Prolog
Die Jungen sehen zu, wie sie stirbt. Für den Jüngeren der beiden mischen sich Panik, sogar Entsetzen, mit Neugier. Beim anderen ist es eine zurückhaltendere, fokussierte Faszination. Das hier ist, was sie geplant hatten. Worüber sie gesprochen hatten. Worauf sie gewartet hatten. Worauf ihr ganzer Sommer hinausgelaufen war. Ein Sommer, an den sie sich für immer erinnern werden.
Dann beginnen die Dinge schiefzugehen.
Gerade als sie überzeugt sind, dass sie entgleitet, dass sie die große Kluft zwischen Leben und Tod überquert, bewegt sie sich.
„Mir ist nicht gut“, murmelt sie. „Ich muss nach Hause.“ Sie versucht aufzustehen. Fällt wieder hin. „Ich fühle mich furchtbar“, murmelt sie.
„Leg dich wieder hin“, sagt der ältere Junge.
„Vielleicht sollten wir …“, beginnt der Jüngere, doch sein älterer Bruder bringt ihn mit einem Blick zum Schweigen.
„Leg dich hin“, wiederholt der Ältere.
„Ich glaube, ich sollte nach Hause gehen“, wimmert sie. Aber der ältere Junge tritt vor und versperrt ihr den Weg. Weiß sie es, fragt sich der Jüngere, weiß sie, was sie tun? Warum sie sie hierhergebracht haben? Die Planung dahinter. Das Warten. Den Verrat.
Sie bewegt sich weiter.
Sie lebt noch, versucht erneut aufzustehen, Hände und Beine kratzen und schaben.
Es muss etwas geschehen.
Der ältere Junge tritt vor, hält ihr eine Schale an die Lippen und kippt sie zurück, versucht, sie zum Trinken zu zwingen.
Sie prustet und schnappt nach Luft.
Als sie versucht zu entkommen, gibt er ihr einen Stoß, nur einen kleinen Schubser, und sie fällt zurück und knallt mit dem Kopf gegen die Wand des Baumhauses. Sie rührt sich nicht. Er gibt ihr einen kleinen Schubs. Nur einen kleinen. Aber weil sie schwach und müde ist, stürzt sie schnell. Das dumpfe Aufschlagen ihres Kopfes an der Rückwand des Baumhauses klingt wie ein Kanonenschuss, dessen gewaltiger Einschlag sich durch die Zeit ausbreitet, ihre Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft berührt.
Der jüngere Bruder ist sich dessen sicher. Er spürt es in sich. Es ist unmöglich, dass dies hier nicht ihre Zukunft beeinflusst. Sie neu formt und umgestaltet. Sie beide auf einen neuen Weg schickt, sie zu anderen Menschen macht.
„Hat ihre Seele sie verlassen?“, fragt der jüngere Junge.
„Ja“, sagt der Ältere. „Sie schwebt jetzt davon. Ich kann es spüren.“
Der jüngere Bruder spürt plötzlich einen Ansturm der Realität – es ist, als ob die Fassade des ganzen Opfers und die Theorie dahinter lächerlich zu werden beginnen und das wahre Grauen dessen, was geschieht, deutlich wird.
„Oh Gott“, stöhnt er. „Oh Gott. Was haben wir getan?“
Kapitel Eins
ROBERT
Es kommt nicht oft vor, dass Robert einen wirklich großartigen Tag hat, aber heute weiß er ganz sicher, dass dies einer davon ist. Alles ist gut gelaufen. Er ist von Natur aus ein vorsichtiger Mensch und macht sich oft Sorgen, dass selbst die besten Pläne irgendwo auf dem Weg auf Hindernisse stoßen könnten. Aber nicht heute.
Er macht sich auf den Weg zu seiner Wohnung, steigt an der U‑Bahn-Station Knightsbridge aus und bemerkt kaum die Menschenmassen, die drängeln und schubsen. Mit den Gedanken ist er noch immer im Büro, wo der CEO der Wohltätigkeitsorganisation, für die er arbeitet, ihn persönlich in einem internationalen Memo an das gesamte Unternehmen erwähnt hat. Er denkt auch an Laura aus der Rechtsabteilung, die ihm bei WhatsApp gratuliert und gefragt hat, ob sie beide in der folgenden Woche etwas trinken gehen könnten. Zwei Glücksfälle an einem Tag. Er hat sich nie als einen vom Glück gesegneten Menschen gesehen. Sein älterer Bruder Kieran ist normalerweise der Glückspilz. Beide hatten ihre eigenen Wege gefunden, um durch die unruhigen Gewässer des Erwachsenseins zu navigieren. Sie mussten sich Pfade bahnen, die zu ihnen passten, die zu ihren Persönlichkeiten passten. Beide haben ihre eigenen Dämonen zu bekämpfen. Gemeinsame Dämonen. Dinge, mit denen sie im Laufe der Jahre ringen mussten. Aber daran will er jetzt nicht denken. Nicht heute.
Robert geht den Lowndes Square entlang, in Richtung seiner Wohnung in der Wilton Crescent, und nimmt die etwas längere Route. Er möchte seine Zeit draußen verlängern. Es ist ein wunderschöner Abend, die Sonne taucht die Straßen Londons in ein goldenes Licht. Die Stadt befindet sich seit ein paar Wochen in einer Hitzeperiode, und bis jetzt hat er sich wie alle anderen, die regelmäßig die U‑Bahn nehmen, darüber beschwert – aber nicht heute. Heute genießt er die Hitze, liebt die warme Brise, die durch die Straßen weht, die vertrockneten Blätter, die fallen und um die geparkten Autos geweht werden. „Scheinherbst“, hat er gehört, wird das genannt. Die Farben der nächsten Jahreszeit treten verfrüht auf, weil die Blätter ausgetrocknet sind. Wie auch immer der technische Begriff dafür lautet, er findet den Effekt beeindruckend.
Zu Hause angekommen, trifft er auf seinen Mitbewohner Albie, der ein Tumblerglas mit gestoßenem Eis, Fruchtsaft und Wodka füllt.
„Gute Idee“, sagt er. „Mach mir auch einen davon.“
Albie grinst. Ursprünglich hat Robert ihn bei sich einziehen lassen, um dessen älterem Bruder einen Gefallen zu tun, mit dem er in seiner Schulzeit befreundet war. Albie ist neunundzwanzig, Schauspieler in West-End-Shows, und die Lage der Wohnung im Zentrum Londons bedeutet, dass er zu Fuß zur Arbeit gehen kann, wobei Robert ihm eine niedrige Miete für die Gegend berechnet. Sie hatten sich sofort gut verstanden, als er im vergangenen Jahr eingezogen war, und die Vereinbarung, die ursprünglich nur ein paar Monate dauern sollte, bis er eine andere Wohngemeinschaft mit irgendwelchen Theaterleuten gefunden hätte, ist auf unbestimmte Zeit verlängert worden. Robert stört das nicht. Auch wenn er das Geld nicht wirklich braucht, gefällt ihm das Gefühl, in der Freundschaft wie ein älterer Bruder zu sein. In seiner Familie war er immer der Jüngere und wurde auch so behandelt, als wäre er eine naive Seele, die eines Tages noch herausfinden wird, wie die Welt funktioniert. Mit Albie hingegen kann er der erfahrene Mann in den Dreißigern sein, der den unerfahrenen Jüngeren in die Wege der großen Stadt einführt – oder so ähnlich. Und als Single Mitte dreißig kann das Leben einsam sein, also freut er sich über die Gesellschaft.
„Ich dachte, du fängst heute Abend bei Phantom an?“, erkundigt sich Robert, als er seine Laptoptasche abstellt und das Getränk aufnimmt.
„Das ist nächste Woche“, sagt Albie. „Heute war Probe. Willst du irgendwohin ausgehen?“
Robert überlegt einen Moment, lehnt dann aber ab. Er hat den Abendspaziergang vom Bahnhof genossen, aber jetzt, da er zu Hause ist, will er den Abend im kühlen, ruhigen neuen Kinoraum verbringen, den er in einem der umgebauten Gästezimmer eingerichtet hat. Also organisiert er mit ein paar Fingertipps auf seinem Telefon eine Essenslieferung von Ottolenghi, und er und Albie verbringen ein paar angenehme Stunden damit, sich während des größten Teils des Filmes zu unterhalten, bis das Gespräch verstummt und Albie einschläft. Als der Abspann läuft, stupst Robert ihn an und sagt, dass es vorbei ist, woraufhin Albie murmelt, dass ihn der Probentag müde gemacht hat. Dann schlurft er in Richtung Badezimmer und schließlich ins Bett.
Robert bleibt vor dem Bildschirm sitzen, fühlt sich zu wach, um an Schlaf zu denken. Er schaltet auf normales Fernsehen um und sieht sich das Ende einer Spätnachrichten-Sendung an. Danach folgt eine Wiederholung der ersten Folge einer neuen Dramaserie, die Anfang der Woche gestartet ist.
„Mit Szenen, die einige Zuschauer gleich zu Beginn des Programms als verstörend empfinden könnten“, warnt der Ansager, „hier eine weitere Gelegenheit, den ersten Teil unseres neuen Thrillers The Tree House zu sehen.“
Der Titel des Dramas löst einen tiefen Stich in ihm aus. Es ist ein Geräusch wie eine ferne Sirene, die Unruhe signalisiert. Er ist das gewohnt, auch wenn es das Ganze nicht weniger unangenehm macht. Es gibt ständig Erinnerungen an das, was vor all den Jahren geschehen ist.
Aber das, was folgt, ist mehr als nur eine Erinnerung. Als die Vorspannsequenz vorbei ist, steht Roberts Welt Kopf.
Zwei Teenagerjungen, die vor einem Mädchen stehen.
Mit dem Rücken zur Kamera, während ein Mädchen vor ihnen am Boden liegt.
Ein silberner Kelch rollt zu Boden.
Dann sieht man die Gesichter der beiden Jungen, die zuschauen.
„Hat ihre Seele sie verlassen?“, fragt der Jüngere der beiden.
„Ja“, sagt der Ältere. „Sie schwebt jetzt davon. Ich kann es spüren.“
Robert schaltet den Fernseher aus, stürzt aus dem Raum und erbricht sich in die Küchenspüle.
Seine Hände klammern sich an die Seiten, wobei er einige Töpfe auf dem Abtropfgestell scheppernd zu Boden stößt. Das Geräusch schmerzt in seinem Kopf, seine Gedanken sind wirr, seine Sicht verschwimmt, sein Herz rast.
„Was ist los?“, fragt eine Stimme aus der Tür. Robert richtet sich schwankend auf und öffnet den Wasserhahn. Er wirft einen Blick zu Albie, der in der Tür steht, die Stirn gerunzelt, Sorge im Gesicht.
„Woah, du siehst furchtbar aus. Alles okay?“
Robert nickt, unfähig, Worte zu formen. Er trägt noch immer sein Arbeitshemd und öffnet die obersten Knöpfe, wünschend, er hätte sich früher umgezogen – ja, er wünscht, alles Frühere wäre nicht passiert. Er hätte Albies Angebot annehmen sollen, irgendwohin auszugehen, oder gleich nach dem Film ins Bett gehen sollen. Alles, was ihn davon abgehalten hätte, den Fernseher einzuschalten und zu sehen, was er gerade gesehen hat.
Albie kommt zu ihm herüber. „Bist du krank? Du glühst ja geradezu.“
Robert schweigt ein paar Sekunden lang, versucht nur, seinen Atem zu beruhigen.
„Ja“, sagt er schließlich. „Es ist … Ich glaube, es ist nur die Hitze. Das ist alles. Vielleicht das Essen und die Drinks und … Mir geht’s gut. Mir geht’s gut.“
Albie füllt ein Glas aus dem Wasserspender im Kühlschrank und reicht es ihm.
„Danke“, keucht Robert und nimmt ein paar Schlucke.
„Brauchst du vielleicht einen Arzt oder ein Krankenhaus?“, fragt Albie und mustert ihn vorsichtig. „Du siehst wirklich nicht gut aus.“
Robert schüttelt den Kopf. „Nein, nein, mir geht’s gut. Das wird schon wieder. Nur so ein komischer Anfall, nehme ich an.“ Er hat in seinem Leben noch nie die Worte komischer Anfall benutzt, weiß nicht einmal genau, was sie bedeuten sollen. Er will nur, dass Albie zurück ins Bett geht, damit er versuchen kann, seine Gedanken zu ordnen.
Nachdem er ihm auf die Schulter geklopft und gesagt hat, er solle ihn rufen, falls er Hilfe brauche, schlurft Albie wieder in sein Schlafzimmer und lässt Robert allein, der noch immer schwer atmet, das Gesicht brennend vor Hitze. Aber schließlich ist er in der Lage, zu einer nüchternen, klaren Schlussfolgerung zu kommen. Der einzigen Schlussfolgerung, die erklären könnte, was er gerade im Fernsehen gesehen hat.
Jemand weiß, was er und sein Bruder vor zwanzig Jahren getan haben.
Kapitel Zwei
ROBERT
Sobald er sich dazu in der Lage fühlt, verlässt Robert die Küche und geht in sein Schlafzimmer. Hektisch zieht er seine Kleidung aus, reißt dabei einen Knopf von seinem Hemd ab und wirft einen Stapel Bücher auf seinem Nachttisch um. Es ist ihm egal. Er ist nur dankbar, dass der Lärm Albie nicht dazu veranlasst, hereinzukommen und mehr Fragen zu stellen und ihn von dem abzulenken, was er tun muss. Nämlich mit seinem Bruder sprechen. Kieran wird die Antworten haben. Er wird wissen, wie man das regelt.
Er greift nach seinem Telefon, tippt auf Kierans Namen in seinen Kontakten und wartet, bis der Anruf durchgestellt wird. Doch das wird er nicht. Es klingelt bloß. Kieran hat nicht einmal seine Mailbox eingeschaltet. Wenn jemand wirklich mit mir sprechen muss, ruft er mich zurück, hat er mal gesagt.
„Verdammte Scheiße“, murmelt Robert vor sich hin, während er erneut auf den Namen seines Bruders tippt. „Geh ran, Kieran. Bitte geh ran.“ Nichts. Er fragt sich, ob Kieran zu Hause vor dem Fernseher eingeschlafen ist, und versucht, das Handy seiner Mum anzurufen, um sie zu fragen, bekommt aber auch dort keine Antwort.
Robert schleudert sein Telefon aufs Bett und spürt ein Stechen im Arm. Solche Schmerzen sind nicht ungewöhnlich – sein rechter Unterarm und das Handgelenk bereiten ihm oft Schmerzen, obwohl die Ärzte nie erklären konnten, weshalb. Instinktiv öffnet er die Schublade seines Nachttischs und nimmt eine Schachtel Codein und Ibuprofen heraus. Nachdem er zwei Tabletten geschluckt hat, versucht er es erneut bei Kieran. Zu seiner Überraschung nimmt dieser ab.
„Was gibt’s, Rob?“, sagt Kieran, die Stimme langsam und undeutlich.
„Kieran … Es ist etwas Schreckliches …“
Seine Worte werden von einem verzerrten Geräusch unterbrochen, gefolgt von gemurmelten Flüchen.
Robert spürt einen Anflug von Wut. „Kieran, hör mir zu!“
Er glaubt, seinen Bruder lachen zu hören.
„Verdammt!“, faucht Robert. „Bist du betrunken, zugedröhnt oder gerade am Ficken? Oder alles zusammen?“
Ein dumpfes Atemgeräusch rauscht in der Leitung, dann hört er eine andere Stimme, einen Mann mit schottischem Akzent, deutlich sagen: „Willst du noch ‘ne Line, Kumpel? Oder bisschen Keta?“
Dann wird das Gespräch unterbrochen.
Robert umklammert sein Telefon so fest, dass es an ein Wunder grenzt, dass es nicht bricht. Er wählt erneut, doch es klingelt bloß. Nicht, dass er viel Sinnvolles aus Kieran herausbekommen würde, selbst wenn er noch einmal dranginge.
Nach ein paar Sekunden leuchtet der Bildschirm mit einem eingehenden Anruf auf. Robert nimmt ab, ohne den Namen auf dem Display richtig wahrzunehmen, und ist für einen Moment verwirrt, die Stimme seiner Mutter zu hören.
„Tut mir leid, dass ich deinen Anruf verpasst habe, Robert. So spät rufst du doch sonst nicht an. Geht es dir gut?“
„Äh … Mum, ja … Ich …“ Er bereut sofort, sie angerufen zu haben, besonders da er weiß, dass Kieran sich irgendwo zudröhnt. Er muss versuchen, ruhig zu bleiben, sich normal zu geben.
„Hey, Mum“, sagt Robert, wobei sein Versuch, seine Stimme leicht klingen zu lassen, seltsam hoch ausfällt. „Ich wollte mit Kieran sprechen. Und fragen, ob er bei dir ist, aber ich glaube, er ist unterwegs.“
„Ob Kieran bei mir ist?“, wiederholt sie, sichtlich verwirrt. Sie spricht leise, und Robert fragt sich, ob sein Vater in der Nähe schläft. „Nein, nein, er ist ausgegangen? Was ist los?“
„Nichts ist los“, antwortet er, und verzieht das Gesicht, weil die Worte so unnatürlich klingen. Offensichtlich ist etwas los. Aber das wird er ihr sicher nicht sagen. Mit einem dumpfen Geräusch lässt Robert sich auf sein Bett fallen und verflucht sich dafür, nicht einfach behauptet zu haben, er habe sie aus Versehen angerufen. „Ich wollte nur mit ihm über etwas sprechen. Tut mir leid, dass ich dich geweckt habe.“
„Du hast mich nicht geweckt. Ich war bloß kurz bei deinem Vater, um nach ihm zu sehen, aber ich bin schon wieder aus seinem Zimmer raus. Ich war damit beschäftigt, Bücher in der Bibliothek zu katalogisieren. Ist schon eine Weile her, dass ich eine richtige Bestandsaufnahme gemacht habe. Du klingst seltsam, Robert. Was ist los?“
„Nichts … Muskelschmerzen. Ich nehme ein Schmerzmittel. Es geht schon.“
Seine Mutter seufzt. „Du musst kein Schmerzmittel nehmen. Du musst dich nur vor und nach dem Fitnessstudio oder dem Joggen dehnen, morgens ein paar Übungen machen, und schon ist alles wieder gut.“
„So einfach ist das nicht …“
„Falls du weiterhin die großen Pharmakonzerne unterstützen willst, ist das natürlich deine Entscheidung. Aber wenn du mich fragst …“
„Ich frage dich nicht, Mum, du hast keine besonders gute Bilanz, was medizinische Ratschläge angeht.“
Eine angespannte Stille entsteht.
Dann antwortet seine Mutter: „Wie gesagt, Kieran ist nicht hier. Du solltest es morgen versuchen. Vorausgesetzt, sein Kater ist nicht zu schlimm. Viel Glück, etwas Vernünftiges aus ihm herauszubekommen. Er ist oft die ganze Nacht unterwegs. Als er meinte, er würde wieder nach Hause ziehen, um mir bei der Pflege deines Vaters zu helfen, hatte ich mir etwas mehr Einsatz und Aufmerksamkeit erhofft.“ Sie schnaubt missbilligend. Dies ist nicht das erste Mal, dass seine Mutter das erwähnt, aber er kann sich jetzt nicht mit ihren Beschwerden über Kieran befassen. Er muss sich auf das Wesentliche konzentrieren. „Aber ich vermute, die Verlockung von Alkohol und Frauen ist zu stark“, wärmt sie sich weiter für das Thema auf.
„Ich versuch’s später noch mal“, unterbricht er sie. „Oder morgen. Es ist … nichts Dringendes.“ Schon wieder hat er das Gefühl, dass seine Lüge offensichtlich ist. „Ich muss auflegen, Mum. Ich rufe dich bald wieder an oder komme vorbei. Gute Nacht.“
Robert beendet das Gespräch, bevor sie ihn noch länger aufhält. Er lässt das Telefon fallen, wirft sich rücklings aufs Bett und starrt an die Decke. Er hat eine vage Vorstellung, dass er am Morgen klarer denken können wird. Einen Plan entwickeln kann. Eine Strategie. Ja, das ist es, was er braucht – eine Strategie. So wie er sie bei der Arbeit entwirft, um Probleme zu lösen. Das macht er ständig – Situationen managen, Krisen bewältigen, Überraschungen auffangen, Pläne ändern und anpassen, Ideen umleiten … All diese Wörter bringen eine seltsame Art von Trost in seinen vor Gedanken wirbelnden Kopf. Das Gefühl von Ordnung, das sie erzeugen, trägt ihn in einen unruhigen Schlaf.
Vor vielen Jahren hatten sie sich darauf geeinigt, nicht über jene Nacht zu sprechen. Es war eine Bitte von Robert gewesen, nicht lange nachdem es passiert war. Nein, keine Bitte. Eine Forderung. Er erinnert sich, als wäre es gestern gewesen. Wie er in einem Krankenhausbett gesessen hatte. Kieran, der ihn besuchte. Robert, der ihm sagte, dass er nie wieder über das sprechen wolle, was geschehen war. Und Kieran, das muss man ihm lassen, hatte sich daran gehalten. Er war nie derjenige gewesen, der dieses Thema aufbrachte. Im Laufe der Jahre hatte es gelegentlich Andeutungen gegeben, aber meistens hatten sie einfach ihr Leben weitergeführt. So getan, als wäre nie etwas passiert.
Aber das hier ist etwas anderes, denkt Robert, während er nach seinem Telefon greift. Dann zögert er. Ist es wirklich anders? Oder macht Robert einfach wieder das, was er manchmal tut – katastrophisieren? Im Laufe der Jahre hatte es einige Vorfälle gegeben, die ihn aus der Bahn geworfen haben, ihn in dunkle Phasen voller Qual über die Rolle gestürzt haben, die er bei dem Geschehen im Jahr 2004 gespielt hatte.
Aber nichts wie das, lässt eine kleine Stimme in seinem Kopf vernehmen. Nichts so … Ungewöhnliches.
„Geht’s dir gut?“
Albie steht im Türrahmen. Robert muss wohl die Tür nicht geschlossen haben, als er ins Bett gegangen ist. Er merkt, dass er in einer seltsamen Position liegt, halb aus dem Bett hängend, halb drin, einen Fuß auf dem Teppich, eine Hand ausgestreckt mit dem Telefon darin. Das Abbild der Unentschlossenheit.
„Ja“, sagt Robert, legt das Telefon wieder ab und bringt sich in eine normalere Haltung, indem er sich auf die Bettkante setzt. „Ja, ich glaube schon.“
Albie sieht ihn mit dem gleichen Blick an wie in der Nacht zuvor. Dann bemerkt Robert, dass Albie auf den Boden schaut, wo leere Blister der Schmerzmittel liegen.
„Vielleicht solltest du heute nicht zur Arbeit gehen“, schlägt Albie vor, die Augen noch immer auf das Medikament gerichtet.
Arbeit. Robert hatte alles, was so gewöhnlich ist wie Arbeit, völlig vergessen. Er greift nach seinem Telefon und tippt auf den Bildschirm, für einen Moment glaubt er, dass es bereits zehn Uhr und er Stunden zu spät ist, doch es ist erst sieben Uhr morgens. Er hat noch Zeit. Er steht vom Bett auf, streckt sich und versichert Albie, dass er völlig in der Lage sei, ins Büro zu gehen.
Er erinnert sich kaum an den Weg. Seine Füße tragen ihn zu den richtigen Rolltreppen, Bahnsteigen, Waggons und Ausgängen, aber er nimmt kaum wahr, wohin er geht. Als er an seinem Schreibtisch sitzt, weiß er, dass es ein Fehler war, herzukommen. Sein Kopf ist ganz woanders. Arbeiten erscheint ihm unvorstellbar kompliziert. Sinnlos sogar. Er hätte eine Krankheit vortäuschen oder sich einen familiären Notfall ausdenken sollen. Irgendetwas, das ihn davon befreit hätte, ein voll funktionsfähiger, normaler Mensch sein zu müssen. Die Leute sagen etwas zu ihm, aber die Informationen dringen nicht zu ihm durch. Er nickt, versucht, sich normal zu verhalten, weiß aber, dass ihm das nicht gelingt. Laura kommt an seinen Schreibtisch, erzählt ihm, wie sehr sie sich auf ihre Verabredung zum Trinken in der nächsten Woche freut. Sie schlägt Dienstag als Möglichkeit vor.
„Dienstag?“, fragt er vage und runzelt die Stirn.
Sie sieht sofort verletzt aus. Murmelt etwas davon, dass sie „versteht, wenn er zu beschäftigt ist“, und sie sich später melden wird. Sie wirft einen Blick zurück auf seinen Schreibtisch, Verwirrung im Gesicht.
Ein Nachmittag voller Meetings liegt vor ihm. Er ist sich nicht sicher, ob er das durchsteht. Was ihn endgültig zurück in die Sphäre der Panik stößt, ist ein Gespräch, das er zufällig mithört.
Zwei junge Frauen aus der Buchhaltung unterhalten sich in der Küche bei der Kaffeemaschine.
„Das muss ich mir ansehen“, sagt die eine, während sie ihre Tasse füllt.
Robert stellt gerade einen Teller in die Spüle, als er die andere Frau – er glaubt, sie heißt Steph – antworten hört: „Oh, auf jeden Fall. Es heißt The Tree House. Mein Mann und ich haben es an einem Abend durchgeschaut. Diese ganze Szene, wo die Jungs das Mädchen in einem Baumhaus opfern … Das ist kein Spoiler – man weiß, dass das passiert, das sieht man in den ersten paar Minuten. Aber trotzdem, es ist so unheimlich. Die Jungs sind total psycho.“
Das ist zu viel für Robert. Er verlässt die Küche. Verlässt das Büro. Geht hinaus auf die Straßen von Southwark. Er läuft und läuft, bis er in irgendein Café in der Great Suffolk Street kommt, weit genug vom Büro entfernt, dass es unwahrscheinlich ist, Kollegen zu begegnen. Dort nimmt er sein Handy heraus und googelt The Tree House TV series.
Er liest Rezensionen, Zusammenfassungen, Reaktionen in sozialen Medien. Die Leute fanden die dreiteilige Serie offenbar „fesselnd“, „packend“, „verstörend“, und einige Schlüsselsätze stechen heraus. Wichtige Details, die er lieber nie gelesen hätte, deren Bedeutung er aber nicht leugnen kann.
Von zwei Jungen vergiftet.
Ihr zerfetzter Körper wurde im Wald gefunden.
In Stücke gerissen.
Als er erkennt, dass es keinen Weg gibt, das zu ignorieren, keinen Weg, einfach so weiterzumachen, navigiert er in seinen Kontakten erneut zu einem Namen und tippt auf Anrufen.
„Kieran, ich bin’s. Es ist etwas Seltsames passiert. Etwas Schreckliches.“
Kapitel Drei
KIERAN
Kieran wird von seinem Handy geweckt. Das harte, mechanische Brummen unter seiner Wange lässt ihn aufschrecken und aufblicken.
Wo ist er? Er ist sich nicht sicher, aber er spürt, dass er sich draußen befindet. Er sieht Gebäude. Keine Wolkenkratzer allerdings, also ist das nicht London. Er ist auf einem Balkon – so viel kann sein vom Kater vernebeltes Gehirn feststellen. Aber wo?
Das Telefon vibriert weiter. Er blickt auf das Display und sieht den Namen seines Bruders.
„Hey, was gibt’s?“, fragt er gähnend.
„Kieran, ich bin’s. Bist du … Kannst du gerade reden?“
„Gerade reden? Was meinst du?“, murmelt er, der Mund trocken und die Stimme kratzig.
„Du klangst gestern Abend total zugedröhnt. Ich musste mit dir sprechen und du klangst wie ein Junkie.“
Jetzt erinnert sich Kieran. Er war mit seinen Kumpels in Soho unterwegs gewesen, und einer von ihnen, Matt, hatte ihn überredet, in einen besonders zwielichtigen Laden in der Greek Street namens Club Pleasure zu gehen, danach in eine noch zwielichtigere Wohnung gleich daneben mit einer Gruppe Mädchen. Er erinnert sich daran, wie er mit einer von ihnen auf dem Sofa rumgemacht hat und sie sich beschwert hat, dass die Jeans um seine Knöchel ständig vibrierten, weil Anrufe eingingen.
„Ach ja … Ich glaube, ich habe mit dir gesprochen“, murmelt Kieran. „War kein guter Moment. Ich war völlig breit.“
„Ja, das weiß ich. Bist du in letzter Zeit ziemlich oft. Und es ist verdammt nervig, wenn ich mit dir reden muss.“
„Was ist dir denn über die Leber gelaufen?“, stöhnt Kieran.
„Es ist was passiert“, sagt Robert, sichtlich gestresst. „Was Schreckliches.“
Mit einem Schlag ist er hellwach. „Was? Was ist los? Ist was mit Dad?“
„Nein, nein, was anderes.“
Kieran steht auf und streckt sich. Er spürt ein Ziehen im rechten Arm. Er glaubt, sich neulich im Fitnessstudio beim Rudern etwas gezerrt zu haben, und die seltsame Schlafposition auf einer Zweisitzer-Gartenbank hat es auch nicht gerade besser gemacht.
„Kann ich dich zurückrufen?“, murmelt er. „Ich bin gerade erst wach geworden.“
„Es ist Mittag“, sagt Robert, die Frustration, durchsetzt mit einem Hauch Verurteilung, deutlich in seiner Stimme hörbar. „An einem Wochentag. Bist du noch in London? Können wir uns treffen?“
„Nee … Ich glaube, ich bin in Colchester, bei Matt in der Wohnung. Verdammt, ich weiß nicht mal mehr, wie ich hierhergekommen bin.“
Er balanciert über den Balkon, steigt über leere Bierflaschen. In der Wohnung sieht er ein Mädchen, das er nicht kennt, schlafend auf dem Sofa, nur in Unterwäsche, ohne Oberteil. Matts jüngerer Bruder Jesse liegt mit dem Gesicht nach unten auf dem Teppich neben ihr.
„Ah. Du lebst also noch“, spottet Matt. Er steht an der Kücheninsel und sieht genauso fertig aus, wie Kieran sich fühlt, ein großes Glas Wasser in der Hand.
„Ja. Habe auf dem Balkon geschlafen. Muss weggepennt sein.“
Dann hört er ein fernes, blechernes Geräusch und blickt auf das Handy in seiner Hand. Gerade noch hörbar brüllt Robert „Kieran! Kieran!“ durch die Leitung.
„Warte kurz“, murmelt Kieran zu Matt und geht durch die Wohnung ins Bad. Er setzt sich auf den Badewannenrand und sagt: „Beruhige dich, ich bin hier. Also, was ist los?“
„Es ist … kompliziert … Vielleicht sollte ich … Ich weiß nicht, wie …“ In Roberts Stimme liegt jetzt ein Zögern, und es klingt, als bereue er es, Kieran angerufen zu haben – oder zumindest erwägt er, das Gespräch auf einen anderen Zeitpunkt zu verschieben, wenn Kieran klarer bei Verstand ist. Und tatsächlich lenkt Robert ein: „Ich glaube, ich sollte dich später anrufen.“
„Warum? Worum geht’s überhaupt?“, fragt Kieran gereizter, als er es beabsichtigt hat. Mit dem Zeh schiebt er die hellblaue Badematte hin und her, runzelt die Stirn und überlegt, ob er den Schrank über dem Waschbecken nach Paracetamol durchwühlen sollte, um gegen die zunehmenden Kopfschmerzen anzukämpfen.
„Hast du zufällig diese Woche ein Drama im Fernsehen gesehen, The Tree House?“
Die beiden letzten Worte der Frage lassen Kieran erstarren. „Wie heißt das?“
„The Tree House.“
Ein leichtes Kribbeln läuft ihm den Nacken hinunter – ein kleiner Schauer, der ihn mit den Schultern zucken lässt. „Nein, habe ich nicht. Worum geht’s dabei, Rob?“
Am anderen Ende der Leitung herrscht eine Pause. Kieran hört jemanden rufen: „Caramel Latte für Elaine!“
„Das ist nicht der richtige Ort, um darüber zu reden. Tut mir leid“, sagt Robert. „Ich sollte zurück zur Arbeit. Oder vielleicht gehe ich nach Hause. Mir ist nicht so gut. Geh einfach … wenn du zu Hause bist, geh online und gib The Tree House ITV series ein und schau’s dir an. Alle Folgen sind verfügbar. Ich glaube … Ich glaube, wir haben ein Problem. Aber schau es dir erst an, dann reden wir. Du wirst schon sehen, was ich meine.“
Dann ist die Leitung tot. Desorientiert und nun mit hämmernden Kopfschmerzen steht Kieran auf und macht sich auf die Suche nach den Schmerzmitteln, die er nehmen muss, bevor er Auto fährt.
Eineinhalb Stunden später bringt Kieran seinen Wagen mit quietschenden Reifen vor dem Elternhaus zum Stehen. Seine Mutter steht vor dem Haus, Gießkanne in der Hand, und kümmert sich um die trockenen, welken Pflanzen vor dem großen Gebäude aus der Regentschaftszeit.
„Es gibt ein Schlauchverbot“, verkündet sie, als Kieran aus dem Auto steigt, als wäre das eine wichtige Information, die er wissen sollte. „Ich dachte nicht, dass es so was noch gibt. Wahrscheinlich wegen des Drucks von diesen Öko-Aktivisten. Eine Überreaktion, wenn du mich fragst. Andererseits bewundere ich ihre Entschlossenheit und ihr Engagement.“
„Großartig“, grummelt er und schwankt ein wenig, während er auf die Haustür zugeht.
„Dir auch einen guten Morgen. Oder sollte ich besser sagen guten Nachmittag.“
„Komm mir nicht so“, grummelt er und hebt eine Hand an die Schläfe. „Ich habe Kopfschmerzen.“
„Du meinst einen Kater“, erwidert sie scharf. Er geht weiter und durch die geöffnete Tür. Hinter sich hört er ein metallisches Klirren – vermutlich wurde die Gießkanne im Eingangsbereich abgestellt –, gefolgt von einem knappen „Kieran.“
„Was?“, fragt er und dreht sich um.
„Du bist betrunken.“
Er lacht genervt auf. „Betrunken? Ein Kater ist nicht dasselbe wie betrunken sein.“
„Du solltest in diesem Zustand nicht Auto fahren“, sagt sie, ihre Stimme eisig und leise, aber dennoch durchdringend. Sie hatte schon immer diese Fähigkeit – es so wirken zu lassen, als hätte sie geschrien, obwohl ihre Stimme nur ein paar Stufen über dem Flüstern lag. „Du könntest deinen Führerschein verlieren und jemanden verletzen. Und nicht nur das – ich mache mir Sorgen um deinen Platz hier.“
Er verzieht das Gesicht. „Meinen Platz hier?“
„Deinen Platz hier, zu Hause. Und generell im Leben.“ Sie tritt einen Schritt auf ihn zu und legt ihm eine Hand auf die Schulter. „Liebling, so ein Verhalten mag akzeptabel gewesen sein, als du noch jung warst – wenn man großzügig ist. Aber langsam wird es etwas erbärmlich.“
Kierans Augen weiten sich. „Du findest, ich bin erbärmlich?“
Sie seufzt. „Nun, du bist fast vierzig. Verantwortungslose Abstürze hättest du vor einem Jahrzehnt hinter dir lassen sollen.“
„Ich bin noch Jahre von vierzig entfernt, also mach mich nicht älter, nur weil es dir in den Kram passt. Und ich wohne nur hier, um dir mit Dad zu helfen.“
Sie hebt eine Augenbraue. Er weiß genau, was sie damit sagen will, auch ohne dass sie es ausspricht. Besonders viel geholfen hat er nicht mit seinem Vater. Er hatte gedacht, er sei unglaublich selbstlos, als er mit siebenunddreißig wieder ins Elternhaus zog, um seine Mutter bei der Betreuung seines Vaters zu entlasten. Als bei ihm vor zwei Jahren Lungenkrebs diagnostiziert worden war, sah die Prognose zunächst positiv aus – er schien gut auf die erste Behandlung anzusprechen, und obwohl er längere Zeit krankgeschrieben war, wirkte er im Allgemeinen zuversichtlich. Doch dann wurde es schlimmer, und schließlich noch viel schlimmer, bis seine Frau und die Söhne die deutliche Verschlechterung nicht mehr übersehen konnten. Seitdem war ständige Pflege nötig.
Obwohl Kieran nun seit ein paar Monaten wieder im Haus lebt, hat er das meiste den anderen überlassen – seiner Mutter oder der Pflegekraft Maude, die jeden Tag kommt.
„Okay, tut mir leid. Ich werde versuchen, mehr zu machen“, verspricht er schließlich, nun peinlich berührt, während er in den Klamotten von gestern vor seiner Mutter steht, noch mit Sonnenbrille, der Kopf flehend nach mehr Tabletten und Ruhe.
„Ich weiß, dass du dir über Geld keine Sorgen machen musst, und ich sage nicht, dass dein Vater und ich nicht dankbar sind für deine Hilfe bei der Instandhaltung dieses Hauses. Aber ich würde es hassen, wenn du einer dieser Lottogewinner wärst, die zu jung reich werden und dann ihr Leben zwar mit gut gefülltem Bankkonto, aber mit Defiziten in anderer Hinsicht verbringen.“
„Okay, okay“, erwidert Kieran und wedelt abwehrend mit den Händen. „Ich helfe mehr im Haus und … so weiter. Ich muss mich nur kurz hinlegen. Mein Kopf …“
„Im Küchenschrank sind Schmerztabletten, falls du welche brauchst“, sagt seine Mutter, dreht sich auf dem Absatz um und nimmt beim Hinausgehen die Gießkanne wieder auf.
Kieran findet das Ibuprofen, schenkt sich ein Glas Wasser ein und lässt sich auf das Sofa in der Bibliothek fallen. Es ist so unfair, denkt er, dass man ihm im Grunde vorwirft, im jungen Alter im Lotto gewonnen zu haben und sein Erwachsenenleben ohne Arbeit zu verbringen.
Obwohl seine Familie nach allen Maßstäben schon vorher wohlhabend war, kostet der Unterhalt eines Hauses dieser Größe viel, und er weiß, dass er seinen Eltern vieles erleichtert hat, indem er einen Scheck nach dem anderen schrieb – für Dachsanierungen, Mauerarbeiten, neue Verkabelung und Gott weiß was noch. Ganz zu schweigen davon, dass er seinem Bruder eine Wohnung im Zentrum Londons gekauft hat, in der er mietfrei lebt.
Er denkt an Robert, und der merkwürdige Anruf von vorhin fällt ihm wieder ein. Und zwei Worte – The Tree House.
Er nimmt die Fernbedienung und schaltet den Fernseher an der Wand am anderen Ende der Bibliothek ein, öffnet die ITVX-App. Er muss nicht lange suchen, um die Serie zu finden. Sie prangt auf der Startseite, mit einem Zitat der Daily Mail, die sie offenbar erschreckend, fesselnd, verstörend nennt. Er klickt auf Play bei der ersten Folge.
Knapp drei Stunden später sitzt er immer noch auf dem Sofa, das Licht der Nachmittagssonne durch die hohen Fenster hat einen frühabendlichen Ton angenommen. Er greift nach seinem Telefon.
„Hi, ich bin’s. Ich hab’s mir angesehen. Ich sage nicht, dass wir in Panik geraten müssen, aber ich glaube, du könntest recht haben. Wir müssen uns treffen.“
Kapitel Vier
ROBERT
Robert geht gerade im Hyde Park spazieren, als er Kierans Anruf erhält.
Er hat beschlossen, nicht ins Büro zurückzukehren, weil er weiß, dass er sich sowieso nicht konzentrieren könnte. Gleichzeitig will er aber auch nicht zurück in seine Wohnung. Plötzlich fühlt sich sein komfortables Apartment klein und beengt an, wie ein erstickender Käfig. Doch jetzt, wo er draußen ist in der dunstigen Abendsonne und das Licht gesprenkelt durch die Bäume fällt und das Wasser glitzern lässt, fühlt er sich abgestumpft gegenüber der Schönheit Londons im Sommer. Ihm ist heiß und unwohl, und er kann kaum glauben, dass er noch vor vierundzwanzig Stunden auf dem Heimweg war, ganz beschwingt, voller Wertschätzung für das berauschende Summen und die Hitze der Stadt mitten in einer Hitzewelle. Die Menschen um ihn herum scheinen genau das in diesem Moment zu genießen – sich fröhlich unterhaltend, auf dem Weg zur U-Bahn-Station Hyde Park Corner, voller Vorfreude auf das Wochenende, das vor ihnen liegt.
Wohingegen er das Gefühl hat, ein drohendes Unheil schwebe über ihm. Seine persönliche Gewitterwolke, unsichtbar für alle anderen, für ihn jedoch deutlich spürbar.
Der Anruf von Kieran ist wie eine Bestätigung seiner schlimmsten Befürchtungen. Sein großer Bruder, sonst so ruhig, gelassen, unbeeindruckt, hat einen besorgten Tonfall, der Robert plötzlich frösteln lässt.
„Du hast recht. Irgendwas Seltsames geht hier vor.“
Du hast recht ist nicht das, was Robert hören will. Du übertreibst. Das ist nichts, worüber man sich Sorgen machen müsste. Das hatte er gehofft, von Kieran zu hören. Aber Kieran redet weiter, und was er erzählt, tut nichts, um das aufsteigende Gefühl der Angst in Roberts Magen zu lindern.
„Die Szene im Baumhaus. Sie ist … seltsam. Wie die Jungs miteinander reden …“
„Ich weiß“, antwortet Robert. „Ich werde diesen Moment nie vergessen. Es ist …“ Er schluckt, versucht, die Worte zu finden. „Es ist etwas, das sich in mein Gedächtnis eingebrannt hat, und ich verstehe nicht, wie irgendjemand wissen kann, was wir gesagt haben. Was wir getan haben.“
„Langsam“, beschwichtigt Kieran. „Lass uns das jetzt nicht wieder alles aufrollen.“ Er spricht, als würden er und Robert regelmäßig die Details dessen besprechen, was vor fast einundzwanzig Jahren passiert ist, obwohl sie das eigentlich nie tun. Robert hat sich oft gefragt, ob es Kieran ebenso im Kopf herumgeht wie ihm – wie eine Fliege, die man nicht loswird. Oder eine Wespe mit sehr scharfem Stachel.
„Ich kann nicht glauben, dass es schon zwanzig Jahre her ist“, sagt Robert leise und bleibt unter einem Baum am Rand der Serpentine stehen.
„Lass das“, fährt Kieran ihn an. „Lass uns dem Ganzen nicht zu viel Bedeutung beimessen.“
Robert spürt einen Anflug von Wut. „Du hast mich angerufen“, zischt er. „Du hättest mich nicht angerufen, wenn du nicht denken würdest, dass ich recht habe.“
„Nein, Rob, du bist derjenige, der das Ganze ins Rollen gebracht hat, der mich überhaupt erst darauf aufmerksam gemacht hat. Und ich stimme dir zu, es ist seltsam. Ich sage nur – lass uns nicht in blinde Panik verfallen und paranoid werden. Seltsame Dinge passieren.“
Allerdings, denkt Robert. Für ein paar Sekunden herrscht Stille in der Leitung, dann fragt Kieran: „Hast du es dir komplett angeschaut?“
Rob schüttelt den Kopf, obwohl sein Bruder ihn nicht sehen kann.
„Nein, habe ich nicht. Nur das erste Stück der ersten Folge. Aber ich habe ein paar Rezensionen gelesen und andere Details gesehen …“ Um ihn herum ist niemand, aber trotzdem senkt er die Stimme. „Details wie … Der Zustand der Leiche. Dass sie von Hunden angegriffen wurde.“
Kieran macht ein seltsames Geräusch, als würde er Luft durch die Zähne einziehen. „Ja, dieser Teil … Ist auch beunruhigend.“
„Verdammt, das ist furchtbar“, sagt Robert und bemüht sich, seine Stimme unter Kontrolle zu halten. „Ich gehe nach Hause und schaue mir alles an. Ich muss genau wissen, womit wir es zu tun haben. Ich hatte Angst davor. Ich glaube, deshalb bin ich nicht direkt nach Hause gegangen.“
„Wo bist du jetzt?“, fragt Kieran.
„Im Hyde Park.“
„Dann geh nach Hause und schau es dir an. Danach reden wir weiter. Aber bitte, versuch einen klaren Kopf zu bewahren, während du es siehst. Wir kommen da durch. Alles wird gut. Es wird immer alles gut.“
Robert verabschiedet sich von seinem Bruder und steckt nachdenklich das Telefon in die Tasche. Er denkt an die Vergangenheit. An Probleme, die jetzt die Gegenwart infizieren. Daran, dass er und sein Bruder offenbar sehr unterschiedliche Vorstellungen davon haben, was gut bedeutet.
***
Nach einem langsamen Spaziergang durch den Park geht Robert über den Belgrave Square in Richtung seiner Wohnung zurück. Er ist dankbar, dass Albie heute Abend auf einem Date ist, obwohl Robert inständig hofft, dass er das Mädchen nicht mit nach Hause bringt. Der Gedanke, höflich und nett zu einem Besuch sein zu müssen, ist ihm unerträglich – nicht, wenn er sich so fühlt.
Wie aufs Stichwort fährt seine Nachbarin, eine Frau in den Sechzigern namens Cassandra, mit ihrem Auto auf ihren Parkplatz und steigt mit einer Harrods-Tüte aus.
„Hallo, Robert, schön, Sie zu sehen“, sagt sie. Während er sich wünscht, er hätte sich unbemerkt in die Wohnung schleichen können, lächelt er und grüßt zurück, bleibt auf dem Gehweg stehen. Sie ist recht nett, Cassandra, und erinnert ihn ein wenig an seine eigene Mutter – auf eine kühle und distanzierte Art. Freundlich und wohlerzogen, aber mit einem stählernen Unterton, den er nicht ganz einordnen kann.
„Wie geht es Kieran?“, fragt sie und stellt die Papiertüte ab, um ihren Schlüsselbund herauszuholen. „Hilft er immer noch bei Ihren Eltern?“
Robert bestätigt das. Kieran kannte ihren Sohn aus der Schulzeit, und er war es auch, der ihm den Tipp gegeben hatte, dass in dem Haus neben dem seiner Mutter eine Wohnung zum Verkauf stand. Deshalb fragt sie regelmäßig nach ihm, und Robert weiß nie so recht, was er antworten soll, da sich im Leben seines Bruders von Monat zu Monat und Jahr zu Jahr kaum etwas ändert.
„Ein so netter Junge“, sagt sie, während sie ihre Haustür aufschließt. „Ich denke, manche Menschen sind einfach dazu bestimmt, das Richtige im Leben zu tun – und er gehört dazu.“
Sie verabschiedet sich mit einem Lächeln, und Robert fragt sich, ob in ihren Worten irgendwo ein Seitenhieb versteckt war. Vielleicht denkt sie, er selbst hätte zu seiner Familie nach Essex zurückziehen sollen, als sein Vater krank wurde. Dieses Muster ist nicht ungewöhnlich – die Leute denken gut von Kieran, loben jede gute Entscheidung von ihm übermäßig und übersehen seine Fehler. In dieser Hinsicht hat er einfach Glück. Nur ihre Mutter scheint ihn zu durchschauen.
Er schließt seine Wohnungstür auf und denkt an ein kürzliches Gespräch, in dem seine Mutter ihre Sorgen über Kierans Alkoholkonsum geäußert hatte – und darüber, dass er sich immer noch benehme, als wäre er in den Zwanzigern. Robert hatte ihr antworten wollen, dass das nichts Neues sei und dass es sie offenbar erst störe, seit es unter ihrem eigenen Dach geschieht. Aber stattdessen hatte er versucht, sie zu beruhigen, ihr versprochen, mit ihm zu reden.
„Er hatte in so mancher Hinsicht immer Glück“, hatte seine Mutter gesagt, „aber ich frage mich, ob das eines Tages sein Untergang sein wird.“
Robert schenkt sich ein Glas Wein ein und macht es sich im Kinoraum bequem. Er lässt den Alkohol ein wenig seine Nerven beruhigen und zwingt sich, erneut die Eröffnungsszene von The Tree House anzusehen. Sie ist genauso erschütternd, wie er sie vom Vorabend in Erinnerung hat. Danach folgt eine unheimliche Titel-Sequenz mit einem düsteren, hallenden Remix eines bekannten Popsongs als Titelmelodie, während Splitter von Holz aufblitzen, durchsetzt mit den Namen der Schauspieler. Am Ende fügen sich all diese Holzstücke zu einem Baum zusammen, mit einem Baumhaus in den gezackten Ästen und dem Serientitel in fetter Blockschrift darüber.
Das ist wahnsinnig, denkt Robert, während er die erste Folge ansieht. Das ist buchstäblich wahnsinnig.
Er schaut sich alle drei Teile an. Ohne Werbung dauert jede Folge weniger als fünfzig Minuten, doch es sind bereits über drei Stunden vergangen, bis er sich geistig und emotional in der Lage fühlt, aufzustehen und den Kinoraum zu verlassen. In der Küche schnappt er sich seinen Laptop und öffnet Chrome.
Er zögert ein paar Sekunden, überlegt, wie er am besten vorgeht, geht dann auf IMDb, findet die Seite zu The Tree House und klickt auf den Namen des Regisseurs: Jim Strike. Robert hat noch nie von ihm gehört, aber offenbar hat er viele bekannte Fernsehserien für BBC und ITV inszeniert, dazu ein paar kleinere britische Filme und einige Pilotfolgen von amerikanischen Kabelserien.
Dann klickt er auf den Drehbuchautor.
R.R. Dread.
Der Name lässt ihn frösteln. Auf IMDb gibt es kein Foto, und The Tree House (2025) scheint sein einziger Eintrag zu sein. Robert versucht es mit Google und landet nach kurzem Suchen auf der Website einer Literaturagentur mit Sitz in Hammersmith, die Autoren und Drehbuchautoren vertritt. Beim Herunterscrollen auf der Seite von R.R. Dread erscheint ein Foto, daneben eine kurze Biografie, in der steht, dass es sich um das Drehbuch-Pseudonym eines Romanautors namens Sean Smith handelt.
Er sieht ganz gewöhnlich aus, vermutlich Anfang bis Mitte dreißig, aber das lässt sich schwer sagen. Das Foto ist schwarz-weiß, aber er scheint helles Haar zu haben – und sehr tiefe, dunkle Augen.
Robert liest die Biografie. Er ist ein Schriftsteller aus dem Südwesten Englands, arbeitet an Romanen und Drehbüchern, wobei The Tree House seine erste beauftragte Arbeit war. Es scheint, als seien seine Romane nicht veröffentlicht worden – oder zumindest findet Robert keinen Hinweis darauf.
Er liest die Worte Südwesten Englands noch einmal, dann sieht er sich erneut das Gesicht des Mannes an.
Je länger er hinschaut, desto stärker beschleicht ihn ein ungutes Gefühl.