Leseprobe Traue ihnen nicht | Ein fesselnder Psychothriller

Kapitel 1

„Bist du sicher, dass das der richtige Weg ist?“, frage ich Derek, während wir eine schmale Straße entlangfahren, die von dicht stehenden, schneebedeckten Kiefern gesäumt ist. Wir sind vor etwa einer Meile von der Hauptstraße abgebogen und seitdem habe ich kein einziges Haus mehr gesehen.

„Das sagt zumindest das Navi.“ Er zeigt auf den Bildschirm auf dem Armaturenbrett. „Laut Karte ist es gleich dort vorne.“

„Weißt du, manchmal liegen diese Geräte falsch. Ich habe Geschichten von Leuten gehört, die den Anweisungen ihres Navis gefolgt und direkt in einen See gefahren sind.“

„Schatz, wir werden nicht in einen See fahren. Erstens sind alle Seen, an denen wir vorbeikommen, zugefroren, und zweitens möchte ich glauben, dass ich klug genug bin, nicht blindlings Anweisungen zu folgen, die mich dazu auffordern, in ein Gewässer zu fahren.“

„Ich sage ja nur, dass mir das nicht richtig erscheint.“ Die Straße führt uns immer tiefer in den Wald hinein. „Hier ist nichts außer Bäumen.“

„James hat uns gesagt, dass es abgelegen ist. Ich wusste schon, dass es in einem Wald liegen würde.“

„Vermutlich hast du recht.“ Ich spüre, wie mich ein Schauer überkommt, weil die Bäume die Straße vollständig beschatten und das wenige Licht, das durch die Wolken dringt, verdecken. „Ich dachte nur, es wäre näher an der Hauptstraße. Was ist, wenn ein Sturm aufzieht? Dann kommen wir hier nie wieder raus.“

„Ich bin sicher, dass der Schneepflug vorbeikommt.“

Unwahrscheinlich. Wir fahren auf einer kompakten Schneedecke. Auf der Hauptstraße war die Fahrbahn noch geräumt. „Was ist, wenn diese Woche ein Sturm aufzieht und wir nicht nach Hause kommen?“

„Schatz, entspann dich. Das ist doch der Sinn dieser Reise. Um uns zu entspannen und Zeit mit unseren Freunden zu verbringen.“

„Ich kann mich nicht entspannen, wenn wir hier festsitzen. Ich fange in einer Woche meinen neuen Job an. Ich kann am ersten Tag nicht einfach wegbleiben.“

„Deine Chefin würde das verstehen. Du kennst sie schon ewig.“

Ich fange in der Ambulanz an zu arbeiten, die zu dem Krankenhaus gehört, in dem ich seit fünf Jahren als OP-Schwester tätig bin. Ich habe gerne im Krankenhaus gearbeitet, aber in der Ambulanz habe ich normalere Arbeitszeiten statt der 12-Stunden-Schichten, die ich bisher geschoben habe. Meine neue Chefin ist eine Freundin meiner Mutter und hat mir den Job angeboten, sobald er frei wurde.

„Ich weiß, dass sie Verständnis hätte, aber ich würde mich trotzdem schlecht fühlen, wenn ich am ersten Tag nicht da wäre.“ Ich schaue Derek an. „Vielleicht sollten wir sicherheitshalber schon am Freitag statt am Samstag abreisen.“

„Ich bin offen dafür, aber lass uns erst mal abwarten, wie es läuft. Das könnte unsere letzte Chance sein, so zusammenzukommen. James und Olivia werden nächstes Jahr um diese Zeit wahrscheinlich ein Kind haben.“ Er sieht mich an und lächelt. „Vielleicht werden wir das auch.“

Bei diesem Gedanken wird mir warm ums Herz. Derek und ich könnten in einem Jahr Eltern sein. Unser Leben könnte völlig anders aussehen. Wir haben noch nicht damit angefangen, es zu versuchen, aber wir haben vor, es zu tun, sobald wir von dieser Reise zurück sind.

„Ich kann mir James nicht als Vater vorstellen“, gestehe ich. „Er ist selbst noch wie ein Kind.“

Derek wirft einen Blick auf das Navi. „Es sollte gleich vor uns auftauchen.“ Er fährt um eine enge Kurve und ich spüre, wie die Hinterräder des Autos wegrutschen.

„Schatz, fahr langsamer“, rufe ich aufgeregt und stütze mich mit der Hand am Armaturenbrett ab.

„Alles ist gut.“ Er biegt auf eine noch schmalere Straße ab, die einen steilen Hügel hinaufführt.

„Das sieht nicht richtig aus“, sage ich verängstigt, weil die Straße plötzlich einspurig wird.

„Wir sind richtig.“ Er zeigt geradeaus. „Da ist es.“

Mein Blick fällt auf das zweistöckige Haus. James hatte es eine Art Hütte genannt, daher hatte ich etwas viel Kleineres und nicht annähernd so Schönes erwartet. Feldsteine säumen den Sockel des Hauses und gehen in eine dunkelgraue Holzfassade über. Das Dach hat mehrere hohe Giebel und ich sehe einen hohen steinernen Schornstein. Das Haus steht idyllisch eingebettet zwischen dichten Nadelbäumen und ist, soweit ich das beurteilen kann, das einzige Gebäude weit und breit. Die Lage ist wunderschön, aber für meinen Geschmack viel zu abgelegen. Ich habe gerne Nachbarn in meiner Nähe, falls mal etwas passiert.

„Das Haus ist atemberaubend“, gestehe ich und betrachte es neugierig.

„Ich frage mich, wie viel die Renovierung gekostet hat“, meint Derek, während er das Auto in der runden Auffahrt parkt. „Es kann nicht billig gewesen sein, die Baumaschinen und das ganze Material hierher zu schaffen. Ich wette, es hat sie fast eine Million gekostet.“

„Und das ist nicht mal ihr Hauptwohnsitz. Kannst du dir vorstellen, so etwas nur für ein paar Wochenendausflüge zu haben?“

Das Haus wurde ursprünglich vor fast fünfzig Jahren von Olivias Eltern als Ferienhaus gebaut. Sie wollten es nach ihrem Ruhestand renovieren, starben jedoch vorher bei einem tragischen Autounfall. Es war ein schrecklicher Verlust für Olivia, die ihren Eltern sehr nahe stand und ihr einziges Kind war. Da sie wusste, wie sehr ihre Eltern diese Gegend von New Hampshire liebten und welche Erinnerungen sie hier geschaffen hatten, beschloss Olivia, die Pläne ihrer Eltern umzusetzen. Das Geld dafür hatte sie nach dem Erbe ihrer Eltern sicherlich. Ihr Vater hatte ein sehr erfolgreiches Unternehmen und bekam Millionen, als er es vor einigen Jahren verkaufte.

Es war nett von Olivia, uns hierher einzuladen, zumal sie uns eigentlich gar nicht so gut kennt. Aber sie liebt James und weiß, wie wichtig diese Woche für ihn ist, da es wahrscheinlich das letzte Mal sein wird, dass wir das machen. Wie Derek sagte: James und Olivia werden wahrscheinlich nächstes Jahr ein Kind bekommen und dann keine Zeit mehr für sowas haben. Ich bin eigentlich überrascht, dass wir das immer noch machen. Es ist zehn Jahre her, seit wir unseren Collegeabschluss gemacht haben und obwohl wir uns vorgenommen hatten, uns jedes Jahr zu treffen, hätte ich nie gedacht, dass das tatsächlich so lange klappen würde.

Jeden Sommer treffen wir uns mit James, Tyler und Shelby. Wir mieten ein Haus und verbringen eine Woche zusammen – wie in alten Zeiten. Dieses Jahr haben wir beschlossen, den Sommer anderweitig zu nutzen und uns stattdessen im Winter zu treffen, nachdem James darauf bestanden hatte, dass wir alle in seinem neu renovierten Haus in den Bergen absteigen. Da ich eine Frostbeule bin, habe ich mich nicht gerade auf einen Winterurlaub gefreut, aber als ich Bilder dieses Hauses gesehen habe, war ich froh, dass wir zugestimmt haben. Die Lage ist einzigartig und das Haus ist beeindruckend.

Derek hatte recht. Ich muss aufhören, mir Gedanken über das Wetter und meinen neuen Job zu machen, und mich einfach entspannen und die Woche genießen. Wie er schon sagte, könnte dies die letzte Chance sein, dass wir auf diese Weise Zeit mit unseren Freunden verbringen können.

Kapitel 2

„Ich kann es kaum erwarten, mich innen umzusehen“, sage ich zu Derek, als wir auf das Haus zugehen.

Bevor wir klingeln können, öffnet sich die Tür. James steht da, trägt eine helle Hose und einen dunklen Wollpullover, sein dichtes blondes Haar ist viel kürzer geschnitten, als ich es gewohnt bin. Er hat es immer länger getragen und zu einer Seite gekämmt, wobei ein paar Strähnen über seine Stirn fielen.

„Ihr habt es geschafft!“, ruft er lächelnd und tritt beiseite. „Kommt rein, kommt rein. Euch muss kalt sein.“

Wir betreten das Haus und mein Blick wandert zu den hohen Decken, dann zu den riesigen Fenstern, die den Blick auf die schneebedeckten Bäume und die Berge in der Ferne freigeben. Ich schaue mich in dem großen, offen gestalteten Raum um und mein Blick huscht über die rustikalen Karokissen auf dem einladenden, braunen Ledersofa und den Tierfellteppich auf dem knotigen Kieferholzboden. Ich sehe einen massiven Steinkamin und an den Wänden hängen große, laternenartige Lampen. Die Einrichtung verleiht dem Haus eine gemütliche Hüttenatmosphäre, aber durch die Renovierungen wirkt es sehr modern – eher wie eine Luxuslodge als eine Hütte. Ich bin ein wenig überrascht, dass Olivia sich entschieden hat, dieses Haus zu behalten. Mein erster Eindruck von ihr war, dass sie eher ein Stadtmädchen ist als jemand, der gerne Zeit in den Bergen verbringt und die freie Natur genießt. Aber vielleicht habe ich mich in ihr getäuscht.

Ich habe Olivia nur einmal getroffen, bei ihrer Hochzeit mit James, im vorletzten Sommer. Es war eine sehr elegante Hochzeit in einem schicken Hotel in Boston, wo James und Olivia leben, wenn sie nicht hier sind. Olivia trug ein elegantes Designerkleid, das an ihrer großen, schlanken Figur absolut umwerfend aussah. Ich erinnere mich, dass ich dachte, was für ein Kontrast sie zu James mit seiner kräftigen, stämmigen Statur bot. Sie wirkte sehr selbstbewusst und kultiviert, während James immer eher grob und unreif gewesen war. Derek und ich waren schockiert, als er uns erzählte, dass er heiraten würde. Wir waren davon ausgegangen, dass er noch mindestens zehn Jahre lang Junggeselle bleiben würde. Aber Menschen verändern sich und wenn man James jetzt sieht, ist klar, dass er erwachsen geworden ist. Von seinem Aussehen bis zu seiner Art zu sprechen hat er sich seit der Hochzeit definitiv verändert. Der alte James hätte inzwischen mindestens einen derben Witz gerissen und uns in einem seiner verblichenen und fleckigen College-Sweatshirts begrüßt.

„Schön, euch zu sehen“, brummt James und umarmt Derek und dann mich. „Es kommt mir vor wie eine Ewigkeit.“

„Fast zwei Jahre“, bestätigt Derek. „Wir haben dich seit der Hochzeit nicht mehr gesehen.“

„Ist das wirklich schon so lange her?“ James hält inne, um nachzudenken. „Ich glaube, du hast recht. Ihr konntet letzten Sommer nicht nach New York kommen.“

Im vergangenen August hatte James uns eingeladen, ihn für ein Wochenende in der Stadt zu besuchen, aber Derek und ich konnten es nicht dazwischenschieben, weil meine Cousine geheiratet hat und ich Brautjungfer war.

„Hast du das Wochenende mit Tyler verbracht?“, frage ich James. „Oder war Shelby auch da?“

„Sie waren beide da. Ich habe bei Tyler übernachtet. Er hat mich bei sich untergebracht.“

„Ist Tyler hier?“, fragt Derek.

„Noch nicht. Er bringt ein Mädchen mit. Ich hoffe, das ist okay. Ich hätte euch das wahrscheinlich sagen sollen.“

„Ist schon gut“, beschwichtige ich ihn und lächle freundlich. „Wir können nicht erwarten, dass wir immer nur zu fünft sind. Du hast Olivia, und jetzt hat Tyler auch jemanden gefunden. Wer ist sie? Hat er dir schon etwas erzählt?“

„Nur, dass sie seine Maskenbildnerin bei einem Werbespot war, den er vor ein paar Monaten gedreht hat. Das ist alles, was er preisgegeben hat.“

Tyler hatte Theaterwissenschaft studiert. Er hatte gehofft, dass er inzwischen in Filmen mitspielen würde, aber seit er vor zehn Jahren angefangen hat, zu Castings zu gehen, hat er nur in ein paar Werbespots und Fernsehsendungen mitgespielt.

„Kann ich euch etwas zu trinken anbieten?“, fragt James. „Oder ich könnte euch das Haus zeigen.“

„Eine Führung wäre klasse“, sage ich. „Ich bin beeindruckt. Die Einrichtung ist so warm und einladend, und dennoch wirkt das Haus sehr edel.“

„Das ist alles Olivias Verdienst.“ Er lächelt Derek an. „Du weißt ja, dass ich keinen Sinn für Inneneinrichtung habe.“

„Ja, du hängst ein Poster an die Wand und findest das schon gut.“

Derek und James waren in den ersten beiden Jahren ihres Studiums Zimmergenossen. Dereks Seite des Zimmers war immer ordentlich aufgeräumt, während James' Seite ein Chaos war. Sein einziges Deko-Element war ein Poster einer Band, das er hinter seinem Bett aufgehängt hatte, während Dereks Seite des Zimmers mit einem Teppich, einem Stuhl, einem Bücherregal und einigen gerahmten Prints an der Wand ausgestattet war. Es war nichts Außergewöhnliches, aber für einen Studenten war es nicht schlecht.

James lacht. „So schlimm war es gar. Ich habe mir eine Lampe gekauft.“

„Nur weil du die kaputtgemacht hast, die mir meine Mutter geschenkt hat“, erwidert Derek. „Und sie fand es nicht gut, dass du sie durch eine Nackte-Frauen-Lampe ersetzt hast.“

„Hey, das war moderne Kunst“, lacht James. „Es war eher eine Skulptur als eine Lampe.“

„Das Ding war so kitschig“, witzle ich. „Ich weiß nicht, wo du die gefunden hast.“

„Auf dem Flohmarkt“, gesteht James. „Weißt du noch, wie Shelby uns immer dorthin mitgeschleppt hat?“

Shelby studierte Kunst. An den Wochenenden durchstöberte sie Antiquitätenläden und Flohmärkte in und um Syracuse nach Dingen, die ihre Kunstwerke inspirierten. Das macht sie auch heute noch, nur jetzt in und um Manhattan. Sie lebt in Brooklyn und arbeitet als Kellnerin, bis sie ihren Lebensunterhalt als Künstlerin verdienen kann. Aber das versucht sie jetzt schon seit zehn Jahren und soweit ich weiß, hat sie nur zwei Kunstwerke verkauft.

„Ich habe es irgendwie immer geschafft, diese Ausflüge zu umgehen“, meint Derek.

„Weil du ihr immer gesagt hast, dass ich mitgehen würde“, sage ich. „Aber ich mochte sie auch nicht.“

„Du hattest mehr Spaß als ich.“ Derek legt seinen Arm um mich und küsst mich.

Als ich zu James zurückblicke, sehe ich, wie er uns anlächelt. „Ihr zwei seid füreinander bestimmt. Ich wusste immer, dass ihr zusammenkommen würdet.“ Er dreht sich um und geht weiter ins Haus. „Kommt mit. Ich führe euch herum.“

Er führt uns weiter in den Raum hinein, der einen Sitzbereich mit einer langen Ledercouch und zwei Clubsesseln vor dem Kamin umfasst. Entlang der Fenster, die einen spektakulären Blick auf die Berge bieten, steht ein großer Esstisch für mindestens zehn Personen, wenn ich schätzen müsste. Der Raum ist zur Küche hin offen, die riesig ist und über einen gewerblichen Kühlschrank und professionelle Öfen verfügt. Direkt neben der Küche sehen wir ein Weinzimmer, das mit teuer aussehenden Weinflaschen gefüllt ist.

„Das Haus sieht wie neu gebaut aus“, sagt Derek, als James uns die schwebende Treppe zum zweiten Stock hinaufführt. „Ich kann mir gar nicht vorstellen, was die Renovierung gekostet haben muss.“

„Schatz, das geht uns nichts an“, tadle ich Derek, obwohl ich auch neugierig bin. Ich vermute, dass die Baufirma einen Aufpreis berechnet hat, um für den Aufwand und die Herausforderungen zu kompensieren, die mit dem Transport der Geräte hierher verbunden waren.

„Das war nichts“, sagt James mit einem Grinsen. „Ich meine, wenn man bedenkt, wie viel Olivia von ihren Eltern geerbt hat, war das, was wir für die Renovierung bezahlt haben, praktisch ein Tropfen auf dem heißen Stein.“

„Ist das dein Ernst?“, fragt Derek und atmet tief aus. „Ich kann mir nicht vorstellen, so viel Geld zu haben.“

James bleibt vor der Tür eines der Schlafzimmer stehen. „Erfinde einfach eine neue Art von Software. Du bist in der IT-Branche tätig, Derek. Du weißt, wie man sowas macht.“

„Ich kann programmieren, aber ich habe keine mega wertvolle Idee. Wenn ich eine hätte, hätte ich es längst getan.“

James führt uns ins Schlafzimmer. „Das hier ist eures.“

„Wow“, murmele ich, als ich mich in dem geräumigen Gästezimmer umsehe. Darin steht ein Kingsize-Bett, zwei Nachttische, eine hohe Kommode und zwei Ledersessel, die einen Gas-Kamin flankieren. Unser Zimmer hat einen eigenen Kamin! Und die unglaubliche Aussicht aus den Fenstern … es ist wie ein Gemälde, das schneebedeckte Bäume zeigt, die von den hohen Bergen im Hintergrund gesäumt werden.

„Wie findet ihr es?“, fragt James. „Wird das für diese Woche funktionieren?“

„Ja, auf jeden Fall“, antwortet Derek lächelnd, während er sich im Zimmer umsieht. „Das ist besser als das Hotelzimmer, in dem Beth und ich unsere Flitterwochen verbracht haben.“

„Es ist wirklich wunderschön.“ Ich schaue James an. „Und die Aussicht ist atemberaubend.“

„Ich weiß, oder?“ James schaut aus dem Fenster. „Ich hätte nie gedacht, dass ich mal so etwas haben würde. Manchmal kann ich es kaum glauben, dass es wirklich wahr ist.“

James wuchs in armen Verhältnissen auf. Sein Vater ließ die Familie sitzen, als er fünf Jahre alt war, und überließ es seiner Mutter, ihn und seine beiden Brüder großzuziehen. Ohne sein Football-Stipendium hätte James niemals studiert. Das war auch gar nicht nötig. Er wurde später Vertriebler, wo kein Hochschulabschluss erforderlich war. Er hat sich gut geschlagen, vor allem weil er die Gabe hat, Menschen davon zu überzeugen, fast alles zu kaufen. Er begann bei einem Autoteilehersteller und arbeitete sich schnell zum Verkaufsleiter hoch. Wäre er dort geblieben, wäre er heute wahrscheinlich Vertriebsleiter, aber James bekommt schnell Hummeln im Hintern. Er wechselt alle paar Jahre den Job. Derzeit arbeitet er gar nicht, und wenn wir mal ehrlich sind, was Olivias Vermögen angeht, scheint es, als müsste er auch nicht mehr arbeiten.

„Du hast es verdient, Kumpel“, meint Derek und klopft James auf den Rücken. „Es ist schön zu sehen, dass es dir so gut geht.“

„Das Badezimmer ist dort drüben“, sagt James verlegen und zeigt auf eine angrenzende Tür. „Olivia hat es mit allem möglichen Kosmetikzeug vollgestopft, aber wenn ihr etwas anderes braucht, sagt ihr einfach Bescheid.“

Ich gehe ins Badezimmer und seufze verträumt, als ich die große Badewanne und die Dusche mit mehreren Duschköpfen sehe. Flauschige, weiße Handtücher sind auf einem Metallregal gestapelt. Daneben steht ein Regal voller Bade- und Duschprodukte, allesamt Markenprodukte, die weit über meinem Budget liegen. Es ist, als würde ich in einem luxuriösen Spa übernachten, in dem alles inklusive ist.

„Beth“, höre ich Derek rufen. „Kommst du?“

„Ich liebe das Badezimmer“, rufe ich und kehre ins Schlafzimmer zurück. James und Derek warten an der Tür auf mich. „Ich kann es kaum erwarten, die Badewanne auszuprobieren.“

„Ich hole unsere Sachen aus dem Auto“, lässt Derek mich wissen.

„Ich kann dir helfen“, bietet James ihm an. „Lasst mich euch nur noch schnell den Rest zeigen.“

Die beiden anderen Gästezimmer sind genauso luxuriös ausgestattet, sodass ich mich frage, wie sie sie nutzen wollen. James meint, dass sie eines Tages ihre Kinder mit hierher bringen wollen, aber keines der Zimmer sieht kinderbereit aus.

„Wo ist Olivia?“, frage ich, als wir wieder nach unten gehen.

„Sie ist einkaufen gefahren“, sagt James. „Sie hat etwas vergessen, das sie für das Abendessen braucht.“

„Ich hoffe, wir können ihr dabei helfen. Ich möchte nicht, dass sie denkt, sie müsse das ganze Kochen für uns übernehmen.“

„Oder wir könnten ausgehen“, sagt Derek. „Allerdings glaube ich, dass das letzte Restaurant, an dem wir vorbeigekommen sind, etwa zehn Meilen entfernt liegt.“

„Eher zwanzig“, meint James. „Die nächste Stadt ist zwanzig Meilen entfernt. Wir sind hier mitten im Nirgendwo.“

„Wie kommen wir hier raus?“, frage ich aufgebracht. „Ich meine, wenn ein Sturm kommt. Der Wetterbericht sagt, dass es später in dieser Woche einen Schneesturm geben könnte.“

„Mach dir keine Sorgen“, meint James ruhig und geht in die Küche. „Die sagen immer einen Sturm voraus, und dann kommt nie einer. Wollt ihr ein Bier? Cocktails? Ein Glas Wein?“

„Nur Wasser, bitte“, sage ich.

„Ich nehme ein Bier“, sagt Derek und gesellt sich zu James in die Küche.

Ich schaue aus der weiten Fensterfront und bemerke, wie sich die Wolken zusammenziehen und der Himmel dunkler wird. „Aber wenn es doch einen Sturm gibt, kommen wir irgendwie zurück zur Hauptstraße?“

„Irgendwann schon“, antwortet James, während er das Bier aus dem Kühlschrank holt. „Ein Mann in der Stadt kommt regelmäßig, um die Straße zu räumen. Wir müssen ihn nur anrufen.“

„Siehst du, Schatz?“, sagt Derek zu mir. „Es ist für alles gesorgt. Alles wird gut.“

Aber ich habe dieses seltsame Gefühl im Bauch, dass das nicht stimmt. Dass wir es nicht zurückschaffen werden. Und dass definitiv nicht alles gut werden wird.

Kapitel 3

Ich höre Schritte den kurzen Flur entlangkommen, der von der Garage ins Haus führt. Olivia erscheint mit zwei überquellenden Einkaufstüten in den Armen.

„Willkommen“, ruft sie, als sie Derek und mich in der Küche bemerkt. „Seid ihr gerade angekommen?“

„Sie sind vor etwa einer halben Stunde angekommen“, informiert James sie.

„Lass mich dir helfen.“ Ich eile zu Olivia hinüber und nehme ihr eine der Tüte ab, überrascht, dass James nicht hilft.

„Danke“, sagt sie und stellt die andere Tasche auf die Arbeitsplatte der Kücheninsel. Sie trägt einen langen, schwarzen Daunenmantel. „Es ist eiskalt draußen.“ Sie reibt sich die Arme, als sie ihren Mantel auszieht. Darunter trägt sie Jeans und einen eng anliegenden schwarzen Pullover. Sie sieht aus, als hätte sie abgenommen, obwohl sie kein Gramm zu viel hatte. Ich frage mich, ob es daran liegt, dass ihre Eltern gestorben sind. James sagte, dass sie es nach ihrem Verlust nicht einfach hatte. Er hoffte, dass die Renovierung des Hauses in ihrem Andenken ihr helfen würde.

„Schön, dich wiederzusehen“, sagt Derek und geht zu Olivia hinüber, um sie zu umarmen. Mein Mann liebt Umarmungen, was manche Leute komisch finden. Olivia scheint eine dieser Personen zu sein, denn sie legt nur schüchtern ihre Arme um Derek und schaut hilfesuchend zu James.

„Hey, das reicht jetzt.“ Er lacht, als er Derek wegzieht. „Nimm deine Hände von meiner Frau.“

„Entschuldige“, sage ich zu Olivia. „Derek ist sehr taktil.“

„Leider gibt es dafür keine Heilung“, scherzt Derek. „Aber ich verspreche, es nicht wieder zu tun.“

„Schon gut“, sagt sie lächelnd, während sie die Einkäufe auslädt. „Ich habe nur nicht damit gerechnet. Wie war die Reise?“

„Großartig!“, sage ich und helfe ihr, die Einkäufe aus den Tüten zu nehmen. „Die Fahrt hierher war wunderschön.“

„Hat James euch schon herum geführt?“

„Ja, ich habe ihnen alles gezeigt.“ James stößt Derek mit dem Ellenbogen an. „Warum holen wir nicht eure Koffer aus dem Auto?“

„Gute Idee.“

Sie ziehen los und lassen mich mit Olivia allein.

„Das Haus ist wunderschön, Olivia“, gestehe ich und beobachte, wie sie das Gemüse in den Kühlschrank räumt.

„Danke. Eine Zeit lang sah es so aus, als würde die Renovierung nie fertig werden, deshalb ist es schön, dass wir es endlich geschafft haben.“

„Deine Eltern hätten es sicher geliebt“, sage ich und überlege dann, ob ich sie besser nicht erwähnt hätte.

„Sie hätten es gehasst.“ Sie schließt die Kühlschranktür und geht zur Spüle, um sich die Hände zu waschen.

„Was? Wieso? Meinst du das ernst?“, frage ich. Ich habe mich bestimmt verhört.

Sie dreht den Wasserhahn zu und trocknet sich die Hände. „Meine Eltern waren viel eleganter.“ Sie blickt durch den weitläufigen Raum. „Das hier wäre ihnen zu rustikal gewesen.“

„Oh. Aber es passt zu dir und James, oder? Gefällt es euch?“

„Ja.“ Sie dreht sich zu mir um und lächelt. „Ich denke schon.“ Sie räumt weiter die Einkäufe weg. „Du und Derek lebt also immer noch in Syracuse?“

„Genau“, gestehe ich, überrascht, dass sie das nicht weiß. Ich bin mir sicher, dass James ihr zumindest ein wenig von uns erzählt hat. „Wir haben beide nach dem College dort einen Job gefunden. Ich bin Krankenschwester und Derek ist IT-Manager in einer kleinen Firma.“

„Eine Krankenschwester.“ Sie hält inne und wirft mir einen kurzen Blick zu. „Welche Fachrichtung?“

„Chirurgie. Bis letzte Woche habe ich in einem Krankenhaus gearbeitet, aber ab Montag in einer Woche wechsle ich in die Ambulanz.“

Sie macht sich wieder daran, die Einkäufe einzuräumen. „Ich weiß nicht, wie du das aushältst. Ich könnte kein Blut sehen.“

„Man gewöhnt sich daran, obwohl ich persönlich noch nie ein Problem mit Blut hatte.“ Ich gehe zu ihr rüber. „Kann ich helfen? Ich will nicht nur untätig rumstehen.“

„Ehrlich gesagt ist es einfacher, wenn ich es selbst mache.“

Die Haustür öffnet sich und James und Derek kommen mit unseren Koffern herein.

„Draußen wird es kälter“, meint Derek. „Ich hätte meine Jacke anziehen sollen.“

„Ich lege noch etwas Holz auf, nachdem wir eure Sachen hochgebracht haben“, sagt James und geht mit Derek im Schlepptau nach oben.

„Es war so nett von euch, uns einzuladen“, sage ich zu Olivia, während sie geschäftig in der großen, offenen Küche herumwirbelt.

„Gern geschehen.“ Sie holt eine Platte aus einem der Schränke. „Wir haben so viel Platz. Da können wir ihn auch nutzen.“

„Ich nehme an, du kennst den Rest unserer Truppe? Tyler? Shelby?“

„Wir haben uns kurz vorgestellt, aber ich kann nicht behaupten, dass ich sie gut kenne. Wir haben uns auf der Hochzeit nur kurz unterhalten.“

„James hat gesagt, dass Tyler eine Freundin mitbringt.“ Ich seufze. „Ich hoffe, sie ist nicht wie die Letzte, die er hatte.“

„Was meinst du?“

„Vor ein paar Jahren, als wir uns alle trafen, brachte Tyler eine Frau mit, die noch ein halber Teenager war, und die ganze Woche damit verbrachte, ihm hinterherzulaufen. Sie jammerte ständig, dass er nicht genug mit ihr unternahm, obwohl er ihr vor der Reise gesagt hatte, dass er Zeit mit seinen Freunden verbringen würde. Wir alle wünschten uns, er hätte sie nie eingeladen. Sie gehört nicht zu unserer Gruppe und ihre Anwesenheit veränderte die Dynamik.“

„Außenstehende ruinieren immer die Stimmung“, sagt Olivia.

„Oh nein, damit bist nicht du gemeint. Sorry. Das habe ich überhaupt nicht so gemeint. Du und James seid verheiratet. Damit bist du Teil unserer Gruppe. Die Frau, die ich meinte, war nur ein Date. Tyler hat es nicht ernst mit ihr gemeint. Wenn du Tyler kennen würdest, wüsstest du, dass er ein kleiner Frauenheld ist. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er sich jemals niederlassen wird. Er ist immer mit einer anderen Frau zusammen.“

Sie wendet sich mir zu. „Du hast dasselbe über James gesagt. Dass du dir nicht vorstellen kannst, dass er sich niederlässt. Stimmt das nicht?“

„Das ist Jahre her und offensichtlich hat er sich verändert. Im College war er sehr unreif, aber sieh ihn dir jetzt an. Er ist erwachsen geworden, hat geheiratet, und es klingt, als wolltet ihr beide bald eine Familie gründen.“

„Das hat er dir erzählt?“, fragt sie, als hätte er das nicht tun sollen.

„Ähm, mir nicht, aber er hat es Derek gegenüber erwähnt.“

„Das leuchtet mir ein.“ Sie rollt mit den Augen. „Die beiden und ihre kleinen Geheimnisse.“

„Geheimnisse?“ Ich lache leise. „Ich glaube nicht, dass sie Geheimnisse haben.“

Ihre perfekt gezupften Augenbrauen schießen in die Höhe. „Glaubst du das ernsthaft?“

„Ich weiß nicht, was du meinst.“

Bevor sie sich erklären kann, kommen Derek und James die Treppe herunter.

„Schatz, die Sachen stehen im Zimmer“, sagt Derek, „falls du dich ausruhen oder baden möchtest.“

„Vielleicht später“, antworte ich und frage mich, ob er etwas verbirgt. Von welchen Geheimnissen hat Olivia gesprochen? Mein Mann hat keine Geheimnisse.

„Ich hole mal noch mehr Holz fürs Feuer“, sagt James und geht an uns vorbei in den angrenzenden Raum neben der Küche. Ich folge ihm und sehe mich in der Waschküche um – ein großer Raum, der Platz für eine Sitzbank, Haken an der Wand für Jacken, Drahtkörbe für Schals und Handschuhe und einen Bereich neben der Tür für Stiefel und Schuhe bietet.

„Wow, ich bin beeindruckt“, schwärme ich. „Es ist alles so gut organisiert.“

James dreht sich um und lächelt, als er mich sieht. „Hey. Willst du mitkommen und helfen?“

„Klar. Ich hole nur schnell meinen Mantel.“

Er lacht, während er seine Stiefel anzieht. „Beth, das war nur ein Scherz. Bleib drinnen, draußen ist es viel zu kalt.“

Ich lehne mich gegen den Türrahmen und schaue zu, wie James seine Jacke anzieht. „Wo hast du das Holz?“

„Im Schuppen bei den Werkzeugen. Komm her, ich zeige es dir.“

Ich trete an seine Seite und schaue durch das Fenster. Etwa fünfzig Meter vom Haus entfernt steht ein kleiner Schuppen, versteckt zwischen den verschneiten Bäumen.

„Olivia wollte das Brennholz nicht in der Nähe des Hauses haben, weil es Mäuse anzieht“, erklärt James.

„Mäuse?“ Ich schaudere. „Ja, ich bleibe hier.“

James lacht. „Oh, Beth. Als Krankenschwester siehst du jeden Tag ekelhafte Dinge, aber du kannst keine Mäuse ertragen?“

„Ich hasse es, wie sie herumhuschen und überall hinmachen.“ Ich schaue James an. „Es waren doch nie Mäuse im Haus, oder?“

Er beugt sich zu mir herunter und flüstert: „Als wir vor ein paar Tagen hierhergekommen sind, hatten wir eine, aber ich habe sie beseitigt. Erzähl Olivia nichts davon. Sie würde ausflippen.“

„Wo war sie?“

„Hier. In der Waschküche. Sie muss durch einen Spalt hereingekrochen sein, oder vielleicht ist sie hereingekommen, als ich die Tür geöffnet habe.“

Ich springe zurück und suche um meine Füße herum nach Mäusen.

„Entspann dich“, sagt James lachend. „Sie ist weg. Versprochen. Olivia und du solltet eine Flasche Wein öffnen, um die Mäuse zu vergessen.“

Er geht zur Hintertür hinaus und ich sehe ihm nach, wie er durch den Schnee stapft. Er muss inzwischen mindestens 30 Zentimeter hoch liegen und mit jeder Windböe fliegt mehr von den Bäumen. Allein beim Anblick davon zittere ich.

Ich will mich gerade abwenden, um mit Olivia Wein zu trinken, wie James erwähnt hat, als ich bemerke, dass er ein paar Meter vor dem Schuppen stehen bleibt. Er schaut zurück zum Haus und sieht, dass ich ihn beobachte. Ich winke ihm zu, aber er erwidert die Geste nicht. Und er lächelt nicht. Er starrt mich nur an, als würde er darauf warten, dass ich gehe. Als würde er nicht wollen, dass ich ihn beobachte.

Ich trete vom Fenster zurück, drehe mich um und mein Puls beschleunigt sich. Die Art, wie James mich angesehen hat, war seltsam, fast bedrohlich. War er wütend, weil ich ihn beobachtet habe? Warum sollte ihn das tangieren? Er ist doch nur draußen, um Brennholz zu holen. Oder macht er etwas anderes? Etwas, das ich nicht sehen soll?

Kapitel 4

„Beth“, höre ich Derek rufen. „Wo bist du hin?“

Ich verlasse die Waschküche und gehe zurück in die Küche. „Ich habe mich mit James unterhalten.“ Ich beobachte, wie Derek Salami in Scheiben schneidet, während Olivia verschiedene Käsesorten auf einer Holzplatte anrichtet. „Kann ich helfen?“

„Ich glaube, wir haben schon fast alles.“ Olivia wirft mir einen Blick zu. „Aber vielleicht könntest du einen Wein aussuchen, der zum Käse passt?“

„Klar. Rot oder weiß?“

„Von jedem etwas, bitte.“

Als ich das Weinzimmer betrete, bin ich von der Auswahl überwältigt. Ich mag Wein, aber ich weiß nichts darüber. Derek und ich kaufen einfach, was gerade im Angebot ist. Ich bin mir sicher, dass alles hier gut ist, aber ich weiß nicht, welche Sorten am besten zu Käse passen. Ich werde es online nachforschen. Ich zücke mein Handy, öffne den Internetbrowser, stelle aber fest, dass ich keinen Empfang habe. Vielleicht liegt es an diesem Raum. Er ist klimatisiert und wahrscheinlich zusätzlich isoliert, damit die Temperatur nicht schwankt.

Als ich auf den Flur trete, begegne ich James, der einen Stapel Holz in den Armen trägt.

„Hast du den Wein gefunden?“, fragt er.

„Ich habe es versucht, aber …“ Ich senke meine Stimme zu einem Flüstern. „Ich weiß nichts über Wein. Ich möchte mich nicht blamieren und die falschen Flaschen raussuchen.“

Er nickt lächelnd. „Gib mir eine Minute. Ich räume das Holz weg und helfe gleich.“

James weiß, dass Derek und ich nicht das nötige Kleingeld haben, um teuren Wein zu kaufen und versteht, dass es mir peinlich sein könnte, wenn ich die falsche Sorte auswähle. Zumal ich weiß, dass seine wohlhabende, kultivierte Frau eine Weinexpertin ist, die wahrscheinlich die Geschmacksnoten und Herkunft jeder Flasche in ihrem Besitz auswendig kann.

„Was suchen wir denn?“, fragt James, als er wenig später zu mir ins Weinzimmer kommt.

„Etwas, das zu der Käseplatte passt, die Olivia macht.“

„Verstanden.“ James überfliegt die Reihen von Flaschen, nimmt zwei Rotweine und reicht sie mir. Dann öffnet er die Glastür eines Weinkühlschranks, den ich gar nicht bemerkt hatte, und holt zwei Flaschen Weißwein heraus. „Das sollte für den Anfang reichen.“

„Woher weißt du so viel über Wein?“

„Als ich im Vertrieb gearbeitet habe, habe ich Kunden immer zum Essen eingeladen. Ich wollte mich nicht blamieren, indem ich den falschen Wein bestellte, also habe ich mir das selbst beigebracht. Ich habe sogar einen Kurs besucht.“

„Wirklich? Das wusste ich gar nicht.“

Er zwinkert mir zu und lächelt. „Es gibt vieles, was du nicht über mich weißt.“ Er hält die Flaschen hoch. „Wir sollten die anderen nicht warten lassen.“

Als ich ihm in die Küche folge, frage ich mich, was er damit gemeint hat. Was weiß ich nicht über ihn? Wir sind schon seit dem College befreundet. Ich glaube, ich kenne ihn ziemlich gut. Und Derek hat mit ihm zusammengelebt, also kennt er ihn noch besser als ich.

„Tolle Auswahl“, meint Olivia, als sie mir die Flaschen abnimmt.

„Danke“, sage ich und bemerke, dass Derek mich anlächelt. Er muss wissen, dass James mir geholfen hat. Aber wusste er, dass James ein Weinexperte ist? Ist das eines der Geheimnisse, die er und James haben und auf die Olivia zuvor angespielt hat?

Es klingelt an der Tür und Olivias Blick huscht in deren Richtung.

„Ich gehe schon“, ruft James und geht zur Tür. Er öffnet sie. „Hey, Mann, wie geht's?“

„Das muss Tyler sein“, vermutet Derek und geht hinüber.

Ich folge ihm und sehe, wie James zur Seite tritt, als Tyler das Haus betritt, gefolgt von einer Frau mit kurzen schwarzen Haaren, einem Nasenring und Piercings in beiden Augenbrauen. Das muss Tylers Freundin sein, oder eher seine Flamme der Woche. Er bleibt nie lange genug mit einer Frau zusammen, um sie als Freundin zu bezeichnen. Diese Frau sieht ganz anders aus als die, mit denen ich ihn bisher gesehen habe. Normalerweise steht er auf große, blonde Frauen, die viel jünger sind als er. Diese Frau scheint in unserem Alter zu sein.

„Hey“, sagt Derek und umarmt Tyler. „Lange nicht gesehen.“

„Nur weil ihr uns letzten Sommer im Stich gelassen habt.“

„Wir wollten dabei sein“, sage ich und gehe zu den anderen. „Es hat sich einfach zeitlich nicht ergeben.“

„Hey, Beth.“ Tyler umarmt mich und flüstert mir ins Ohr, aber laut genug, dass alle es hören können: „Was machst du noch mit Derek? Hast du ihn nicht längst satt?“

„Überhaupt nicht“, entgegne ich lachend, als er mich loslässt.

„Ich bin Amber“, sagt die Frau hinter Tyler und winkt uns zu.

„Mist, tut mir leid“, flucht Tyler. „Ich hätte dich vorstellen sollen. Alle zusammen, das ist Amber.“ Er deutet auf Derek und mich. „Amber, das sind Beth und ihr Mann Derek. Und das ist James.“ Er sieht ihn an und fragt dann: „Ist Olivia da?“

„Hier.“ Sie trocknet sich die Hände mit einem Handtuch ab, während sie auf uns zukommt. „Freut mich, dich kennenzulernen“, sagt sie zu Amber. „Ich habe gehört, du bist Maskenbildnerin.“

„Und Haarstylistin, aber ja, hauptsächlich kümmere ich mich um das Make-up.“

Olivia wirft mir einen Blick zu. „Vielleicht kannst du uns Mädels ein paar Tipps geben, während du hier bist.“

„Unwahrscheinlich“, entgegnet Amber. „Make-up für die Kamera ist ganz anders als das, was man im echten Leben trägt.“

„Hey, Olivia“, sagt Tyler und lächelt sie an. „Schade, dass du letzten Sommer nicht kommen konntest.“

„Ich glaube nicht, dass James das etwas ausgemacht hat.“ Sie sieht James an und lächelt gezwungen.

„Sie macht nur Witze“, sagt er mit einem unbehaglichen Lachen. „Ich wollte, dass sie mitkommt, aber sie hatte andere Verpflichtungen.“

Ich spüre die Spannung zwischen James und Olivia. Vielleicht hatten sie einen Streit, bevor wir hierherkamen. Ich hoffe, es ist nichts weiter als das. Ich kenne Olivia nicht so gut, aber ich glaube, sie hat James gutgetan. Seit er sie geheiratet hat, ist er definitiv reifer und gelassener geworden.

„Kann ich euch beiden etwas zu trinken anbieten?“, fragt Olivia Tyler und Amber.

Tyler sieht James an. „Hast du Whiskey?“

„Ist das eine ernstgemeinte Frage?“, sagt James mit einem Lächeln. Whiskey war James' Lieblingsgetränk, als er noch auf dem College war. Er trank ihn jeden Tag. Ich dachte immer, er hätte ein Alkoholproblem, aber Derek hat mich für verrückt erklärt. „Ich zeige euch, was wir haben.“

James geht in die Küche, Tyler und Derek folgen ihm.

„Das Haus ist ja riesig“, meint Amber, ohne besonders beeindruckt zu klingen, während ihr Blick durch den offenen Raum schweift. „Wozu braucht man so viel Platz?“

Es ist eine kühne und ziemlich unhöfliche Frage, aber vielleicht entspricht das einfach ihrer Persönlichkeit. Vielleicht ist sie jemand, der sehr direkt ist und sagt, was ihr gerade in den Sinn kommt.

„Das Haus gehörte meinen Eltern“, sagt Olivia. „Sie wollten ein großes Feriendomizil, damit sie Freunde hierher einladen konnten. Sie haben das Erdgeschoss so offen gestaltet, damit man hier Gäste empfangen kann.“

Amber zuckt mit den Schultern. „Es kommt mir verschwenderisch vor, all das zu haben und es nur ein paar Mal im Jahr zu nutzen.“

„Ja, nun, James und ich glauben, dass es unseren Bedürfnissen in Zukunft entsprechen wird“, entgegnet Olivia und zieht die Schultern zurück. „Du hast noch nicht gesagt, was du trinken möchtest.“

„Ich möchte nichts.“ Amber blickt zur Treppe hinauf. „Geht es dort zu unserem Zimmer?“

„Ja, ich kann dir das Zimmer zeigen, wenn du möchtest.“

„Ich kann das übernehmen“, sage ich zu Olivia. „Dann kannst du in Ruhe weitermachen, was du in der Küche angefangen hast.“

„Danke, Beth.“ Sie lächelt mich höflich an. „Es ist das Zimmer direkt neben eurem.“

„Hier entlang“, sage ich und bedeute Amber, mir die Treppe hinauf zu folgen. Ich führe sie zu ihrem Zimmer und realisiere, dass es kleiner ist als das von Derek und mir und keinen Kamin hat.

„Die Welt ist klein, was?“, meint Amber, während sie durch das Zimmer geht und ihren Blick über die edlen Möbel schweifen lässt.

„Was meinst du damit?“

„Erinnerst du dich nicht an mich?“, schnaubt sie. „Ich sollte wohl nicht überrascht sein.“

Ich starre sie an und realisiere, dass sie mir irgendwie bekannt vorkommt, ich mir aber nicht sicher bin, woher.

Sie bleibt stehen und dreht sich zu mir um. „Erinnerst du dich wirklich nicht?“

„Tut mir leid, aber nein. Kennen wir uns?“

Sie setzt sich auf das Bett, lehnt sich zurück und stützt sich mit den Handflächen ab. „Du bist mit einer anderen Frau in die Bar gekommen. Du warst schon betrunken, als du dort angekommen bist. Du hast Miles hinter der Bar gesehen und konntest nicht aufhören, ihn anzulächeln. Dann hast du –“

„Hör auf!“ Ich renne zu ihr rüber, mein Herz hämmert, als mir klar wird, woher ich sie kenne. „Halt einfach den Mund!“

„Warum?“ Sie lächelt selbstgefällig. „Weil du es niemandem erzählt hast? Du hast einfach dein Leben weitergelebt, was? Hast geheiratet? Ist er das? Der Typ, den ich unten gesehen habe? Ist das der Typ, den du geheiratet hast? Der Mann, den du –“

„Ja.“ Ich mustere ihr Gesicht. Sie ist es, aber sie sieht anders aus, als ich sie in Erinnerung habe. Damals hatte sie keine Piercings und auch nicht das Tattoo, das ich gerade an ihrem Hals entdeckt habe. Und ihr Haar war leuchtend rot – fast orange – und nicht schwarz wie jetzt. „Du warst die Kellnerin.“

„Genau.“ Sie steht auf. „Und Miles war damals mein Freund.“

„Es tut mir leid“, hauche ich und weiche von ihr zurück. „Das wusste ich nicht. Er hat mir nie etwas von einer Freundin erzählt. Es ging alles so schnell. Und ich war in dieser Nacht wirklich betrunken. Ich versichere dir, ich hatte keine Ahnung, dass ihr beide –“

„Vergiss es. Das ist längst Vergangenheit. Und es war nicht das einzige Mal, dass so etwas passiert ist. Der Arsch konnte seine Hose nie geschlossen halten. Er hat immer jemanden mit ins Hinterzimmer genommen.“ Sie geht zur Kommode und nimmt ein cremefarbenes Seil in die Hand, das zu einem kunstvollen Knoten gebunden ist. „Was zum Teufel ist das? Und warum gibt jemand dafür Geld aus?“

Ich gehe zu ihr hin und greife nach ihrem Arm. „Du darfst Derek nichts von dieser Nacht erzählen. Versprich es mir!“

Sie reißt ihren Arm aus meinem Griff. „Ich mache keine Versprechungen.“ Sie legt das Tau wieder hin. „Du hast es ihm also nie erzählt.“ Sie lacht leise, während sie zum Fenster geht. „Ich verstehe verheiratete Leute nicht. Sie behaupten, sie lieben sich, aber alles, was sie tun, ist, sich gegenseitig anzulügen.“

Ich gehe zur Tür und schließe sie, damit uns niemand hören kann. Ich kann nicht glauben, dass das gerade passiert. Von allen Frauen, die Tyler hierher hätte mitbringen können, bringt er ausgerechnet die eine mit, die ein Geheimnis kennt, das meine Ehe zerstören könnte? Die Wahrscheinlichkeit dafür ist fast zu gering, und doch ist es irgendwie passiert.

„Ich liebe Derek“, schwöre ich und stelle mich neben Amber. „Was ich in dieser Nacht getan habe, war ein Fehler. Ich war jung und leichtsinnig. Und ich hatte zu viel getrunken. Die Frau, mit der du mich gesehen hast, war meine Cousine. Sie hat mich überredet, auszugehen. Dort zu übernachten. Derek wollte nicht, dass ich gehe.“ Ich senke den Blick. „Ich hätte auf ihn hören sollen. Hätte ich das getan, wäre das nie passiert.“

Selbst meine Cousine weiß nicht, was ich in jener Nacht getan habe. Sie hatte zu viel getrunken und fühlte sich nicht wohl, also ging sie frühzeitig zurück ins Hotel. Es lag nur einen Block von der Bar entfernt, also beschloss ich zu bleiben und meinen Drink zu genießen. Nachdem meine Cousine gegangen war, setzte ich mich an die Bar, um mit Miles zu reden. Er hatte den ganzen Abend mit mir geflirtet. Ich hatte noch nie einen so gut aussehenden Mann gesehen. Ich habe zurück geflirtet und ehe ich mich versah, waren wir in einem Raum hinter der Bar und haben etwas getan, was ich niemals hätte tun sollen.

Am nächsten Morgen fühlte ich mich schrecklich. Ich habe versucht, das Ganze zu vergessen, und jetzt taucht diese Frau aus dem Nichts auf und erinnert mich daran, was ich getan habe. Ich wusste ehrlich nicht, dass Miles ihr Freund war. Sie hat sich an diesem Abend nichts anmerken lassen. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass die beiden überhaupt miteinander gesprochen hätten.

„Hör auf, Ausreden zu suchen“, sagt Amber. „Du warst mit Miles zusammen, weil du es wolltest. Du hast die Lage sondiert, um sicherzugehen, dass Derek der Richtige ist. Und hey, ich verstehe das. Sich für den Rest seines Lebens an eine Person zu binden, ist eine große Entscheidung. Ich persönlich könnte das nicht.“

„So war es nicht.“ Ich sehe ihr in die Augen und Wut steigt Aufgrund ihrer Anschuldigungen in mir auf. „Ich habe mich nicht umgeschaut, um herauszufinden, ob er der Richtige ist. Ich wusste, dass Derek der Richtige für mich ist. Ich habe nur einen Fehler gemacht.“

„Dann sag ihm das.“ Sie verschränkt die Arme vor der Brust. „Gesteh es ihm. Sag ihm, was du getan hast.“

„Warum sollte ich ihm etwas erzählen, das vor Jahren passiert ist? Das spielt jetzt keine Rolle mehr. Wir sind glücklich verheiratet. Wir planen, bald eine Familie zu gründen.“

„Was immer du sagst.“ Sie geht an mir vorbei und ich sehe, wie sie im Badezimmer verschwindet. „Hey, hast du diese Dusche gesehen?“

Ich gehe ins Badezimmer, als sie gerade die Duschtür schließt.

„Sie hat zwei Duschköpfe.“ Sie lächelt. „Ich weiß schon, was Tyler und ich heute Abend machen werden.“

„Amber, was an diesem Abend passiert ist … bitte sag Derek nichts davon.“

Sie zuckt mit den Schultern. „Ich weiß nicht, Beth. Ich meine, du hast mit meinem Freund geschlafen.“ Sie kommt auf mich zu. „Und du und deine Freundin habt mich in dieser Nacht wie Dreck behandelt. Dann habt ihr mir fünf Dollar Trinkgeld gegeben, obwohl eure Rechnung über fünfzig Dollar wert war.“

„Ich werde es wiedergutmachen“, sage ich und suche verzweifelt nach einer Möglichkeit, sie zum Schweigen zu bringen. „Ich gebe dir Geld. Hundert Dollar. Das sollte mehr als genug sein, um diese Nacht wiedergutzumachen.“

„Meinst du für das Trinkgeld oder dafür, dass du mit meinem Freund geschlafen hast?“

„Für das Trinkgeld. Das mit deinem Freund tut mir leid. Ich wusste es ehrlich nicht.“ Ich greife nach ihrem Arm. „Amber, bitte. Ich flehe dich an, es zu vergessen. Derek muss das nicht wissen.“

Sie reißt ihren Arm los. „Hör auf, mich anzufassen. Und sag mir nicht, was ich tun soll. Ich nehme keine Befehle von dir entgegen. Und ich reagiere nicht gut auf Drohungen. Ich schlage vor, du behältst das diese Woche im Hinterkopf, sonst ist dein kleines Geheimnis kein Geheimnis mehr.“

Sie geht an mir vorbei aus dem Badezimmer. Ich folge ihr und sehe, wie sie die Schlafzimmertür öffnet.

„Oh, hey“, sagt Amber.

„Ich suche meine Frau“, höre ich Derek sagen. „Hast du sie gesehen?“

„Ich bin hier.“ Ich trete hinter Amber. „Ich habe Amber gerade ihr Zimmer gezeigt.“

Dereks Blick huscht zwischen Amber und mir hin und her. Er fragt sich wahrscheinlich, warum wir hinter geschlossenen Türen miteinander reden. Es ist seltsam, da wir uns gerade erst kennengelernt haben, oder zumindest denkt Derek das.

„Ich wollte dir nur sagen, dass ich dir Wein eingeschenkt habe“, sagt Derek zu mir. „Und Olivia hat ein paar Häppchen bereitgestellt.“

„Fantastisch!“ Ich trete hinaus auf den Flur und lächle Derek an.

„Wie lange seid ihr schon verheiratet?“, fragt Amber, obwohl sie die Antwort bereits kennt. An diesem Abend in der Bar hat meine Cousine ihr erzählt, dass ich in einer Woche heiraten würde.

„Zehn Jahre.“ Derek nimmt meine Hand und küsst sie.

„Ach, ihr zwei seid so süß“, schwärmt Amber. Es ist sarkastisch gemeint, aber Derek hat keine Ahnung.

„Wir hatten Glück“, sagt er und sieht mich an. „Wir haben uns im College gefunden und sind auch zehn Jahre später noch glücklich miteinander.“

„Lass uns zu den anderen gehen“, sage ich zu Derek, um ihn von Amber wegzubekommen.

Derek schaut Amber an und lächelt. „Wir sehen uns unten.“

„Sagt Tyler, ich komme gleich nach“, meint sie und schließt die Tür.

Wie soll ich die ganze Woche mit dieser Frau verbringen, wenn ich weiß, dass sie mich verraten könnte? Wenn sie es tut, werde ich es leugnen. Sie hat keinen Beweis dafür, dass es passiert ist. Und Derek würde mir eher glauben als ihr. Oder etwa nicht?

Wenn er es aus irgendeinem Grund nicht tut, wäre unsere Ehe ohnehin vorbei. Derek ist normalerweise ein sehr sanftmütiger Mensch, aber wenn er eifersüchtig ist, wird er extrem wütend. Einmal im College erwähnte ich, dass ein Typ auf dem Campus mit mir flirtete, und Derek ist aus der Haut gefahren. Ich hatte ihn noch nie so außer sich gesehen. Er schrie, warf mit Sachen um sich und schlug mit der Faust gegen die Wand. Und wir waren zu diesem Zeitpunkt noch nicht mal verheiratet. Nachdem wir geheiratet hatten, sagte er, dass es ein Grund für eine Scheidung wäre, wenn er jemals herausfinden würde, dass ich ihn betrogen hätte. Er würde mir keine zweite Chance geben.

Ich muss Amber zum Schweigen bringen. Derek darf niemals erfahren, was in dieser Nacht passiert ist.