Prolog
»Komm schon, mach jetzt nicht schlapp!«, rief Martin seiner Begleiterin über die Schulter hinweg zu. Er hatte vor wenigen Monaten seinen dreiunddreißigsten Geburtstag gefeiert. Sein etwa zwei Zentimeter langes, flachsblondes Haar war perfekt geschnitten und saß einwandfrei, nirgendwo stand auch nur ein Strähnchen ab. Seine ausgewogene Ernährung sowie die tägliche Rasur taten ihr Übriges, um ihn nicht älter als Fünfundzwanzig aussehen zu lassen. Um als Geschäftsmann Erfolg zu haben, war es seiner Überzeugung nach sehr von Vorteil, wenn man sich nicht nur gut kleidete, sondern auch athletisch aussah. Damit das so blieb, hielt er sich auf viele Weisen fit. Unter anderem besuchte er mehrfach in der Woche das örtliche Fitnessstudio, um dort auf den unterschiedlichsten Geräten zu trainieren. Zusätzlich schwamm er regelmäßig im Hallenbad und war stolz darauf, dass er gut und gerne dreißig Bahnen schaffte, was einer Gesamtlänge von rund anderthalb Kilometern entsprach, ohne dass sein Puls dabei nennenswert schneller wurde. Wenn es das Wetter so wie heute zuließ, schnürte er seine Laufschuhe und ging joggen. Natürlich handelte es sich um Markenschuhe, schließlich wollte er nicht nur gut aussehen, sondern auch zeigen, was er sich leisten konnte. Am liebsten war es ihm, sonntags noch vor dem Sonnenaufgang zu laufen. Da hatte er freie Bahn und musste weder auf flanierende Spaziergänger noch auf herumtollende Kinder oder langsam dahinkriechende Senioren Rücksicht nehmen.
Seine aktuelle Freundin Janine war sowohl in sozialer als auch in sportlicher Hinsicht ganz anders. Sie war zwar schlank, aber weder hielt sie sich körperlich `in Schuss´, noch war sie eine Frühaufsteherin. Sie genoss es, wenn sie ausschlafen konnte, was allerdings nur selten vorkam, denn sie arbeitete als Altenpflegerin und übernahm generell die Frühschicht. Auch heute wäre sie am liebsten noch im Bett geblieben, aber da sie Martin einen Gefallen hatte tun wollen, hatte sie sich dazu entschlossen, bei dieser frühmorgendlichen Tortur mitzumachen. Sie war müde und schlurfte beinahe über die asphaltierte Straße, die sich entlang des sanft geschwungenen Ufers des Sternburger Sees schlängelte.
Martin sah sich kurz nach Janine um und stellte fest, dass sie schon wieder zurückgefallen war. Das nervte ihn. Sie war zwar eine nette und zugängliche Person, und im Bett war sie eine Granate, aber dennoch nahm er sich zum erneuten Male vor, sie bald loszuwerden. Sie passte einfach nicht zu ihm. Während er spontan war, war sie planvoll. Wenn er wandern wollte, wollte sie lieber auf der heimischen Couch fläzen und einen romantischen Film ansehen. Wenn er abends tanzen gehen wollte, war sie oft müde. Zu allem Übel kam noch hinzu, dass sie seiner Meinung nach keinen Sinn für Mode hatte. Dass ihr Einkommen bei Weitem nicht ausreichte, um sich Markenkleidung zu kaufen, ignorierte er geflissentlich.
Nein, wir haben keine Zukunft, dachte er kopfschüttelnd. Und wenn er ehrlich war, hatte er auch nie im Sinn gehabt, eine ernsthafte Bindung mit ihr einzugehen. In seinem Leben war einfach kein Platz für eine von Kompromissen geprägte Beziehung. Früher oder später würde nämlich sicher das Thema Familie zur Sprache kommen. Allein bei dem Gedanken daran, nachts aufzustehen, sich um ein quengelndes Baby zu kümmern und die vollen Windeln zu wechseln, stellten sich ihm sämtliche Nackenhaare auf.
Als er sie betrachtete, wie sie sich quälte, kam ihm der Gedanke, einfach weiter zu laufen und Janine ihrem Schicksal zu überlassen. Jedoch sagte ihm der kleine Teil von Anstand, der ihm anerzogen worden war, dass er auf sie warten sollte. Er verdrehte entnervt die Augen und blieb schließlich stehen. Um seine Muskeln warmzuhalten, hüpfte er auf der Stelle und ließ währenddessen seine Arme langsam kreisen. Die straffen Sehnen zeichneten sich wie Starkstromkabel unter seiner Haut ab, die im Übrigen äußerst gepflegt war.
Als Janine nach einigen Sekunden keuchend aufgeholt hatte, machte er sofort Anstalten, weiterlaufen, schließlich befanden sie sich erst auf Höhe des Nachtklubs N8 2Day – was frei übersetzt so viel hieß wie Nacht zum Tag –, und er wollte noch vor acht Uhr mit seiner Runde fertig sein.
»Warte doch mal«, sagte die Frau keuchend und mürrisch. »Ich kann nicht mehr.«
»Jetzt komm schon«, antwortete er ungeduldig. »Wir haben noch was vor uns. Oder bist du etwa schon erschöpft?«, fügte er mit höhnischem Unterton hinzu.
»Sorry, dass ich nicht so eine Sportskanone wie du bin«, stieß sie jetzt unverhohlen wütend hervor. »Kann ja nicht jeder so toll sein.«
Schwer atmend ging sie zum nahe gelegenen Ufer des Sees und kickte einen Kieselstein ins Wasser.
»Da hast du recht, das kann nicht jeder«, erklärte er selbstgefällig. »Ich laufe jetzt weiter. Wir sehen uns nachher bei mir.«
Er winkte ihr zu und rannte los. Nach wenigen Metern blieb er allerdings wieder stehen, verwundert darüber, dass sie ihm keine weiteren Widerworte entgegenwarf. Er drehte sich zu ihr um und bemerkte, dass sie starr, wie eine Salzsäule, auf das still daliegende Wasser hinausblickte. Von seiner Position aus konnte er erkennen, dass ihr Mund offen stand.
Wie ein Reh im Scheinwerferlicht, dachte er amüsiert, schüttelte den Kopf und rief laut: »Was ist denn? Hast du etwa nichts mehr zu sagen?«
Als Janine nicht auf ihn reagierte, regte sich in ihm die Neugier. Er lief zurück zu ihr, um nachzusehen, was sie so aus der Fassung gebracht hatte.
»Was ist denn los?«, fragte er, jetzt etwas besorgter, und legte ihr eine Hand auf die Schulter.
Als sie weiterhin keine Reaktion zeigte, folgte er ihrem Blick. Etwa zwanzig Meter entfernt trieb irgendetwas Großes und Dunkles knapp unter der Wasseroberfläche. Zuerst hielt er es für ein Stück Treibgut oder einen kleinen Baumstamm, aber als er die Augen konzentriert zusammenkniff – der Augenarzt hatte ihm prophezeit, dass er bald eine Brille brauchen würde – und genauer hinsah, meinte er, die Konturen eines Menschen ausmachen zu können. Seine milde Neugier schwang in starkes Interesse um, und um herauszufinden, um was es sich tatsächlich handelte, zog er sich kurz entschlossen seine Turnschuhe und Socken aus und trat ein paar Schritte ins lauwarme Nass. Die aufgehende Sonne spiegelte sich im See, und Martin musste seine Augen mit den Händen abschirmen, um nicht geblendet zu werden. Ja, jetzt war er sich sicher. Da trieb ein Mensch!
Seine Reflexe übernahmen die Kontrolle, als sich Martin ins Wasser stürzte und mit einer erstaunlichen Geschwindigkeit zu der Person hinüberschwamm. Er überbrückte die Distanz innerhalb weniger Sekunden und zog dann einen Halbkreis, um sich seinem Ziel von hinten zu nähern. Denn sollte die Person wider Erwarten noch bei Bewusstsein sein, konnte es passieren, dass sie in Panik um sich schlug und sie beide gefährdete. Als er den dahintreibenden Menschen schließlich erreichte, schlang er einen Arm unter der Achsel hindurch um dessen Brust. Mit der anderen Hand zog er vorsichtig den Kopf der Person aus dem Wasser und legte ihn sich auf die Schulter. Mit einigen kräftigen Stößen bahnte er sich rückwärts schwimmend den Weg zurück zum Ufer. Im seichten Uferbereich angekommen und den festen Boden unter den Füßen spürend, stellte er sich hin, schob nun beide Arme unter den Achseln des anderen hindurch und zog den leblosen Körper weiter an den Strand. Janine hatte sich in der ganzen Zeit nicht einen Zentimeter gerührt.
»Hilf mir doch mal!«, rief ihr Martin verärgert zu.
Langsam hievte er die Gestalt vollends an Land und legte sie vorsichtig auf dem Rücken ab. Normalerweise hätte er umgehend mit einer Herz-Druck-Massage begonnen, aber ein kurzer Blick in das bläulich verfärbte Gesicht und die leeren Augen der Person sagte ihm, dass für diesen Menschen jede Hilfe zu spät kam. Martin betrachtete die Gesichtszüge des Toten genauer. Es handelte sich um einen Mann mittleren Alters, den er sehr gut kannte, denn er hatte bereits mehrfach geschäftlich mit ihm zu tun gehabt. Und selbst, wenn er ihn nicht persönlich gekannt hätte, hätte er gewusst, wen er da aus dem Wasser gezogen hatte, denn diese Person war schon oft in der Lokalzeitung gewesen.
Er stand auf und sah zu seiner Freundin hinüber.
Mit ihr war nicht viel anzufangen, dachte er und fischte sein Smartphone aus dem wasserfesten Beutel, den er, wie immer beim Sport, um seine Taille trug. Er wählte die Nummer des Notrufs und wartete darauf, dass sich dort jemand meldete.
»Notrufzentrale, was ist Ihr Notfall?«, fragte ein Mann am anderen Ende der Leitung.
»Martin Huber, guten Morgen«, antwortete er gleichmäßig atmend. »Ich bin hier in der Nähe des Nachtklubs N8 2Day und habe gerade eine Leiche gefunden.«
»Sind Sie sich sicher, dass es sich um einen Toten handelt?«
»Definitiv«, gab Martin zurück. »Vermutlich ist er ertrunken. Schicken Sie bitte jemanden her.«
»Ein Rettungswagen wird in wenigen Minuten bei Ihnen sein. Bitte bleiben Sie vor Ort.«
»Soll ich auch die Polizei anrufen?«
»Das erledigen wir.«
»Verstanden.«
Martin beendete das Gespräch und packte sein Telefon wieder ein. Janine schien noch immer unter Schock zu stehen, und als er ihr seine Hände auf die Schultern legte, rührte sie sich immer noch nicht. Er überlegte kurz, ihr eine Ohrfeige zu geben, um sie aus dem Schockzustand zu holen, ließ es aber bleiben. Er wusste zwar, wie man jemanden aus dem Wasser rettete, aber mit Psychologie kannte er sich nur bedingt aus. Sollten sich die ausgebildeten Fachkräfte damit befassen, entschied er. Stattdessen ging er einige Meter abseits und wartete dort auf die Rettungskräfte.
***
Während sich zwei Sanitäter der Leiche widmeten, kümmerte sich ein Notarzt um Janine. Martin hatte jede Hilfe abgelehnt und beteuert, dass es ihm gut ginge. Die Rettungskräfte waren zwar nicht überzeugt gewesen, hatten aber weder die Zeit noch die Lust gehabt, mit ihm darüber zu diskutieren.
Wie von dem Mitarbeiter der Notrufzentrale angekündigt, war auch die Polizei mit insgesamt drei Streifenwagen angerückt, um das Gelände zu sichern und Unbefugten den Zutritt zu verwehren. Einer der Beamten trat nun auf Martin zu.
»Guten Morgen«, sagte der Beamte.
»Morgen«, antwortete Martin.
»Haben Sie den Notruf kontaktiert?«
»Ja. Möchten Sie eine Zeugenaussage?«
»Wenn Sie sich dazu bereit fühlen.«
»Selbstverständlich. Also …«, sagte Martin und beschrieb in allen Details, was vorgefallen war.
»Und Ihre Freundin?«, fragte der Polizist.
»Sie ist eher eine Bekannte. Ich glaube nicht, dass sie momentan dazu in der Lage ist, etwas auszusagen. Sie sehen ja selbst, dass sie unter Schock steht.«
»Herr Huber, in Kürze wird ein Kollege von der Kriminalpolizei hier sein. Daher möchte ich Sie bitten, zu bleiben und auf ihn zu warten.«
»Muss das wirklich sein? Ich bin geschäftlich stark eingespannt und habe viel zu tun. Sie und Ihr Kollege werden sicher verstehen, dass ich meine Termine nicht einfach so absagen kann. Ich verspreche Ihnen aber, dass ich nicht flüchten werde. Ich möchte lediglich nach Hause und duschen.«
Der Beamte kaute auf der Unterlippe. »Nun gut«, sagte er schließlich. »Sorgen Sie aber dafür, dass Sie erreichbar sind. Ich bin mir sicher, dass Ihre Anwesenheit bald noch einmal benötigt wird.«
»Meinetwegen«, antwortete Martin seufzend und fügte im Stillen hinzu: Bürokratenarsch.