aber willst du mir wirklich erzählen, dass ihr das ernst genommen hättet?“ Ich tat so, als hielte ich mir einen Telefonhörer ans Ohr. „Hallo, Polizei? Ja, der Haussitter meines Nachbarn kommt nie tagsüber raus, sondern nur nachts. Tatsächlich buddelt er im Dunkeln Löcher im Garten. Wir denken, er könnte ein Vampir sein … Würdet ihr euch das mal ansehen?“

Wyle warf mir einen Blick zu. „Das mit dem Vampir hättest du wahrscheinlich weglassen können.“

„Als ob das einen Unterschied gemacht hätte.“

Er fasste sich an den Kopf. „Vielleicht ist der Typ ein Serienmörder. Hast du daran schon mal gedacht?“

„Ja, habe ich. Deshalb sind wir heute hier.“

„Ihr hättet viel früher herkommen sollen“, rügte mich Wyle. „Oder zumindest nicht nur zu zweit dort vorbeischauen. Wenn ein fremder Mann sich verdächtig verhält, hättet ihr ihn wirklich nicht einfach so konfrontieren dürfen.“

„Da sind wir wohl verschiedener Meinung“, sagte ich und stand auf. „Gibt es noch etwas?“

Wyle stieß einen tiefen Seufzer aus. „Ja, geht da bloß nicht wieder hin. Überlasst das uns, wir kümmern uns darum. Alles klar?“

„Ich überlasse ihn euch nur zu gern, glaub mir“, sagte ich und wandte mich zum Gehen. Ich verspürte nicht die geringste Lust, noch einmal mit dem äußerst unangenehmen Drake Crimson zu sprechen. Meine einzige Sorge war, sicherzustellen, dass auch Mildred sich fernhielt.

„Was soll das heißen?“, fragte er.

Ich warf einen Blick über die Schulter und schenkte ihm ein schiefes Lächeln. „Das wirst du bald genug herausfinden.“