1
NATASHA
Natasha begegnete Daniel zum ersten Mal bei einer Galerieeröffnung, die sie zusammen mit einer Freundin besucht hatte. Es war viel los gewesen: Lauter Z-Promis, die für die Kameras posierten und so taten, als würden sie die knallbunten Kunstwerke, die Teil der Eröffnung waren, verstehen oder sogar mögen. Sie erhaschte einen Blick auf ihn, als er mit dem Galeriebesitzer Jason im Gespräch war, und zwängte sich zu ihnen durch die Menge. Sie war noch nie die Art von Frau gewesen, die sich vor etwas drückte oder sich die Mühe machte, subtil zu sein. Nachdem sie Jason zur Eröffnung gratuliert und ihm alles Gute für seinen weiteren Erfolg gewünscht hatte, wandte sie sich dem Mann neben ihm zu und streckte ihre Hand aus.
„Natasha.“
„Daniel.“ Er schüttelte ihre Hand und zog sie zur Seite, als eine Gruppe mit schrillen Freudenschreien, Luftküsschen und Schulterklopfen lautstark über Jason herfiel.
So hatte Natasha die Chance, sich Daniel aus der Nähe anzusehen. Aus der Distanz hatte er interessant gewirkt. Markant, gut aussehend, frisch rasiert, sein Haar kurz geschnitten. Von Nahem erinnerte er sie an einen jungen Sean Connery. Später wurde ihr klar, dass sie nicht die Erste gewesen war, die das so sah. Irgendwann bemerkte sie, dass er alle James-Bond-Filme gesehen hatte und absichtlich den Look des Spions kopierte. Das fand sie durchaus amüsant. Sie hatte zunächst angenommen, dass er so seine einfühlsame Seite zeigte, und war deswegen nur noch mehr von ihm fasziniert.
Als ihr endlich klar wurde, dass er nicht eine einzige einfühlsame Ader in seinem durchtrainierten Körper hatte und dass alles, was er tat oder sagte, nur mit Hintergedanken geschah, war es bereits zu spät; er hatte sie in seinen Bann gezogen. So geblendet sie auch von seinem Charme, Charisma und unübersehbar guten Aussehen gewesen sein mochte, kannte sie dennoch genau seine Fehler. Aber das war in Ordnung; ihre schienen ihn nicht zu interessieren.
Eine Woche, nachdem sie sich kennengelernt hatten, war er ihre Begleitung bei einer Party im Haus ihrer Freundin Michele. Sie, Barbara und Tracy Ann waren Natashas engste Freundinnen seit der Uni. Wenn Daniel Teil ihres Lebens sein sollte, dann auch von dem ihrer Freundinnen.
„Ich mag deine Freundinnen“, sagte er, als sie in den frühen Morgenstunden auf dem Rückweg zu seiner Wohnung waren. Nach den vielen Stunden auf den Beinen und dem vielen Alkohol, den sie getrunken hatten, waren sie ziemlich müde.
„Sie sind gute Menschen“, sagte sie. „Ihre Ehemänner stehen sich auch nahe, was durchaus Vorteile hat. Während wir an unseren Mädelsabenden unterwegs sind, machen sie auch oft was gemeinsam. Don nennt das den Ehemann-Club.“ Sie freute sich, dass Daniel ihre Freundinnen mochte. Während das Taxi durch die regnerischen Straßen Londons navigierte, beantwortete sie daher bereitwillig all seine Fragen über sie. „Barbara ist die einzige der Ehefrauen, die arbeitet, als Krankenhaussekretärin. Don leitet sein eigenes Buchhaltungsunternehmen. Blake ist Beamter und arbeitet in Number 10 für den Premierminister, alles top secret, du verstehst.“ Diesem letzten Teil folgte ein betrunkenes Kichern.
Daniel lächelte und hielt ihre Hand fester. „Und Ralph?“
„Er hat als Auslandskorrespondent für die BBC gearbeitet, als er Barbara getroffen hat. In den letzten paar Jahren war er als Journalist für eine Zeitung tätig. Jetzt ist er seit ein paar Monaten im Ruhestand.“
„Interessante Leute“, sagte Daniel. „Ich mag sie.“
Sie war überrascht. Ihre Freundinnen waren nett, keine Frage, aber sie waren gewöhnlich, vielleicht sogar etwas langweilig. Sie waren auf jeden Fall nicht mit den dynamischen Macherinnen zu vergleichen, die sie an Daniels Seite bei anderen Partys und Abendveranstaltungen kennengelernt hatte. Vielleicht war es ein Fall von Gegensätze ziehen sich an. Es spielte nicht wirklich eine Rolle, ob er sie mochte oder nicht; es würde die Dinge aber einfacher machen.
Als das Taxi vor Davids Wohnblock anhielt, stiegen sie aus und rannten schnell durch den starken Regen unter das Vordach der Eingangstür. Seine Wohnung war ein Penthouse mit drei Schlafzimmern, drei Badezimmern und Ausblick über die Themse. Als sie das erste Mal hier gewesen war, hatte es ihr beinahe die Sprache verschlagen. Sie wusste, dass Daniel im Finanzwesen arbeitete; das wurde offensichtlich gut bezahlt. Im Gegensatz dazu war eine Einzimmerwohnung nicht weit entfernt vom Krankenhaus, in dem sie als Leiterin der Intensivstation arbeitete, alles, was sie sich mit dem Gehalt einer Krankenschwester leisten konnte. Ihre Wohnung hätte locker in das kleinere Schlafzimmer des Penthouses gepasst.
Nachdem sie ein paar Nächte mit ihm verbracht hatte, ließ sie nach und nach immer mehr ihrer Sachen bei ihm. Eher beiläufig zunächst. Ein Pullover, den sie ausgezogen hatte, weil es zu warm war, ein Ersatzkittel, damit sie von seiner Wohnung direkt zur Arbeit gehen konnte, und ihr Kleid, das sie im begehbaren Kleiderschrank des großen Schlafzimmers hängen ließ.
Während der kommenden Wochen fanden immer mehr ihrer Habseligkeiten in seinen Kommoden und Schränken einen Platz. Sie hätte nicht gedacht, dass er es überhaupt bemerkte, bis er eines Morgens mit einem hautengen schwarzen Kleid in der Hand in das Schlafzimmer kam. Sie war ins Bett gekuschelt und noch nicht ganz wach.
„Ich weiß, das ist keines von meinen.“ Er hielt das Kleid hoch.
Sie sah ihn verschlafen an und war sich nicht sicher, wie sie seinen Tonfall einschätzen sollte. War er genervt? „Es ist für morgen Abend. Ich arbeite bis achtzehn Uhr, also muss ich direkt herkommen, um mich umzuziehen. Ich hoffe, das geht in Ordnung.“
„Natürlich. Ich bin schon gespannt, wie du darin aussiehst. Es ist sehr sexy.“ Er saß am Bettrand, das Kleid war auf seinem Schoß zusammengeknüllt. „Wir sind ein gutes Team. Ich mag es, dass du deine Arbeit hast und nicht erwartest, dass ich immer Zeit für dich habe. Ich weiß, wir sehen uns erst seit ein paar Monaten, aber ich kann erkennen, wenn etwas gut funktioniert.“
Sie hielt den Atem an und ihre Finger umfassten die Bettdecke fester. Würde er ihr einen Antrag machen? Er war die letzten paar Wochen über unglaublich aufmerksam gewesen. Sie begann, sich zu fragen, ob er nicht die Antwort auf all ihre Gebete war.
„Warum ziehst du nicht bei mir ein?“ Er winkte mit der Hand im Zimmer herum. „Hier ist genügend Platz. Ich weiß, es ist nicht ganz so praktisch für deinen Weg ins Krankenhaus, aber für sowas wurden ja Taxis erfunden.“
Kein Antrag, eher ein Angebot. Das sollte für den Moment reichen. „Ich kann es mir nicht leisten, jeden Tag mit einem Taxi ins Krankenhaus zu fahren, Daniel. Bitte bleib realistisch.“
Er rutschte aufs Bett und nahm ihre Hand.
„Du kannst es nicht; ich aber. Wenn das bedeuten würde, dass du jeden Tag hier bist und auf mich wartest, wäre es mir das wert.“ Sein Handy vibrierte und nach einem schnellen Kuss auf ihre Wange nahm er den Anruf an. Seine ganze Aufmerksamkeit galt unmittelbar der Person am anderen Ende der Leitung. Er warf ihr Kleid, das er immer noch in der Hand hielt, auf einen Stuhl und ging aus dem Zimmer.
Ja, sie konnte verstehen, warum er es mögen würde, sie hierzuhaben. Sie war sich durchaus bewusst, dass sie attraktiv und gut in Form war. Sie war natürlich auch intelligent, aber sie war sich nicht sicher, ob ihm das so wichtig war. Er mochte es, eine glamouröse Frau bei den vielen Events, die er besuchte, an seiner Seite zu haben, mochte es, dass jemand da war, mit dem er zu Abend essen konnte. Er mochte auf jeden Fall den Sex.
Sie stieg aus dem Bett, nahm das zerknüllte Kleid, schüttelte es auf und hängte es wieder in den Schrank. Als sie die Schlafzimmertür öffnete, konnte sie hören, wie Daniel ohne Punkt und Komma redete. So wie immer, wenn er mitten in einem Deal steckte. Er hatte eines der drei Schlafzimmer in sein Arbeitszimmer umfunktioniert. Sie huschte daran vorbei und in eine riesige, offene Wohnküche, die sich über die gesamte Breite der Wohnung erstreckte.
Natürlich besaß er eine vollausgestattete Kaffeemaschine. Natasha machte sich eine Tasse und nahm sie mit ans Fenster, um von dort aus den Blick über die Stadt zu genießen. Es war ein atemberaubender Ausblick. Sie könnte sich sehr schnell daran gewöhnen, hier zu leben. Sie drehte sich um und ließ ihren Blick wandern. Für all das hier könnte sie durchaus die Frau seiner Träume sein. Schön, charmant, anspruchslos.
Er war nicht das, was sie für ihr Leben geplant hatte. Früher hatte sie es geliebt, als Krankenschwester zu arbeiten. Aber die Genugtuung, der Respekt und das Gefühl, dass das, was sie tat, von Wert war, waren komplett verschwunden. Vielleicht war es an der Zeit, sich geschlagen zu geben. Sie könnte die langen Arbeitsstunden, die unmöglich zu erfüllenden Anforderungen, die immer größer werdende Belastung und die ständigen Sorgen, mit dem überschaubaren Gehalt einer Krankenschwester auskommen zu müssen, endlich hinter sich lassen.
Sie war immer der Meinung gewesen, dass Ehe und Kinder nur etwas für andere Frauen wären. Jetzt war das Leben ihrer verheirateten Freundinnen genau das, was sie wollte.
Daniels Angebot war der Anfang vom Ende. Sie würde es annehmen und sich selbst die Zukunft sichern, die sie verdiente.
2
NATASHA
In Daniels Wohnung zu ziehen, machte Natashas Leben nicht einfacher – sogar mit dem Taxi war das Pendeln zur Arbeit anstrengend –, wenn auch durchaus bequemer. Und es war einfach, mit Daniel zusammenzuleben. Sie bekam ihn zwar viel seltener zu Gesicht, als sie es erwartet hatte, aber wenn er dann mal da war, behandelte er sie wie eine Königin. Wenn sie bis spät abends arbeitete, bestellten sie Essen nach Hause. Wenn sie frei hatte, dann gingen sie zum Essen aus.
„Ich koche heute Abend“, sagte sie eines Morgens. Es war ihr freier Tag und außer ein paar Stunden im Fitnessstudio hatte sie nichts weiter geplant.
Er schüttelte den Kopf, schaute auf seine Uhr und nahm einen letzten Schluck aus seiner Kaffeetasse. „Nein, es gibt da ein neues Restaurant, das ich unbedingt ausprobieren will. Ich habe einen Tisch für uns auf zwanzig Uhr bestellt. Wenn ich spät dran bin, können wir uns direkt dort treffen. Aber ich geb dir deswegen noch mal genauer Bescheid, ja?“
„Okay.“ Sie zuckte mit den Schultern. Es erschien ihr kleinlich, dass sie sich darüber beschweren wollte, weil er sie wegen des Restaurants nicht mal gefragt hatte oder weil er sie nie zu ihren gemeinsamen Plänen befragte. Er bezahlte ja schließlich immer die teuren Abendessen und Taxifahrten hin und zurück. Früher hätte sie es gehasst, so bevormundet zu werden, aber in letzter Zeit war sie eher bereit dazu, den einfachen Weg zu wählen.
„Du bist ausgebrannt“, sagte ihre Freundin Barbara, als sie ein paar Tage später zu Besuch war. „Du bist in letzter Zeit nicht du selbst gewesen. Du solltest dir freinehmen, in den Urlaub fahren. Vielleicht eine Therapie machen.“
Sie saßen in Daniels Wohnung, tranken Prosecco und aßen Cocktailhäppchen, die Natasha am Tag zuvor in einem Delikatessengeschäft um die Ecke gekauft hatte. Sie griff nach ihrem Glas und lächelte. „Ausgebrannt? Sehe ich so aus, als wäre ich ausgebrannt?“ Sie zeigte mit dem Glas in der Hand auf die große Wohnung um sie herum. „Ich meine, schau mich an!“
„Es ist fabelhaft hier und es ist toll, dass du glücklich mit Daniel bist, aber …“ Barbaras Stimme versagte und sie schüttelte den Kopf. „Vergiss es.“
„Nein“, sagte Natasha und versuchte, ihre Wut im Zaum zu halten. „Aber was?“ Sie waren schon so lange befreundet, waren die Art von Freundinnen, die sich alles ohne Konsequenzen sagen konnten. Oder war das nur ihre Sicht auf die Dinge? Ihre drei Freundinnen hatten alle innerhalb eines Jahres nach dem Uniabschluss geheiratet, fast zwanzig Jahre vor ihr. Tracy Ann hatte einen alten Freund geheiratet, Barbara und Michele wählten Männer, die sie bei der Arbeit kennengelernt hatten. Tracy Ann und Michele hatten zweifelsohne wunderhübsche Kinder bekommen, während Barbara mit Elan in die Rolle der Stiefmutter schlüpfte, da ihr neuer Ehemann eine junge Tochter mit in die Ehe gebracht hatte. Sie alle drei waren konservative Frauen der Mittelklasse, die manchmal nah dran an langweilig waren. Bis vor Kurzem hatte Natasha ihre Leben nie beneidet, aber sie wusste, dass sie oft neidisch auf ihres gewesen waren. War es das? Wollten sie nicht, dass sie sesshaft wurde, weil sie ihnen dann nicht länger Geschichten über ihr aufregendes Singleleben erzählen konnte und ihre Fantasien über Natashas Leben ohne Ehemann und Kinder der Vergangenheit angehören würden? Hatten sie sich in all den Jahren vorgestellt, wie sie mit einem von Natashas vielen Freunden im Bett waren, während sie Sex mit ihren eigenen langweiligen Ehemännern hatten?
„Aber was?“, sagte sie nochmal. „Los komm schon, raus damit; du weißt, dass du es willst!“ Das war nicht fair von ihr. Unter den vier Freundinnen war Barbara diejenige, die am wenigsten lästerte oder irgendwie gemein war. Natasha verspürte zwar einen Hauch von Schuld, weigerte sich aber aus Trotz, sich diesen einzugestehen. „Ich warte gespannt.“
Barbara griff nach der Flasche und füllte ihr Glas auf. Sie ließ sich Zeit, um zu antworten. Vielleicht war sie auch besonders darauf bedacht, die richtigen Worte zu wählen. „Bist du dir sicher, dass er der richtige Mann für dich ist? Dass du dich nicht nur an ihn klammerst, weil er dir ein Gefühl von Sicherheit gibt? Du hast mehr als einmal in den letzten Monaten erwähnt, wie schwierig dein Job geworden ist. Immer unterbesetzt, die Patienten und ihre Familien immer anspruchsvoller. Der ständige Druck. Ich war dabei, als du am Telefon geweint hast. Das wirkt sich auch auf deine körperliche Gesundheit aus. Du hast Gewicht verloren. So sechs Kilo? Mehr?“
Da sie eine Antwort zu erwarten schien, zuckte Natasha mit den Schultern. „Etwas mehr.“
„Du warst schon immer dünn; jetzt bist du es bis auf die Knochen.“ Barbara griff nach ihrem Glas und nippte daran. „Aber es ist dein Kopf, deine mentale Gesundheit, die mir Sorgen macht –“
„Was?“ Natasha war zum Teil überrascht, teils schrecklich wütend.
Barbara hob abwehrend die Hand. „Hör mir zu, bitte.“
„Okay.“ Die Wut ließ ihre Stimme zittern.
„Ich war schon immer von deiner Hingabe beeindruckt, deinem Fokus, deinem starken Charakter. Von uns vieren warst du die einzige, für die das wahrgeworden zu sein schien, von dem wir alle geträumt hatten. Während unserer Unizeit haben wir ständig davon gesprochen, dass wir so viel in der Zukunft erreichen wollten. Tracy Ann, Michele und ich.“ Barbara schüttelte den Kopf und lächelte reumütig. „Keine von uns konnte ihre Träume wahrmachen. Wir drei sind gescheitert, oder? Das ganze Gerede über unsere Karrieren, unsere Vorstellungen für die Zukunft, das hat sich alles so schnell in Luft aufgelöst, als wir uns verliebt haben. Wir haben geheiratet und das war’s dann; wir sind Hausfrauen geworden.“
„Du hast einen Job –“
„Ja, und ich habe mir die Stunden frei eingeteilt, als Anna jung war und mich gebraucht hat. Ich habe nur gearbeitet, wenn es in meinen Zeitplan gepasst hat. Ich habe immer noch Spaß am Beruf und die Frauen, mit denen ich zusammenarbeite, sind großartig, aber ich bin eine Krankenhaussekretärin, keine Anwältin. Das war eigentlich mal mein Traum, erinnerst du dich?“
Das tat Natasha. Barbara hatte davon geträumt, Anwältin zu werden, Tracy Ann wollte Journalistin werden und Michele sah sich als Steuerberaterin. Nur Natasha war genau das geworden, was sie wollte. Die vier hatten sich bei einem Debattierclub während ihres ersten Jahres an der Uni kennengelernt und obwohl sie verschiedene Fächer studierten, waren sie Freundinnen geworden. Wie viele Stunden hatten sie damit verbracht, gemeinsam über ihre Zukunft zu sprechen? „Wir alle hatten damals große Träume.“
„Aber du hast deine wahr werden lassen. Du leitest eine hektische Intensivstation. Ein besonders herausfordernder Job, für den du wie geschaffen bist.“ Barbara stellte ihr Glas ab und lehnte sich näher zu ihr. „Du bist nie Kompromisse eingegangen; das habe ich immer an dir bewundert. Ich weiß, dass Michele und Tracy Ann das ähnlich sehen. Es ist so, als ob du unser aller Traum lebst; ergibt das Sinn?“
Natasha nickte. Es war genau das, was sie sowieso gedacht hatte. Sie war sich sicher, dass Barbara noch nicht fertig war, also antwortete sie nichts darauf.
„Über die letzten paar Jahre hat dich der ständige Stress bei der Arbeit verändert.“
„Mich verändert!“ Natashas Lachen hallte laut. Ein falsches, verächtliches Geräusch, das Barbaras Einschätzung zu bestätigen schien. „Ich bin dieselbe wie immer.“
„Bist du das?“ Barbara wedelte mit der Hand durch den Raum. „Du bist innerhalb weniger Wochen bei Daniel eingezogen. Du gehst jeden Abend in der Woche in einem teuren Restaurant essen. Du sprichst kaum noch über die Arbeit, obwohl du früher nicht damit aufhören konntest, von deinen Patienten und wie beschäftigt du warst zu erzählen. Es ist so, als ob du dich in eine von uns verwandelt hast.“
Dieses Mal war Natashas Lachen echt. „Das klingt bei dir wie die größte Beleidigung.“ Sie griff nach der Flasche und goss das letzte bisschen Prosecco in ihr Glas. „Vielleicht hatte ich einen Sinneswandel.“ Sie hob ihr Glas und prostete Barbara zu. „Vielleicht habe ich ja nur den richtigen Kerl gebraucht. Wir sind ein wirklich gutes Team.“
„Was passiert aber, wenn er bemerkt, dass dein wahres Ich nicht so fügsam und unbeschwert ist, wie er denkt, Tash? Was passiert, wenn er bemerkt, dass du eine ehrgeizige, karriereorientierte Frau bist, was dann?“
Natasha lächelte, aber antwortete nicht. Sie hätte sagen können, dass sie mit dieser neuen Version von sich selbst äußerst zufrieden war, oder sie hätte die Wahrheit sagen können: dass, wenn Daniel herausfinden würde, wer sie wirklich war, es bereits zu spät wäre.
3
NATASHA
Anfangs hatte Natasha nicht geglaubt, dass ihre Beziehung mit Daniel halten würde. Sogar als sie sich verliebt hatte – nicht in ihn, sondern in seine fabelhafte Wohnung –, konnte sie das Ende bereits kommen sehen. Sie ging davon aus, dass er das ähnlich sehen würde. Aber dann – und sie war sich nicht sicher, wann diese Veränderung eingetreten war – wurde er aufmerksamer, romantischer. Sie fragte sich, ob er nicht doch genau das war, was ihr Leben zum Besseren verändern würde. Als er sie gebeten hatte, bei ihm einzuziehen, musste sie nicht lange überlegen.
Während der nächsten Wochen traf sich Natasha ein paar Mal mit ihren Freundinnen. Wenn entweder Tracy Ann oder Michele eine ähnliche Meinung wie Barbara über Daniel hatten, dann erwähnten sie es nicht. Und wenn dann doch mal vielsagende Blicke zwischen ihnen ausgetauscht wurden, ignorierte Natasha diese einfach. Sie hatte gelernt, dass das Leben einfacher war, wenn sie Dingen, denen sie sich nicht stellen wollte, keine Aufmerksamkeit schenkte.
Bei der Arbeit war das die einzige Möglichkeit, durchzuhalten. Zum Glück war es ihr als Stationsleiterin möglich, den Großteil der Arbeit zu delegieren und sich in ihrem Büro hinter dem eingeschalteten Computer zu verstecken. Immer mit den Fingern auf der Tastatur, damit es so aussah, als wäre sie beschäftigt – sollte doch mal jemand unverhofft einen Blick durch die Fenster oder die offene Tür werfen. Niemand wusste, dass sich auf dem Bildschirm stundenlang nichts tat.
Nach einem besonders anstrengenden Tag kam sie spät nach Hause, wo geliefertes Essen, eine geöffnete Flasche Rotwein und ein lächelnder Daniel auf sie warteten.
„Du siehst ausgelaugt aus“, sagte er. „Los, zieh dir was Bequemes an. Ich stelle dir schon mal was zu essen hin.“
Sie hatte nichts zu Mittag gegessen und der Geruch ließ ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen. „Gerne, gib mir zwei Minuten.“
In ihrem Schlafzimmer zog sie ihre Jeans und ihr Sweatshirt aus – das Outfit, das sie nach dem Duschen bei der Arbeit angezogen hatte – und warf die Klamotten in den Wäschesack. Wenn er was Bequemes sagte, dann meinte Daniel etwas Verführerisches und Aufreizendes und nicht den Baumwollschlafanzug, den sie bevorzugt hätte. Es hing ein Morgenmantel aus Seide hinter der Badezimmertür. Der würde ausreichen.
„Das riecht lecker“, sagte sie, als sie barfuß durch das Wohnzimmer zum Tisch ging, auf dem bereits das Essen wie auch der Rotwein angerichtet waren. Eigentlich hätte sie einen Weißwein bevorzugt, aber ihm das zu sagen, dafür war es jetzt zu spät.
„Ich habe Thai bestellt“, sagte er und schob ihr den Stuhl hin. Sie setzte sich und er nahm ihr gegenüber Platz.
Es war auch zu spät, ihn wissen zu lassen, dass sie Indisch oder Chinesisch bevorzugt hätte. Oder sogar eine verdammte Pizza. Er mochte Thai, sie nicht. Mit der Gabel pikste sie in ein Stück Schwein mit etwas mehr Kraft, als nötig, sodass die Zacken über den Teller quietschten.
Er schob sich einen Happen Essen in den Mund und schaute sie dann besorgt an. „Ist alles in Ordnung?“
Sie trank einen Schluck aus ihrem Glas, bevor sie antwortete. „Entschuldige, es war mal wieder einer dieser Tage.“ Er musste nicht erfahren, dass in letzter Zeit jeder Tag einer dieser Tage gewesen war. Sie versuchte, zu lächeln. „Das ist toll; danke, dass du das alles für mich gemacht hast.“
Er hob sein Glas und streckte es über den Tisch, um leicht gegen ihres zu stoßen. „Ich wollte eigentlich warten, bis wir in einem schicken Restaurant sind, aber vielleicht ist auch jetzt der ideale Zeitpunkt.“ Er stellte das Glas ab, griff nach ihrer Hand und umschloss ihre Finger sanft. „Willst du mich heiraten, Natasha?“
Sie schaute auf ihre ineinander verschränkten Hände. Das war, was sie wollte, oder? Keine Zukunftssorgen mehr. Er würde ein guter Ehemann sein und sie eine gute Ehefrau. „Ja, ich will.“
Daniel grinste, zog ihre Hand zu sich und küsste sie auf den Handrücken. „Du hast mich zum glücklichsten Mann der Welt gemacht.“
Um den Anlass zu feiern, bestand er darauf, eine Flasche Champagner zu öffnen. Er ließ den Korken laut knallen und lachte leicht manisch, als der Schaum über seine Hand spritzte. Er wischte seine Finger achtlos an der Tischdecke ab und schenkte den Champagner in die dazugehörigen Gläser ein. „Auf uns“, sagte er und stieß mit seinem Glas gegen ihres.
„Auf uns“, wiederholte sie seine Worte und stürzte, so wie er, das Getränk hinunter. Dann streckte sie ihm das Glas entgegen, damit es wieder aufgefüllt werden konnte. Zwei Gläser auf leeren Magen waren vielleicht nicht gerade das Vernünftigste, denn der Alkohol stieg Natasha direkt in den Kopf. Oder vielleicht war es besser so. So ein bisschen angeschickert konnte sie sich ganz einfach hinsetzen, ein Lächeln aufsetzen und allem zustimmen, was Daniel vorschlug: die unkomplizierte Hochzeit im Standesamt so schnell wie möglich, die anschließende kurze Hochzeitsreise und ein längerer Urlaub zu einem späteren Zeitpunkt, wenn er nicht so beschäftigt sein würde.
Sie sprachen über viele Dinge. Sie war sich nicht sicher, ob er überhaupt die eine Sache, die sie beide nicht ein einziges Mal erwähnten, bemerkte.
Keiner von beiden sprach davon, verliebt zu sein.
4
NATASHA
Daniel überließ Natasha die Vorbereitungen der Hochzeit. Wenn ihre Freundinnen das alles ein wenig überstürzt fanden, dann behielten sie es für sich. Sie hatten sicher viel hinter ihrem Rücken zu besprechen, aber von Angesicht zu Angesicht war sogar Barbara ungewöhnlich still. Ihre Freundinnen kamen mit ihren Ehemännern ins Standesamt. Die einzigen anderen Personen, die auch dabei waren, waren Natashas Eltern. Daniel war traurig, dass seine Mutter und sein Bruder, die beide in den USA lebten, nicht kommen konnten.
Im Anschluss an die Hochzeit gingen sie alle in eines der Lieblingsrestaurants des Ehepaares. Es war sehr gesellig und fröhlich. Natashas Eltern liebten Daniel. Jetzt, da sie eine Ehefrau statt nur einer Freundin war, schienen sogar ihre Freundinnen Daniel gegenüber freundlicher eingestellt zu sein und ihn akzeptiert zu haben. Ihre Ehemänner waren es auf jeden Fall. In der Bar, in die sie nach dem Hochzeitsessen gegangen waren, war Natasha mehr als nur einmal aufgefallen, dass sie tief in ein Gespräch versunken waren.
„Ich sehe, du wurdest in den Ehemann-Club aufgenommen“, sagte sie, als sie ihn alleine erwischte. „Sie werden dich bald in den Pub und zum Rugby mitschleppen.“
„Hört sich gut an für mich. Und du kannst mit den anderen Ehefrauen in Kunstgalerien oder zum Shoppen gehen.“
Die anderen Ehefrauen? War es das, was aus ihr geworden war? Und war das nicht genau das gewesen, was sie wollte? Sie versuchte alles, damit ihre Worte nicht allzu bitter klangen, als sie antwortete: „Ich, mein liebster Ehemann, werde arbeiten gehen.“
„Aber nicht jetzt“, sagte er und zog sie in seine Arme. Das war das Ende der Unterhaltung, aber nicht das Ende der Gedanken, die durch Natashas Kopf ratterten.
Sie flogen am nächsten Morgen für ein paar Tage nach Venedig und genossen einen sehr luxuriösen Aufenthalt im Gritti Palace, einem der nobelsten Hotels der Stadt. Es war fast schon romantisch. Tatsächlich war Natasha so nah dran, sich endlich in ihren Ehemann zu verlieben, wie noch nie zuvor.
„Das ist ein so tolles Hotel“, sagte sie, stand auf dem kleinen Balkon ihres Zimmers und genoss die Aussicht auf den Canal Grande.
„Die beste Unterkunft in Venedig“, sagte er und legte seine Arme von hinten um ihre Hüfte.
Sie lehnte sich an ihn. „Kommst du oft hierher?“ Es wurde ihr in diesem Moment bewusst, wie wenig sie eigentlich über ihn wusste.
„Ein- oder zweimal im Jahr. Ich habe ein paar Klienten, die in Venedig Urlaub machen. Also treffe ich sie gewöhnlich hier. Es ist einfacher, einen guten Deal mit Leuten abzuschließen, die entspannt sind. Es wäre toll, wenn du mitkommen könntest; ihre Partnerinnen fühlen sich oft etwas verloren, wenn wir über Geschäftliches sprechen.“
„Das würde mir sehr gefallen.“ Sie drehte sich in seinen Armen und küsste ihn auf die Wange. „Es ist aber nicht immer einfach, bei der Arbeit freizunehmen. Ich muss das weit im Voraus planen und sogar dann ist es vielleicht schwierig.“ Sie drehte sich wieder um und lehnte sich mit einem Seufzer an ihn. „Dennoch eine Schande. Ich mag es, zu reisen. Es wäre so schön, das mit dir zu tun.“ Schön, ihren Job zu kündigen, niemals mehr über die Türschwelle des Krankenhauses gehen zu müssen. Sie wollte es laut aussprechen, aber sie war sich nicht sicher, ob er es verstehen würde. Sie war sich sowieso nicht sicher, ob sie überhaupt erklären konnte, warum die Arbeit, die ihr einst so sehr am Herzen gelegen hatte, so schlimm geworden war.
Daniel küsste ihren Nacken und umarmte sie fester. „Es würde mir viel bedeuten, wenn du bei mir wärst. Musst du arbeiten? Wenn es wegen des Geldes ist, musst du dir keine Sorgen machen.“
Das war, was sie gehofft hatte, zu hören. Aber sie musste Nägel mit Köpfen machen. „Und mich aushalten lassen?“ Sie drehte sich wieder um und starrte mit einem Lächeln in seine haselnussbraunen Augen. „Und dich wegen jedes Cents fragen? Ich bin mir nicht sicher, dass ich das könnte. Hast du außerdem nicht gesagt, dass es dir gefällt, dass ich meine eigene berufliche Karriere habe?“
Er runzelte die Stirn. „Das habe ich, oder? Aber wir sind ein gutes Team; ich mag es, wenn du bei mir bist.“ Er küsste sie sanft auf die Lippen. „Du würdest nicht nach Geld fragen müssen. Ich würde dir eine Kreditkarte für mein Konto geben und du könntest ausgeben, was du willst. Ich verdiene genügend Geld, damit du dir kaufen kannst, was du möchtest, Tasha.“ Er lächelte und zog eine Augenbraue hoch. „So lange du natürlich nicht losrennst und Ferraris und Porsches kaufst.“
„Vielleicht das eine oder andere Chanel-Jäckchen oder ein Paar Louboutin-Schuhe.“
„Das Geld könnte für sowas schon in Frage kommen.“ Er küsste sie nochmal, heftiger dieses Mal. Der Kuss wurde intensiver, bis er stöhnte und sie mit der Hand zurück zum Bett zog.
„Also, was denkst du?“, fragte er sie etwas später, als die Sonne, die vor Kurzem noch durch die offenen Balkontüren geschienen hatte, untergegangen war. Das Geräusch einer Stechmücke ließ ihn leise fluchen und anschließend aus dem Bett springen. Er schloss die Türen, sah sich nach dem störenden Insekt um und knallte es mit einer Hand gegen die Wand.
Natasha war von seinem Gesichtsausdruck überrascht. Normalerweise so liebenswert, sah er für eine Sekunde fast teuflisch aus. Eine optische Täuschung. Sie schüttelte den Gedanken wieder ab.
„Nun?“ Er stieg wieder ins Bett und fuhr mit seiner Hand über ihren nackten Arm. Dieselbe Hand, die die Stechmücke erschlagen hatte. Sie konnte die Gänsehaut nicht verbergen. „Dir ist kalt“, sagte er deutlich besorgt, so wie sie es inzwischen von ihm gewohnt war. Er griff an das Ende des Bettes und zog die Decke hoch, um sie damit zuzudecken. „Besser?“
„Ja, sehr.“
„Nun“, sagte er wieder. „Was denkst du? Könntest du dir vorstellen, deine Arbeit als Krankenschwester aufzugeben?“
Die Arbeit als Krankenschwester aufgeben? Sie hatte ihren Job geliebt: die ständigen Herausforderungen, die Abwechslung. Sie war leidenschaftlich gerne leitende Oberschwester auf der Intensivstation gewesen. Sie hatte immer die Verantwortung gemocht, die der Beruf mit sich brachte, und freute sich, dass ihr Team jeden Patienten und jede Patientin so gut versorgte. Aber in den letzten paar Jahren konnte sie kein Interesse mehr für ihren Beruf aufbringen. Alles schien mit zu viel Aufwand verbunden zu sein, jede Bitte war zu mühsam und jeder Patient zu fordernd. Sie schaffte kaum eine ganze Schicht, ohne sich in einem der Abstellräume oder Behandlungszimmer oder an einem anderen ruhigen Ort zu verstecken und zu weinen.
Was sie dachte? Dass die Dinge zum ersten Mal seit langer Zeit in ihrem Sinne zu laufen schienen. „Ja, ich denke, das könnte ich.“
Vom Bett aus konnte sie den Blutfleck sehen, den die zerdrückte Stechmücke an der Wand hinterlassen hatte. Nicht ihr Blut, sie war nicht gestochen worden. Das Blut von einer anderen Person in irgendeinem anderen Zimmer in einem anderen Hotel. Das Blut einer fremden Person. Sie bekam wieder Gänsehaut.
„Ich hoffe, du hast dir keinen Infekt eingefangen“, sagte Daniel, als er einen Arm um sie schlang und sie zu sich zog.
Nein, sie hatte sich keinen Infekt eingefangen. Sie hatte sich einen reichen Ehemann eingefangen.
Sie konnte ihre Augen nicht von dem Blutfleck an der Wand abwenden. Er schien größer und größer zu werden, bis alles nur noch rot war. Eine leise Stimme in ihrem Kopf schrie: Das ist ein böses Omen.
Sie schloss ihre Augen und kuschelte sich an Daniel, um seine Wärme zu spüren.
Das war, was sie wollte. Irgendwelche lächerlichen Hirngespinste würden das jetzt nicht mehr ändern.
5
NATASHA
Vier Tage waren alles, was Daniel sich als freiberuflicher Finanzberater freinehmen konnte. Selbst während sie unterwegs waren, verbrachte er Stunden am Telefon, um mit Klienten zu sprechen oder E-Mails zu verschicken. Es war während dieser vier Tage, dass Natasha klar wurde, dass er nie vollkommen abschaltete. Sogar wenn er nicht arbeitete, waren seine Gedanken dennoch bei seinen Deals.
„Ich mache es wieder gut“, sagte er mit einem Kuss auf ihre Wange. „Es ist nur eine unerwartet aufregende Phase. Wenn die Dinge wieder ruhiger werden, fahren wir für längere Zeit weg. Das verspreche ich dir.“
Vielleicht hätte das Natasha noch einmal genauer darüber nachdenken lassen sollen, ob sie wirklich ihre Arbeit aufgeben wollte. Aber das tat sie nicht. Nicht mal für eine Sekunde. Barbara hatte recht gehabt: Natasha war ausgebrannt. Vollständig. Sie verspürte einfach keine Freude mehr für den Beruf, den sie einst so sehr geliebt hatte.
Als sie von ihren Flitterwochen zurückkamen, hatte sie noch ein paar Tage Anspruch auf Urlaub. Ihre Entscheidung war bereits gefallen; sie würde sich das mit dem Kündigen nicht noch einmal anders überlegen. Am nächsten Morgen rief sie im Krankenhaus an und ließ sich einen Termin bei der HR-Managerin geben.
Einen Tag später tauchte sie zur verabredeten Zeit in deren Büro auf und setzte sich der normalerweise freundlich eingestellten Managerin gegenüber. Ihr Gesichtsausdruck wurde im Laufe des Gesprächs immer finsterer.
Es war ein kurzes Meeting.
„Wie Sie sicher wissen“, sagte Natasha schließlich, „habe ich in den letzten Jahren zahllose Überstunden gemacht und nicht mal annähernd meine ganzen Urlaubstage in Anspruch genommen, daher gehe ich sofort.“
Die HR-Managerin zwang sich zu einem Lächeln. Der Ausdruck in ihren Augen blieb davon aber unberührt und ihre schlechte Laune war ihr weiterhin anzumerken. „Ich weiß, dass es in letzter Zeit stressig war.“
Stressig! Natasha machte sich nicht die Mühe, zu antworten. Sie stand auf, nickte und ging aus dem Zimmer. Sie plante nicht, auf die Station zurückzugehen, in der sie all die Jahre gearbeitet hatte. Sie verabschiedete sich auch nicht von den Leuten, mit denen sie für so lange Zeit zusammengearbeitet hatte. Sie hatte einfach keine Kraft mehr. Nicht mal für so etwas. Sie würden es verstehen.
***
Nachdem sie ihm die Nachricht noch am gleichen Abend bei ihrem Date in einem weiteren neuen Restaurant überbracht hatte, bestand Daniel darauf, Champagner zu bestellen. „Das sind tolle Neuigkeiten“, sagte er und hob sein Glas. „Auf meine wunderschöne Frau und unsere gemeinsamen Reisen.“
Natasha stieß mit ihrem Glas an seines und lächelte. Das war das Richtige. Es war gut. Das Beste für sie. „Ich freue mich darauf. Also, wohin fahren wir als Erstes?“ Sie stellte sich vor, wie es an aufregende Ziele gehen würde. Paris oder Rom vielleicht. Er war in den letzten paar Monaten in beiden Städten gewesen.
Daniel lachte, griff nach der Flasche und füllte ihre Gläser auf. „Ich befürchte, dass unsere ersten paar Termine hier in London sein werden. Es stehen in der nächsten Zeit ein paar glamouröse Events an.“
„Oh, klar.“ Sie versuchte, nicht allzu enttäuscht zu klingen.
„Du musst etwas Elegantes für jedes davon kaufen. Ich sorge dafür, dass du so schnell wie möglich eine Kreditkarte bekommst.“
Von der angesehenen Oberschwester zu einer Frau, die sich aushalten ließ. Es war nur ein kleiner Schritt gewesen. Sie machte sich noch einmal bewusst, dass sie jetzt Daniels Ehefrau war und dass es nicht völlig abwegig war, dass eine Ehefrau ihre Karriere aufgab, um die ihres Ehemanns zu unterstützen. Aber sie konnte die kleine Stimme in ihrem Kopf nicht abstellen, die ausgelassen über ihre missliche Lage lachte. Die gehässig flüsterte: Willkommen in den 1950ern.
„Ich muss da rangehen“, sagte Daniel, als sein Telefon vibrierte. „Auf den Anruf habe ich gewartet.“ Er wartete ihre Antwort nicht ab, schob seinen Stuhl zurück und ging mit dem Handy am Ohr aus dem Restaurant.
Es vergingen fast zehn Minuten, bevor er zurückkam; Minuten, in denen sie dasaß, mit dem Stiel ihres Weinglases spielte und ab und an am Getränk nippte, damit sie nicht den Anschein erweckte, als wäre sie sitzengelassen worden. Sie fuhr sich viel häufiger mit den Fingern durch die Haare, als es ihre akkurat sitzende Frisur eigentlich verlangte. Durch die Bewegung wurde aber das Licht der Deckenleuchten in ihrem großen Solitärring, der zusammen mit ihrem Ehering auf ihrem Ringfinger steckte, reflektiert. So konnte sie alle um sie herum wissen lassen: Seht her, ich bin keine einsame Singlefrau auf einem Blind Date, das schiefgelaufen ist. Sie legte wieder die Hand auf den Tisch, als ihr klar wurde, wie lächerlich sie sich benahm.
Der Kellner, der ständig um sie herumschwirrte, lenkte sie ab. Er fing kurz ihren Blick ein und räumte die Teller ab. „Kommt der Herr wieder zurück?“ Er zeigte auf Daniels erst halbgegessenes Gericht.
„Ja, aber das geht in Ordnung, Sie können es mitnehmen.“ Wenn Daniels Unterhaltung gut lief, wäre er zu aufgeregt zum Essen. Wenn es schlecht lief, würde das kalte Essen ihm nicht zusagen. „Sie können uns zwei doppelte Espressi bringen, bitte.“ Egal wie die Unterhaltung ablief, Kaffee war immer eine Option.
Als die Espressi gebracht wurden, nippte sie an ihrem und ließ ihre Gedanken wandern. Sie hatte die richtige Entscheidung getroffen, oder? Sie war achtunddreißig, war vierzehn Jahre lang Krankenschwester gewesen; das war, wer sie gewesen war. Jetzt fühlte sie sich haltlos. Sie musste ihr Leben wieder in den Griff kriegen und aufpassen, dass ihr die Zeit nicht davonlief. Zunächst einmal waren da ihre Finanzen. Sie war schon immer die Art von Mensch gewesen, die von der Hand in den Mund lebte. Wenn ihre Hypothek erst mal abbezahlt war, gab sie den Rest ihres Einkommens für Rechnungen, Ferien und Freizeit aus. Die letzten beiden – deutlich vermindert durch Ereignisse der letzten Zeit, auf die sie keinen Einfluss nehmen konnte – hatten sich davon nie wirklich erholt. Das bedeutete, dass sie etwas Geld auf der Bank hatte, nur nicht besonders viel.
Sie machte sich immer noch Gedanken über ihre nächsten Schritte, als Daniel zurückkam.
„Es tut mir leid.“ Sein zufriedener Gesichtsausdruck sagte alles; das Ergebnis des Anrufs war ein gutes gewesen. Er nahm die winzige Kaffeetasse hoch, trank ihren Inhalt, stellte sie ab und griff nach seinem Weinglas. „Auf noch mehr gute Neuigkeiten“, sagte er und prostete ihr zu.
„Es ist die richtige Nacht dafür“, sagte sie lächelnd. „Während du weg warst, hatte ich Zeit zum Nachdenken. Ich habe mich entschieden, meine Wohnung zu verkaufen. Sie steht leer. Das Geld gebe ich lieber für andere Sachen aus.“ Und fühle mich so etwas weniger wie eine Frau, die sich aushalten lässt. „Ich könnte die Hypothek abbezahlen und du könntest mir dabei helfen, den Rest zu investieren.“
Er würde genau wissen, wie das meiste aus ihrem Geld herauszuholen war. Sie hatte zu diesem Zeitpunkt bereits das Geheimnis seines Erfolges entdeckt. Er hatte absolut keine Moralvorstellungen, wenn es darum ging, einen Deal abzuschließen. Alles, was er tun musste, tat er auch. Jede Regel wurde gebrochen, wenn nicht sogar in Stücke zerschlagen, solange das einen guten Ausgang für ihn bedeutete. Es bereitete ihm Spaß, sich nahe an der Legalität entlangzubewegen. Er schien noch größeres Vergnügen dabei zu empfinden, die Grenze zu überschreiten und damit davonzukommen. Alles, was Natasha über die Welt der Hochfinanzen wusste, hatte sie aus dem Fernsehen gelernt; es war nicht viel, aber sie wusste, dass Insiderhandel illegal war.
„Hast du keine Angst, dass du erwischt wirst?“, hatte sie ihn einmal gefragt. Es ehrte ihn, dass er seine zwielichtigen Geschäfte nicht vor ihr versteckte. Ganz im Gegenteil, er ging bis ins kleinste Detail. Sie war sich nie ganz sicher, ob er prahlte oder sie nur als eine Art Crashtest-Dummy benutzte, um zu überprüfen, ob ein Plan realisierbar war. Das war er meistens.
„Wenn ich keine kalkulierten Risiken eingehen würde, würde ich in irgendeinem Hinterstübchen irgendeiner Bank sitzen und eine kläglich kleine Menge Geld verdienen.“ Er zog eine Augenbraue nach oben und lächelte. „Bedenke bitte, dass ich kalkulierte Risiken gesagt habe. Alles ist gut durchgeplant. Also mach dir deswegen keine Sorgen in deinem hübschen kleinen Kopf.“
Er war sehr clever. Aber das war sie auch. Clever genug, um ihm nicht eine Ohrfeige in sein herablassendes Gesicht zu knallen, als er so überheblich über sie sprach. Hübscher kleiner Kopf. Sie hatte sowohl eine Ausbildung als auch einen Master im Bereich der Pflege abgeschlossen. Sie hatte eigentlich geplant, weiter zu studieren und an einem PhD zu arbeiten, aber dann wurde ihr die Stelle als Stationsleiterin angeboten. Ihr wurde schnell klar, dass die Arbeit wenig Zeit für andere Dinge ließ. Er hingegen hatte direkt nach der Schule mit einer Juniorposition in einer Bank begonnen und sich nach oben gearbeitet.
Es war so schön gewesen, dass sich mal zur Abwechslung jemand um sie kümmerte. Und so entspannend, jemanden zu haben, der alle Entscheidungen traf. Das hatte ihr Raum für Heilung gegeben. Was sie aber nicht vorhergesehen hatte, war, dass Daniel davon ausging, dass sie von Natur aus so zurückhaltend war. Dass sie schon immer eine fügsame, einfach zu lenkende Frau gewesen war und auch immer sein würde. Barbaras Worte hallten in ihrem Kopf nach. Was passiert aber, wenn er bemerkt, dass dein wahres Ich nicht so fügsam und unbeschwert ist, wie er denkt, Tash? Was passiert, wenn er bemerkt, dass du eine ehrgeizige, karriereorientierte Frau bist, was dann?
Sie hatte Barbara gegenüber behauptet, dass sie sich verändert hätte. Und das hatte sie. Sie war nicht länger karriereorientiert, aber sie war definitiv weiterhin ehrgeizig. Das würde Daniel über kurz oder lang schon noch bemerken.
Im Moment war sie zufrieden damit, sein Wissen rund um Finanzen anzuzapfen, damit sie das Beste aus ihren Ersparnissen beim Verkauf ihrer Wohnung herausschlagen konnte. Gerne durch etwas komplett Legales. Ihm gefiel es vielleicht, sich auf dem schmalen Grat des Erlaubten zu bewegen; ihr aber nicht. Sie hatte damit gerechnet, dass er sie mit einer Liste von Anlagemöglichkeiten bombardieren würde, und sie fühlte sich vor den Kopf gestoßen, als er den Kopf schüttelte.
„Das ist keine gute Idee“, sagte er und hob seine Hand, um die Aufmerksamkeit des Kellners zu erregen.
Natasha wartete, bis er eine weitere Flasche Wein bestellt hatte, bevor sie fragte: „Was dann? Soll ich das Geld einfach als Kapital anlegen oder sowas?“
Als er seine Augen auf die Decke richtete und seinen Kopf schüttelte, knirschte sie mit ihren Zähnen, bis ihr der Kiefer schmerzte. Sie blickte auf den Diamanten an ihrem Ringfinger und fragte sich, ob es nicht bereits zu spät war, ihn wissen zu lassen, dass sie clever war. Vielleicht sogar noch mehr als er.
Nein, sie musste sich dafür den richtigen Zeitpunkt aussuchen.
„Okay, was schlägst du vor?“
Der Kellner brachte eine Flasche Wein und erst als Daniel etwas davon aus seinem Glas geschlürft hatte, antwortete er. „Behalte die Wohnung“, sagte er geradeheraus. „Es ist nie eine gute Idee, alle Brücken hinter sich abzubrechen. Vermiete sie vielleicht eher, wenn du den leerstehenden Raum für eine Verschwendung hältst. So nahe am Krankenhaus wirst du schnell jemanden zur Miete finden.“
Es ist nie eine gute Idee, alle Brücken hinter sich abzubrechen? Was zum Teufel?
Er musste ihr verblüfftes Gesicht bemerkt haben, denn er lachte und griff über den Tisch nach ihrer Hand. „Da habe ich mich blöd ausgedrückt. Ich sage nur … na, du weißt schon … wer weiß, was die Zukunft uns bringt; vielleicht brauchst du mal einen Zufluchtsort.“
Sie hatten bereits eine Flasche Champagner getrunken und die zweite Flasche Wein stand vor ihnen. Sie hatte ein paar Gläser des Blubberwassers gehabt; ein oder höchstens zwei von der ersten Flasche Wein und ihr Glas war immer noch halbvoll. Daniel hatte am meisten getrunken. Es war daher wenig überraschend, dass seine Augen glänzten und er Sachen sagte, die er vielleicht in nüchternem Zustand eher für sich behalten hätte.
Bereute er bereits alles? Hatte er Zweifel? War es ein Fall von in vino veritas? Dachte er nur wenige Tage nach ihrer Hochzeit bereits an das Ende ihrer Ehe? Sie würden sich scheiden lassen und sie würde in ihre winzige, beengende Wohnung zurückkehren. Oh Gott, sie würde zurück zur Arbeit müssen.
Als er die Sache mit dem Ehevertrag kurz nach ihrer Verlobung angesprochen hatte, hatte sie zunächst gelacht, denn sie dachte, dass er scherzte. Eheverträge waren für Promis und die oberen Zehntausend, nicht für Menschen wie sie. Einen Tag später legte er ein Dokument vor ihr auf den Tisch. „Ich glaube, es ist am besten, wenn wir unsere Finanzen vor unserer Hochzeit regeln. Die Welt verändert sich; wir müssen vorbereitet sein.“
Vorbereitet sein? Auf das Ende ihrer Ehe, bevor sie überhaupt angefangen hatte? Er stand da und wartete. Mit einem resignierten Schnauben nahm sie die Dokumente in die Hand und las sie durch. Es war alles ziemlich geradeheraus und, soweit sie das einschätzen konnte, auch gerecht.
Wenn sie sich innerhalb von zwei Jahren trennen sollten und keine Kinder hatten, würden sie ihre Beziehung einfach mit dem verlassen, mit dem sie reingegangen waren. Wenn die Ehe länger als zwei Jahre hielt, würde sie eine Einmalzahlung bekommen, die sich mit jedem weiteren Ehejahr erhöhen würde. Wenn sie Kinder hatten, würden sich die Rahmenbedingungen komplett ändern: Das Familienheim würde ihr gehören, bis das jüngste Kind achtzehn werden würde. Danach würde es verkauft und der Gewinn aufgeteilt werden. Sie bekam auch ein großzügiges monatliches Taschengeld. „Das scheint sehr fair zu sein“, sagte sie. Sie las alles noch ein zweites Mal durch, fragte sich, ob sie sich einen Anwalt holen sollte, bevor sie den Vertrag unterschrieb. Oder zumindest mit ihren Freundinnen darüber reden sollte. Sie lächelte bei dem Gedanken an ihre schockierten Gesichter. Sie würden einen Ehevertrag als unromantisch ansehen. Das war er auch. Aber das passte zu ihrer ebenfalls unromantischen Beziehung.
„Das ist nur eine Vorsichtsmaßnahme“, sagte Daniel, während er ihr einen Stift gab. „Für den Fall, dass du dich in der Ehe mit einem überarbeiteten, ständig beschäftigten Finanzier langweilst und mit dem Postboten durchbrennen willst.“
Das brachte sie zum Lachen und sie hatte das Dokument überschwänglich unterschrieben. Sie würden eine fröhliche Ehe führen. Sie würden ein oder zwei Kinder bekommen und glücklich bis an ihr Lebensende sein. Dafür würde sie schon sorgen.
Und der Ehevertrag würde zum Staubfänger werden.
Das war, was sie fest geglaubt hatte. Aber jetzt? Es ist nie eine gute Idee, alle Brücken hinter sich abzubrechen. „Einen Zufluchtsort“, sagte sie nickend und lächelnd, als ob er etwas Superlustiges gesagt hätte. Als ob sie eine verdammte Idiotin wäre. Und vielleicht war sie das auch, denn bei dem Gedanken an diesen verdammten Ehevertrag kam ihr in den Sinn, dass sie vielleicht nicht ganz so clever war, wie sie gedacht hatte.
6
NATASHA
Vier Monate später waren sie gerade dabei, die letzten Happen ihres Abendessens in einem ihrer Lieblingsrestaurants zu essen, als Daniel eine dünne Broschüre aus seiner Tasche zog, diese aufklappte und sie über den Tisch zu Natasha schob.
„Was ist das?“, fragte sie und nahm sie in die Hand.
„Ich habe über diese längere Reise, die ich dir versprochen habe, nachgedacht. Ich habe das hier in der Werbung gesehen. Es ist nächsten Monat, also habe ich dort angerufen und nach freien Plätzen gefragt.“
„Eine Kreuzfahrt?“ Das war das Letzte, was sie erwartet hatte.
Er lachte. „Ich will nicht, dass wir die Themse auf einem Frachter runtertuckern, Tasha. Das ist die Duchess Mary, das neueste und luxuriöseste Schiff der Nobility-Fleet-Linie.“ Er griff über den Tisch, um auf die Broschüre zu klopfen. „Schaus dir an. Dort gibt es Gourmetessen und edelste Weine. Es ist natürlich teuer, aber ich glaube, das ist es wert. Und noch besser: Es stehen vier Luxuskabinen zur Verfügung. Ich hatte überlegt, du könntest deine Freundinnen fragen, ob sie auch mitkommen möchten.“ Er blätterte eine Seite der Broschüre um. „Die Kreuzfahrt dauert sieben Tage, aber man kann danach verschiedene Unternehmungen dazubuchen. Vielleicht könnten wir dann auf Safari gehen?“
„Und du kannst dir so lange freinehmen?“ Sie schaute überrascht von der Broschüre auf. Er hatte bisher immer besonders betont, dass er keine Zeit hatte, um für mehrere Tage in den Urlaub zu fahren.
Er griff nach seinem Glas und nahm einen Schluck Wein, bevor er antwortete. „Sie haben Wi-Fi auf dem Schiff; wenn ich für ein paar Stunden arbeiten muss, wäre das doch sicher okay, oder?“
„Natürlich.“ Sie schaute wieder auf die Broschüre und blätterte langsam um. Es sah fabelhaft aus. Sie hatte nur eine vage Vorstellung, wo das Sansibar-Archipel war. Irgendwo vor der Küste Afrikas. „Wir würden also fliegen nach …?“
„Daressalam.“
Tansania. Sie wusste, wo das auf der Landkarte lag. Nächsten Monat. Bis dahin blieb nicht mehr viel Zeit. Sie war sich nicht sicher, ob ihre Freundinnen so kurzfristig Urlaubspläne machen konnten.
„Wir vier haben oft darüber gesprochen, gemeinsam eine Kreuzfahrt zu machen. Eine nur für Mädels, vielleicht nach New York zum Shopping. Aber das hier hört sich spannender an.“ Sie sah von der Broschüre auf, als ihr etwas klar wurde. „Schlägst du vor, dass wir für alle bezahlen?“ Mit wir meinte sie natürlich ihn.
„Warum nicht? Wir können uns das leisten. Wir hatten keinen großen Hochzeitsempfang und das ganze Trara. Das hier soll das wieder gutmachen.“
„Das ist sehr großzügig.“ Extrem großzügig. Natasha war verblüfft. „Du bist dir sicher, dass du mit denen eine Woche lang wegwillst?“ Er schien gut mit ihren Freundinnen klarzukommen, dennoch waren ihre Treffen auch immer etwas verkrampft, als ob er immer etwas zu sehr versuchte, sie zu beeindrucken. Dieses Angebot würde es auf jeden Fall tun.
„Natürlich. Ich mag es, mit ihnen Zeit zu verbringen.“ Wehmut huschte über sein Gesicht. „Ich beneide dich um deinen Freundeskreis. Ich hatte bisher einfach keine Zeit für Freundschaften, war einfach zu beschäftigt. Aber seit wir verheiratet sind, waren die Männer einfach toll zu mir, und wir haben ja auch schon ein paar Sachen gemeinsam unternommen.“
Das war eine ungewöhnlich emotionale Bemerkung von ihm und einmal mehr war sie verblüfft. „Sie werden von dem Angebot sehr überrascht sein, es ist so kurzfristig.“
„Es war ein spezielles Angebot; deswegen können wir es uns leisten.“
„Ja, natürlich.“ Natasha hatte genug Werbung für Urlaubskreuzfahrten gesehen, in der Anbieter Preisnachlass für leere Kabinen so nah am Reisedatum anboten. Würden ihre Freundinnen zustimmen, mitzukommen? Kinderbetreuung war in der Vergangenheit regelmäßig eine knifflige Sache gewesen. Aber alle Kinder ihrer Freundinnen waren jetzt alt genug, um für ein paar Tage alleine klarzukommen. Don war selbstständig, also sollte er sich eine Woche Urlaub nehmen können. Damit blieben nur noch Blake und Barbara, bei denen es Probleme geben könnte. „Ich bin mir sicher, dass Blake etwas Urlaub nehmen kann“, sagte sie und blätterte dabei durch die Broschüre. Es sah wirklich toll aus. „Barbara wird die größten Schwierigkeiten haben; ich bin mir nicht sicher, ob sie so spontan freibekommen kann.“
„Ich weiß gar nicht, warum sie noch arbeitet. Sie brauchen wohl kaum das Geld.“
„Sie liebt ihren Beruf, besonders die sozialen Kontakte.“ Natasha wollte ergänzen, dass Barbara sich nur langweilen würde, wenn sie nicht mehr arbeiten würde. Aber war das nicht genau das, was Natasha getan hatte? Sie verdrängte den Gedanken schnell. In ihrem Fall war es etwas anderes. Sie stand Daniel bei dem ganzen Small Talk und Kontakte knüpfen zur Seite, die für seine Arbeit wichtig waren. Außerdem würde sie bald ein Kind bekommen. Oder zwei. Sie hatte vor ihrer Hochzeit aufgehört, die Pille zu nehmen, und hatte eigentlich gehofft, dass sie inzwischen schwanger sein würde. Sie war achtunddreißig; vielleicht benötigte ihr Körper einen Moment, um sich umzugewöhnen. Urlaub war jetzt genau das Richtige. Erholung und viel Sex. Noch bevor sie wieder zu Hause waren, würde sie schwanger sein.
Für den Moment würde sie sich darauf konzentrieren, ihre Freundinnen für etwas zu begeistern, was wie wunderbare Ferien aussah.
***
Natasha hatte eigentlich erwartet, dass Michele vor Freude quietschen würde, als sie sie wegen der geplanten Kreuzfahrt anrief. Die vollbezahlte Kreuzfahrt. Stattdessen war da solch ein langes, wortloses Rauschen, dass sie kurz davor war, zu glauben, dass die Verbindung unterbrochen worden war. „Michele?“
„Ja, ja, ich bin noch dran. Ich überlege. Das ist ein sehr großzügiges Angebot. Wir alle acht, hattest du gesagt, na ja …“
Noch mehr langgezogene Stille ließ Natasha ihre Augen an die Decke rollen. „Ich weiß, es ist kurzfristig. Daniel hat das Angebot entdeckt. Ihm wurde gesagt, dass noch Kabinen verfügbar sind. Da dachten wir, das muss Schicksal sein. Don wird sich freinehmen können, oder?“
„Seit Ewigkeiten sage ich ihm schon, dass er sich mehr Urlaub nehmen soll. Genau, ja, warum nicht, wir kommen mit.“
Warum nicht? Eine enttäuschendere Antwort konnte es wohl kaum geben. War Natashas Erwartung an ein bestimmtes Level von Vorfreude unangebracht? „Du hast noch gar nicht gefragt, wo es hingeht.“
„Das ist egal, wir kommen mit.“
Ein weiteres Mal war Natasha enttäuscht, dass sie keine Aufregung heraushören konnte. Viel mehr lag da etwas Fügsames in ihrer Stimme. Als ob Michele nicht wirklich mitkommen wollte, sondern dachte, dass sie es müsste. „Bitte fühl dich nicht gezwungen, mitzukommen“, sagte sie leicht bedrückt.
Es waren Schritte am anderen Ende der Leitung zu hören. „Nein, ich will. Ich habe Don eine Nachricht mit dem Datum geschickt. Also, wo geht es überhaupt hin?“
Vielleicht würde das Reiseziel eine etwas enthusiastischere Reaktion auslösen. „Das Sansibar-Archipel.“ Die Worte rollten dramatisch von Natashas Zunge.
„Ich habe überhaupt keine Ahnung, wo das ist, aber ist auch egal. Wow, ja, du kannst mit uns rechnen. Definitiv.“
Die offensichtlich gespielte Vorfreude ging Natasha auf die Nerven. Sie drückte das Telefon schmerzhaft an ihr Ohr. „Ich schicke dir alle Details per E-Mail, ja?“
„Perfekt. Großartig, juchhu, wir machen eine Kreuzfahrt.“
Natasha legte auf, bevor sie etwas sagte, was sie vielleicht bereuen würde. Wie: Was zum Teufel ist los mit dir, Michele?
***
Micheles Reaktion war so unerwartet gewesen, dass Natasha zögerte, Tracy Ann anzurufen. War denn gar nichts mehr einfach und unkompliziert? Mit einem Seufzer tippte sie mit dem Finger auf den Anrufknopf neben dem Namen ihrer Freundin und hoffte, von ihr eine bessere Reaktion zu bekommen. Wenn Tracy Ann und Michele bei der Sache an Bord waren, wäre es einfach, Barbara zu überzeugen.
Der Anruf wurde nahezu unmittelbar angenommen und Natasha legte ohne Umwege los: „Wie würde dir eine Kreuzfahrt für sieben Nächte durch das Sansibar-Archipel im kommenden Monat gefallen?“
„Die Mädels-Kreuzfahrt, über die wir schon seit Jahren sprechen?“ Tracy Ann freute sich. „Oh ja, ich bin dabei.“
Das war die Art von Reaktion, die Natasha erwartet hatte. „Brillant. Es ist aber nicht direkt eine Mädels-Kreuzfahrt. Daniel hat das Angebot in der Werbung gesehen und mir davon erzählt. Wir fänden es toll, wenn wir alle acht gemeinsam fahren könnten. Alles geht auf uns.“ Es ging eigentlich auf Daniel, aber Tracy Ann musste das nicht wissen. Natasha gefiel es, die gute Fee zu spielen. „Daniel kommt gut mit Don, Blake und Ralph klar. Tagsüber könnten sie losziehen und ihr Ding machen und wir Ehefrauen könnten Zeit im Spa und so weiter verbringen. Anschließend könnten wir uns alle gemeinsam auf Drinks und zum Abendessen treffen. Was denkst du?“ Sie nahm an, dass die anfängliche Vorfreude anhalten würde, also war sie überrascht, als kurz Stille herrschte. „Tracy Ann, bist du noch da?“
„Ja, entschuldige, ich überlege. Na ja, ich bin mir nicht sicher, ob Blake so kurzfristig freibekommen kann. Tatsächlich bin ich mir sogar sicher, dass das für ihn nicht klappt. Du weißt, wie seine Arbeit so ist: Es gibt immer was zu tun.“
„Er hat Anspruch auf Urlaub. Es ist nicht so, dass Wahlen anstehen. Ich wette, er könnte sich ziemlich einfach eine Woche freinehmen. Zumindest wenn du mitkommen willst und das willst du doch, oder? Du wolltest schon immer auf eine Kreuzfahrt und diese hört sich fabelhaft an.“ Natasha listete ihr die exotischen Zwischenhäfen auf, die Exkursionen, die dazugehörten, die Luxuskabinen. „Ich maile dir den Link, damit du dir das alles selbst anschauen kannst. Aber ehrlich gesagt: Es wird eine Traumreise. Bitte sag ja!“
„Ich weiß wirklich nicht, Blake –“
„Würde zum Mond fliegen, wenn du dort Urlaub machen wollen würdest.“ Natasha lachte. Es war ein Running Gag zwischen den vier Frauen, dass Blake alles für Tracy Ann tun würde. Wenn da ein Hauch von Neid in den Witzeleien lag, dann wurde das nie offen zugegeben.
„Ich werde ihn fragen. Das ist alles, was ich im Moment tun kann.“
„Daniel und er sind Kumpel; wenn ich ihn bitte, mit ihm zu sprechen, könnte das vielleicht helfen –“
„Nein!“ Das Wort kam laut durch die Leitung gebrettert, gefolgt von einem Seufzer. „Entschuldige, du hast mich in einem schlechten Moment erwischt. Überlass das mir. Ich bin mir sicher, dass er zustimmen wird. Ich ruf dich später an, okay?“
„Okay, bis später dann.“
Natasha legte auf und saß mit dem Telefon in ihrer Hand und einer Zornesfalte auf ihrer Stirn da. Von übereifrig zu widerwillig und wortkarg innerhalb weniger Sekunden. Zuerst verhielt sich Michele merkwürdig, jetzt Tracy Ann. Was war nur mit ihren Freundinnen los? Sie einzuladen, war vielleicht eine schlechte Idee gewesen. In diesem Moment hätte Natasha gerne aufgegeben und Daniel wissen lassen, dass sie lieber nur zu zweit in den Urlaub fahren würde. Aber es war seine Idee gewesen und er war deswegen so enthusiastisch. Daher fühlte sie sich unter Druck gesetzt, dafür zu sorgen, dass die Reise auch auf jeden Fall stattfand.
Sie drückte sich selbst die Daumen, tippte auf Barbaras Namen in ihrem Handy und wartete, dass ihre Freundin den Anruf annahm. Sie musste inzwischen von der Arbeit wieder zurück zu Hause sein und saß wahrscheinlich mit einem Gin Tonic als Aperitif vor dem Abendessen auf dem Sofa. Barbara war ein Gewohnheitstier, auf das man sich verlassen konnte.
„Hi, Tasha.“
Das entfernte, aber deutlich erkennbare Geräusch von klackernden Eiswürfeln ließ Natasha wissen, dass sie recht gehabt hatte. Sie hoffte, dass Barbara bereits ausreichend getrunken hatte, sodass sie in guter Stimmung war.
„Hi, hör zu, ich leg direkt los: Kannst du dir nächsten Monat eine Woche freinehmen?“ Sie war nicht überrascht, als sie keine Antwort bekam. Unter den vier Freundinnen war Barbara die vorsichtigste, immer die Stimme der Vernunft. In all den Jahren war sie diejenige gewesen, die sich zurückhielt, wenn der Rest sich kopfüber ins Chaos stürzte. Vielleicht würden ihr ein paar mehr Infos bei der Entscheidung helfen. „Es geht um eine Kreuzfahrt. Nach Sansibar. Auf der Duchess Mary. Superschick. Und das Ganze geht auf uns. Was sagst du?“ Als weiterhin Stille herrschte, klackerte Natasha viermal mit dem Fingernagel auf dem Telefon. „Hallo, bist du eingeschlafen?“
„Nein, ich überlege.“
„Und?“ Aus Barbara Informationen herauszubekommen, war oft ein schwieriges Unterfangen, manchmal sogar unmöglich. „Michele und Tracy Ann sind übrigens dabei“, fügte Natasha hinzu und verdrehte dabei leicht die Wahrheit. Sie hoffte, das würde Barbara bei der Entscheidungsfindung helfen. Es zeigte aber nicht die gewünschte Wirkung, sodass sie ihre Ungeduld zügeln und erstmal abwarten musste.
„Das geht auf euch, sagst du? Also kommt Daniel mit?“
„Ja, entschuldige, das hätte ich erwähnen sollen. Die Einladung gilt für dich und Ralph. Es war Daniels Idee; er dachte, wir acht würden eine tolle Zeit haben.“
„Daniels Idee, was? Sehr großzügig von ihm.“
Das rhythmische Klackern von Eis gegen das Glas füllte die Stille. Natasha bereute es, dass sie sich selbst keinen Drink eingeschenkt hatte, bevor sie mit den Telefonaten begonnen hatte. Dummerweise hatte sie angenommen, dass ihre Freundinnen bei der Aussicht auf eine Kreuzfahrt ekstatisch sein würden. Früher hätten sie ohne zu zögern ja gesagt. Oder schaute sie auf die Vergangenheit durch eine lächerliche rosarote Brille? Sie sollte verdammt sein, wenn sie ihre Freundinnen anflehen müsste, mitzukommen. Trotz Daniels Vorfreude auf die gemeinsame Reise mit ihren Freundinnen und ihren Ehemännern wäre es vielleicht besser, wenn sie wirklich nur zu zweit fahren würden. Eigentlich sollte das ja eine Verlängerung ihrer Flitterwochen werden.
„Ich denke schon, dass ich eine Woche freinehmen könnte“, sagte Barbara endlich.
„Und für Ralph wäre das in Ordnung, ja?“
„Ich wüsste nicht, wieso nicht. Er ist schließlich im Ruhestand.“
Barbara hatte Ralph in einem Pub nach einem Rugbyspiel kennengelernt. Natasha, Michele und Tracy Ann hatten wie wild mit einer Gruppe junger Typen geflirtet, aber es war der ältere Ralph, ein Witwer mit einer fünfzehnjährigen Tochter, der Barbara verzaubert hatte. Drei Monate später waren sie verheiratet. Nahezu sofort hatte Ralph einen Job als Auslandskorrespondent angenommen.
Zur Überraschung ihrer Freundinnen gab Barbara ihre Pläne, Jura zu studieren, auf, um zu Hause bei ihrer Stieftochter Anna zu bleiben. Dann nahm sie die Teilzeit-Verwaltungsstelle in einem nahegelegenen Krankenhaus an, wo sie immer noch arbeitete. Damals sprach sie noch davon, wieder studieren zu wollen, sobald Anna älter war. Dazu war es aber nie gekommen.
Wenn Barbara es bereute, ihren Traum aufgegeben zu haben, und wenn sie es bereute, einen Mann geheiratet zu haben, der fast alt genug war, ihr Vater zu sein, erwähnte sie das nie. In all den Jahren hatte sie sich nie beschwert.
„Ich maile dir die Informationen zur Kreuzfahrt“, sagte Natasha. Sie legte auf und schickte eine Nachricht an Tracy Ann.
Barbara ist dabei!
Hoffentlich würde das Wissen, dass alle ihre Freundinnen die Kreuzfahrt machten, Tracy Ann anstacheln, Blake zu bearbeiten. Nicht, dass Natasha glaubte, dass es da ein Problem geben würde. Was Tracy Ann wollte, bekam sie meistens auch.
Nur ein paar Sekunden später kam eine Antwort.
Ja, okay, ich und Blake sind es auch.
Dieses Mal schickte Natasha eine Nachricht an die WhatsApp-Gruppe.
Wir werden so eine tolle Zeit haben.
7
NATASHA
Normalerweise hätten sich die vier Freundinnen ein paar Mal in den drei Wochen vor dem Start der Kreuzfahrt getroffen. Aber jedes Mal, wenn Natasha den Vorschlag machte, sich auf einen Drink zu verabreden, hatte eine oder mehrere der Frauen keine Zeit. Da sie sich selten sahen, wenn eine von ihnen es nicht einrichten konnte, kamen sie vor dem Tag des Abflugs in Heathrow nicht mehr zusammen. Sie hatten per WhatsApp über Video gechattet. Dort hatten sie über ihr Reiseziel, die Klamotten, die sie planten, einzupacken, und die Outfits, die sie für den Galaabend ausgewählt hatten, gesprochen.
Es war während eines dieser WhatsApp-Videochats, dass Natasha endlich die Sache mit den Flügen ansprach, wegen der Daniel sie seit Tagen genervt hatte. Er bezahlte für die Kreuzfahrt, aber nicht für die Flüge. Sie reisten alle in der Business Class; er wollte in der ersten fliegen. Sie wartete, bis es eine etwas längere Pause während der Unterhaltung gab, um so beiläufig wie möglich zu fragen, ob sie sich ein Upgrade vorstellen könnten. „Es sind nur ein paar hundert mehr“, sagte sie.
„Hin und zurück jeweils.“ Micheles Stimme war ungewöhnlich scharf. „Also eher an zweitausend extra dran. Ich muss dazu nein sagen, aber macht das, wenn ihr wollt; uns macht das nichts aus.“
„Nein, es machen alle so oder keine; du weißt, wie es läuft.“
Das hatte an der Uni angefangen, als Barbara eine Party früher verlassen wollte. „Ihr drei bleibt ruhig noch“, hatte sie gesagt und nickte in Richtung Ausgang. „Mir wird schon nichts passieren.“
Später konnte sich niemand mehr daran erinnern, wer die Worte ausgesprochen hatte, die für immer an ihnen kleben bleiben würden. Wir bleiben alle oder gehen alle. Es war nicht ganz so eingängig wie das alle für einen, einer für alle der Musketiere, aber es lief auf das Gleiche hinaus. In Zeiten wie diesen fragte sich Natasha, ob sie nicht diese kindische Einstellung hinter sich lassen sollten. Sie mussten ja nicht alles gemeinsam machen. Aber vielleicht war dies nicht der ideale Zeitpunkt, um das zum Thema zu machen. „Kein Problem“, sagte sie, obwohl sie sich bewusst war, dass Daniel darüber nicht besonders glücklich sein würde. „Business Class also.“
Es war der perfekte Zeitpunkt, um zu erwähnen, dass Daniel ihre Kabine in eine Penthouse-Suite upgegradet hatte. Als Überraschung für sie, hatte er behauptet. Und sie gab sich wirklich Mühe, in dem Moment angemessen begeistert auszusehen. Laut Daniel war es die letzte, die noch verfügbar war. Also war es ja nicht so, als ob der Rest der Gruppe auch ein Penthouse hätte buchen können. Sie war sich aber nicht ganz sicher, ob sie ihm das glauben konnte. Er würde es toll finden, in einer größeren und schickeren Kabine als der Rest untergebracht zu sein. Also nahm sie an, dass das Upgrade für ihn selbst war und nicht wirklich für sie. Sie hätte es ihren Freundinnen geradeheraus sagen sollen, aber sie zögerte und der passende Moment war schnell vorüber. Es war auch nicht so wichtig; sie würden es schon bald genug selbst herausfinden.
Der Flug war angenehm. Ihre Sitze lagen nahe beieinander. Aber als sie erst mal in der Luft waren, tauschten sie die Plätze, sodass die Frauen zusammensitzen, Champagner schlürfen, lachen und über nichts wirklich Weltbewegendes sprechen konnten. Im Gegensatz dazu tranken die Männer Bier und unterhielten sich leise. Daniel saß neben Blake, dessen Lippen fest zusammengepresst waren, während er dem nickend zustimmte, was auch immer Daniel in sein Ohr flüsterte. Natasha würde ihren Ehemann darauf ansprechen müssen, ihn daran erinnern, dass das hier ein Urlaub und keine Dienstreise war.
Sie bekam dazu während des Rests des Flugs nicht die Möglichkeit. Als sie ankamen, entfiel es ihr im Getümmel und der Aufregung während des Anbordgehens direkt wieder. Sie hatte auch immer noch nicht die Gelegenheit gefunden, ihren Freundinnen zu erzählen, dass Daniel die Kabine auf ein Penthouse upgegradet hatte. Es stellte sich heraus, dass alle Kabinen der Gruppe auf Deck zwölf waren, also würden die Neuigkeiten bis später warten können. Am besten nachdem sie alle ein paar Drinks zu sich genommen hatten, damit der Schock, dass Natasha ihren Ehrenkodex verletzt hatte, ein wenig abgemildert wurde.
Sie wollten sich später auf dem Deck treffen, um ihrer Abfahrt zuzuprosten. Aber erst nachdem sie sich ihre Kabinen angeschaut hatten. Ein Paar nach dem anderen verschwand in seiner zugeteilten Unterkunft. Jeder von ihnen trug ein Umhängeband mit einem kronenförmigen Medaillon um den Hals. In einem Chip waren ihre persönlichen Daten gespeichert, wodurch es möglich war, alle Ausgaben auf dem Schiff automatisch auf ihre verschiedenen Zimmer in Rechnung zu stellen. Außerdem konnten damit die Kabinentüren geöffnet werden. „Eine magische Krone“, sagte Tracy Ann und wedelte fröhlich damit herum, bevor sie in ihrer Kabine verschwand.
Natasha und Daniel waren die letzten, die ihre Kabine etwas weiter den langen, engen Flur entlang entdeckten. „Das ist fabelhaft“, sagte sie, als sie das Penthouse betraten. Es war lächerlich groß. Zwei Schlafzimmer. Praktisch, wenn sie sich mal streiten sollten, dachte sie. Zwei Badezimmer. Sowieso immer praktisch. Ein riesiges Wohnzimmer mit einem viel zu großen Esstisch, einem großen, ausladenden Sofa und Schiebetüren, die auf einen weitläufigen Balkon führten. Sie schauten sich immer noch um, als die Türklingel sie innehalten ließ.
„Vielleicht haben sie uns das falsche Zimmer gegeben“, sagte sie lachend, als Daniel schnell losging, um die Tür zu öffnen.
Er kam mit einem amüsierten Ausdruck auf dem Gesicht und einem Mann im mittleren Alter im Schlepptau zurück. „Das ist Emilio, unser Butler“, sagte Daniel.
Ihr Butler!
Natasha war sich nicht sicher, ob sie ihre Hand zum Gruß anbieten sollte oder nicht. Stattdessen bot sie ihr Lächeln an. „Schön Sie kennenzulernen.“
„Ich werde mich während Ihrer Reise um Ihre Kabine kümmern“, sagte er. „Es gibt einen Knopf am Telefon mit meinem Namen darauf: Wenn Sie etwas benötigen, drücken Sie darauf und ich komme sofort.“ Er zeigte auf den Kühlschrank. „Der wird jeden Tag von mir frisch aufgefüllt. Wenn es etwas Bestimmtes gibt, das Sie wünschen, zögern Sie nicht, danach zu fragen.“
Natasha wollte ihn bitten, zu gehen, aber sie wollte nicht unhöflich sein. Er war freundlich, aber nicht besonders sympathisch.
„Danke, das ist großartig. Fabelhaft“, sagte Daniel und rieb die Hände aneinander.
Natasha war klar, dass er eher eine Vorstellung davon hatte, wie mit diesem Mann umzugehen war. „Danke“, sagte sie in der Hoffnung, dass damit das Gespräch beendet war. Er würde jetzt sicher weggehen, damit sie die Räumlichkeiten ungestört genießen konnten.
„Möchten Sir und Madam, dass ich Ihr Gepäck auspacke, wenn es geliefert wird?“
Oh Gott, nein! „Nein, danke“, sagte sie schnell. „Das machen wir selbst.“ Und bevor er noch etwas Weiteres anbot, ging sie zur Tür und öffnete sie. Was Andeutungen anging, war das wenig subtil. Emilio nickte und ging.
„Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihn ständig um mich haben möchte“, sagte sie und ging wieder zu Daniel. „Komm schon, lass uns die anderen einsammeln und an Deck gehen, damit wir beobachten können, wie das Schiff ablegt.“
Sie sammelten auf dem Weg zu den Aufzügen nach und nach die anderen ein und fuhren dann gemeinsam auf Deck sechs. Auf dem Promenadendeck gab es adrett angezogenes, uniformiertes Bedienpersonal, das Tabletts mit Champagner in Souvenir-Plastikgläsern balancierte. Sie waren aber nicht kostenlos. Jedes Mitglied des Personals hatte ein tragbares Gerät, das die einzelnen Kronen scannte. Das Ganze war so diskret, dass sie nicht mal richtig bemerken würden, dass sie Geld ausgaben.
„Und ich wette, es kostet die Welt“, sagte Michele.
„Das ist doch egal“, sagte Tracy Ann und hob ihr Glas in Richtung der hell erleuchteten Stadt, die sie hinter sich ließen. „Ich bin so froh, dass wir hier sind.“
Natasha schaute sie schief an. Sie hörte sich normalerweise nicht ganz so aufgedreht an. Und merkwürdigerweise, obwohl sie sich übertrieben glücklich anhörte, sah sie nicht danach aus.
Natasha hätte vielleicht etwas gesagt, hätte vielleicht ein Geht es dir gut? in das Ohr ihrer Freundin geflüstert, wenn das Schiffshorn mit seinem Abschiedsgruß in Richtung Hafen nicht alles übertönt hätte. Dann war der Moment auch schon verflogen und all ihre Sorgen waren vergessen, während sie so lange an der Reling stand, bis die Lichter der Stadt nur noch unscharf am Horizont zu erkennen waren.
„Also“, sagte Michele. „Ich gehe mal, packe aus und mache mich fürs Essen fertig.“
„Gute Idee, ich bin am Verhungern“, sagte Barbara. Sie schaute auf ihre Uhr. „Es ist beinahe achtzehn Uhr; sagen wir, wir treffen uns auf einen Aperitif um neunzehn Uhr?“
„Mehr Champagner!“ Tracy Ann wedelte mit ihrem leeren Glas. „Hört sich gut für mich an.“
„Kommt in unsere Kabine“, sagte Daniel, als sie wieder ins Schiffsinnere gingen. „Wir haben Champagner auf Eis.“
Niemand widersprach. Natasha hätte sich lieber in einer der Lounges getroffen statt in ihrem Penthouse, um vorher noch einen guten Zeitpunkt zu erwischen, um ihren Freundinnen zu erzählen, dass sie sich für ein Upgrade entschieden hatten. Jetzt musste sie sie einfach direkt mit den unübersehbaren Beweisen konfrontieren. Denn es war zu spät. Daniel hatte die Einladung bereits ausgesprochen.
„Ich dachte, du hättest es ihnen bereits gesagt“, sagte er, als sie zurück in ihrer Kabine waren. „Du hattest dafür während des Flugs alle Zeit der Welt. Worüber habt ihr geredet?“
Sie konnte sich nicht erinnern. Sie hatten einfach nur gequatscht. „Über nichts wirklich Spannendes.“
Sein verärgerter Seufzer war laut zu hören. „Na ja, sie mussten es ja früher oder später herausfinden. Ich weiß gar nicht, warum du so einen Aufriss deswegen machst. Sag ihnen, dass es meine Schuld war, dass sich die Gelegenheit ergeben hat und ich sie genutzt habe.“
Das war, was sie hätte tun sollen, als er ihr das erste Mal von dem Upgrade erzählt hatte. Sie hätte damals einen Witz darüber machen können. Warum hatte sie das nicht? Jetzt wirkte es so, als wäre sie deswegen peinlich berührt, als ob sie es zu einem großen Geheimnis machen wollte. Wenn sie in Wirklichkeit eigentlich nur ein bisschen damit angeben wollte, wie gut es ihr ging.
„Du hast recht“, sagte sie. „Ich benehme mich lächerlich. Lass uns das vergessen und hier alles vorbereiten. Es ist schneller neunzehn Uhr, als wir denken.“
Natasha hatte sich große Mühe beim Packen ihres Koffers gegeben. Es hatte nur ein paar Minuten gedauert, alles auszupacken und das Kleid aufzuschütteln, das sie an diesem Abend tragen wollte. Sie freute sich, dass es faltenfrei geblieben war.
Bei zwei Badezimmern musste sie sich nicht beeilen, um Daniel Platz zu machen. Fünfundvierzig Minuten später, mit frisch geföhnten Haaren und Make-up im Gesicht, zog sie das jadegrüne Kleid an. Es war alt, aber ihr Lieblingskleid: das Kleid der Wahl für glamouröse Abende. Es legte sich um ihre nackten Beine, als sie ins Wohnzimmer ging.
Ein L-förmiges Sofa stand in der einen Ecke, drei samtbezogene Sessel in einem Halbkreis auf der anderen Seite des großen, tiefen Couchtisches. Zwei Lampen auf kleinen Beistelltischen, gepaart mit dem Licht, das von den Balkonlampen hereinschien, schafften ein entspanntes, bequemes Ambiente. Es hätte eigentlich perfekt sein sollen, aber Natasha konnte das unruhige Gefühl nicht abschütteln. Es war lächerlich, sich wegen des Upgrades so sehr zu sorgen. Das war alles, was sie beschäftigte, oder? Sonst nichts. Sie bildete sich nur ein, dass ihre Freundinnen sie in letzter Zeit mieden, oder? Und wenn sie mit ihr sprachen, lag da etwas Fieses in ihren Worten oder hatte sie sich das eingebildet?
Als sie Single gewesen war, gab es Momente, in denen sie sich ausgeschlossen fühlte. Irgendwie abseits. Sie konnte das Jammern und Klagen über Eheleben, Schwangerschaftsbeschwerden, Geburten und Kindererziehung nicht nachvollziehen. Also hatte sie es eben so akzeptiert, wie es war. Sie waren Ehefrauen, sie war es nicht. Es war ihre gemeinsame Geschichte gewesen, die sie in all den Jahren zusammengehalten hatte, nicht die individuellen Lebenserfahrungen der letzten Jahre. Aber sollte sie jetzt nicht auch in den Ehefrauenclub aufgenommen werden?
Oder vielleicht lag es auch nur an ihr. Es waren Wochen vergangen, seit sie aufgehört hatte, zu arbeiten. Sie war davon ausgegangen, dass sie sich inzwischen besser fühlen würde – entspannter, friedlicher. Stattdessen fühlte sie sich verunsichert. Vielleicht lag Barbara da richtig und sie sollte zur Therapie gehen.
Sie schob die Balkontür auf und ging nach draußen. Es war eine warme Nacht. Es wehte nur eine leichte Brise vom Meer, die ihr Kleid hochwehte. Es waren keine Lichter zu sehen, nur weite Leere. Ein dunkles, leeres Nichts. Sie zitterte. Sie legte die Arme übereinander, um sich zu wärmen. Das kalte Metall der Reling schnitt durch ihr Kleid in ihre Haut.
Die Balkontüren waren hinter ihr zugefallen. Sie war sich auf einmal der Stille bewusst, die nur durch das Rauschen der Wellen und wie sie gegen die Schiffsseite schlugen unterbrochen wurde. Sie lehnte sich über die Reling und schaute nach unten. Dort gab es ausreichend Licht, um die Gischt, die neben dem Schiff herpeitschte, auszuleuchten. Wenn sie sich aber aufrecht hinstellte und auf das Meer blickte, schien es keine Grenze zwischen Meer und Himmel zu geben, ganz egal, wie sehr sie ihre Augen anstrengte.
Es war so, als ob sie in den Abgrund schauen würde. Und auf einmal war sie wieder zurück auf der Intensivstation und musste sich noch einmal dem ganzen Leid stellen.
Sie hatte geglaubt, dass sie sich irgendwann an den Tod gewöhnen würde. Auf einer immer vollen Intensivstation konnte man nun mal nicht jeden retten. Aber es gab Momente in den letzten Jahren, in denen sie gar niemanden mehr retteten. Das war der Albtraum, der sie weiterhin verfolgte.
8
TRACY ANN
Tracy Ann tanzte mit den Händen in der Luft durch den Raum, was den hauchdünnen Stoff ihres Kleides zum Flattern brachte. „Wie sehe ich aus?“
„Wunderschön, wie immer.“ Blake nahm ihre Hand, zog sie zu sich und drückte seine Lippen auf ihre Wange. „Du wirst die schönste Frau im Raum sein.“
Sie lächelte ihn an. „Nicht, dass du auf irgendeine Art voreingenommen wärst!“ Es war ein Running Gag unter ihren Freundinnen, wie sehr Blake sie vergötterte. Sie waren fast sechzehn Jahre verheiratet und seine Liebe schien nie ins Wanken geraten zu sein. Wenn überhaupt, schien er sogar noch mehr von ihr verzaubert zu sein, als damals, als sie sich das erste Mal begegnet waren.
„Ich sag nur, wie es ist.“
Und so war Blake einfach. Er war der ehrlichste, aufrichtigste Mensch. Und der anständigste.
Tracy Ann fuhr mit einer Hand über ihr Kleid und störte sich an einer Falte im Stoff, die ihr bisher noch nicht aufgefallen war. Sie drückte sie platt und hoffte, dass sie verschwinden würde, fragte sich, ob ihr noch genug Zeit blieb, das Kleid auszuziehen und in die Wäschekammer zu rennen. „Schau dir das an“, sagte sie und zeigte Blake die Falte. „Ich muss das bügeln.“
Er schob ihre Hand zur Seite und begutachtete die Stelle. „Nein“, sagte er entschlossen, „ich verspreche, das fällt nicht auf.“
Und das war’s dann. Denn wenn Blake sagte, dass etwas nicht auffiel, dann tat es das auch nicht. Sie konnte ihm vollkommen vertrauen. Vollkommen.
„Worüber haben du und Daniel während des Flugs gesprochen?“ Sie bückte sich, um die zum Kleid passenden Sandalen, die sie mitgebracht hatte, anzuziehen. Sie würden sie noch vor Ende des Abends vor Schmerzen umbringen, aber sie sahen gut aus. „Ihr wart ja nahezu ununterbrochen in ein Gespräch vertieft.“ Sie stellte sich aufrecht hin und setzte ein Lächeln auf. „Männersachen? Golf, Rugby und die Aktienpreise.“
Blake band seine Krawatte. Als er fertig war, zog er sie leicht schief fest, dann antwortete er. „Ich erinnere mich gar nicht daran, dass ich so viel mit ihm geredet habe. Ich saß nur neben ihm, weil Natasha meinen Platz geklaut hat.“
„Also hatte er nichts Interessantes zu erzählen?“
„Irgendwas Banales über Rugby, glaube ich. Oder war es Cricket?“ Blake legte die Stirn in Falten. „Irgendwas über Sport auf jeden Fall. Du weißt, wie er ist; alles, was ich tun musste, war hier und da zu nicken und ihn vor sich hinplappern zu lassen. Er mag es, im Mittelpunkt zu stehen.“
Tracy Ann rückte seine Krawatte gerade. „So ist es besser. Du siehst sehr gut aus.“ Das war er. Gut aussehend, lieb, ehrlich, aufmerksam. Wenn er aber je erfahren würde, was sie getan hatte, dann würde er ihr garantiert nicht vergeben können. Sie war sich nicht sicher, ob er das je könnte.
Sie war so furchtbar dumm gewesen und sie wusste nicht, ob sie das je wieder geradebiegen konnte. Diese Kreuzfahrt war ein Risiko, das sie eingehen musste.
Blake zu erzählen, was sie getan hatte, war keine Option. Es würde ihn zerstören. Aber sie könnte es ihren Freundinnen erzählen. Mit ihrer Hilfe konnte sie vielleicht aus dem Schlamassel, den sie verursacht hatte, rauskommen.