Leseprobe This Moment Between Us | Ein Enemies to Lovers Roman

1

Aunie Franklin war gegenüber Komplimenten zu ihrem Aussehen relativ immun. Die hatte sie zur Genüge gehört, seit sie fünf Jahre alt war, und sie verstand eigentlich gar nicht, was das ganze Theater sollte - wie die meisten Frauen war sie der Meinung, etwas Unterstützung von Seiten der Kosmetikindustrie brauchen zu können. Abgesehen davon, beruhte das Aussehen eines Menschen nicht in erster Linie auf einem zufälligen Zusammenspiel der Gene? Es war im Grunde genommen keine Leistung, auf die sie stolz sein konnte, oder? Wenn man ihr gesagt hätte, sie sei intelligent oder, besser noch, sie beweise Kompetenz, ja, das hätte sie wirklich schmeichelhaft gefunden. Mit sechsundzwanzig hatte sie das Gefühl, den Großteil ihres Lebens damit verschwendet zu haben, nichts weiter als ein hübsch anzusehendes Schmuckstück zu sein, dekorativ, im Übrigen aber ziemlich nutzlos.

Nicht dass das zurzeit ein besonderes Problem wäre, dachte sie mit einer gehörigen Portion Selbstironie.

Sie blickte an der Backsteinfassade des alten Mietshauses empor. Mit seinem altmodischen, von Säulen flankierten Eingang, dem warmen Farbton der Ziegelsteine und der wunderschönen Tür mit dem großen ovalen Einsatz aus geschliffenem Glas hatte es ihr dieses Haus sofort angetan. Sie hatte es durch Zufall entdeckt. Es war nicht allzu groß, es lag in der Nähe des Colleges, und das Beste von allem war ein auf dem handtuchgroßen Rasen im Vorgarten aufgestelltes Schild, auf dem stand, dass hier eine Wohnung zu vermieten war. Dieses Schild hatte sie zunächst gar nicht bemerkt. Ihre Aufmerksamkeit war von dem Gebäude selbst angezogen worden, als sie in ihrem Mietwagen langsam die engen Straßen abgefahren war. Es strahlte eine heruntergekommene Vornehmheit aus, die ihr das Gefühl vermittelte, zu Hause zu sein. Sie hatte früher in solchen Häusern gewohnt.

Das Haus sah perfekt aus, und das wiederum fand sie unwillkürlich etwas beunruhigend. Denn alles, was den Eindruck machte, perfekt zu sein, hatte meistens einen Haken. Das hatte sie auf schmerzhafte Weise am eigenen Leib erfahren.

Nun, den Haken in diesem Fall hatte sie schnell gefunden, als sie nach einem Parkplatz Ausschau zu halten begann. Das war in diesem Viertel offensichtlich ein nahezu hoffnungsloses Unterfangen. Sie musste mehrere Runden um die angrenzenden Häuserblocks drehen, bevor sie endlich eine Parklücke fand, die so schmal war, dass es ihr erst beim dritten Anlauf gelang, ihr Auto hineinzuquetschen. Und anschließend musste sie natürlich auch noch den Weg zurück finden. Sie war um so viele Ecken gebogen, dass sie völlig die Orientierung verloren hatte.

Es mangelte ihr jedoch keineswegs in dem Maß an Intelligenz, wie man bei ihr zu Hause in Atlanta im Allgemeinen annahm. Sie hatte sich die Kreuzungen gemerkt und stand schließlich wieder vor dem Haus. Sie legte den kurzen Weg zur Eingangstür zurück, drückte auf den

Klingelknopf und spähte durch die Glasscheibe in das Treppenhaus.

Mit dem glänzenden alten Holz und den frisch gestrichenen Wänden sah es so aus, als wäre es erst vor kurzem mit viel Liebe renoviert worden. Direkt gegenüber der Eingangstür führte eine offene Treppe mit einem Eichengeländer nach oben. Die Stufen waren mit einem alten, etwas abgetretenen Läufer belegt, der einmal sehr teuer gewesen sein musste.

Aus dem Lautsprecher neben ihrem Ohr drang ein Knistern, und gleich darauf fragte eine Stimme: »Kann ich Ihnen helfen?«

Aunie beugte sich vor. »Ich komme wegen der Wohnung, die zu vermieten ist.«

»Die Wohnung des Hausverwalters ist die 1A auf der rechten Seite.« Der Türöffner summte, und Aunie trat über die Schwelle. Unwillkürlich erschauerte sie, als sie die Tür hinter sich schloss und plötzlich in der Wärme stand. Sie hatte gar nicht gemerkt, wie durchgefroren sie war, solange sie draußen in dem feuchten kalten Wind gestanden hatte. Nachdem sie ihr ganzes bisheriges Leben im Süden verbracht hatte, würde es wohl eine Weile dauern, bis sie sich an das Wetter in Seattle gewöhnt hatte. Es regnete nicht richtig, aber in der Luft lag eine Feuchtigkeit, die bis in die Knochen drang.

Noch mehr Wärme umfing sie, als sich die Tür zur Wohnung des Hausverwalters plötzlich öffnete, bevor sie klopfen konnte. In der Öffnung stand eine groß gewachsene Schwarze Frau in einem farbenfrohen wallenden Gewand. Sie war barfuß, trug ein Kettchen am Fußgelenk, und um den Kopf hatte sie sich einen bunt gemusterten Schal geschlungen. Ihr freundliches Lächeln machte einem bestürzten Ausdruck Platz, als sie Aunie musterte. »Mädchen«, sagte sie mit einem weichen jamaikanischen Akzent, während ihre sanften braunen Augen über die Verletzungen in Aunies Gesicht wanderten. »Was ist denn mit Ihnen passiert?«

Aunie bemühte sich ihrerseits um ein höfliches Lächeln, soweit es ihre noch nicht ganz verheilte Lippe zuließ. »Ich würde mir gern die Wohnung ansehen, die zu vermieten ist.«

Die Frau schien es Aunie nicht krumm zu nehmen, dass sie ihre Frage nicht beantwortete. Sie lächelte. »Ja, natürlich, sie wird Ihnen bestimmt gefallen. Kommen Sie rein.« Sie trat einen Schritt zur Seite, um Aunie in ihre Wohnung zu lassen. »Ich bin Lola.«

Aunie streckte die Hand aus. »Aunie Franklin.«

»Freut mich, Sie kennen zu lernen, Onnie. Bitte«, Lola deutete auf das dick gepolsterte Sofa, »machen Sie es sich bequem, während ich den Schlüssel suche.«

Im Stillen nahm Lola sich vor, mit Aunie ganz schnell einen Mietvertrag zu machen, bevor James sie zu Gesicht bekam. Ein Blick hatte ihr genügt, um zu dem Schluss zu kommen, dass die zierliche junge Frau mit dem geschwollenen Gesicht Unterstützung und Freundschaft brauchen konnte ... und höchstwahrscheinlich auch Schutz.

Sie wusste, dass James sie sofort wieder wegschicken würde, wenn er sie sähe. Neuerdings war er auf die merkwürdige Idee verfallen, sich nicht mehr um andere Leute kümmern zu wollen. Er behauptete, er habe es satt, dass ständig jeder seine Probleme bei ihm ablade, und er würde sich in Zukunft nur noch mit seinen eigenen Angelegenheiten befassen ... Schluss, aus, basta. Da seine Familie vom Pech verfolgt zu sein schien, konnte Lola seinen plötzlichen Sinneswandel verstehen. Aber dieser Mann konnte von Natur aus gar nicht anders, als einzugreifen, wenn jemand in Schwierigkeiten war, und deshalb war diese neue Einstellung gleichzeitig lächerlich. Schicksal war Schicksal, und deshalb war es sinnlos, dagegen anzukämpfen, oder nicht? Lola wusste das, auch wenn James es noch nicht begriffen haben mochte.

Nachdem Lola den Schlüssel hervorgekramt hatte und in ein Paar ausgetretene Ballerinas geschlüpft war, führte sie Aunie nach oben. Der erste Stock wirkte lange nicht so gepflegt wie das Erdgeschoss, aber Lola ließ nicht lange auf eine Erklärung warten. »Das Erdgeschoss und die Wohnung hier sind gerade fertig geworden«, sagte sie, als sie die Tür aufschloss und Aunie eintreten ließ. »Nächsten Montag wollen die Männer dann mit dem Flur hier oben anfangen.«

»Das ist aber hübsch«, sagte Aunie wenig später, als sie durch die weiß gestrichenen Räume mit den hohen Decken ging. Sie waren hell, und in dem kleinen Essbereich gab es zwei altmodische schmale hohe Fenster, durch deren halb geschlossene Jalousien das Licht der Nachmittagssonne fiel. Essecke und Wohnzimmer waren durch einen bogenförmigen Durchgang miteinander verbunden und mit Dielen ausgelegt. Es war überhaupt sehr viel Holz verwendet worden: für die Fensterrahmen und Fensterbretter, die Fußböden und die in die Wand eingelassenen Bücherregale auf beiden Seiten des ... »Nein, ein offener Kamin«, rief Aunie entzückt. Sie hatte zwar keine

Ahnung, wie man ein Feuer entfachte, aber das konnte sie sicher lernen. Sie sah Lola über die Schulter an. »Funktioniert er?«

»Selbstverständlich. Die Männer sind erst vor kurzem hier fertig geworden. Alles funktioniert einwandfrei.«

Auf Aunie wirkte die Wohnung sehr großzügig, obwohl sie eigentlich gar nicht besonders groß war. Es gab eine kleine, praktisch eingerichtete Küche und ein noch kleineres Badezimmer mit einer altmodischen Badewanne mit Füßen in Form von Löwentatzen und einem Standwaschbecken. Das Schlafzimmer war gut geschnitten und mit einem weichen hellgrauen Teppichboden ausgelegt. Außerdem verfügte es über einen großen Einbauschrank.

»Ich nehme sie.« Aunie drehte sich zu Lola. »Oh, warten Sie, ich sollte wohl besser erst mal fragen, was sie kostet.«

Die Miete war ein wenig höher als die Summe, mit der sie gerechnet hatte, aber dafür waren die Heizkosten bereits darin enthalten, so dass sie auf längere Sicht wahrscheinlich sogar besser wegkam. Aunie hegte den Verdacht, dass sie eine Menge heizen würde, bevor sie sich an das ungewohnte feuchte Klima gewöhnt hatte. Zufrieden folgte sie Lola wieder hinunter in deren Wohnung, um den Mietvertrag zu unterschreiben. Erst einen Tag in der Stadt, und schon hatte sie eine Wohnung gefunden und sich die Unterlagen für das nahe gelegene College besorgt.

»Wie schreibt sich Ihr Vorname?«, fragte Lola, als sie das Formular ausfüllte. »O-n-n-i-e?«

Aunie buchstabierte ihren Vornamen und ihren Familiennamen. Kurze Zeit später unterzeichnete sie einen

Mietvertrag für sechs Monate und einen Packen Schecks, um die beiden ersten Monatsmieten und die Kaution zu bezahlen. Nachdem alle Formalitäten erledigt waren, lud Lola sie auf eine Tasse Tee ein.

»Willkommen in Ihrem neuen Zuhause«, sagte sie herzlich. »Ich hoffe, Sie werden hier genauso glücklich wie ich.«

Das hoffte Aunie auch. Während sie bei einer Tasse Tee mit Lola plauderte, wunderte sie sich darüber, wie entspannt und wohl sie sich fühlte. Sie hatte bislang kaum jemals näheren Kontakt zu Afroamerikanern gehabt. Die wenigen Menschen mit dunkler Hautfarbe, die sie kannte, hatten allesamt dem Dienstleistungsgewerbe angehört, und in ihrer Familie herrschte die feste Überzeugung, dass man sich als Angehöriger der gehobenen Gesellschaftsschicht nicht weiter mit den Leuten einließ, die einen bedienten. Sie war natürlich nicht so weltfremd, um nicht zu wissen, dass viele Afroamerikaner einflussreiche Positionen innehatten. Sie hatte nur einfach noch niemals einen von ihnen kennen gelernt und sich daher auch keine Gedanken darüber gemacht, wie gut sie persönlich mit ihnen auskommen würde.

Die Vorurteile schienen bei ihr jedoch nicht so tief verwurzelt zu sein wie beim Rest ihrer Familie, zumindest stellte sie verblüfft fest, dass sie bei Lola das Gefühl hatte, sich mit einer alten Freundin zu unterhalten. Diese Frau strahlte eine natürliche Würde und Herzlichkeit aus, die Aunie ihre gewohnte Schüchternheit vergessen ließ. Es kam ihr so vor, als könnte sie der weichen melodiösen Stimme ewig zuhören, eintauchen in die Wärme, die von den Augen der anderen Frau ausging.

Plötzlich wurde geräuschvoll die Eingangstür geöffnet, und Lola stieß einen leisen Fluch aus. Sie bedeutete Aunie, sitzen zu bleiben, erhob sich und durchquerte mit wirbelnden bunten Röcken das Zimmer.

»Lola!« Aunie verfolgte mit Interesse, wie ein großer, kräftig gebauter Mann Lola hochhob und sich mit ihr drehte. Er hatte den unerschütterlichen Blick eines Menschen, dem nichts im Leben fremd war, und glatte hellblonde Haare, die aus der Stirn nach hinten gekämmt und zu einem kurzen Pferdeschwanz zusammengebunden waren. Aunie konnte Pferdeschwänzen bei Männern eigentlich nicht besonders viel abgewinnen, aber in diesem Fall fand sie, dass er gut zu dem markanten Gesicht des Mannes passte. Er hatte eine schöne, klare Stirn, hohe Wangenknochen, eine lange, gerade Nase und ein eckiges Kinn. Seine Zähne waren strahlend weiß, und seine offen blickenden Augen waren von feinen Fältchen umgeben, die bis zu den Schläfen reichten. Auf seiner rechten Wange waren drei Grübchen zu sehen.

»Wie geht's meiner Lieblingsfrau?«, fragte er Lola mit einem Grinsen und ließ sie dabei ein paar Zentimeter über dem Boden schweben, obwohl sie beide fast gleich groß waren, an die ein Meter achtzig. Aunie, die das Ganze fasziniert beobachtete, fragte sich, ob die beiden verheiratet waren. Sie kannte keine gemischten Paare, aber in Anbetracht des entschlossenen Eindrucks, den dieser Mann machte, hätte es sie nicht überrascht. Er sah aus wie jemand, der das tat, was er wollte, und sich nicht im Entferntesten darum scherte, was andere davon hielten.

»James, du dummer Kerl, lass mich runter«, sagte Lola streng.

»Nur wenn du mir versprichst, dass du Otis verlässt und mit mir durchbrennst.«

»Mit dir? Da lach ich ja!« Lola legte ihre Hände auf seine breiten Schultern und legte den Kopf zurück, um ihm ins Gesicht zu sehen. Er grinste fröhlich. »Willst du etwa all die niedlichen Blondinen aufgeben, deren Körbchengröße höher ist als ihr IQ, um eine ehrbare Frau aus mir zu machen, James Ryder?«

»Nein. Aber denk doch nur mal an die vielen geistreichen Gespräche, die wir führen könnten, bevor ich wieder auf Wanderschaft gehe. Komm schon, Lola, wie wär's? Wir hätten bestimmt viel Spaß miteinander.«

»Nimm deine Pfoten von meiner Frau, Jimmy«, dröhnte in diesem Augenblick eine tiefe Stimme. »Täte mir Leid, wenn ich dich sonst wie eine Laus zerquetschen müsste.«

»Mir auch, Otis.« Immer noch grinsend setzte James Lola ab.

Aunies Aufmerksamkeit richtete sich auf den Schwarzen Mann, dem die tiefe Stimme gehörte. Völlig gefesselt vom Auftritt des Blonden, hatte sie gar nicht gemerkt, dass noch jemand gekommen war, und als jetzt ihr Blick auf ihn fiel, riss sie erstaunt die Augen auf.

Bevor er lächelte, hatte der Blonde auf sie den Eindruck gemacht, dass mit ihm nicht zu spaßen war ... und vermutlich stimmte das auch. Im Vergleich zu dem anderen Mann wirkte er jedoch sanft wie ein Lamm.

Otis war groß ... sehr groß. Aunie kam er wie ein Riese aus Ebenholz vor, von Kopf bis Fuß nichts als Muskeln, dunkel schimmernde Haut und hervortretende Adern. Sein kahler Schädel glänzte im Licht der Deckenlampe,

und darüber zog sich eine wulstige Narbe bis zur Schläfe. An seinem Ohr glitzerte ein kleiner goldener Ring, und als er jetzt plötzlich lächelte, ein überraschend warmes, freundliches Lächeln, entblößte er die weißesten Zähne, die sie jemals gesehen hatte.

Gott, besser konnte es kaum kommen. Aunie klopfte sich im Geiste auf die Schulter. Selbst wenn Wesley es jemals schaffen sollte, sie aufzuspüren, würde er es sich beim Anblick dieser beiden Männer zweimal überlegen, was er als Nächstes tat. Ihre Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln.

»Wer ist denn deine nette kleine Freundin hier, Baby?« Das tiefe Dröhnen ließ Aunies Kopf hochzucken. Otis hatte geräuschlos das Zimmer durchquert und stand jetzt direkt vor ihr. Lola trat neben ihn, hakte sich bei ihm unter und drückte seinen beeindruckenden muskelbepackten Oberarm an ihre Brust.

»Das ist Aunie Franklin. Aunie, das ist mein Mann, Otis Jackson, und das ist unser Freund James Ryder.« Sie holte tief Luft, um sich gegen das zu wappnen, was jetzt gleich folgen würde. »Aunie hat 2B gemietet.«

»Scheiße, Baby«, sagte Otis leise. »Was hast du dir denn dabei gedacht?«

»Das hat sie nicht!«, brüllte James, und Aunie sah ihn erschrocken an. Keine Spur mehr von dem ausgelassenen Geschäker von eben. Stattdessen sah sie sich auf einmal einem wutentbrannten Mann gegenüber, der sie noch zehnmal grimmiger anstarrte, als sie es ihm zugetraut hätte. Sie erhob sich, aber sie war nun einmal klein und musste sich daher halb den Hals verrenken, um ihm in die Augen sehen zu können, als er sich über sie beugte. »Tut mir leid, Lady«, sagte er schroff und bedachte sie dabei mit einem Blick, der kälter war als ein Grönlandtief. »Diese Wohnung ist nicht zu vermieten.« Auf jeden Fall nicht an ein erbärmlich aussehendes Häufchen Elend, das ihm nur wieder Probleme machen würde.

Aunie straffte die Schultern. »Ich habe einen unterschriebenen Mietvertrag, in dem etwas anderes steht«, widersprach sie ihm mit ihrer wohlerzogenen, kultivierten Stimme. Ihr plötzlich sehr viel stärker hervortretender Südstaatenakzent war das einzige Anzeichen, dass sie langsam wütend wurde. Sie wusste zwar nicht, welche Laus diesem Mann über die Leber gelaufen war, aber sie würde ihre neue Wohnung nicht so schnell wieder aufgeben.

»Oh Mann, eine Südstaatlerin ist sie auch noch«, murmelte er verächtlich. Dann drehte er sich um und ging rasch durchs Zimmer. »Verdammt noch mal, Lola, warum hast du das gemacht? Schau dir ihr Gesicht an! Irgendein Arschloch hat sie windelweich geprügelt, und dir fällt nichts Besseres ein, als sie mir aufzuhalsen.« Sein Kopf fuhr herum, und er durchbohrte Aunie mit einem finsteren Blick. »Oder wollen Sie uns etwa weismachen, dass das« - er wedelte mit der Hand vor ihrem zerschundenen Gesicht herum - »daher kommt, dass Sie gegen einen Türrahmen gerannt sind?«

»Ich will Ihnen überhaupt nichts weismachen, Mister«, erwiderte Aunie mit kalter Verachtung. »Ich habe keine Ahnung, wer Sie sind, und was mit meinem Gesicht passiert ist, ist allein meine Sache und geht Sie überhaupt nichts an.«

»Ganz recht, Schätzchen. Ich hoffe, Sie erinnern sich daran, wenn Ihr Alter hier aufkreuzt, um Sie zu vermöbeln, weil ich dann nämlich einfach zur Seite trete, um ihm Platz zu machen.« James wandte sich ab. »Lola, warum?« Er fuhr sich mit den Fingern durch die Haare bis zu dem Gummiband, das sie zusammenhielt. »Ist dir denn nicht klar, dass sie nichts als Schwierigkeiten machen wird? Ich fasse es einfach nicht. Ich habe schon jetzt eine ganze Wagenladung Probleme am Hals, aber du musst mir ihre auch noch aufladen, was? Scheiße. Ich werde keine Minute Ruhe mehr haben, wenn zu dem Mist von meiner Familie auch noch der von Miss Magnolienblüte dazukommt.«

»Entschuldigen Sie mal bitte!«, fuhr Annie mit schneidender Stimme dazwischen. »Mir scheint, Sie leiden an grober Selbstüberschätzung!« Ihre Augen unter den geschwollenen, blau verfärbten Lidern schössen Blitze. Ihre Brust hob und senkte sich heftig unter dem weiten, seidigen Pullover, und ihre Hände waren zu Fäusten geballt, als sie kampflustig auf ihn zutrat. Obwohl sie so winzig war, wich James unwillkürlich einen Schritt vor ihr zurück und fragte sich, wie sie es schaffte, verächtlich auf ihn herabzusehen, wenn sie doch den Kopf in den Nacken legen musste, um ihm in die Augen zu blicken.

»Für wen zum Teufel halten Sie sich, Mister?«, fragte sie. »Superman oder was? Ich kann mich allerdings nicht daran erinnern, dass der sich einer solchen Ausdrucksweise bedient hat.« Sie warf den Kopf zurück, so dass ihre Haare nach hinten flogen und den Blick auf eine verschwollene Wange freigaben. »Das ist meine Wohnung, ich habe die Miete dafür bezahlt und meine Unterschrift unter den Vertrag gesetzt, und am Ersten werde ich einziehen. Im Übrigen weiß ich gar nicht, warum Sie sich so aufregen, niemand hat Sie darum gebeten, sich um meine Probleme zu kümmern.« Sie beschloss, ihre kurzzeitige Begeisterung über sein und Otis' raubeiniges Auftreten zu vergessen. Das war sowieso nicht angebracht gewesen.

»Ich bin hier, um eine Wohnung zu mieten«, erklärte sie ihm kühl. »Und nicht, um mir einen großen Bruder zu suchen, der meine Angelegenheiten für mich regelt. Aber zu Ihrer Information, wenn ich wirklich einen bräuchte, dann würde ich mich wohl eher an Otis wenden. Der sieht nämlich um einiges respekteinflößender aus als Sie, also hängen Sie Ihr Superman-Cape getrost zurück in den Schrank. Meinetwegen werden Sie es nicht brauchen.«

Mit diesen Worten drehte sie sich um und nahm ihre Jacke und ihre Handtasche vom Sofa. Sie versuchte, ihren Ärger zu unterdrücken, und brachte ein schwaches Lächeln zustande. »Vielen Dank für Ihre Gastfreundschaft, Lola«, sagte sie. »Ich freue mich schon darauf, dass wir bald Nachbarinnen sein werden. Otis, es war mir ein Vergnügen, Sie kennen zu lernen.« Sie drehte sich zu James und bedachte ihn mit einem knappen Nicken. »Mister Ryder.«

Und weg war sie.

Otis betrachtete den verblüfften Ausdruck, der auf dem Gesicht seines aufgebrachten Freundes erschien, und bemühte sich, ein Grinsen zu unterdrücken, was ihm jedoch nicht ganz gelang. »Na, ich schätze mal, wegen der brauchst du dir keine grauen Haare wachsen lassen,

Jimmy. Abgesehen davon bezweifle ich, dass sie von ihrem Ehemann misshandelt worden ist.«

»Ach ja?«, gab James gereizt zurück. »An einem solchen Zwerg kann einer leicht seinen Ärger auslassen.«

»Tja, sie mag zwar klein sein, Jimmy, aber sie hat Rückgrat«, widersprach ihm Otis. »Die hat's dir ganz schön gegeben, oder etwa nicht?«

»Kann man wohl sagen, Superman«, murmelte Lola und lachte leise.

James stieß einen höchst unfeinen Fluch aus, machte auf dem Absatz kehrt und verließ türenschlagend die Wohnung.

Otis legte einen Arm um seine Frau und zog sie neben sich aufs Sofa. »Das war nicht besonders schlau, Baby.«

Lola zuckte mit den Schultern. »Sie brauchte eine Bleibe, und die Wohnung hat ihr gefallen«, erwiderte sie ruhig. »Sollte ich auf die regelmäßige Einnahme verzichten, weil sie ein paar blaue Flecken hat?«

»Zum Kuckuck, Baby, das Haus gehört James, und du weißt doch, wie er ist. Du hättest dir denken können, dass die Kleine genau das Gegenteil von dem ist, was er will.«

»Der Mann weiß nicht, was er will.«

»Aber du, oder wie?«

Lola bedachte ihn lediglich mit ihrem geheimnisvollen Mona-Lisa-Lächeln, das ihn jedes Mal ganz verrückt machte und vor einigen Jahren dazu veranlasst hatte, sie so lange zu umwerben, bis sie seinen Antrag schließlich angenommen hatte. Ein tiefes Lachen stieg aus seiner breiten Brust auf, das wie fernes Donnergrollen klang. »Ja, ich schätz mal, so ist es.« Mit einem vorgetäuschten Knurren packte er sie und warf sie aufs Sofa.

Aunie für ihren Teil war erstaunt darüber, wie mutig sie James Ryder die Stirn geboten hatte. Zehn Minuten später saß sie in ihrem Auto und zitterte vor Aufregung am ganzen Leib. War das wirklich sie gewesen, die bis vor einem Jahr unauffällig durchs Leben gegangen war und sich jetzt plötzlich voller Zorn gegen einen Mann mit derart gefährlich blickenden Augen behauptet hatte? Vielleicht war sie doch in der Lage, ihrem Leben eine Wende zu geben.

Das sollte sie auch. Schließlich blieb ihr kaum etwas anderes übrig.

Das Erste, was sie nach der Rückkehr in ihr Hotelzimmer in Downtown tat, war, ihren Anwalt anzurufen. Nachdem es am anderen Ende ein paarmal geklingelt hatte, fiel ihr ein, dass Atlanta in einer anderen Zeitzone lag und es dort bereits drei Stunden später war. Sie unterbrach die Verbindung und wählte stattdessen seine Privatnummer.

Auch bei ihm zu Hause klingelte es einige Male, und sie wollte schon auflegen, als er sich endlich meldete.

»Hallo.«

»Jordan? Ich bin's, Aunie.«

»Aunie! Wo stecken Sie? Geht es Ihnen gut?«

»Ich bin im Westin Hotel in Seattle, es geht mir gut, und wissen Sie was? Ich habe sogar schon eine Wohnung gefunden.«

»Das ging aber schnell.«

»Ach Jordan, ich wollte, Sie könnten sie sehen. Sie ist einfach wunderbar.« Sie ließ sich auf der Bettkante nieder und streifte ihre Schuhe ab. »In einem tollen alten Haus, nur ein paar Straßen entfernt von dem College, auf das ich hoffentlich gehen werde, und es gibt einen offenen Kamin und sehr viel Holz, und außerdem ist sie gut geschnitten.«

»Klingt geradezu perfekt. Haben die Türen Sicherheitsschlösser?«

»Ja.« Sie umklammerte den Hörer etwas fester und fragte alarmiert: »Wesley ist doch noch im Gefängnis, oder?«

Er zögerte kurz, dann sagte er: »Sie haben ihn gegen Kaution freigelassen.«

»Nein!«

»Machen Sie sich keine Sorgen, Aunie. Er hat die Auflage, dass er vor seinem Prozess den Staat nicht verlassen darf, und er hat nicht die geringste Ahnung, wo er Sie finden könnte, selbst wenn er Georgia verlassen dürfte. Außerdem gibt es auch eine gute Neuigkeit.«

»Heraus damit. Die kann ich jetzt wirklich brauchen.« Sie stellte fest, dass sich ihr Südstaatenakzent wieder stärker bemerkbar machte - stets ein Barometer für ihre Anspannung -, und atmete ein paarmal tief durch.

»Sie müssen nicht herkommen, um eine Aussage zu machen. Weil Ihre Sicherheit gefährdet ist, hat der Richter zugestimmt, dass in der Verhandlung stattdessen Ihre schriftliche Aussage und die Fotos von den Verletzungen, die Wesley Ihnen zugefügt hat, herangezogen werden.«

»Das ist wirklich eine gute Neuigkeit. Je weniger ich zwischen hier und Atlanta hin und her fahren muss, umso geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass mich Wesley aufspürt.« Sie strich sich mit der Hand die Haare zurück. »Ich gebe Ihnen meine neue Adresse. Haben Sie was zum Schreiben?«

»Schießen Sie los.«

Sie nannte sie ihm, und er wiederholte ihre Angaben sicherheitshalber noch einmal. »Können Sie sich darum kümmern, dass man mir die Sachen schickt, die ich eingelagert habe?«, fragte sie. »Die übrigen Möbel können zusammen mit dem Haus verkauft werden, oder meinetwegen auch getrennt, falls es einfacher ist. Ich will jedenfalls nichts davon haben. Ich ziehe am Ersten ein, und ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie dafür sorgen könnten, dass die Sachen bis dahin hier sind. Mir ist klar, dass Ihnen nicht besonders viel Zeit bleibt...«

»Machen Sie sich deswegen keine Sorgen. Ich werde mein Bestes tun.«

»Danke, Jordan. Sie sind mir die ganze Zeit über wirklich eine große Hilfe gewesen.«

»Nicht der Rede wert. Wie gefällt Ihnen Seattle?«

»Es ist grün hier. Und kalt.« Sie sah aus dem Fenster. »Eigentlich sollte ich von meinem Hotelzimmer aus die Olympic Mountains sehen, aber außer Wolken habe ich bis jetzt noch nichts gesehen. Aber sie sollen sehr schön sein, habe ich mir sagen lassen.«

»Ich werde Ihnen den Namen eines Anwalts in Seattle durchgeben«, sagte Jordan. »Ich schicke ihm eine Kopie Ihrer Akte. Und, Aunie, ich will, dass Sie ihn aufsuchen. Um eine einstweilige Verfügung zu erwirken ... nur für alle Fälle.«

Ein Schauer überlief sie. »Die letzte einstweilige Verfügung hat mir nicht besonders viel genutzt.«

»Ich weiß. Aber das wird dem Fall noch mehr Gewicht verleihen, und ich möchte, dass Sie etwas in der Hand haben.«

»Ach, Jordan«, sagte sie mit leiser Verzweiflung, »hat das denn niemals ein Ende?«

»Doch Aunie. Vielleicht schneller, als wir denken.«

»Gott, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich diesen Tag herbeisehne.«

»Genießen Sie erst einmal Ihr neues Leben und versuchen Sie, sich nicht allzu viele Sorgen zu machen, okay?«

»Ich werde es versuchen.«

»Rufen Sie an, wenn Sie etwas brauchen oder auch einfach nur reden wollen.«

»Das mache ich. Noch mal danke, Jordan.«

»Ich freue mich, wenn ich etwas für Sie tun kann. Melden Sie sich.«

Nachdem sie sich voneinander verabschiedet hatten, blieb Aunie mit dem Hörer in der Hand ein paar Sekunden lang reglos in der hereinbrechenden Dämmerung sitzen. Schließlich legte sie ihn zurück auf die Gabel und stand auf, um die Vorhänge zuzuziehen und das Licht einzuschalten. Sie drehte die Heizung höher und holte aus ihrer Handtasche das Vorlesungsverzeichnis hervor, das man ihr im College mitgegeben hatte. Nach einem kurzen Blick auf die Speisekarte bestellte sie den Zimmerservice, dann zog sie ein warmes Sweatshirt, Leggings und zwei Paar Socken an, schob den kleinen Schreibtisch und einen Stuhl vor den Heizkörper und ließ sich nieder, um die Unterlagen zu studieren.

Bei dem Beratungsgespräch am frühen Nachmittag hatte ihr die Studienberaterin des Colleges zu bedenken gegeben, dass es bereits ziemlich spät war, um sich noch für das Wintersemester einzuschreiben. Ein oder zwei der Kurse, für die sie sich interessierte, hatten diese

Woche begonnen, und ein weiterer war schon voll. Aunie war etwas enttäuscht gewesen, aber die Studienberaterin hatte ihr auch Hoffnung gemacht. Sie hatte gemeint, es sei nicht ungewöhnlich, dass Studenten Kurse nach der ersten Woche wieder sausen ließen, deshalb bestünde durchaus noch eine realistische Chance, dass Aunie die Kurse belegen konnte, die sie sich ausgesucht hatte. Als sie jetzt in ihrem Hotelzimmer saß, suchte sie sich noch ein paar Alternativen heraus und füllte die Anmeldeformulare aus, um sie am nächsten Tag im College abzugeben.

Danach wusste sie nichts mehr mit sich anzufangen. Das bestellte Essen wurde gebracht, und während sie aß, sah sie die Nachrichten im Fernsehen an. Dann stellte sie das Tablett vor die Tür, lief im Zimmer auf und ab und überlegte, was sie tun könnte. Sie überflog die Liste der Pay-TV-Filme, die innen an der Tür des Fernsehschranks hing, entdeckte jedoch keinen, der sie interessierte. Sie nahm ein Taschenbuch und versuchte zu lesen, aber schon nach kurzer Zeit warf sie es wieder auf das Nachtkästchen neben dem Bett.

Sie ging langsam hinüber zum Fenster und zog den Vorhang zurück. Inzwischen war es völlig dunkel, und sie betrachtete das viel gepriesene Panorama, das sich ihr von ihrem Zimmer aus bot. Vor ihr erstreckte sich eine lichterübersäte Stadtlandschaft, und ihr Blick folgte einer hell erleuchteten Fähre, die langsam über die Elliott Bay auf die Stadt zuglitt. Die Kälte, die von der Glasscheibe ausstrahlte, ließ sie frösteln, und sie schloss den Vorhang wieder.

Sie nahm die Abendzeitung und las einen Bericht übereinen Mann, der festgenommen worden war, weil er an die hundert Frauen mit obszönen Anrufen belästigt hatte. Weiter wurde berichtet, dass in einem anderen Fall die Telefongesellschaft und die Polizei eng zusammenarbeiteten, um einem anonymen Anrufer auf die Spur zu kommen, der die Studentinnen eines Colleges in Seattle in Angst und Schrecken versetzte. Aunie legte die Zeitung zur Seite. Sie hatte keine Lust, sich mit den Problemen anderer Leute zu beschäftigen, davon hatte sie selbst genug.

Auf ihrer Wanderung durch das Hotelzimmer hatte sie es vermieden, in einen der Spiegel zu blicken, aber jetzt trat sie doch vor einen. Sie stützte sich mit den Händen auf das Toilettentischchen, das davorstand, und hob langsam den Kopf.

Ihr ganzes Leben lang hatte man ihr gesagt, wie schön sie sei. Manchmal war ihre Schönheit ein Segen gewesen, manchmal ein Fluch. Aber ganz gleich, von welcher Seite sie es betrachtete, eins war klar. Die Frau, die ihr aus dem Spiegel entgegenblickte, würde ganz gewiss kein solches Kompliment zu hören bekommen.

Die Schwellungen waren noch deutlich sichtbar. Erst vor zwei Tagen hatte sie das Krankenhaus verlassen, ihr Bankkonto aufgelöst, eine Firma damit beauftragt, die wenigen Habseligkeiten, die sie behalten wollte, zu verpacken und einzulagern, selbst gerade so viel in einem Koffer verstaut, wie sie tragen konnte, und sich nach Flügen erkundigt. Sie hatte zwar nicht genau gewusst, wohin sie wollte, aber sie hatte das Bedürfnis verspürt, sich so weit wie möglich von Atlanta zu entfernen, solange Wesley noch im Gefängnis saß. Sie hoffte nur, dass er keine

Privatdetektive angeheuert hatte, um sie überwachen zu lassen. Nein, das sicher nicht. So viel Zeit hatte er vor seiner Verhaftung nicht gehabt.

Es sei denn natürlich, er hätte entgegen seiner Behauptung den einen, der schon früher für ihn gearbeitet hatte, weiter engagiert. Sie traute ihm alles zu.

Sie hatte die Verantwortung für ihre eingelagerten Besitztümer und den Verkauf ihres Hauses und ihres Wagens in Jordans Hände gelegt und einen Frühflug nach Chicago genommen. Am Flughafen O'Hare hatte sie sich für Seattle als Endziel entschieden, zum einen, weil es weit weg von zu Hause war, und zum anderen, weil sie in dieser Stadt keine Menschenseele kannte. Wesley hatte also keinen Grund anzunehmen, dass sie dorthin unterwegs war. Sie hatte die Damentoilette aufgesucht und sich nach Kräften bemüht, ihr Aussehen zu verändern. In Anbetracht dessen, wie ihr Gesicht zurzeit aussah, war das gar nicht so einfach gewesen, die Schwellungen und Blutergüsse waren einfach zu auffällig. Um unbemerkt zu entkommen, falls sie doch beobachtet wurde, hatte sie sich einer Gruppe von Geschäftsfrauen anvertraut, die auf dem Weg zu einer Tagung waren, und eine von ihnen hatte das Flugticket für sie besorgt. Dann hatten sie sie in ihre Mitte genommen und sie von der Toilette zum Flugsteig eskortiert.

Das Gesicht, das ihr aus dem Spiegel entgegensah, war ihr fremd. Die Schwellungen veränderten seine Form, brachten ihre viel gerühmten Wangenknochen praktisch zum Verschwinden. In ihrem linken Ohrläppchen befand sich ein vernähter Riss an der Stelle, wo Wesley ihr den Ohrring herausgerissen hatte. Ihre Augen waren zwar noch blutunterlaufen, aber nicht mehr völlig zugeschwollen. Ihre Nase war gebrochen gewesen, der Arzt im Krankenhaus hatte ihr jedoch versichert, dass sie wieder genauso aussehen würde wie vorher, sobald die Schwellung abgeklungen war. Ihre Lippe war gespalten, aber auch das würde im Lauf der Zeit heilen. Ihre Haut würde irgendwann wieder das sein, was einer ihrer früheren Verehrer mit einem Hang zu blumigen Komplimenten einmal als makellosen Alabasterteint bezeichnet hatte. Auch wenn sie diese Beschreibung für eine gewaltige Übertreibung hielt, war ihr Teint tatsächlich der einzige ihrer körperlichen Vorzüge, auf den sie stolz war. Allerdings war alles besser als der Zustand, in dem er sich im Augenblick befand - eine in allen Regenbogenfarben von Purpurrot bis Zitronengelb schillernde Ansammlung von fürchterlichen Blutergüssen.

Im Wesentlichen, so hatten die Ärzte ihr erklärt, waren ihre Verletzungen oberflächlicher Art. Sie sagten, sie hätte Glück gehabt. Keine schweren Knochenbrüche, keine Verletzungen an den Augen, keine Gehirnerschütterung, keine ausgeschlagenen Zähne. Nach dem Theater, das ihre Mutter in der Notaufnahme veranstaltet hatte, beeilten sie sich, ihr zu versichern, dass sie ihre frühere Schönheit voll und ganz wiedererlangen würde. Diese Versicherung hatte ihre Mutter zufrieden gestellt, aber in Aunie hatten sie ein zwiespältiges Gefühl hervorgerufen.

Weil ihr Aussehen manchmal ein Segen gewesen war.

Manchmal aber auch ein Fluch.

2

Für jemanden, der zur verarmten besseren Gesellschaft gehörte, gab es auf der ganzen Welt keinen Ort, der mit den Südstaaten zu vergleichen gewesen wäre. Im Laufe der Generationen hatten die Südstaatler dieses Leben zu einer Kunstform erhoben, und Aunie hätte ohne jede Recherche ein ganzes Buch darüber schreiben können. Schließlich verfügte sie als einzige Tochter einer Familie, die zu zwei altehrwürdigen Säulen der Südstaatengesellschaft gehörte, über Erfahrungen aus erster Hand.

Ihr Vater war L. Martin Franklin III., der Träumer in einer Familie von Karrieristen. Zerstreut und vergeistigt, wie er war, hatte er in ihrem Leben kaum eine Spur hinterlassen. Er interessierte sich nur für seine Bücher und seine wissenschaftlichen Projekte, und sein mangelnder Geschäftssinn wurde als Charakterschwäche betrachtet und von seiner Familie halb belustigt, halb genervt mit der gleichen Nachsicht hingenommen wie Onkel Asas Alkoholkonsum oder Onkel Beaus Affären.

Ihre Mutter war eine Pearlin - von den Pearlins aus Savannah? So klang es bei ihr zumindest jedes Mal, wenn sie sich jemandem vorstellte ... mit einer Stimme so süß wie Honig, die sie zum Schluss wie bei einer Frage ein wenig hob. Auf diese Weise gab sie ihrem Gegenüber zu verstehen, dass es ihm schon gewaltig an Erziehung mangeln musste, wenn er noch niemals von dieser angesehenen Familie gehörte hatte. Erst mit fünf oder sechs Jahren hatte Aunie begriffen, dass ihre Mutter keineswegs mit Mädchennamen Eine-Pearlin-von-den-Pearlins-aus-Savannah hieß.

Etwa im gleichen Alter fing sie an zu begreifen, welche Erwartungen ihre Familie in sie setzte. Sie konnte sich kaum an eine Zeit erinnern, in der ihr gutes Aussehen und die Verpflichtung, sich vorteilhaft zu verheiraten, nicht untrennbar miteinander verbunden gewesen wären.

Ihre Mutter war eine unglückliche Frau. Sie litt entsetzlich darunter, nicht reich zu sein, obwohl die Pearlins und die Familie von L. Martin dafür sorgten, dass es ihnen nie an den erforderlichen Annehmlichkeiten mangelte. Nichtsdestoweniger waren sie gezwungen, in diesen schäbigen alten Mietshäusern zu wohnen! Sie kam einfach nicht darüber hinweg, dass sie bis zu ihrer Heirat auf einem wunderbaren Herrensitz gelebt hatte, wo sie in dem Bewusstsein aufgewachsen war, dass ihr stets jeder Wunsch erfüllt werden würde.

Und dann musste sie sich ausgerechnet in einen Wissenschaftler mit einer einwandfreien Vergangenheit und keinerlei Zukunftsaussichten verlieben.

Sie hatte Aunie eingehämmert, es besser zu machen. Aus Liebe zu heiraten ist ja gut und schön, hatte sie oft gesagt. Aber wenn die Leidenschaft nachlässt - und, mein Schatz, das wird sie -, dann solltest du sicher sein können, dass etwas Greifbares bleibt. Nutze die Gaben, mit denen dich der liebe Gott gesegnet hat. Verliebe dich meinetwegen, wenn es unbedingt sein muss. Aber achte darauf, dass du dich in einen reichen Mann verliebst. Wie oft in ihrem Leben hatte sich Aunie diesen Vortrag anhören müssen?

Ihr Vater hatte ihr nie irgendwelche Ratschläge gegeben ... er war vermutlich gar nicht auf die Idee gekommen, dass sie welche brauchen könnte. Selbst in den besten Zeiten war sich Aunie nie ganz sicher, ob er über ihre bloße Existenz hinaus überhaupt etwas von ihr wahrnahm.

Der Rest ihrer Verwandtschaft neigte im Großen und Ganzen dazu, ihrer Mutter beizupflichten, sie sprachen über ihre Aussichten auf eine vorteilhafte Heirat, als handele es sich dabei um eine feststehende Tatsache. Sie wuchs in ehemals vornehmen alten Mietshäusern auf, die sich einen Hauch ihrer einstigen Eleganz bewahrt hatten, und trug die abgelegte Designergarderobe ihrer Cousine Nola auf. Um ihr Wohl kümmerten sich Dienstboten, deren Lohn von ihrem Großvater bezahlt wurde. Der Besuch von Privatschulen galt selbstverständlich als unabdingbar, die entsprechenden Schulgebühren übernahm ein Onkel. Ihre Tanzstunden wurden von einem anderen Onkel finanziert, und sie war Mitglied in mehreren exklusiven Countryclubs, für deren Beiträge wiederum ein dritter Onkel aufkam. Bei jeder Familienzusammenkunft war es nur eine Frage der Zeit, bis der eine oder andere ihrer männlichen Verwandten ihr Kinn umfasste, ihr Gesicht ins Licht drehte und murmelte: »Ausgezeichnet! Sie ist eine richtige Schönheit. Es wird ihr nicht schwer fallen, eine gute Partie zu machen.«

Aunie wusste nicht genau, wie sie es anstellen sollte, eine gute Partie zu machen, aber sie wusste, dass es etwas mit ihrem Aussehen zu tun hatte. Als Kind war sie ungemein schüchtern. Alle ihre Mitschüler wussten darüber Bescheid, dass sie von der Unterstützung ihrer Verwandten abhängig war, und machten sich einen Spaß daraus, sie damit aufzuziehen und zu sticheln. Ihre eigene Familie kam nie auf die Idee, dass sie intelligent sein könnte. Jeder schien zu glauben, dass sie nichts weiter vorzuweisen hatte als ein hübsches Gesicht.

Und das war sogar noch in der Zeit, bevor sie zu voller Schönheit erblühte.

Mit schönen Menschen geht das Leben freundlicher um als mit unansehnlichen - das ist eine unumstößliche Tatsache. Ihre Mitmenschen bringen ihnen mehr Respekt und Anerkennung entgegen, und haben sie es auch noch so wenig verdient, weil die meisten erst einmal instinktiv auf die äußere Erscheinung ihres Gegenübers reagieren.

Aunie war nicht gerade stolz darauf, in welchem Maß sie als Heranwachsende davon profitiert hatte.

Von hübschen Mädchen erwartet man nicht, dass sie sich unzulänglich vorkommen, deshalb bemühte sie sich, ihre Schüchternheit zu verbergen, je mehr sich ihre Schönheit entfaltete, und zwang sich dazu, lebhaft und aufgeschlossen zu wirken. Sie fühlte sich verpflichtet, die Erwartungen ihrer Familie zu erfüllen, und stellte daher nie in Frage, ob es richtig war, andere für die Annehmlichkeiten zahlen zu lassen, die ihr ihr Vater nicht bieten konnte. Dem Beispiel ihrer Mutter folgend, betrachtete sie das einfach als ihr gutes Recht.

Es kam ihr nie in den Sinn, dass sie lernen könnte, ihren eigenen Weg zu gehen und ihren Verstand zu nutzen statt ihr Aussehen. Wenn ihr jemand gesagt hätte, dass die Anstrengung, die damit verbunden war, für sich selbst zu sorgen, ihr letzten Endes mehr Befriedigung verschaffen würde, als sich eine gute Partie zu angeln und versorgen zu lassen, hätte sie nicht verstanden, was er meinte. Sie wusste nur das, was ihr jahrelang eingehämmert worden war. Dementsprechend brauchte sie länger als die meisten, um eine eigene Identität zu entwickeln.

Sie dachte, ihr Aussehen sei ihre Identität. Niemals hatte sich jemand auch nur annähernd so lobend über ihre Intelligenz geäußert wie über ihren makellosen Teint oder ihre perfekten Gesichtszüge. Niemals hatte ihr jemand gesagt, sie sei klug genug, um einen Beruf nach ihrem Geschmack zu ergreifen. Es herrschte stillschweigendes Einvernehmen darüber, dass sie einen einzigen Vorzug besaß, der sich vermarkten ließ. Ihre Pflicht war es, ihre Schönheit zu nutzen, um sich einen reichen Ehemann zu angeln. Und trotz der Unsicherheit, die sich unter ihrer aufgesetzten Munterkeit verbarg, war sie fest entschlossen, genau das auch zu tun.

In ihrem letzten Schuljahr auf dem Mädchenpensionat wurde sie mit einer gewissen Anzahl von ihrer Familie ausgewählter und für gut befundener Junggesellen bekannt gemacht: jungen Männern aus namhaften Familien mit nützlichen Verbindungen und vielversprechenden Zukunftsaussichten. Doch auch wenn sie sich mit den meisten gut verstand und sich zu dem einen oder anderen sogar stärker hingezogen fühlte, fehlte letztlich das gewisse Etwas. Man hatte ihr beigebracht, dass Reichtum das oberste Ziel war, aber ein kleiner Rest von Trotz ließ sie davon überzeugt sein, dass es noch mehr geben musste. Liebe.

Dann, kurz nach ihrem neunzehnten Geburtstag, war Wesley Cunningham in ihr Leben getreten und hatte sie im Sturm erobert.

Wesley war kein junger Mann mehr, mit seinen sechsunddreißig Jahren war er beinahe doppelt so alt wie sie. Er war ein angesehener Galerist, dessen private Kunstsammlung allgemeiner Meinung nach im Süden ihresgleichen suchte, und ein weltgewandter Mann, der sich in den exklusivsten Kreisen zu Hause fühlte. Dass ein solcher Mann Interesse an ihr zeigte, raubte Aunie buchstäblich den Atem. Er machte ihr auf eine hartnäckige, formvollendete und romantische Weise den Hof und verdrehte ihr damit erst recht den Kopf. Als er sie nach elf Monaten um ihre Hand bat, hielt sie sich für die glücklichste Frau auf Gottes Erdenrund.

Später hätte sie sich gern damit getröstet, dass sie so schnell und so weit wie möglich geflohen wäre, wenn sie auch nur die geringste Ahnung gehabt hätte, dass sie im Begriff stand, das kostbare Vorzeigeobjekt eines von seinem Besitz besessenen Mannes zu werden. Aber in Wahrheit war sie zutiefst verunsichert und wusste nicht, worauf sie sich überhaupt noch verlassen konnte. Vielleicht waren die Zeichen die ganze Zeit über da gewesen, und sie hatte sie nur einfach nicht sehen wollen. Wesleys Aufmerksamkeiten hatten ihr ungemein geschmeichelt, und in Anbetracht ihrer Entschlossenheit, sämtliche Erwartungen ihrer Familie zu erfüllen, war es gut möglich, dass sie vor seinen Fehlern einfach die Augen verschlossen hatte.

Es war nicht so, als hätte sie wirklich geglaubt, dass es so gewesen war.

Sie musste jedoch mit der Erkenntnis leben, dass sie auch niemals mit hundertprozentiger Sicherheit wissen würde, dass es nicht so gewesen war.

»Hallo, Otis.« Auf der Treppe waren leise Schritte zu vernehmen. »Also, ich schwöre dir, du bist einer der fleißigsten Männer, die ich jemals kennen gelernt habe. Lola hat mir erzählt, dass du bei der Feuerwehr arbeitest, und trotzdem scheinst du in jeder freien Minute irgendetwas hier im Haus zu tun.«

James, der am anderen Ende des Flurs auf dem Boden kniete, blickte auf. Er beobachtete, wie Aunie auf dem Treppenabsatz erschien, im Lichtkegel der darüber aufgehängten Arbeitsleuchte stehen blieb und Otis strahlend anlächelte.

James ließ sich zurücksinken und setzte sich im Schneidersitz hin. Bis vor wenigen Minuten hatte das Tageslicht, das durch das Fenster neben ihm fiel, zum Arbeiten noch ausgereicht, aber dann war die Sonne plötzlich hinter einer Wolke verschwunden. Er hatte schon überlegt, ob er die zweite Arbeitsleuchte einschalten sollte, jetzt war er jedoch froh, dass er es nicht getan hatte.

Auf diese Weise hatte er die Gelegenheit, Aunie unbemerkt zu beobachten.

Er konnte es noch immer nicht fassen, wie umwerfend sie aussah. Jedes Mal, wenn er ihr in den vergangenen Wochen über den Weg gelaufen war, hatte es ihn von neuem überrascht. Wer hätte gedacht, dass sich unter all den blauen Flecken und Schwellungen, mit denen sie am ersten Tag hier aufgekreuzt war, eine solch verführerisch zarte Haut verbarg. Genauso verblüffend fand er es, wie hell ihr Teint war, er bildete einen auffälligen Kontrast zu ihren glänzenden dunkelbraunen Haaren und Augenbrauen und den seidigen langen Wimpern. Ihre großen Augen waren ebenfalls dunkelbraun und standen leicht schräg, was ihrem Gesicht etwas Interessantes verlieh, und ihre Zähne blitzen so makellos weiß wie die eines Kindes. Ihr Mund hatte allerdings ganz und gar nichts Kindliches an sich. Die Oberlippe war schmal und sanft geschwungen, während die Unterlippe etwas lasziv Üppiges hatte. Und als ob das alles noch nicht gereicht hätte, zeigten sich nicht nur jedes Mal, wenn sie lächelte, auf ihren Wangen zwei reizende Grübchen, direkt über ihrer Oberlippe saß auch noch ein winziger Leberfleck. Das war nun wirklich zu viel des Guten, dachte er säuerlich.

Zugegeben, vielleicht kam er sich ein bisschen blöd vor wegen seiner übertriebenen Reaktion an dem Tag, als sie die Wohnung gemietet hatte, und vielleicht betrachtete er sie deswegen nicht eben wohlgefällig. Aber das war ja wohl nicht allein seine Schuld gewesen, verdammt noch mal. Ihr Verhalten hatte die ganze Sache bestimmt nicht besser gemacht. Statt großzügig über das Vorkommnis hinwegzugehen - wie er es getan hätte -, schien sie es darauf angelegt zu haben, es ihm immer wieder auf subtile Weise unter die Nase zu reiben, wenn sie sich über den Weg liefen. Statt also die Vergangenheit zu begraben, begrüßte sie Otis und Lola stets mit einem strahlenden Lächeln und duzte sich inzwischen sogar mit ihnen, während sie ihn beharrlich mit Mister Ryder ansprach, noch dazu in diesem höflichen, kühlen Ton, bei dem sich ihm unweigerlich die Nackenhaare sträubten. Ihre abweisende Miene und diese bescheuerte Anrede mit Mister vermittelten ihm das Gefühl, ein ungehobelter Klotz zu sein. Was er manchmal vermutlich auch war.

Aber wenn sie so verflucht großen Wert auf gute Ma-nieren legte, dann hätte sie ihn auch nicht so behandeln dürfen.

Ich kann mich allerdings nicht daran erinnern, dass Superman sich einer solchen Ausdrucksweise bedient hat.

James ließ unbehaglich seine Schultern kreisen. Im Geiste hatte er diese Bemerkung in den vergangen Wochen immer wieder gehört, und während er jetzt leise vor sich hin fluchte, hörte er sie erneut. Zuerst hatte sie lediglich Abwehr in ihm hervorgerufen. Nicht jeder hatte das Glück und wurde mit einem silbernen Löffel im Mund geboren. Es gab auch Leute, die sich damit abfinden mussten, Tag für Tag unter dem unbarmherzigen Auge des Sozialamts ums Überleben zu kämpfen.

In Terrace, der Sozialwohnungssiedlung, in der James aufgewachsen war, hatten Flüche und Beschimpfungen zum guten Ton gehört. Er hatte sich nie groß Gedanken darüber gemacht, bevor ihn Aunie dazu gebracht hatte, sich wegen solcher Unmutsbekundungen wie der letzte Prolo vorzukommen.

In seiner Jugend hatte es ihm mehr als einmal die Haut gerettet, dass er sich so anhörte, als sei er der mieseste Kerl in der ganzen Stadt. Anders als seine Brüder war er nicht von einer Katastrophe in die nächste gestolpert. Statt sich mit anderen zu prügeln, hatte er lieber etwas gebastelt oder seine Comics gezeichnet. Natürlich hatte er trotzdem noch oft genug die Fäuste einsetzen müssen, um sich aus einer heiklen Situation zu befreien, aber im Großen und Ganzen hatte er sich lieber auf sein Mundwerk und seinen schwarzen Humor verlassen, wenn er in der Klemme steckte. Dass er so klang, als hätte er darüber hinaus aber auch keine Hemmungen, jedem, der ihm dumm kam, die Nase einzuschlagen, hatte jedoch nicht geschadet. Genauso wenig wie seine Freundschaft mit Otis.

Sie waren beide so um die dreizehn gewesen, als Otis in die Wohnung über den Ryders gezogen war. Otis hatte schon damals so ausgesehen wie der Alptraum eines jeden Spießers: größer als eins achtzig, von einer Statur, die seine zukünftigen Muskelpakete erahnen ließ, und infolge einer seltenen Hautkrankheit darüber hinaus bereits kahl werdend. Am Tag seines Einzugs lungerte James im Treppenhaus herum und machte rasch ein paar Zeichnungen von Otis' Familie, während er zusah, wie sie ihre wenigen Habseligkeiten in die neue Wohnung schafften. Alle folgten ohne Widerrede den knappen Anweisungen der großen Schwarzen Frau. Später hatte er festgestellt, dass Otis' Mutter jeden Feldwebel wie einen Waisenknaben aussehen ließ, wenn sie erst einmal in Fahrt geriet.

Tatsächlich war es eine rasch hingeworfene Karikatur von Mrs. Jackson in Uniform gewesen, mit der die Freundschaft der beiden Jungen begonnen hatte. Otis war stehen geblieben und hatte ihm über die Schulter gesehen, neugierig, was der blonde Junge da zeichnete. James hatte mit angehaltenem Atem dagesessen und sich nicht zu rühren gewagt - mit dieser Zeichnung konnte er sich eine Menge Ärger einhandeln. In diesem Viertel musste man durchaus damit rechnen, dass man ein Eisenrohr über den Schädel gezogen bekam, wenn man sich über die Mutter von jemandem lustig machte.

Otis war jedoch in schallendes Gelächter ausgebrochen und hatte James den Zeichenblock aus der Hand genommen. »Hey, Ma«, hatte er gerufen und war damit zu seiner Mutter gegangen. »Der weiße Typ da hat dich sofort durchschaut!«

Seitdem waren sie Freunde.

Jetzt, zwanzig Jahre später, stellte er plötzlich fest, dass Otis irgendwann in dieser Zeit sein Vokabular von den schlimmsten Ausdrücken gereinigt hatte, im Gegensatz zu ihm. Vielleicht war es an der Zeit, dass er seinem Beispiel folgte. Sie hatten es beide schon lange nicht mehr nötig, sich zu schützen oder andere einzuschüchtern, indem sie mit Beleidigungen um sich warfen.

Aber es würde verdammt schwer werden, diese Gewohnheit abzulegen.

Auf jeden Fall bemühte er sich nach Kräften, sich über das Verhalten, das die kleine Südstaatenschönheit ihm gegenüber an den Tag legte, nicht allzu sehr zu ärgern, weil er im Grunde genommen nicht glaubte, dass sie es mit Absicht tat - abgesehen von diesem Getue mit Mister. Er verspürte keineswegs das brennende Verlangen, sich mit ihr gut zu stellen. Sie waren zwei grundverschiedene Menschen, und je weniger er mit ihr zu tun hatte, desto geringer war die Gefahr, dass er sich mit ihren Problemen beschäftigte. Besser, er blieb auf Abstand zu ihr. Aber es gab auch keinen Grund für Feindseligkeiten. Da sie im gleichen Haus wohnten - sogar auf dem gleichen Stockwerk - war es nicht zu vermeiden, dass sie sich gelegentlich über den Weg liefen. Da sollten sie es doch zumindest schaffen, wie zwei zivilisierte Menschen miteinander umzugehen.

»Na, dann lass ich dich mal weiterarbeiten«, sagte Aunie gerade zu Otis. »Ich habe selbst jede Menge Hausaufgaben zu erledigen.« Sie hob ihre Büchertasche auf und wandte sich zum Gehen. In gleichen Augenblick brach die Sonne durch die Wolken und tauchte das Ende des Flurs in Licht. Erst jetzt bemerkte sie James, der in einem ärmellosen schwarzen T-Shirt und ausgeblichenen Jeans auf dem Boden saß und von Kopf bis Fuß mit einer dicken Schicht Gipsstaub bedeckt war.

Ihr Mund wurde trocken, und sie fühlte sich auf einmal unsicher, was ihr bei Otis oder Lola nie passierte. »Hallo, Mister Ryder«, sagte sie leise. »Ich habe Sie gar nicht gesehen.«

»Hallo, Magnolienblüte.« Er lächelte ihr träge zu und musterte sie auf die ihm eigene unverfrorene Art. Sie musste schlucken.

»Ist Ihnen ohne Hemd denn nicht kalt?«, platzte sie heraus. Der belustigte Ausdruck, mit dem er seinen Blick über ihre bunt gemusterte Daunenjacke gleiten ließ, machte sie ganz kribbelig, ohne dass sie hätte sagen können, warum.

»Nein«, erwiderte er in durchaus höflichem Ton, aber Aunie wurde trotzdem den Eindruck nicht los, dass er insgeheim über sie lachte. »Beim Abschleifen wird einem warm.« Sein Blick richtete sich erneut auf ihre Jacke. »Vielleicht sollten wir Sie auch ein Stück Wand abschleifen lassen. Ein bisschen körperliche Betätigung, und Sie müssten sich nicht wie ein kleines Mädchen zum Schlittenfahren vermummen.«

Zu James' Verblüffung leuchteten ihre Augen interessiert auf. »Wirklich?«, fragte sie. »Ich muss zwar noch Hausaufgaben machen, aber zwanzig Minuten könnte ich schon erübrigen. Haben Sie das eben ernst gemeint?« Als er nicht sofort nein sagte - was vor allem daran lag,

dass es ihm vor Überraschung die Sprache verschlagen hatte -, lächelte sie erfreut. »Bin sofort wieder da.« Sie wirbelte auf dem Absatz herum und lief zu ihrer Wohnung, wie ein Kind, das unerwartet schulfrei bekommen hat. Einen Augenblick später fiel die Tür hinter ihr ins Schloss.

»Das war als Witz gemeint«, sagte James fassungslos zu dem Teppichboden zwischen seinen Beinen.

Otis' Zähne blitzten weiß auf. »Das war sarkastisch gemeint«, korrigierte er seinen Freund. »Du dachtest, sie wäre zu etepetete, um dich beim Wort zu nehmen, und deshalb könntest du dich gefahrlos über sie lustig machen. Vielleicht solltest du die Kleine erst mal ein bisschen besser kennen lernen, Jimmy, bevor du weiterhin voreilige Schlüsse über sie ziehst.«

James stieß einen leisen Fluch aus und wandte sich ab. Er kam sich ziemlich blöd vor. Na gut, vielleicht hatte er die Absicht gehabt, sie ein bisschen hochzunehmen. Ihr Verhalten ihm gegenüber ging ihm einfach gegen den Strich.

Aunies strahlendes Gesicht, als sie kurz darauf wieder auftauchte - die Jacke hatte sie gegen ein Sweatshirt vertauscht -, bewirkte, dass er sich noch mieser fühlte, und gegen jede Vernunft gab er ihr auch daran die Schuld.

»Was soll ich machen?«, fragte sie.

»Wickeln Sie das Schleifpapier um ein Stück Holz und schleifen Sie damit die veräh, die Wand ab«, murmelte er wenig hilfreich, und als das Leuchten in ihren Augen schwächer wurde, hätte er sie am liebsten angeblafft, sie solle gefälligst aufhören, ihm dauernd das Gefühl zu vermitteln, dass er ein Mistkerl sei.

»Okay«, sagte sie leise und sah sich um. Sie nahm ein Blatt Schleifpapier mit grober Körnung in die Hand und fuhr mit dem Daumen darüber. »Das hier ist also Schleifpapier.«

James starrte sie an. Sie hatte noch nie in ihrem Leben Schleifpapier zu Gesicht bekommen? »Wo zum Teufel haben Sie denn bis jetzt gelebt?«, fragte er entgeistert.

»In verschiedenen Städten in Georgia, und dort habe ich ein völlig nutzloses Dasein geführt«, erwiderte Aunie erstaunlich fröhlich. »Aber das wird sich von nun an alles ändern, Mister Ryder, warten Sie's nur ab. Ich lerne jeden Tag etwas Neues dazu.«

»Komm, Aunie«, sagte Otis freundlich und fasste sie mit seiner riesigen Hand am Ellbogen, um sie zu dem Teil der Wand zu führen, an dem er arbeitete. Auf dem Weg dahin bückte er sich, um ein Stück Holz aufzuheben, und warf James dabei über die Schulter einen grimmigen Blick zu. »Du kannst mir hier helfen. Du wickelst das Papier um den Holzklotz, siehst du, und reibst damit über die unebenen Stellen auf dem Putz.« Er führte es ihr vor, und dann drückte er ihr den Klotz in die Hand. »So, jetzt versuch's mal.«

Aunie befolgte eifrig seine Anweisungen. Einige Sekunden später trat sie einen Schritt zurück, um ihr Werk zu begutachten. Sie warf James am Ende des Flurs einen raschen unsicheren Blick zu, dann drehte sie sich zu Otis. »Es ist nicht so glatt und eben wie bei dir«, sagte sie leise.

»Du hast ja auch nicht so viel Kraft in den Armen wie ich, Mädchen«, sagte Otis und grinste. »Du brauchst dafür einfach nur ein bisschen länger, das ist alles.«

»Ach so, gut.« Sie bedankte sich mit einem Lächeln da

für, dass er so geduldig war und ihr nicht das Gefühl gab, tatsächlich zu ungeschickt zu sein, wie sie sich vorkam, und dann machte sie sich mit frischem Eifer über die Wand her. Sie arbeitete unermüdlich, bis Otis ihr schließlich auf die Schulter tippte.

»Du bist jetzt schon fast eine Stunde hier zugange«, sagte er und nahm ihr den Holzklotz aus der Hand. »Vielleicht solltest du dich jetzt besser an den Berg Hausaufgaben machen, von dem du vorhin erzählst hast. Ich will nicht daran schuld sein, wenn du schlechte Noten kriegst.«

»Stimmt, das hätte ich beinahe vergessen.« Aunie streckte ihre verkrampften Finger und klopfte sich den Gipsstaub von Armen und Beinen. Dann schüttelte sie den Kopf wie ein nasser Hund, sodass es nach allen Seiten staubte. Sie strich sich die Haare aus der Stirn und sah zu Otis hoch. »Das hat Spaß gemacht. Wieder etwas dazugelernt, vielen Dank, Otis.«

»Es war mir ein Vergnügen.«

Sie lachte. »Du bist wirklich ein netter Mann.« Dann blickte sie ans Ende des Flurs und nickte James zu, der das Schleifen unterbrochen hatte, um sie zu beobachten. »Mister Ryder, Sie hatten Recht. Beim Abschleifen wird einem wirklich schön warm.« Mit diesen Worten überließ sie die beiden Männer ihrer Arbeit.

Wenig später stand sie vor dem Spiegel im Badezimmer und lachte über den Anblick, den sie bot. Ihre Mutter würde vermutlich in Ohnmacht fallen, wenn sie sie so sähe, von oben bis unten mit Staub bedeckt. Sie stellte sich rasch unter die Dusche und zog Jeans, warme Socken, einen Rollkragenpullover und darüber noch eine

dicke Strickjacke an. Anschließend goss sie sich ein Glas Saft ein, breitete ihre Bücher und Notizen auf dem Esstisch aus und machte sich ans Lernen. Es dauerte allerdings eine Weile, bis sie die erforderliche Konzentration aufbringen konnte.

Das Abschleifen der Wand hatte ihr wirklich Spaß gemacht; sie war sich dabei zur Abwechslung einmal nützlich vorgekommen. Aber sie würde sicher einige Zeit brauchen, um den Ausdruck auf James Ryders Gesicht zu vergessen, als sie sich derart mit dem Schleifpapier blamiert hatte. Er hatte sie angesehen, als frage er sich, wie in aller Welt sie es geschafft hatte, sich bislang durchs Leben zu schlagen, wenn doch jeder, der Augen im Kopf hatte, sehen konnte, dass sie nicht einmal von den grundlegendsten Dingen eine Ahnung hatte.

Dieser Mann verunsicherte sie, und deshalb ging sie instinktiv auf Abstand zu ihm. Ihre Weigerung, James mit seinem Vornamen anzusprechen, hatte nichts damit zu tun, wie er sich an dem Tag, an dem sie die Wohnung gemietet hatte, ihr gegenüber verhalten hatte, oder jedenfalls nicht nur. Es hatte vor allem etwas damit zu tun, dass er sie ansah, als wäre sie völlig unfähig, während sie sich doch gerade so sehr darum bemühte, ein lebenstüchtiger, unabhängiger erwachsener Mensch zu werden. Sie musste zugeben, dass sie damit später anfing als die meisten, aber besser spät als nie. Immerhin versuchte sie es, und das Letzte, was sie dabei brauchen konnte, war jemand wie ihn, der ihr ohnehin unterentwickeltes Zutrauen in ihre Fähigkeit, nützlich und produktiv zu sein, noch untergrub. Darüber hinaus schüchterte es sie ein, wenn sie daran dachte, was er in seinem Leben schon alles erreicht hatte, während sie selbst bisher nicht das Geringste aus eigener Kraft zustande gebracht hatte.

Ihm gehörte nicht nur dieses Haus, worauf sie an jenem ersten Tag nicht im Traum gekommen wäre, er war außerdem J. T. Ryder. Der J. T. Ryder, der Erfinder von »Mit anderen Augen«, der besten Cartoonserie, die in den letzten Jahren in den Sonntagszeitungen erschienen war. Und nicht nur das, seine Zeichnungen schmückten außerdem verschiedene Kalender, und es gab zwei Taschenbücher mit seinen gesammelten Cartoons. Und in der vergangenen Woche hatte sie in dem Campus-Buchladen einen Kaffeebecher mit einem Cartoon von ihm erstanden. Sie benutzte ihn zum Aufbewahren von Stiften. Erst als sie ihn Lola zeigte und dabei erneut über den eigenwilligen Humor lachen musste, der in der Zeichnung zum Ausdruck kam, erfuhr sie, dass sie James' Werk war. Sie war wie vom Donner gerührt. Das war von ihm? Sie hätte schwören können, dass er mit Drogen handelte.

Da sie Wohnungsnachbarn waren, hatte sie mitbekommen, dass seit dem Tag ihres Einzugs dauernd irgendwelche Männer zu den unmöglichsten Zeiten zu ihm kamen. Na gut, so viele waren es nun auch wieder nicht gewesen, aber sie schienen nie länger als fünf Minuten zu bleiben, und ein paar davon hatten wirklich sehr merkwürdig ausgesehen. Sie war nur froh, dass sie Lola gegenüber nichts von ihrem Verdacht hatte verlauten lassen, du lieber Gott, sie käme sich sonst noch dümmer vor, als sie es ohnehin schon tat.

Sowohl James als auch Otis hatten es in ihrem Leben zu etwas gebracht, und keiner von ihnen hatte es auch nur annähernd so leicht gehabt wie sie. Lola hatte ihr von

dem Viertel erzählt, in dem die beiden aufgewachsen waren, und Aunie krümmte sich innerlich bei dem Gedanken, was ihr alles in die Wiege gelegt worden war. Sie hatte es nie nötig gehabt, auch nur einen Cent zu verdienen, und doch hatte sie nichts aus ihrem Leben gemacht.

Am meisten beschämte sie, dass sie in der ersten Zeit ihrer Ehe mit ihrer Situation vollkommen zufrieden gewesen war. Na ja, nicht ganz. Ihr Liebesleben war von Anfang an eine einzige Enttäuschung gewesen, aber in materieller Hinsicht hätte es ihr auch nicht besser gehen können, wenn sie in der Lotterie den Jackpot geknackt hätte.

Aunie starrte auf den Text in dem Buch vor ihr, ohne etwas davon zu erfassen, und klopfte mit dem Radiergummi an ihrem Bleistift nervös auf die Tischplatte. Vor ihrem geistigen Auge sah sie die kräftigen Schultern und Arme von James Ryder, das Spiel seiner Muskeln unter dem schwarzen, verschwitzten T-Shirt, das ihm am Körper klebte. So viel geballter Männlichkeit, wie er und Otis sie ausstrahlten, war sie noch nie begegnet.

Dem Vergleich konnte Wesley bei weitem nicht standhalten. In seinen eleganten maßgeschneiderten Anzügen hatte er eine gute Figur gemacht, aber ohne ... na ja, er sah nicht gerade aus wie Michelangelos David. Das wäre auch nicht weiter schlimm gewesen, wenn er wenigstens Leidenschaft und Begehren gezeigt hätte, aber leider schienen ihm diese Empfindungen völlig fremd zu sein. Seine romantische Ader, mit der er sie im Sturm erobert hatte, hatte sich praktisch in dem Augenblick in Luft aufgelöst, in dem er »Ich will« gesagt hatte.

Sein Verhalten hatte sie furchtbar verwirrt ... ganz zu

schweigen davon, dass es sie verletzte, weil sie daraus schließen musste, dass sie nicht begehrenswert war. Anfangs dachte sie noch, er wolle in Anbetracht ihrer mangelnden Erfahrung lediglich rücksichtsvoll sein, immerhin war sie Jungfrau und etliche Jahre jünger als ihr Ehemann. Nach und nach dämmerte ihr allerdings, dass er ganz einfach kein besonders starkes Interesse an diesem Aspekt des Ehelebens hatte. Sie hatte stets das unangenehme Gefühl, dass er sie viel lieber aus einer gewissen Entfernung bewunderte, wie einen seiner wertvollen Kunstgegenstände, statt sich mit ihr auf eine so elementare und schweißtreibende Angelegenheit wie Sex einzulassen.

Sie dagegen hatte die Aussicht auf schweißtreibenden Sex mit ihrem frisch angetrauten Ehemann in freudige Erwartung versetzt. Insgeheim hatte sie diese Sache seit jeher sehr interessiert, auch wenn sie nicht viele konkrete Erfahrungen vorweisen konnte. Zu guter Letzt hatte sie sich jedoch eingestehen müssen, dass in ihrem Liebesleben höchstwahrscheinlich keine Wende zum Besseren mehr eintreten würde, eine Erkenntnis, die sie beunruhigte und frustrierte und völlig hilflos machte. Es warf zweifellos kein besonders gutes Licht auf sie, dass sie sich eine Zeit lang mit ihrem neu erworbenen Reichtum darüber hinwegtrösten konnte.

Nach zwei Ehejahren hatte ihr das Gefühl, einerseits als Frau nicht begehrenswert zu sein und andererseits keine sinnvolle Aufgabe zu haben, jedoch immer mehr zu schaffen gemacht. Es gab zu viele Tage, die sich nicht mehr mit Shoppingtouren, Verabredungen zum Mittagessen, Besuchen ihres persönlichen Fitnesstrainers und ein paar Runden Tennis ausfüllen ließen. Ihr Ehemann führte sie gern seinen Geschäftsfreunden vor und ging mit ihr mehrmals in der Woche in angesagte Restaurants und Bars, um die Leute zu sehen, die er für wichtig hielt, und von ihnen gesehen zu werden, aber ihr genügte es nicht, wie ein Schmuckstück in einem Schaufenster ausgestellt zu werden. Sie sehnte sich nach einer sinnvollen Beschäftigung und beschloss, sich eine Arbeit zu suchen, aber Wesley wollte nichts davon hören.

Teilzeit?, hatte sie mit flehender Stimme gefragt.

Nein.

Sie hatte ein paar Monate gewartet und dann eine ehrenamtliche Tätigkeit vorgeschlagen, dagegen konnte er doch wohl nichts einzuwenden haben. Viele Frauen aus ihren Kreisen engagierten sich in ehrbaren wohltätigen Einrichtungen.

Da hatte sie sich jedoch getäuscht, wie ihr Wesley schnell und unmissverständlich klar machte. Er wollte, dass sie jederzeit auf Abruf bereitstand, um ihn zu einer Vernissage, einem Geschäftsessen, einer Abendeinladung oder irgendeinem anderen gesellschaftlichen Ereignis zu begleiten. Er erwartete von ihr, dass sie stets perfekt zurechtgemacht war und die Kleider trug, die er für sie aussuchte. Er hatte nicht die Absicht, sie mit irgendjemandem zu teilen.

Weitere zwei Jahre lang bemühte sie sich, seine Erwartungen zu erfüllen. Gleichzeitig kämpfte sie gegen ihren Ärger darüber an, dass er ihr das Gefühl vermittelte, eher ein kostbares Sammlerstück als eine begehrenswerte Frau zu sein. Sie sehnte sich danach, einfach aufs Bett geworfen und leidenschaftlich und hemmungslos geliebt zu werden. Sie sehnte sich danach, dass jemand alle ihre Sinne zum Vibrieren brachte. Sie hasste es, mit dem Gefühl leben zu müssen, dass sie nicht intelligent genug war, um von ihrem hell erleuchteten Podest zu klettern und etwas Nützliches zu tun.

Als sie Wesley sagte, dass sie ein Kind wollte, und er sich weigerte, auch nur darüber zu reden, war das für sie der Anfang vom Ende.

Sie hatte sehr lange und gründlich darüber nachgedacht, bevor sie das Thema zur Sprache brachte. Sie hätte so gern ein Kind gehabt. Sie spürte so viel Liebe in sich, die nur darauf wartete, an jemanden verschenkt zu werden. Wesley selbst schien auf ihre Liebe verzichten zu können, aber bei einem Kind wäre das anders. Und sie hatte weiß Gott mehr als genug Zeit und Energie. Und schließlich wünschten sich doch alle Männer einen Erben, oder? Das war doch sicher ein Vorschlag, an dem Wesley nichts auszusetzen haben konnte?

Er konnte und sagte schlichtweg nein.

Warum?, hatte sie gefragt. Warum denn nicht?

Mit seiner Antwort hatte er den letzten Rest von Zuneigung zerstört, die sie noch für ihn empfand. Vergiss es, Aunie, hatte er in dem widerlichen Befehlston gesagt, der widerspruchslosen Gehorsam verlangte. Du wirst kein Kind bekommen. Das ruiniert bloß deine Figur.

Er hatte sie in der Vergangenheit schon öfter verletzt und wütend gemacht. Sie wusste, dass er bei allem, was er besaß, Perfektion anstrebte, aber bis zu diesem Augenblick war ihr nicht in den Sinn gekommen, dass sich das auch auf sie bezog. An dem Tag, als er ihren Vorschlag rundweg ablehnte, als er ihr diese ungeheuerliche Begründung dafür gab und sich anschließend von ihr abwandte, als hätte es sich nur darum gehandelt, eine unerhebliche Meinungsverschiedenheit mit einem seiner Angestellten in der Galerie beizulegen, begann sie jedoch darüber nachzudenken.

Sie besuchte ihre Mutter und sprach vorsichtig das Thema Scheidung an. Es war das erste Mal, dass sie diesen Gedanken laut aussprach, und wahrscheinlich hätte es sie nicht überraschen dürfen, dass ihre Mutter davon völlig befremdet war.

Ich kann so nicht weiterleben, Mama.

Sei nicht albern, Schätzchen. Du hast so viel Geld und gesellschaftliches Ansehen, wie eine Frau sich nur wünschen kann.

Mama, das reicht nicht, hast du mir denn überhaupt nicht zugehört? Ich bin für Wesley nichts weiter als ein hübsches Schmuckstück. Er will nicht, dass ich arbeite, er will keine Kinder. Außer wenn er mich jemandem vorführen will, benimmt er sich, als wäre ich gar nicht da. Das reicht mir einfach nicht, das musst du doch einsehen.

Ich sehe nur, dass du ein undankbares Kind bist.

Aunies Ehe schleppte sich noch ein paar Monate lang dahin, aber nachdem der Gedanke an eine Scheidung sich erst einmal in ihrem Kopf festgesetzt hatte, ließ er ihr keine Ruhe mehr. Schließlich kam der Tag, an dem die unablässig auf sie einflüsternde innere Stimme jedes Argument übertönte, das sie ihr hätte entgegensetzen können.

Sie ließ sich einen Termin bei einem bekannten Anwalt geben, Jordan St. John. Als Wesley an diesem Abend von der Arbeit nach Hause kam, teilte sie ihm mit, dass sie die Scheidung eingereicht hatte.

Von allen möglichen Reaktionen von seiner Seite hätte sie mit der, die folgte, am wenigsten gerechnet. Er lachte.

Ich meine es ernst, Wesley.

Mach dich nicht lächerlich. Und jetzt geh und zieh das rote Kleid von Scaasi an - ich habe für acht einen Tisch reserviert. Sie sah ihn noch vor sich, wie er mit seinen manikürten Fingern ungeduldig auf seine Rolex tippte und ein ärgerlicher Ausdruck auf seinem Gesicht erschien, als er sie musterte. Und mach um Himmels willen was mit deinem Make-up. So kannst du dich in der Öffentlichkeit nicht blicken lassen.

Als sie ihn schließlich davon überzeugt hatte, dass sie es wirklich ernst meinte, rastete er völlig aus. Er geriet so außer sich, dass sie glaubte, es müsste ihn jeden Moment der Schlag treffen. Er drohte ihr mit allen möglichen rechtlichen Konsequenzen und erklärte ihr, er würde dafür sorgen, dass sie ohne einen Cent und von der Gesellschaft geächtet dasitzen würde, falls sie darauf bestand, diese verrückte Idee weiterzuverfolgen.

Zu diesem Zeitpunkt war sie bereits so weit, dass ihr das alles egal war. Sie wollte einfach nur das Gefühl haben, dass sie noch etwas anderes vorzuweisen hatte als allein ihre Schönheit. Tief in ihrem Inneren wusste sie, dass das nicht der Fall sein würde und dass sie sich auch nie richtig lebendig fühlen würde, solange sie mit Wesley verheiratet war.

Also sagte sie ihm, er solle tun, was er nicht lassen könne.

Zu ihrer Verblüffung machte er daraufhin eine vollständige Kehrtwendung und erklärte sich mit einer einvernehmlichen Scheidung einverstanden. Plötzlich gab er sich wieder so zuvorkommend und liebenswürdig wie in der Zeit, als er um sie geworben hatte, und bestand darauf, dass sie das Haus und den Mercedes behielt. Er zog in seinen Club und beauftragte seinen Anwalt damit, eine großzügige Summe auf ihren Namen anzulegen. Aunie war von diesem abrupten Sinneswandel zwar überrascht, aber sie stellte ihn nicht in Frage. Sie war einfach nur dankbar, dass der Kampf ein Ende hatte. Als das Scheidungsurteil schließlich rechtskräftig war, glaubte sie, ein völlig neues, freies Leben läge vor ihr.

Dieses Gefühl sollte nicht lange anhalten.

***

James schaltete die Lampe an seinem Zeichenbrett ein, ließ sich auf den Schreibtischstuhl fallen und griff nach einem Bleistift. Zehn Minuten später warf er den Bleistift zur Seite und trommelte nervös gegen die geneigte Platte. Es wollte ihm einfach nichts einfallen. Verdammt noch mal. Er war unruhig und gereizt und konnte sich nicht richtig konzentrieren.

Er holte sich eine Flasche kaltes Dos Equis aus dem Kühlschrank und lief mit der geöffneten Flasche in der Hand unruhig durch seine Wohnung, es gab jedoch nichts, was seine Aufmerksamkeit länger als ein paar Sekunden auf sich gezogen hätte. Das Buch, das er letzte Nacht noch spannend gefunden hatte, kam ihm auf einmal langweilig vor, im Fernsehen lief nichts Interessantes, und die seligen Zeiten, als im Radio ein DJ mit sanfter Stimme seine Ansage machte und dann eine Seite einer LP ohne Unterbrechung durchlaufen ließ, waren auch schon lange vorbei. Er fand noch nicht einmal etwas zu essen in seinem Kühlschrank, worauf er Lust gehabt hätte.

James trank das Bier aus und griff nach seiner abgetragenen Lederjacke. Er musste für eine Weile hier raus, sonst drehte er noch durch.

Er machte kurz Halt beim Lebensmittelladen und kaufte ein paar Vorräte ein, wobei er mit Bedauern auf das Pfefferminzeis mit Schokosplittern verzichtete. Er hatte keine Lust, gleich wieder nach Hause zu fahren, und in der Zwischenzeit würde das Eis auf dem Rücksitz seines Jeeps nur zu einer klebrigen Pfütze zerlaufen. Nachdem er seine Einkäufe verstaut hatte, machte er sich auf den Weg in eine nahe gelegene Kneipe, in der es hervorragende Sandwichs mit kaltem Braten gab.

Sandwich, Bier und die Atmosphäre in der verrauchten, lauten Kneipe begannen Wirkung zu zeigen, und seine ungewohnte Anspannung ließ allmählich nach. Er legte einen Vierteldollar auf den Billardtisch, um sich in der Schlange der wartenden Spieler eine Partie mit dem derzeitigen Champion zu sichern, und bestellte sich noch ein Bier. Einen Ellbogen auf den Tresen gestützt, nippte er hin und wieder daran, während er die Gäste in der Bar beobachtete.

Die kleine Blonde neben der Musicbox erinnerte ihn ein bisschen an seine neue Mieterin, die Südstaatenschönheit. Sie hatte tatsächlich vor sich hin gesummt, als sie heute Nachmittag die Wand abgeschliffen hatte. Zwar konnte sie keine Melodie länger als ein paar Töne halten, aber wer hätte gedacht, dass jemand mit so viel Heiterkeit Staub schluckte? Vor allem jemand wie sie. Otis hatte Recht: Er hatte es ihr nur deshalb angeboten, weil er sie in Verlegenheit bringen wollte. Dass sie sofort darauf eingegangen war und sich so eifrig ans Werk gemacht hatte, hatte ihn umgehauen. Sie hatten Recht, Mister Ryder. Beim Abschleifen wird einem wirklich schön warm.

Ihm fielen auf Anhieb ein Dutzend andere Beschäftigungen ein, bei denen ihr warm geworden wäre und die wesentlich mehr Spaß gemacht hätten.

James holte tief Luft und verschluckte sich dabei so an seinem Bier, dass er husten musste. Wie zum Teufel kam er denn auf einmal auf solche Ideen? Zierliche, verletzlich wirkende Frauen waren nicht sein Typ, er stand auf große, vollbusige Frauen, die wussten, wo es langging, und nicht klüger waren als unbedingt nötig. Umkomplizierte, nette Frauen, die nicht mehr von ihm erwarteten als eine lustvolle Nacht.

Verdammt, er war einfach scharf, das war alles. Die nervöse Unruhe, die ihn aus seiner Wohnung getrieben hatte, rührte nur daher, dass er zu lange keinen guten, unkomplizierten Sex mehr gehabt hatte. Das war der einzige Grund, warum vor seinem geistigen Auge plötzlich lebhafte Bilder von dem Südstaatenzwerg in strahlendem Technicolor erschienen waren.

Er nahm einen Schluck von seinem Bier und hielt die kühle Flasche an seine erhitzte Stirn.

»Hallo, James.«

James ließ die Flasche sinken und sah sich unvermittelt einem wahrhaft beeindruckenden Dekollete gegenüber, das sich ihm aus einem dünnen, enganliegenden Top unter einer offenen Jacke entgegenwölbte. Ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus und überzog es mit unzähligen Falten. Sehr gut. Das kam der Sache schon näher. Er hob seinen Blick. »Shelley! Wir haben uns ja ewig nicht mehr gesehen. Setz dich. Darf ich dich auf einen Drink einladen?«

Sie lächelte erfreut und ließ sich auf den Barhocker neben ihm gleiten. »Danke, gern. Ich nehme ein Glas Weißwein.«

James winkte dem Barkeeper.

Je weiter der Abend voranschritt, desto mehr fand er zu seinem normalen Zustand zurück. Er flirtete, lachte und machte Witze. Den flüchtigen Gedanken, dass Shelleys Haut nicht so zart und glatt war, wie er sie in Erinnerung hatte, verdrängte er genauso schnell wieder, wie er aufgetaucht war. Stattdessen genoss er es, wie sie ihren üppigen Busen gegen seinen Arm presste, während sie sich unterhielten, und ihn anfeuerte, als er gegen den Billardchampion antrat. Leider nutzte es nicht besonders viel. Der Typ war einfach zu gut, und nach einer Partie war die Sache für James gelaufen. Er konnte froh sein, dass nur noch zwei seiner Kugeln auf dem Tisch lagen, als der andere die Acht versenkte ... wenigstens hatte er sich nicht völlig blamiert. Shelleys Tröstungen taten ein Übriges, ihn seine Niederlage verschmerzen zu lassen.

Es war schon ziemlich spät, als er sich zu ihr beugte und mit den Lippen über ihr Ohrläppchen strich. »Nimmst du mich mit zu dir?«, fragte er leise. »Du könntest mir all diese neuen Farben zeigen, von denen du mir vorhin erzählt hast.« Shelley arbeitete in einem Nagelstudio, das sich auf Neonfarben spezialisiert hatte.

»Ach James, das geht leider nicht. Ich habe zusammen mit meiner Mitbewohnerin mein Zimmer neu gestrichen und muss heute Nacht auf der Couch im Flur schlafen.«

Sie beugte sich vor und presste dabei erneut ihre Brüste gegen seinen Oberarm. »Lass uns zu dir gehen.«

Einen kurzen Augenblick lang war James versucht, seine eiserne Regel zu brechen: Nimm niemals eine Frau mit nach Hause. Immerhin hatte Shelley genau das zu bieten, worauf er gerade Lust hatte.

Aber gleich darauf war dieser Augenblick auch schon wieder vorbei. »Ah, das geht auch nicht. Bei mir übernachtet heute einer meiner Brüder.« War eine Frau erst einmal über Nacht geblieben, machte sie es sich nach seiner Erfahrung sofort zur Gewohnheit, dauernd unangemeldet aufzukreuzen und sich häuslich einzurichten. Schließlich endete es jedes Mal damit, dass er ihre Gefühle verletzte, wenn er ihr erklärte, er lege keinen Wert darauf, dass jemand für ihn kochte oder sein Wohnzimmer aufräumte. Oder schlimmer noch, sie entdeckte eine seiner Arbeiten auf dem Zeichenbrett, schloss daraus, wer er war, und dann fingen die Schwierigkeiten erst richtig an.

Lola zufolge war er ein echter Chauvinist, aber so war es eben. Er konnte auf diesen Beziehungskram verzichten.

James verbrachte noch eine weitere Stunde mit Shelley, doch als er sich dann auf den Nachhauseweg machte, tat er das allein.

Das war einfach nicht sein Tag gewesen.