Kapitel 1
„Scheißköter!“ Kriminaloberkommissarin Levke Tönnens hob ihren Fuß und versuchte, unter Verrenkungen auf die Sohle zu sehen. Dabei war das gar nicht weiter nötig, die Bescherung quoll schon seitlich davon hervor. Hier musste ein Bernhardiner hingeschissen haben. Mindestens. Wieso passierte das eigentlich immer ihr? Sie hatte irgendwie ein Talent, in solche Fallen hineinzutappen.
Hinter ihr kicherte es. „Ich würde ja eher sagen, der Hund kann nichts dafür, wohl aber die Halterin oder der Halter. Außerdem soll das doch Glück bringen.“ Kriminaloberkommissar Henning Martens bemühte sich sichtlich, ernst zu bleiben, was ihm gründlich misslang.
„Wat’n Quatschkraam, das sagen die doch alle nur, damit man sich nicht so darüber aufregt. Wo soll denn das Glück bringen, wenn die Hundekacke in jeder Ritze der Sohle hängt und einen Gestank verbreitet, dass es kaum zum Aushalten ist? Wer sich diese bescheuerte Redewendung ausgedacht hat, gehört doch aus der Stadt gejagt.“ Levke wollte sich gerade die Füße am Rasen abstreifen, da ertönte ein Schrei.
„Wag es!“ Jörn Thiessen, der Leiter der Spurensicherung, tapste, so schnell er es in seinem weißen Overall samt Schuhüberzieher konnte, auf die beiden zu, weitere Schuhüberzieher und Einmalhandschuhe in der Hand – vermutlich für sie. „Wir haben dort noch nicht alles abgesucht, du siehst doch, wo die Absperrung ist. Du wirst mir da nicht den Tatort verunreinigen.“ Er deutete auf ihre Schuhe.
„Echt jetzt? Und wie soll ich den Dreck wieder loswerden? Ich schlüpf doch so nicht in die Überzieher und verteil den Scheiß auch noch quer über meine Schuhe. Das kann nicht dein Ernst sein!“
Thiessen hob beide Hände. „Erst einmal Moin, Levke. Das hab ich doch gar nicht gemeint. Da drüben“, er zeigte auf eine bepflanzte Baumscheibe, „kannst du die Schuhe abstreifen. Notfalls gehst du kurz zur Graft und hängst deinen Schuh da rein, dann wird er auch sauber. Aber hier haben wir alles abgesperrt. Und du als Kriminaloberkommissarin weißt genau, was das heißt.“
Natürlich wusste Levke das. Und er hatte ja recht. Und abgesehen davon war das mit der Graft gar keine schlechte Idee. Sie sagte Henning Bescheid und lief die paar Meter zur Duhmsgraft am Elisabethufer. Ihr Grundschullehrer hatte damals darauf bestanden, dass sie auf gar keinen Fall Wassergräben zu den Überresten der ehemaligen Stadt- und Burgbefestigung sagten. Auch wenn sie heute mit Wasser gefüllt waren und verschiedenen Wasservögeln eine Heimat boten. Sonnenstrahlen brachen durch die Zweige der Bäume in Jever. In den vergangenen Tagen war es merklich wärmer geworden, und Levke spürte, wie ihr die Hitze in die Wangen stieg. Während der letzten Wochen war sie regelmäßig walken gegangen; und die Tatsache, dass sie sich seit gefühlt zehn Jahren das erste Mal einen Gürtel zugelegt hatte, zeigte deutlich an, dass ihr Bauchumfang um einige Zentimeter geschrumpft war. Aber fit fühlte sie sich noch lange nicht. Zumindest nicht in dem Maß, wie sie es zu der Zeit ihrer Ausbildung in Hamburg gewesen war. Fünf Kilometer Laufen entlang der Alster mehrmals in der Woche waren ein Kinderspiel gewesen, dazu die Wohnung im obersten Stockwerk eines Mietshauses – ohne Aufzug.
Heute lebte sie in Horumersiel in einem der Mehrparteienhäuser am Wangertief und fluchte jedes Mal, wenn am Aufzug das Schild „Defekt“ hing. Wobei – mittlerweile nahm sie sogar freiwillig die Treppen. Abwärts. Das mit dem Aufwärts überlegte sie sich noch. Man musste ja nicht gleich übertreiben.
Nachdem sie sich die Schuhe gereinigt hatte, was sich doch länger hingezogen hatte, als sie dachte, kehrte sie wieder zum Kirchplatz zurück. Henning runzelte die Stirn, musterte ihre Schuhe und hielt ihr die Einmalhandschuhe und die Überzieher entgegen.
„Warst du noch eine Runde mit den Enten schwimmen?“
Sie verkniff den Mund. „Sehr witzig. Versuch du mal, aus diesem Profil irgendwas herauszubekommen, wenn du nur einen Mini-Stock zur Verfügung hast. Und nicht in den Graben fallen willst.“ Sie zog sich erst einen Overall, dann die Überzieher über die Schuhe und die Handschuhe an. „Was haben wir eigentlich hier?“
„Schön, dass du fragst. Deswegen sind wir ja auch eigentlich da.“
„Was bist du eigentlich so zickig heute? Habe ich dir irgendwas getan?“ Levke sah ihn an.
„Nein, hast du nicht, aber Meinhardt ist vor fünf Minuten angekommen.“
Levke nickte. Wenn der Rechtsmediziner Professor Dr. Udo Meinhardt extra aus Oldenburg nach Jever fahren musste, um ausgerechnet einen Fall zu untersuchen, den sie, Levke, und ihr Kollege Henning bearbeiteten, war die Laus über seiner Leber vorprogrammiert. In dem Fall hatte das Insekt allerdings die Ausmaße eines Elefanten. Und wenn Henning dieser Laus heute schon begegnet war, konnte sie sich fast bildlich vorstellen, wie er sich fühlte. Vielleicht war es doch ganz gut gewesen, dass sie seine Ankunft verpasst hatte. Meinhardt hatte bestimmt noch genug seiner schlechten Laus … äh, Laune, für sie übrig gelassen.
Sie stapften in Richtung Kirche. Davor saß auf einer Bank eine Frau mit langen, dunklen Haaren und pigmentierter Haut. Gekleidet war sie in eine blaue Jeans, weiße Turnschuhe und einen beigen, kurzen Trenchcoat. Ihr Kopf war nach vornübergekippt, an der rechten Schläfe rann Blut herab. Wobei – es wirkte eher schon geronnen statt flüssig.
Erstaunlich war, dass ihre Augen geschlossen waren. Sollten die nicht geöffnet sein? Bei Levkes bisherigen Leichenfunden waren sie es wenigstens gewesen, und sie glaubte, sich an einen Fachartikel erinnern zu können, dass der Lidschluss Muskelkraft erforderte. Starb man, erschlaffte die Muskulatur, und die Lider öffneten sich. Und wenn sie nicht geschlossen wurden, bevor die Leichenstarre einsetzte, war es erst nach dem Lösen der Starre wieder möglich, sie wieder zu schließen. Also musste ihr jemand die Lider aktiv nach ihrem Tod geschlossen haben. Fragte sich nur, wer das gewesen war? Jemand, der ihr nahestand? Oder jemand, der den Anblick der starren Augen nicht ertragen konnte? Auch das war möglich.
„Ach, sieh mal einer an, das ermittelnde Personal kommt mal wieder zuletzt. Was war es dieses Mal, Frau Tönnens? Auto kaputt? Mit den Öffis gefahren? GPS versagt? Oder der Klassiker: Das Handy nicht gefunden?“ Meinhardts Mundwinkel waren so starr wie die Leiche vor ihm.
Levke zwang sich zu einem Lächeln. „Wir dachten, es macht Ihnen bestimmt mehr Freude, wenn Sie sich erst einmal allein und in Ruhe um unsere Tote kümmern können. Die widerspricht Ihnen wenigstens nicht.“
„Zynismus bekommt Ihnen nicht, meine Liebe.“ Er sah sie nicht einmal an, sondern beugte sich über das Opfer.
„Ich wüsste nicht, dass ich seit Neuestem Ihre Liebe bin.“ Levke biss sich sofort auf die Lippen, als die Worte aus ihr herausgesprudelt waren. Verdammt, wieso konnte sie nicht einmal die Klappe halten, statt immer alles stante pede herauszuposaunen? Darauf hatte Meinhardt doch nur gewartet, dass sie auf seine Provokationen ansprang. Sie sollte es besser wissen. Henning, der ihr schräg gegenüberstand, schüttelte nur den Kopf, Jörn Thiessen verbiss sich ein Grinsen und wendete das Gesicht von ihnen ab.
Meinhardt streckte sich und drehte sich zu ihr. „Frau Tönnens, ich weiß, es ist viel verlangt, mit Sarkasmus umzugehen. Nicht jede Intelligenz verträgt das. Vor allem, wenn Sie Ihre jetzt brauchen werden, um diesen Fall zu lösen. Definitiv kein natürlicher Tod, sondern durch stumpfe Gewalt herbeigeführt. Diese Frau wurde aller Voraussicht nach erschlagen. Ob das auch der Grund für ihren Tod gewesen ist, werde ich Ihnen nach der Obduktion mitteilen. Außer, Sie wissen das schon, dann kann ich mir den Aufwand ja sparen.“ Er verzog den Mund, was wohl ein Lächeln darstellen sollte, aber eher wirkte wie das Zähnefletschen bei einem Hund.
Levke schluckte. Sie hatte keine Ahnung, warum Meinhardts Worte sie so trafen. Warum er sich überhaupt so verhielt. So fies und gemein. Anfangs dachte sie, es läge an ihr, dann aber realisierte sie, dass er sich gegenüber allen so benahm. Ohne Ausnahme. Doch niemand konnte ihr sagen, weshalb. Vielleicht war er aus gutem Grund Rechtsmediziner geworden. Allein unter Leichen. Die nicht widersprachen oder überhaupt zu erkennen gaben, dass sie einmal Gefühle, Emotionen besessen hatten. Wobei, allein unter Leichen stimmte auch nicht. Bei ihm im Institut arbeiteten ja auch andere Menschen. Einige davon mussten ihm doch bestimmt täglich begegnen. Levke beneidete sie nicht darum. Sie war froh, wenn er wieder nach Oldenburg abdampfte.
„Wir sind heute früh gegen 7:15 Uhr von einer Passantin informiert worden“, sagte Thorsten Heims, einer der Polizeikommissare der Schutzpolizei, „dass vor der evangelischen Stadtkirche eine Frau auf einer Bank sitze, die sich aber nicht rühren würde und auch nicht ansprechbar sei. Die Passantin habe an ihr gerüttelt und dabei festgestellt, dass sie sich schon starr und kalt angefühlt habe. Außerdem sei ihr dann auch das Blut aufgefallen, woraufhin sie sofort die 110 alarmiert habe.“
Levke nickte, dankbar, dass sie Meinhardt die Antwort schuldig bleiben konnte. „Wissen Sie schon, wer die Tote ist?“
Heims schüttelte den Kopf. „Sie hatte weder Papiere noch ein Handy dabei. Aber in ihrem Schoß haben wir dieses Foto gefunden.“ Er deutete auf eine Fotografie. Es zeigte eine junge Frau im Porträt. Um ihren Ausschnitt trug sie eine Kette mit einem auffälligen Anhänger. Das Foto wirkte alt, war an den Rändern verblichen und voller Kratzer. Levke drehte es um. In Sütterlinschrift stand etwas darauf, was sie nicht entziffern konnte. Zumindest vermutete sie, dass es Sütterlin war. Eine andere alte Schriftart kannte sie nicht. Daneben war eine Jahreszahl verzeichnet: 1938.
„Kannst du das lesen?“, fragte sie Henning und zeigte ihm die Bildrückseite. Er schaute darauf und schüttelte den Kopf.
„Keine Chance. Meine Oma wusste noch, wie man Sütterlin geschrieben und gelesen hat, aber ich habe da echt keine Ahnung von.“
Also war es doch Sütterlin.
Meinhardt drehte sich schnaubend zu ihnen um. „So etwas nennt man Allgemeinbildung. Zeigen Sie mal her.“
Levke widerstrebte es, ihm das Foto zu geben. Sie konnte sich schon denken, zu was das führen würde. Meinhardt hatte einmal mehr eine Gelegenheit zu demonstrieren, was er nicht alles wusste. Vermutlich hatte er genug Zeit, sich mit so etwas zu beschäftigen. Levke konnte sich nicht vorstellen, dass er allzu viele Freunde hatte, mit denen er in seiner Freizeit unterwegs war. Doch vielleicht lag sie auch falsch.
Er runzelte die Stirn. „Das Bild stammt aus Jever und zeigt eine Elenore Steiner. Mehr steht hier nicht drauf. Aber eventuell hilft es Ihnen ja weiter, herauszufinden, wer unser Opfer ist. Wenn Ihnen schon andere Hinweise fehlen.“
Levke antwortete nicht, sondern wandte sich Thiessen zu. „Hast du noch etwas Sinnvolles für mich?“
Er nickte. „In der Wunde am Kopf haben wir Holzsplitter gefunden. Was das für ein Holz ist und ob es uns auf einen konkreten Gegenstand hinweist, kann ich dir erst nach einer genaueren Untersuchung sagen. Ansonsten …“, er wies mit einer ausholenden Geste um sich herum, „… gibt es hier Fußspuren wie Sand am Meer. Da wird sich vermutlich nichts ergeben. Wir haben den Leichnam abgeklebt, um Spuren auf der Kleidung zu sichern. Das Gleiche werden wir noch einmal machen, wenn sie ausgezogen ist. Fingerabdrücke haben wir gesichert, einige Gegenstände wie Münzen und Zigarettenkippen, Kaugummi und so weiter. Was uns das bringen wird, wird sich dann noch zeigen. Zumindest eines ist sicher: Die Bank, auf der wir sie gefunden haben, ist nicht der Tatort.“
„Woraus schließt du das?“
Er zeigte auf ein mit Absperrband gesichertes Gebiet ein paar Meter weiter den Weg entlang. Nummerierte Aufsteller waren in unregelmäßigen Abständen darauf verteilt. „Dort vorne ist ein größerer Blutfleck, einzelne Tropfen führen bis hierher zur Bank. Sie ist wohl dort hinten erschlagen worden und hat sich entweder selbst oder mit Hilfe bis hierhergeschleppt.“
„Aber die Augen sind doch geschlossen“, sagte Levke.
Thiessen starrte sie ausdruckslos an. „Was meinst du damit?“
„Ich meine, dass jemand ihr die Augen geschlossen haben muss, nachdem sie gestorben ist. Die sind doch normalerweise offen.“
„Absolut, Frau Tönnens“, sagte Meinhardt. Levke runzelte die Stirn. War da ein Unterton zu hören gewesen? Sie hatte zumindest keinen wahrgenommen. Das war völlig untypisch für Meinhardt. Der würde ihr doch nur mit zusammengebissenen Zähnen und unter Folter recht geben.
„Haben Sie Abdrücke von den Lidern genommen?“, fragte dieser Thiessen.
Der nickte. „Was meinen Sie denn? Natürlich ist auch der Bereich von meinen Leuten abgeklebt worden. Mit etwas Glück hat der Täter uns Fingerabdrücke und ein bisschen DNS hinterlassen. Allerdings sind solche Haut-auf-Haut-Abdrücke schwer zu bestimmen – besser, ihr macht euch da keine zu großen Hoffnungen.“
„Wir haben sie!“ Heims rannte Levke über den Kirchplatz entgegen, sein Handy wie eine Trophäe in der Hand in die Luft gereckt. Seine nach hinten gegelte Haartolle bewegte sich dabei kein Stück. Als wäre sie festbetoniert. Faszinierend. Irgendwann würde sie ihn einmal fragen, was er sich da auf den Kopf schmierte. Nicht dass sie es auch verwenden wollte, aber sie konnte den Blick einfach nicht von seinem Kopf wenden. Levke kam ihm entgegen.
„Die Tote heißt Angela Meyer, sie ist brasilianische Staatsangehörige. Ihr Mann hat sie gerade als vermisst gemeldet.“
„Haben Sie die Adresse?“
„Ich schick sie Ihnen gleich auf Ihr Smartphone. Die sind hier im Frieslandhotel abgestiegen.“ Er tippte auf dem Bildschirm herum, dann zeigte ihr Handy eine neue Nachricht an. Sie schaute darauf.
„Gibt es hier in Jever nur ein Hotel?“ Sie schüttelte den Kopf.
„Nein, wieso? Es gibt hier mehrere Möglichkeiten zum Übernachten, zum Beispiel …“
Levke winkte ab. „Das war rhetorisch gemeint, Heims. Aber das Frieslandhotel kennen wir doch schon aus unserem letzten Fall hier in Jever.“ Sie erinnerte sich noch gut an die Serienmorde, bei denen die Opfer wie Kunstwerke arrangiert worden waren. Wenn sie daran zurückdachte, wie sich das Ganze aufgelöst hatte, lief ihr heute noch ein Schauer über den Rücken. Sie wollte am liebsten nicht mehr an diesen Fall erinnert werden.
„Die Befragungen der Anwohner sind noch in Arbeit.“
„Sehr gut, Heims, danke schön.“ Heims verabschiedete sich und ging zurück zu seinem Auto.
Henning trat an ihre Seite. „John Meyer …“, las er auf ihrem Display. „Und er ist der Ehemann? Seltsam.“
„Wieso seltsam?“
Henning wandte sich an Meinhardt. „Wie lange, denken Sie, ist die Frau schon tot? So ungefähr?“
Meinhardt zuckte mit den Schultern. „Ich habe die Temperatur gemessen, dreiunddreißig Grad. In Abhängigkeit von der Umgebungstemperatur von circa fünfzehn Grad und dem nur geschätzten Gewicht von etwa sechzig Kilogramm schätze ich, dass sie vor fünf Stunden, plus/minus zwei Stunden, gestorben ist. Unter Vorbehalt. Die Totenflecken sind noch nicht vollständig ausgeprägt und noch fleckig, also kaum vollständig ineinander verlaufen. Außerdem kann ich sie noch wegdrücken. Die Totenstarre ist schon vorhanden, wenn auch noch nicht vollständig ausgeprägt. Keine Fäulnis, keine Fliegenmaden, noch nicht einmal Eier. Das spricht dafür, dass sie noch nicht so lange tot ist. Alles Weitere ist spekulativ.“ Er zog seine Handschuhe aus und packte sie in einen Beutel. Dann griff er nach seinem Koffer, verschloss ihn sorgfältig und verließ ohne ein Wort des Abschieds den Platz.
Jetzt war es Henning, der den Kopf schüttelte. Levke schnaubte leise. Als ob sie Luft wären.
„Warum wolltest du die Todeszeit wissen? Was hat das mit unserem Ehemann zu tun?“, fragte sie Henning.
„Ich frage mich, wieso er sie erst jetzt als vermisst meldet. Haben sie getrennte Zimmer gebucht? Ist sie abends noch allein unterwegs gewesen, und er hat es nicht mitbekommen? Ich finde das schon etwas seltsam.“
„Wieso? Kann doch sein, dass er schon eingeschlafen ist, während sie noch irgendwo unterwegs gewesen ist. Da musst du nicht unbedingt mitbekommen, ob deine Frau nachts noch ins Bett schlüpft oder nicht. Vielleicht hat er was getrunken oder ein Schlafmittel genommen, vielleicht ging es ihm nicht gut? Was weiß denn ich? Aber so seltsam finde ich das jetzt nicht. Er ist morgens aufgewacht und hat gesehen, dass sie nicht da ist. Vielleicht ist er erst einmal in den Speisesaal gegangen und zur Rezeption, hat nach ihr gefragt. Und als er sie nirgendwo gefunden hat, hat er die Polizei informiert. Völlig logisch, wenn du mich fragst.“
Henning verzog das Gesicht. „Wenn du meinst.“
Sie knuffte ihn in die Seite. „Na, komm, du Mieselprim. Wir gehen jetzt erst mal zum Hotel und benachrichtigen John Meyer über den Tod seiner Frau. Danach kannst du ihm gleich noch ein paar Fragen stellen. Dann wissen wir bestimmt mehr.“
Kapitel 2
Wenige Minuten später trafen Levke und Henning im Frieslandhotel ein. In der Eingangshalle hingen mehrere Fotografien, auf denen Kunstwerke aus der Romantik nachgestellt waren. Ein Schauer lief Levke über den Rücken. Sie erinnerte sich noch gut daran, wie die Fotografien entstanden waren. Auch die Sitzgruppe mit den weichen Polstermöbeln im Foyer stand noch immer am selben Platz. Nur die Dame am Tresen war eine andere als damals. Das Schild an ihrer blauen Uniformjacke wies sie als „Carmen Großmann“ aus.
„Wie kann ich Ihnen behilflich sein?“, fragte sie sie.
„Wir suchen einen John Meyer.“ Levke schob sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht.
Carmen Großmann nickte. „Ich sag ihm kurz Bescheid. Sie sind vermutlich von der Polizei, oder? Herr Meyer hat heute früh überall nach seiner Frau gesucht. Wir haben ihm geholfen, soweit wir das konnten.“ Sie wirkte ehrlich betroffen. „Wenn Sie warten möchten?“ Sie deutete auf die Sitzgruppe.
Levke winkte ab. In diese Sitzgruppe würde sie sich bestimmt nicht mehr setzen. Das letzte Mal wäre sie fast nicht mehr hochgekommen. Eigentlich war sie nicht mehr hochgekommen. Nur mit Hennings Hilfe. Doch mittlerweile hatte sie schon ein paar Kilo und einige Zentimeter Bauchumfang abgenommen, wahrscheinlich hätte sie heute kein Problem mehr damit. Aber herausfordern wollte sie es auch nicht. Sie stellten sich an den Rand des Tresens und warteten, während Carmen Großmann telefonierte.
Ein paar Minuten später eilte ein Mann auf sie zu. Er wirkte fahrig. Auf seiner Stirn stand feiner Schweiß, genau wie auf dem kahl geschorenen Kopf, über den er sich mit einer Hand fuhr. Als er sich der Feuchtigkeit bewusst wurde, wischte er sie an der Hose ab und verzog die Lippen zu einem schwachen, kaum wahrnehmbaren Lächeln. Er wollte ihnen die Hand geben, besann sich aber eines Besseren ob der gerade noch feuchten Hände und nickte ihnen nur zu. Die Hände kurz zu Fäusten gepresst, die er sofort wieder löste. Zumindest hoffte Levke, dass er sich tatsächlich noch rechtzeitig dessen bewusst geworden war, dass er gerade noch schweißnasse Hände gehabt hatte. Sie hätte ihm mit Sicherheit nicht die Hand gegeben. Niemals.
„Haben Sie meine Frau gefunden?“ Meyers Aussprache klang hart. Deutsch war wohl nicht seine Muttersprache. Aber er sprach es fließend.
„Beruhigen Sie sich, Herr Meyer“, sagte Levke und wandte sich an Carmen Großmann. „Gibt es hier einen Raum, wo wir ungestört reden können?“
Großmann nickte. „Dort hinten, der kleine Raum hinter dem Speisesaal. Der ist leer und wird momentan auch nicht genutzt.“
Levke gab Meyer ein Zeichen, ihr zu folgen. Zusammen mit Henning marschierten sie in den kleinen Saal, und sie schloss die Tür hinter sich. Hier war es fast ein bisschen zu kühl und vor allem dunkel. Nur wenig Licht drang ins Innere. Direkt vor dem Fenster wuchs ein großer Busch, der mit seinen Blättern jedes Fitzelchen Helligkeit schluckte. Tische und Stühle standen wie in einem Klassenzimmer in mehreren Reihen vor einem in der Mitte stehenden Tisch mit einem einzelnen Stuhl. Dahinter war eine Leinwand heruntergelassen, auf die offensichtlich Dateien mit dem an der Decke hängenden Beamer projiziert werden konnten.
Levke bat Henning und Meyer, an einem der Tische Platz zu nehmen. Sie selbst griff sich einen Stuhl und setzte sich ihnen gegenüber. Dann zog sie ihr Smartphone aus der Tasche, entsperrte es und öffnete einen Ordner. Sie tippte auf das Foto der Toten und zeigte es John Meyer. „Ist das Ihre Frau?“
Besser, er erfuhr es sofort, wenn sie es war. Unnötig, die Wahrheit länger hinauszuzögern. Das machte es nicht leichter, sondern schürte eher die Hoffnung bei den Angehörigen, dass die vermisste Person doch noch gefunden werden könnte. Lebend.
John Meyers Lippen zitterten, genau wie seine Hände, als er auf den Bildschirm sah. „Ja, das ist sie. Das ist Angela. Was ist mit ihr passiert? Ist sie … tot?“ Seine Stimme erstarb, und er zitterte noch mehr.
Levke nickte langsam und beobachtete ihn genau. Seine Augen füllten sich mit Tränen, die ihm die Wangen hinabrannen. Er schluchzte. Menschen reagierten unterschiedlich, wenn es um den Tod ging. Nicht jeder brach in Tränen aus. Viele verweigerten sich erst einmal, wehrten die Nachricht ab und wollten sie nicht akzeptieren. Verständlich, wenn man bedachte, dass es das Ende der gemeinsamen Zeit bedeutete. Unweigerlich. Und nicht mehr zu ändern. Levke konnte sich irren, aber ihr schien es so, als ob Meyer so etwas in der Art schon geahnt hatte. Wobei, das war vielleicht der falsche Ausdruck: geahnt. Vermutet? Er hatte zumindest mit etwas Schlimmem gerechnet, sonst hätte er nicht so schnell die Polizei gerufen, sondern erst einmal gewartet, ob seine Frau nicht doch von selbst wiederkäme. Nur ihren Tod hatte er wohl nicht einkalkuliert, vermutlich eher einen Unfall. Das war normalerweise naheliegender.
„Aber … Aber das kann nicht sein. Sie ist doch gestern noch da gewesen. Ich hab sie doch gesehen. Sie kann doch nicht …“ Seine Stimme erstarb erneut.
Levke kniff die Lippen zusammen. Sie konnte nicht gut mit trauernden Angehörigen umgehen, wusste nicht, welche Worte sie wählen sollte. Fühlte sich überfordert. Glücklicherweise musste sie selten solche Nachrichten überbringen, Gewaltverbrechen gehörten nicht zum Alltag hier im Wangerland. Menschen kamen hier zwar auch ums Leben, aber eher, weil sie die Geschwindigkeit mit ihrem Wagen unterschätzten oder weil sie als Radfahrer oder Fußgänger übersehen wurden. Unfälle. Tragisch, manchmal vermeidbar, aber nicht mit Absicht. Irgendwie war das leichter mitzuteilen. Oder sie war einfach nur seltsam. Seltsam und emotionslos. Nein, das stimmte nicht. Sie war nicht emotionslos, sie wollte nur nicht in Emotionen anderer verstrickt werden. Vor allem nicht bei einem Mordfall. In vielen Fällen wurden Morde von den Menschen begangen, die ihnen am nächsten standen, gerade wenn es um Paare ging. Sie wollte sich nicht in Meyer einfühlen. Was, wenn er sich am Ende als Täter herausstellte?
Henning räusperte sich. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie die ganze Zeit über Meyer einfach nur angestarrt hatte, wie er weinte. Ohne sich zu rühren. Ihr Kollege warf ihr einen Blick zu, den sie nicht deuten konnte. War er sauer?
Henning beugte sich zu Meyer, reichte ihm ein Taschentuch. „Wann haben Sie denn entdeckt, dass sie nicht mehr da war?“
Meyer schnäuzte sich und tupfte sich die Tränen ab. „Ich bin heute Morgen aufgewacht und habe bemerkt, dass Angela nicht neben mir im Bett lag. Da habe ich mir noch nichts dabei gedacht. Sie ist Frühaufsteherin, wissen Sie? Macht oft morgens Sport, geht laufen oder so. Also bin ich aufgestanden, habe mich fertig gemacht und bin zum Frühstücken gegangen. Aber dort saß sie auch nicht. Und am Empfang konnte man mir auch nicht sagen, wo sie war. Oder ob sie schon weggegangen war. Ich habe dann noch ein paar weitere Leute gefragt, sogar unsere Verwandten hier in Jever angerufen, aber auch dort ist sie nicht gewesen. Ich habe versucht, sie anzurufen, aber sie ist nicht an ihr Handy gegangen. Ich glaube, es ist ausgeschaltet. Das sieht ihr gar nicht ähnlich. Ich meine, sie ist immer am Handy erreichbar. Sogar nachts. Und dann …“ Er schluckte. „Dann hab ich es mit der Angst zu tun bekommen. Da hat doch etwas nicht gestimmt. Was, wenn sie beim Joggen einen Unfall gehabt hat? In einem Ort, den sie nicht kennt? Wenn ihr Handy kaputtgegangen ist? Runtergefallen, oder so? Und deshalb habe ich die Polizei gerufen. Ich hab doch keine Ahnung, wie das hier in Deutschland so abläuft.“
„Und der gestrige Abend, wie lief der ab? Sind sie nicht zusammen ins Bett gegangen? Also, schlafen?“ Levke spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. Aber wie hätte sie es anders ausdrücken sollen? Es war doch wohl hoffentlich klar, dass es hier nicht um Sex ging.
Meyer schüttelte den Kopf. „Wir sind gestern Abend auf einem Konzert im Schloss in Jever gewesen und erst spät nach Hause gekommen. Ich bin dann noch einmal rausgegangen, frische Luft schnappen. Angela wollte nicht mitkommen. Als ich zurück auf unser Zimmer gekommen bin, habe ich einen Zettel von ihr gefunden, dass sie jetzt doch noch spazieren gegangen ist. Also habe ich mich an die Bar gesetzt, etwas getrunken und bin dann ins Bett. Ich bin immer noch fix und fertig von dem Jetlag, wissen Sie? Wir sind erst vor wenigen Tagen aus Brasilien hierher geflogen. Ich bin zwar öfter hier in Norddeutschland, weil ich im Außendienst tätig bin, aber an die Zeitumstellung habe ich mich immer noch nicht gewöhnt. Medical Remedies Fortaleza entwickelt digitale Systeme für Kliniken, die den klinischen Alltag erleichtern sollen. Und ich bin dank meiner Deutschkenntnisse prädestiniert dafür, die Einführungen und Fortbildungen mit der Software zu halten.“ Es klang wie auswendig gelernt, als hätte er diesen Satz schon Hunderte Male wiederholt. Wahrscheinlich jedes Mal, wenn er sich in einer Klinik neu vorstellte.
„Angela wollte unbedingt ihre Verwandten kennenlernen, die hier in Jever wohnen. Ihre Urgroßmutter Elenore Steiner ist hier aufgewachsen und deren Tochter Greta, Angelas Großmutter, ist nach Brasilien ausgewandert. Na ja, eigentlich ist sie geflohen. Sie wissen schon, zu Beginn des Zweiten Weltkriegs, 1939. Sie ist Jüdin. Seitdem war niemand aus Angelas jetziger Familie mehr hier. Nur eben der andere Teil der Verwandtschaft, der damals nach Norwegen geflohen und nach dem Krieg wieder nach Deutschland zurückgekehrt ist. Und die wollten wir jetzt besuchen.“
„Und haben Sie sie schon gesehen?“
Meyer nickte. „Ich hatte das Gefühl, dass es Angela sehr wichtig war, endlich zu wissen, wo ihre Wurzeln sind. Und die Familie hier in Jever hat uns sehr herzlich begrüßt.“
„Können Sie uns die Namen und die Adresse der Familie nennen?“
Meyer nickte wieder. Henning schob ihm sein Smartphone zu, auf dem eine Notiz-App geöffnet war. Meyer notierte die Adresse und den Namen. Dann sackte er merklich in sich zusammen.
„Wie geht es jetzt weiter? Was passiert denn jetzt? Kann ich meine Frau sehen?“
Levke seufzte leise. Das war nicht möglich. Nicht, bis alle Untersuchungen und die Obduktion abgeschlossen waren und die Leiche freigegeben worden war. Bis dahin musste er sich gedulden.
„Wie lief es denn so in Ihrer Ehe? Gab es da irgendwelche Vorfälle?“
Er schaute sie an, als hätte sie ihn gerade geohrfeigt. „Sie fragen das, weil Sie denken, ich hätte meine Frau umgebracht? Ernsthaft? Ich habe Angela geliebt. Über alles. Wir haben schon viel gemeinsam durchgemacht. Dieses Jahr waren wir so weit, dass wir mit dem Gedanken an eine eigene Familie gespielt haben. Ich verdiene genug, sodass Angela es sich erlauben kann, ein paar Monate nicht zu arbeiten.“ Er stockte. „Sie hätte es sich …“ Seine Augen füllten sich abermals mit Tränen. „Wir haben uns gestern Abend gestritten, das stimmt. Aber deswegen bringe ich sie doch nicht um. Wegen was denn? Und falls Ihnen das nicht reicht, können Sie auch gern bei Angelas Familie nachfragen – ich hatte und habe keinen Grund, sie zu töten. Finden Sie lieber den wahren Täter!“
„Wir müssen das fragen, Herr Meyer. Das ist nicht gegen Sie persönlich gerichtet, sondern unsere Arbeit.“ Ihr fiel noch etwas ein. „Können Sie uns sagen, was es mit diesem Foto auf sich hat?“ Sie zeigte ihm die Fotografie, die sie am Tatort in Angela Meyers Schoß gefunden hatten.
Mit zittrigen Fingern nahm Meyer das Foto in die Hand. „Das ist Angelas Urgroßmutter, Elenore Steiner. Das Bild ist von ihrer Hochzeit. Sehen Sie die Kette mit dem Amulett?“
Levke schaute sich das Amulett genauer an. Das Material konnte sie nicht genau ausmachen, der Farbe nach vermutlich war es Gold, aber das Schmuckstück wirkte sehr filigran. Wie Sonnenblumen, die von fein gearbeiteten Blättern umrankt wurden. In der Mitte der Blumen saßen Edelsteine. Zumindest vermutete Levke, dass es welche waren. Vielleicht Diamanten? Es war klar, dass dieses Schmuckstück einiges wert sein musste. Auch damals schon.
„Was hat es mit der Kette auf sich?“
„Sie ist verschollen. Elenore hat ihre Tochter damals mit vielen anderen Flüchtenden in einen dieser Kindertransporte gesetzt, damit sie aus Jever verschwindet, solange das noch möglich war. So ist sie über England nach Brasilien gekommen. Elenore selbst wollte nachkommen, aber sie hat es nicht mehr geschafft. Ihre Tochter Greta hat sie nie wiedergesehen.“
„Was ist passiert?“ Levke hatte zwar eine Ahnung, aber vielleicht half es ihm, in seiner Trauer über seine Frau zu reden.
Meyer holte tief Luft. „Erst viele Jahre später hat Greta erfahren, dass ihre Mutter nach Auschwitz deportiert wurde und dort umgekommen ist. Ihr Name hat auf einer der Listen gestanden. Aber die Kette ist nie wieder aufgetaucht.“
„Und Ihre Verwandten hier in Jever wissen auch nichts darüber?“
„Die Steiner’sche Verwandtschaft hier behauptet, dass sie sie nie gesehen hat. Vielleicht ist sie im Krieg verloren gegangen. Das Amulett ist immerhin ziemlich wertvoll gewesen. Es soll aus Gold bestanden haben, mit Diamanten besetzt. Die Familie ist damals ziemlich wohlhabend gewesen, Goldschmiede von Beruf über mehrere Generationen. Das Amulett ist extra für die Hochzeit 1920 handgefertigt worden. In einem der Blätter müssen die Initialen von Angelas Urgroßmutter eingraviert sein: E. S. Angela wollte herausfinden, ob es diese Kette überhaupt noch gibt. Und falls ja, dann wollte sie sie ihrer Großmutter mitbringen. Als Erinnerung an deren Mutter Elenore.“ Er seufzte leise, bevor er weitersprach. „Greta kann nicht selbst hierherkommen, sie ist mittlerweile fünfundneunzig Jahre alt und nicht mehr gut zu Fuß. Das Amulett wäre für sie die einzige Erinnerung an ihre Mutter gewesen – neben dem Foto. Auch das war mit ein Grund, hierherzukommen. Angela hat alles fotografiert, was sie gesehen hat, damit sie ihrer Großmutter später zeigen konnte, wie es hier aussieht. Greta hat öfter von ihrer alten Heimat erzählt. Obwohl sie schon mit neun Jahren geflohen ist, kann sie sich immer noch an einige Orte erinnern. Viele sind zwar mit negativen Erinnerungen behaftet, aber sie sind immer noch da.“
Levke nickte wieder. „Und hat irgendjemand gewusst, wo Elenore Steiner die Kette aufbewahrt haben könnte?“
„Sie hat für ihre Tochter einen Brief im Gepäck versteckt. Da stand etwas davon, dass sie ihr ein Geheimnis unter losen Dielenbrettern vermacht hätte. Wahrscheinlich hat sie bewusst keine Adresse genannt und auch nicht, um was es sich gehandelt hat, aber Angela ist sich sicher gewesen, dass es nur die Kette gewesen sein kann. Ihre Verwandten haben jedoch gesagt, dass sie alle Fußböden in dem ehemaligen Haus erneuert hätten. Dabei wäre ihnen sicher aufgefallen, wenn dort etwas gelegen hätte. Laut ihrer Aussage haben sie unter keiner einzigen Diele etwas gefunden. Was vermutlich auch nicht verwunderlich ist. Zu der Zeit sind alle Häuser der Juden geplündert worden, die haben bestimmt nichts unversucht gelassen, um jedes Versteck zu finden.“
Bestimmt wäre ihnen eine Kette oder ein Amulett unter den Dielen aufgefallen, dachte sich Levke. Die Frage war nur: Hätten sie das auch so ihrer aus Brasilien angereisten Verwandten, einer für sie Fremden, mitgeteilt? Vielleicht hatten sie das Amulett längst gefunden und zu Geld gemacht – nach dem Krieg herrschte schließlich ein Mangel an allem. Aber auch das war Spekulation. Und John Meyer hatte recht – die Nazis hatten damals alles mitgenommen, was einen Wert hatte. Und ein Geheimnis unter Dielen konnte vieles sein, da musste es sich nicht um ein Amulett handeln. Vielleicht hatte Elenore es auch selbst verkauft, um ihrer Tochter und später sich selbst die Flucht zu ermöglichen – auch wenn es ihr selbst nicht gelungen war. Sie würden die Familie, die immer noch Steiner hieß, dazu befragen. Vielleicht waren sie gegenüber der Polizei ehrlicher als gegenüber den Meyers. Und ja, vielleicht waren sie auch schon gegenüber den Meyers ehrlich gewesen.
„Angela hat gehofft, dass sie das Schmuckstück hier findet. Illusorisch, ich weiß. Doch gestern auf diesem Konzert hat Angela behauptet, sie hätte genau dieses Amulett am Hals einer Frau gesehen, die in der Pause vor dem Getränkeverkauf angestanden hat.“
Das war wirklich erstaunlich. „Und war es das Amulett?“
Meyer zuckte mit den Schultern. „Ganz ehrlich, keine Ahnung. Es gibt nur diese Fotografie. Wir haben es nie in echt gesehen. Das ist richtig peinlich gewesen. Angela ist auf diese Frau zugegangen und hat sie vor allen Leuten aufgefordert, ihr die Kette zu geben.“
Henning beugte sich zu ihm. „Und was ist dann passiert?“
Meyer schnaubte. „Die hat sich natürlich geweigert, was Angela gar nicht gepasst hat. Sie blieb dabei, dass die Kette der Frau die ihrer Urgroßmutter gewesen sei. Wir wären fast hinausgeworfen worden, so sehr hat sie sich da hineingesteigert. Mich hat sie dann auch noch angefahren, weil ich sie angeblich nicht unterstützt habe. Aber ganz ehrlich – was hätte ich denn tun sollen? Wir haben doch gar keinen Beweis dafür, dass die Kette der Frau die von Angelas Urgroßmutter ist. Es könnte irgendein Amulett gewesen sein, eines, das Elenores ähnlich sieht. Aber Angela ist nicht davon abgewichen.“
„Das ist sicher eine große Enttäuschung für Ihre Frau gewesen, wenn sie wirklich gedacht hat, dass das Amulett der Frau das ihrer Urgroßmutter ist. Wie hat sie denn darauf reagiert, als Sie sie, wie Sie es nennen, nicht unterstützt haben?“ Erstaunlich, wie Henning so oft die passenden Worte und vor allem auch die Tonlage dazu fand, wenn sie ihr fehlten.
Meyer presste kurz die Lippen aufeinander. „Sie ist wutentbrannt gegangen und hat mich dort einfach stehen lassen. Und ich habe versucht, die Wogen wieder zu glätten. Hab mich bei dem Ehepaar entschuldigt und sie gebeten, es zu vergessen. Dass meine Frau da etwas falsch verstanden hätte. Was auch immer. Das war so demütigend. Alle haben uns angestarrt, als ob wir nicht mehr ganz dicht wären. Hinter unserem Rücken habe ich sie tuscheln hören, wobei das Wort ‚Unverschämtheit‘ das einzige war, was ich mitbekommen habe.“ Noch jetzt röteten sich deutlich sichtbar seine Wangen bei dem Gedanken daran. „Und ehrlich, ich hab Angela auch nicht mehr verstanden. Was sollte das werden? Sie hat einfach wildfremde Menschen angegriffen und ihnen quasi Diebstahl vorgeworfen. Völlig irre. Wegen was? Und mit welchem Recht? Ich habe meine Frau gar nicht mehr wiedererkannt. Sie ist sonst nicht so. Wirklich nicht.“ Er hielt kurz inne. „Und im Endeffekt ist es das Letzte gewesen, was wir gemeinsam erlebt haben. Als ich ins Hotelzimmer gekommen bin, hat sie nicht mit mir geredet. Und ich habe es zwar versucht, aber keine Chance. Deswegen bin ich noch mal raus.“
Levke hielt die Luft an. Konnte es tatsächlich sein, dass das die letzte Begegnung zwischen den beiden gewesen war?
„Wenn ich geahnt hätte, dass das tatsächlich das letzte Mal gewesen ist, dass ich sie gesehen habe, ich hätte doch nicht … ich wäre doch nicht …“ Er schluchzte wieder auf und presste sich beide Hände vor das Gesicht.
Eine halbe Stunde später klingelte Levke an dem Haus der Familie Steiner in Jever. Es handelte sich um ein altes Haus, eher eine Villa, weiß verputzt mit einem Vorgarten, in dem sich einige Rosen die Hauswand entlang eines Holzgitters rankten. Hübsch. Vor dem Haus stand eine Holzbank mit einem stilisierten Herz, daneben ein steinerner Blumenkübel mit Vergissmeinnicht und etwas Gelbblühendem, das Levke nicht kannte.
Es dauerte eine ganze Weile, bis sich etwas tat. Eilige Schritte, die eine Treppe herabliefen. Die Tür wurde geöffnet, und vor ihnen stand eine Frau mit kurzen, dunkelbraunen Haaren. Sie trug Putzhandschuhe und hielt einen Lappen in der Hand.
„Moin, sind Sie Elisabeth Steiner?“, fragte Levke.
„Moin, das bin ich, ja.“ Steiner legte den Lappen auf eine Stufe, zog sich die Handschuhe aus und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. „Und wer sind Sie?“
Levke zeigte ihren Dienstausweis, Henning tat es ihr gleich. „Wir sind hier wegen Ihrer entfernten Verwandten Angela Meyer. Sie hat Sie vor Kurzem besucht?“
Es flackerte in Steiners Augen. „Ja, das hat sie. Um was geht es denn?“
„Sie ist heute Morgen tot aufgefunden worden.“
Steiner griff sich an die Brust, die Augen geweitet. „Um Gottes willen! Was ist denn passiert? John hat hier angerufen und gefragt, ob wir sie gesehen hätten, aber das ist nun wirklich das Letzte, was ich erwartet hätte. Hatte sie einen Unfall?“
„So würde ich das nicht nennen“, sagte Henning, „Sie ist getötet worden.“
Steiner ließ sich auf die Treppenstufe sinken. Sie atmete schwer. „Das kann doch nicht wahr sein. Wer macht denn so was?“
„Genau das versuchen wir herauszufinden. Wann haben Sie sie denn das letzte Mal gesehen?“ Henning holte seinen Notizblock und einen Stift hervor.
Elisabeth Steiner holte tief Luft, überlegte. „Ich glaube, das ist gestern gewesen. Eigentlich war sie, seit sie aus Brasilien hergekommen ist, fast jeden Tag hier. Sie wollte unglaublich viel über ihre Urgroßmutter und ihre Vergangenheit wissen. Dabei weiß ich selbst nicht wirklich viel. Mein Urgroßvater Henry, der Bruder ihrer Urgroßmutter Elenore, hat nicht viel hinterlassen. Eigentlich hat er kaum etwas hinterlassen. Er ist damals geflohen, zusammen mit seiner Schwester Elenore. Unterwegs sind sie getrennt worden. Er hat es nach Norwegen geschafft, sie ist nach Auschwitz gekommen und später dort gestorben.“ Sie fegte mit einer Hand etwas Erde von der Treppenstufe. Starrte auf ihre Finger, die jetzt fleckig waren. Griff nach dem Putzlappen und säuberte sie notdürftig. „Soweit ich weiß, zumindest nach dem, was mein Großvater mir erzählt hat, hat er sich sein Leben lang Vorwürfe gemacht, dass er nicht bei ihr geblieben ist. Aber was hätte er tun sollen? Sie haben mit Müh und Not einen der letzten Züge, die Flüchtende mitgenommen haben, erwischt.“
Henning lehnte sich an einen Zaunpfosten. „Wie kann ich mir das genau vorstellen? Was ist denn genau passiert, was er sich hätte vorwerfen können?“
Sie zuckte mit den Schultern. „Er ist auf einen Waggon aufgesprungen, sie auf einen anderen. Als der Zug später angehalten worden ist, schaffte er es, davonzurennen. Er hat noch nach ihr gerufen, aber einer der Polizisten hat sie festgehalten. Sie soll ihm nachgerufen haben, dass er nicht auf sie warten solle, dass er schauen soll, dass er davonkommt. Er ist der kleinere Bruder gewesen, und er hat auf seine große Schwester gehört. Das ist sein Glück gewesen. Hätte er auf sie gewartet, hätte er wahrscheinlich auch nicht überlebt, und wir wären alle gar nicht geboren worden.“ Sie seufzte. „Das ist alles, was ich weiß. Und auch alles, was ich ihr erzählt habe. Aber ich hatte das Gefühl, das ist ihr nicht genug gewesen. Sie wollte mehr wissen, viel mehr. Wollte Details hören. Aber da konnte ich ihr nicht helfen.“
Levke zeigte ihr das Foto. „Hat sie Sie nach dieser Kette gefragt?“
Steiner fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. „Ja, das hat sie. Diese Kette. Diese verdammte Kette. Sie wollte sie unbedingt haben. Das hat echt schon genervt, so oft, wie sie da nachgebohrt hat. Aber wir haben sie nicht. Wir haben sie nie gehabt. Und ich habe auch keine Ahnung, wo sie sein könnte. Ich weiß, dass Elenore diese Kette zu ihrer Hochzeit geschenkt bekommen hat. Warten Sie.“ Sie stand auf, lief ins Haus und kehrte kurz darauf mit einer reich verzierten Holzschatulle zurück, in der sich einige alte Fotografien befanden. Sie wühlte darin herum, zog eine heraus und zeigte sie ihr. „Sehen Sie? Das ist ein Bild von der Hochzeit von Elenore und Georg Petersen. Da trägt sie auch das Amulett an der Kette um ihren Hals.“
„War es damals nicht üblich, nach der Hochzeit den Nachnamen des Ehemanns anzunehmen? Wieso hieß sie dann immer noch Steiner statt Petersen?“, fragte Henning und gab Steiner das Foto, das er von Levke bekommen hatte, zurück.
„Sie hat damals den Namen ihres Mannes angenommen, erst nach dessen Tod hieß sie wieder Steiner. Georg war kein Jude, und als die Situation Ende der Dreißigerjahre prekärer wurde, wollte seine Familie nichts mehr mit ihr zu tun haben und hat verlangt, dass sie den Namen Petersen ablegt. Das ging wohl damals so einfach. Aber was mit dieser Kette seitdem passiert ist, das weiß ich nicht.“ Sie legte das Foto wieder zurück in die Schatulle und stellte sie auf eine Stufe. „Wissen Sie, damals, als die Juden geflohen sind, hatten sie kaum eine Möglichkeit, irgendetwas mitzunehmen. Die meisten gingen mit dem, was sie tragen konnten. Alles von Wert ist entweder zu Geld gemacht oder gut versteckt worden, damit es auf der Flucht nicht auch noch abgenommen worden ist. Und alles, was die Polizei damals in den Häusern noch gefunden hat, ist enteignet worden. Möbel, Schmuck, Geld, sogar Häuser – alles ist an die Stadt übergegangen und von dort aus an andere Bürger Jevers.“
Das hatte Levke zwar alles schon in der Schule im Geschichtsunterricht gehört, aber damals hatte es sie nicht berührt. Es war zu weit weg gewesen, nicht greifbar. Aber diese Geschichte betraf ihr Opfer und deren Familie. Auf einmal formten sich Bilder in ihrem Kopf, die wie Dias in einer Folge abgespielt wurden. „Was ist mit all den Sachen nach dem Krieg geschehen?“
„Ich will gar nicht wissen, wie viele Kunstobjekte oder Schmuck heute noch irgendwo im Umlauf sind und nie wieder zurückgegeben werden, weil man sie nicht mehr zuordnen kann. Häuser und auch viele Möbel und Wertgegenstände sind nach dem Krieg an ihre ursprünglichen Eigentümer zurückgegeben worden. So ist meine Familie auch wieder an das Haus hier gekommen. Und auch an einige antike Möbelstücke.“
„Ich möchte nicht anmaßend klingen, aber wie konnte man denn sicherstellen, dass diese Dinge einem wirklich gehörten? Da mussten doch bestimmt irgendwelche Nachweise vorgelegt werden. Sonst hätte da doch jeder kommen können und behaupten, dass das ihre Sachen sind.“ Das war eine berechtigte Frage von Henning.
„Da haben Sie recht. Und das war und ist tatsächlich eines der größten Probleme: die Nachweise. Mein Urgroßvater hatte damals noch einige Fotos mit auf seine Flucht genommen, als Erinnerung. Auf diesen konnte man mehrere Möbelstücke, Bilder und die alte Standuhr erkennen. So hat er diese Gegenstände wieder zurückfordern können. Aber das hat meinen Urgroßvater viel Kraft gekostet und vor allem viel Zeit. Er musste beweisen, dass alles ihm und seiner Familie gehört hat. Und nachdem er sich endlich das Haus zurückerkämpft hatte, ist er an einem Herzinfarkt gestorben. Das ist alles zu viel für ihn gewesen. Die Flucht, die Unsicherheit, der Krieg, das Leben in der Fremde und dann die Rückkehr in eine Stadt, in der er nicht wirklich erwünscht war. Viele sind im Krieg getötet worden. Und mein Urgroßvater hatte später auch keine Lust, darüber zu reden. Sobald das Thema angesprochen wurde, hat er geblockt.“ Steiner hing ihren Gedanken nach, nestelte an einem Grashalm, der neben der Treppe wuchs. „Ich weiß bis heute nicht, was er alles erlebt hat, damals in Jever und später auf seiner Flucht. Das hat er mit ins Grab genommen. Nicht einmal mit seiner Frau hat er darüber gesprochen. Und sie hat ihn auch nicht danach gefragt. Sie ist auch Jüdin und hatte ihre eigenen Erfahrungen mit dem Krieg gemacht.“
„Hat sie darüber geredet?“, fragte Levke.
Steiner schüttelte den Kopf. „Und auch von ihr gibt es keine Aufzeichnungen aus der Zeit. Als wollten sie es alles verdrängen oder am besten noch auslöschen. Nie wieder daran erinnert werden. Und ganz ehrlich – ich wüsste auch nicht, wie ich mit einer solchen Situation umgehen würde. Ob ich nicht alles Vertrauen in die Menschheit verlieren würde. Ich meine, die haben doch alles verloren. Und nicht nur das, sie sind beschimpft worden, verjagt und getötet, weil sie einfach nur eine andere Glaubensrichtung hatten. Dabei waren sie Menschen wie alle anderen auch, die niemandem etwas getan haben. Im Grunde genommen unvorstellbar. Aber wenn man sich die Situation in der Politik heute ansieht, könnte man glauben, wir wären in der Zeit zurückgefallen.“ Sie starrte an die Wand.
Levke räusperte sich. „Ist Ihnen an Angela Meyer irgendetwas aufgefallen? Hat sie sich anders verhalten? Fühlte sie sich bedroht oder verfolgt?“ Das waren Suggestivfragen, murmelte es in Levkes Kopf.
„Wo denken Sie hin? Ich kannte Angela ja praktisch gar nicht. Woher soll ich wissen, ob sie sich anders als sonst verhalten hat? Und warum hätte sie mir gegenüber erwähnen sollen, dass sie sich verfolgt oder bedroht fühlt? Ich bin doch nicht ihre beste Freundin gewesen, sondern eine weit entfernte Verwandte, im Grunde genommen eine Fremde.“
Da hatte sie natürlich nicht ganz unrecht. „Angelas Mann John Meyer hat uns erzählt, dass Elenore ihrer Tochter Greta einen Brief mitgegeben hatte, in dem sie geschrieben hat, dass sie etwas unter den losen Dielen für sie versteckt hätte. Als Ihre Urgroßeltern in das Haus zurückgekehrt sind, haben sie da irgendwo lose Dielen gefunden? Und war da etwas darunter versteckt?“
Elisabeth Steiner schüttelte den Kopf. „Es hat garantiert jede Menge lose Dielen in dem Haus gegeben, aber bevor meine Urgroßeltern es wiederbekommen haben, haben andere Menschen in diesem Haus gewohnt. Und ich habe keine Ahnung, wer das gewesen ist. Vielleicht haben sie die Kette gefunden, vielleicht hatte auch die Gestapo vorher schon das Haus durchsucht und das Schmuckstück mitgenommen.“ Sie atmete tief durch. „Das ist sogar sehr wahrscheinlich der Fall gewesen. Die wussten ja auch, dass die Flüchtenden so gut wie nichts mitnehmen konnten. Und sie sind gründlich bei ihrer Suche gewesen. Wir haben die Kette jedenfalls nicht. Und ganz ehrlich, ich fand es schon unverschämt, wie Angela uns deswegen angegangen ist. Sie hat behauptet, dass das Haus und die Möbel viel mehr wert seien als das, was meine Familie ihrer Großmutter anteilig ausgezahlt hat. Dabei stimmt das gar nicht. Und sie hat geglaubt, dass wir uns das Amulett unter den Nagel gerissen hätten. Und deswegen sollten wir auch die Hälfte des Wertes des Amuletts an sie zahlen. Aber da habe ich mich geweigert.“
„Uff.“ Levke ließ sich stöhnend in den Autositz fallen. „Diese Angela Meyer ist ja überall angeeckt, oder?“
„Die Frage ist doch eher: Ist das alles so gravierend, dass jemand sie deswegen umbringen wollte?“ Henning startete das Auto und fuhr Richtung Wilhelmshaven. „Sie hat ihre Familie hier in Jever genervt, weil sie wissen wollte, was mit dem Amulett geschehen ist. Und sie hat eine Frau angegriffen, weil sie dachte, sie hätte genau dieses Amulett um den Hals getragen. Aber sie hat keine Gewalt angewendet oder Ähnliches. Das sind alles nur wörtliche Auseinandersetzungen gewesen, die man irgendwie hätte regeln können. Und die ihr Mann ja auch für sie geregelt hat. Nichts davon rechtfertigt einen Mord. Da muss es noch etwas anderes geben.“
„Das vermute ich auch. Aber es könnte trotzdem sein, dass das Amulett eine Rolle spielt. Immerhin ist es ziemlich wertvoll.“
„Woher willst du das denn wissen? Es gibt doch nirgendwo einen Nachweis darüber, was dieses Amulett wert ist.“
„Und wenn wir mit der Fotografie zu einem Juwelier gehen und fragen, was es in etwa wert sein könnte? Wir wissen ja, dass es angeblich aus Gold und Diamanten gefertigt wurde. Und die Größe lässt sich ja anhand der Fotografie gut einschätzen. Und ein Juwelier müsste doch wissen, welchen Wert das damals hatte und heute hat.“ Levke öffnete ihre Jacke und durchwühlte ihre Taschen, ob sich darin noch irgendwo ein Schokoriegel befand. Sie hätte eine ganze Packung davon vertilgen können. Sie verstand das nicht, diese Gelüste suchten sie immer wieder heim, obwohl sie sich doch so bemühte, gar nicht erst neue Riegel zu kaufen.
„Vielleicht müssen wir auch herausfinden, wie das damals abgelaufen ist in Jever. Wer warum enteignet worden ist, wer geflüchtet ist, wer wann zurückgekommen ist und wer wann was wieder zurückbekommen hat. Und ich weiß auch nicht, ob man heute noch herausfinden kann, ob Elenore Steiner das Amulett selbst verkauft hat, weil sie Geld brauchte.“
„Das sind aber ganz schön viele Fragen. Wer soll die denn beantworten können?“ Henning setzte den Blinker und bog auf die Bundesstraße Richtung Wilhelmshaven.
Levke zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Vielleicht jemand im Rathaus? Gibt es in Jever nicht auch so ein Museum über die jüdische Geschichte? Vielleicht lässt sich da etwas herausfinden.“
Henning trat auf die Bremse, weil ein Autofahrer vor ihm direkt auf die linke Spur wechselte. Er hupte und fluchte laut. „Wie gesagt, ich glaube nicht, dass irgendetwas davon einen Mord rechtfertigt.“
„Seit wann braucht ein Mord eine Rechtfertigung?“
„Da hast du auch wieder recht.“
Levke tippte auf ihrem Handy herum. „Dieses Konzert im Schloss, vielleicht können wir diese Frau finden, die angeblich das Amulett um den Hals getragen hat.“ Sie scrollte über ihren Bildschirm. „Gestern gab es da Klaviermusik von Robert Schumann, Frédéric Chopin und Franz Liszt. Beginn der Veranstaltung war um 19:00 Uhr, Einlass um 18:00 Uhr. Vielleicht gibt es dort eine Liste, wer alles eine Karte gekauft hat.“
„Das glaubst du doch wohl selbst nicht.“ Henning schnaubte. „Wenn die an der Abendkasse eine Karte gekauft haben, dann bezahlen die die mit Karte oder bar, dann weiß niemand, wer das gewesen ist. Abgesehen davon, dass du eine gute Begründung bräuchtest, um diese Liste zu bekommen. Heute kaufen doch die meisten ihre Karten über irgendeinen Vorverkauf. Und jeder Vorverkauf hat wieder seine eigene Liste. Du glaubst doch nicht, dass die die rausrücken, ohne dass du mit einem richterlichen Beschluss kommst.“
Levke seufzte. „Da könntest du recht haben. Verdammt. Aber Heims kann mit einem Kollegen hinfahren und dort ein Foto von Angela Meyer herumzeigen. Vielleicht erkennt sie ja jemand.“
„Und“, Henning hob einen Zeigefinger, „vielleicht haben die Leute ja Fotos und Videoaufnahmen von dem Konzert gemacht. Du weißt doch, selbst wenn das nicht erlaubt ist, halten sich die meisten dann doch nicht daran und posten das dann auch noch in den sozialen Medien. Und da könnten wir tatsächlich schauen, ob wir fündig werden. Vielleicht sehen wir Angela Meyer und ihren Mann irgendwo im Hintergrund, wie sie sich mit der Frau streiten. Immerhin wissen wir ja von John Meyer, dass das direkt in der Nähe des Getränkeausschanks gewesen ist. Vielleicht erfahren wir so mehr über die unbekannte Frau und können einen Blick auf dieses ominöse Amulett werfen.“