Kapitel 1
Piper
»Ich werde das nicht machen.« Piper klang sachlich, dabei brodelte es in ihr wie in einem Vulkan kurz vor dem Ausbruch.
»Es ist nicht so, als hättest du eine Wahl.« Terry lehnte sich entspannt auf seinem Bürostuhl zurück und schenkte ihr unentwegt dieses triumphierende Lächeln.
Absolut ätzend.
»Man hat immer eine Wahl. Außerdem hast du mich eingestellt, weil ich das richtige Bauchgefühl habe und mich durchsetzen kann.«
»Stimmt. Hast du den Job nicht angenommen, weil du von mir lernen wolltest?« Er tippte auf das kleine Holzbrett vor sich, auf dem in Großbuchstaben Chefredakteur stand. »Dazu gehört es auch, manchmal seine Komfortzone zu verlassen.«
»Komfortzone?«, platzte es aus ihr heraus. Schnell presste sie die Lippen aufeinander und sah zur Fensterfront, die versteckt zwischen den Hochhäusern Torontos den Ontariosee zeigte. Die Sonne ging gerade unter, verabschiedete sich vom Tag. Einen Herzschlag später blickte sie wieder zu Terry und fuhr ruhiger fort: »Du weißt, dass das damit nichts zu tun hat.«
Terry zuckte nur mit den Schultern. Es war ein Eingeständnis, das offensichtlich nichts änderte und stattdessen gefährlich an Pipers Wut über ihre Machtlosigkeit kitzelte.
»Ich könnte einfach kündigen, wenn du mich dazu zwingst.« Noch bevor sie ausgesprochen hatte, hätte sie sich am liebsten selbst auf die Zunge gebissen. Wieso funktionierte ihr Mund nur immer schneller als ihr Verstand?
Doch zum Glück lachte ihr Chefredakteur nur und schüttelte den Kopf. »Du weißt, was man über bellende Hunde sagt?«
Natürlich wusste sie das, und es entsprach der Wahrheit. Denn egal, wie die Situation auch war, und was sie davon hielt, sie würde niemals ihren Job hinschmeißen. Schließlich war er ihr Leben. Ihr persönlicher Jackpot, von dem sie während ihres Journalismus-Studiums nur geträumt hatte. Festangestellt bei Fembition, einem der Frauenmagazine schlechthin, und das mit eigener Kolumne. Sie konnte es manchmal selbst nicht glauben.
Terry faltete die Hände vor seinem Bauch. »Wir bleiben dabei: Du steigst am Montag in diesen Flieger nach Montreal für das Interview mit Edgar van der Linden. Deine Lesenden werden es dir danken.«
Das wagte Piper zu bezweifeln. Ihre Zielgruppe erwartete Geschichten von starken Frauen, die in dieser männerdominierten Welt ihre Wege gingen. Ein Interview mit einem selbstverliebten und überheblichen Macho-Arsch gehörte da auf keinen Fall dazu. Auch nicht wenn er ein gehypter Newcomer-Designer war, der dieses Jahr sein großes Debüt auf der Toronto Fashion Week feiern würde.
»Weißt du eigentlich, was über ihn erzählt wird? Dass er nur deshalb Damenmode entwirft, weil er gerne von jungen, schönen Frauen umgeben ist.« Sie machte eine theatralische Pause. »Du weißt, was das heißt. Er will der erhabene Wolf der zarten Schafherde sein, oder Schlimmeres.«
»Heißen kann«, verbesserte Terry unbeeindruckt. »Wir wollen keinen Unschuldigen verdächtigen. Schließlich ist nichts Verwerfliches daran, als Mann Frauenmode zu designen.« Er zog seine Augenbrauen nach oben und durchbohrte sie mit einem Blick, der ihr jeden Handlungsspielraum nahm.
»Nein. Natürlich nicht, aber …« Sie strauchelte.
»Ja? Ich bin ganz Ohr.«
Wild gestikulierend suchte Piper nach einem Seil, nach dem sie greifen konnte und das sie aus dieser Situation herausziehen würde. Doch da war keins. Sie seufzte. »Terry, ich habe einfach kein gutes Gefühl bei der Story. Edgar wäre der erste Mann in meiner Kolumne. Wenn wir das schon machen, sollte es jemand sein, der spektakulär und ein wahrer Feminist ist. Niemand, der … naja …«, das genaue Gegenteil davon ist. Sie schluckte die Worte schnell herunter. »Wir würden ein absolut falsches Bild senden. Es gab in letzter Zeit einfach zu viel schlechte Presse über ihn und dem Umgang mit seinen Angestellten.« Schließlich hatte er seine Assistentin entlassen, nachdem sie ihn abblitzen ließ. Es war unmöglich, dass Terry nichts von diesem Artikel wusste.
Trotzdem blickte er sie weiterhin entspannt an, als wäre sie diejenige, die etwas falsch machte. »Vielleicht senden wir aber auch genau das richtige Bild, weil hinter dem Mann viel mehr steckt, als du denkst. Er hat sich von ganz unten allein nach oben gekämpft. Ohne Studium, nur mit Talent, Ehrgeiz und Hingabe. Da gibt es Neider und natürlich auch mal das ein oder andere Gerücht. Außerdem lieben deine Leserinnen und Leser seine Designs. Du solltest ein bisschen mehr Vertrauen haben.« Piper schüttelte den Kopf. Als würde Vertrauen etwas an der Sache ändern. Es ging schließlich um ein Interview, das sie führen sollte. Eine Frage, eine Antwort. Keine Möglichkeit für Quellen oder Zeugen, dafür Platz für viele Lügen. »Überlege es dir nochmal. Ich glaube wirklich –«
»Ich habe darüber nachgedacht. Alles ist besprochen und dein Flug gebucht. Ich erwarte dich Dienstag wieder im Büro.« Terry nickte ihr zu und senkte seinen Blick auf den Artikel, den er gerade überarbeitete. Sie hatte verloren. Und noch schlimmer – sie würde ihre Stimme in ihrer eigenen Kolumne verlieren. Und für welchen Preis? Was bekam sie dafür, dass sie diesem Macho-Typen Platz in ihrer Kolumne, in ihrem Zuhause, gab? Gar nichts! Außer …
»Terry.« Ihr Ton hatte plötzlich einen versöhnlichen Klang angenommen.
Er linste zwischen zusammengekniffenen Augen hervor.
Sie musste vorsichtig vorgehen, bloß nichts überstürzen. »Vielleicht hast du recht und das Interview wird gut.« Sie strich sich eine dunkle Haarsträhne hinters Ohr. »Wenn ich so darüber nachdenke, ist es schön, mal wieder nach Montreal zu kommen. Ich war seit dem Studium nicht mehr dort. Du erinnerst dich, dass ich dort studiert habe?«
»Mhm.«
»Und außerdem arbeiten wir zwei schon lange genug zusammen. Als Team, bei dem jeder etwas einbringen darf.«
»Und weiter?«
»Es ist immer ein Geben und Nehmen zwischen uns. Eine Idee hier. Eine Idee dort.«
Er presste die Lippen zusammen – als ahne er, dass die Sache für ihn nicht gut ausgehen würde.
»Deshalb möchte ich etwas vorschlagen.« Sie machte eine theatralische Pause, legte sich die Worte in ihrem Kopf zurecht. »Wenn ich schon dieses Interview schreibe, möchte ich den Artikel danach selbst bestimmen. Ich habe da schon etwas im Sinn. Es geht um einen Rohdiamanten, eine ambitionierte junge Investorin, die die Männer an der Börse richtig aufmischen will. Absolut professionell natürlich. Ich würde gerne über sie schreiben. Vielleicht ein Porträt oder mit etwas Glück nochmal ein Interview?« Wobei etwas Glück in diesem Fall bedeutete, dass ihre Freundin Elif ihr ein Kilo ihrer liebsten Kaubonbons schuldete. Schließlich hatte sie Piper schon vor Wochen darum gebeten, sie in ihrer Kolumne unterzubringen. Piper hatte nur noch auf den richtigen Moment gewartet, um das auch zu ermöglichen.
»Eine Frau an der Börse?«, fragte Terry vorsichtig.
Volltreffer. »Ganz genau! Sie ist super schlau, hat Mathematik und Wirtschaft studiert und für eine Weile bei einem der größten Online-Broker gearbeitet. Jetzt will sie sich selbstständig machen.«
»Aber –«
»Es ist der perfekte Zeitpunkt, um über sie zu berichten, weil sie abseits der Branche noch unbekannt ist. Aber glaub mir, das wird nicht mehr lange so sein! Ich spüre das.«
»Vielleicht wäre das ein gutes Thema …«
»Ausgezeichnet. Dann werde ich mich direkt darum kümmern.« Piper blickte auf ihre Uhr. »Oder Montag im Flugzeug, spätestens nach Montreal. Auf jeden Fall lass ich dich jetzt in Ruhe weiterarbeiten und verschwinde.« Sie zwinkerte ihm frech zu, bevor sie sich umdrehte und selbstbewusst aus dem Büro lief und ihm über die Schulter zuwinkte. »Bye.«
***
Wie jeden Sonntagabend machte sich Piper auf den Weg ins Café. Wrenley&you war ein kleiner Laden, kaum größer als ein Wohnzimmer, und dabei vollgepackt mit zusammengewürfelten Tischen und Stühlen sowie Pflanzen, die in Ranken von der Decke baumelten. Es war unkonventionell, wunderbar und praktisch ihr zweites Zuhause. Immerhin gehört es ihrer Freundin Wrenley, die Piper vor einigen Jahren bei einem Mal-Abend kennengelernt hatte. Dabei hätte Piper ihre Brüder damals am liebsten zum Mond geschossen, als sie ihr den Gutschein dafür überreicht hatten. Schließlich wollte keiner der Dreien mitkommen. Notgedrungen war Piper also allein zu dem Workshop gegangen, ohne zu ahnen, dass sie an diesem Abend ihre zweite Familie kennenlernen würde.
Piper bog in die kleine Seitenstraße ein und parkte den Wagen direkt vor der Tür des Cafés. Ihre Freundinnen Wrenley, Sophia und Elif sah sie bereits durch das große Schaufenster bei dämmrigem Kerzenlicht an ihrem Lieblingstisch sitzen. Natürlich hielt jede von ihnen ein Paloma in der Hand. Eine Tradition, die sie aus ihrem ersten gemeinsamen Urlaub in Mexiko mitgenommen hatten. Pipers Mundwinkel glitten in freudiger Erwartung nach oben.
Der Rest des Cafés war leer. Immerhin war die Tür für Gäste schon lange geschlossen, wovon auch das schiefhängende Schild, an dem ein Glöckchen baumelte, zeugte. Als Piper eintrat, gab es einen hellen Klang von sich, was drei Köpfe sofort zu ihr herumfahren ließ.
»Hi, Grapes!«, begrüßte Piper sie überschwänglich. Grapes war ihr Spitzname, nicht wegen der Trauben, sondern der Grapefruit. Schließlich bestand Paloma fast nur daraus.
»Hallo.« Elifs Begrüßung war dagegen wie gewohnt geschäftsmäßig und nüchtern, passend zu dem strengen Dutt und Kostüm, die sie trug.
»Piper, da bist du ja endlich!« Wrenley strahlte über das ganze Gesicht, als wäre sie die Sonne mit ihren blonden Locken. Das tat sie immer. Als hätte man ihr die Mundwinkel an den Ohren festgetackert. Doch in ihrem Fall war das okay. Denn ihr Lächeln war nicht falsch. Es kam aus dem tiefsten Inneren ihrer Seele. Weil sie gut war. Viel zu gut für diese Welt. Eine Tatsache, von der nicht mal das Piercing in ihrer Nase oder die vollständig tätowierten Arme ablenken konnten, die aus ihrem übergroßen T-Shirt herausblitzten.
»Wir sind schon bei der zweiten Runde.« Sophia prostete ihr zu, wobei ein Teil ihres Cocktails bei der überschwänglichen Bewegung über den Ärmel ihres Batikkleides schwappte. Natürlich.
»Herausforderung angenommen!«, sagte Piper und lachte, ehe sie sich zu den anderen an den Tisch setzte. Sie griff nach ihrem Glas und trank es auf einen Schluck halb leer. Das Gefühl von Sonne auf der Haut und Sand zwischen den Zehen bereitete sich unverzüglich in ihrem Körper aus. Sie seufzte zufrieden.
»Na, über was habt ihr geredet? Bringt mich auf den neuesten Stand.« Piper zog ihre Beine auf den Stuhl und machte es sich im Schneidersitz bequem. Ihr Glas stellte sie wie einen Schatz dazwischen.
»Sophia hatte Geschlechtsverkehr.« Elif sagte es, als wäre die Neuigkeit ein Punkt auf ihrer Agenda, während sie ihre Bluse zurechtrückte.
»Sophia wurde flachgelegt? Von wem?«
»Halt, halt. Erstens: Ich wurde nicht flachgelegt. Wir haben uns vielmehr gegenseitig etwas Gutes getan.«
Piper stieß einen anzüglichen Pfiff aus, den Sophia sofort mit einem Blick maßregelte. »Und zweitens ist es absolut nicht der Rede wert. Es ist unwichtig.«
»So unwichtig, dass du rot anläufst?« Piper verzog ihren Mund zu einem schiefen Grinsen.
»Ganz genau«, bestätigte Sophia und nahm einen langen Schluck von ihrem Paloma. Einen sehr langen. Doch es gab kein Entkommen. Immerhin war das Glas endlich.
»Und deshalb wollen wir einen Namen«, sagte Elif. Sie wollte immer einen. Am liebsten in Kombination mit Größe, Gewicht, Augenfarbe, Beruf und sexueller Vorgeschichte. Als würde sie in ihrem Kopf eine Registerkarte für ihn anlegen. Wobei … vermutlich war es genau so.
»Sein Name ist Mac und …«
»Mac? Klingt wie ein Rettungsschwimmer, der durchtrainiert über den Strand rennt«, warf Piper in die Runde.
»Wenn wir in LA wohnen würden«, verbesserte Elif. »So eher wie ein Holzfäll–«, noch bevor Elif ausgesprochen hatte, schlug sie sich die Hand vor den Mund.
»Timber!«, riefen Piper und Sophia im Chor, ehe sie abklatschten und alle am Tisch ihr Glas leer exten. Es war ein dummes Spiel, das an einem Abend mit vier Filmrissen begonnen hatte. Seitdem war es ein ungeschriebenes Gesetz, das Glas beim Wort Holz leer zu trinken, das in einem Land wie Kanada nicht unbedingt selten vorkam. Natürlich waren sie mit Ende zwanzig viel zu alt für so einen Quatsch. Und doch, hier im wrenley&you, mit ihren besten Freundinnen, war alles möglich. Auch sich wieder wie pubertierende Teenager zu verhalten.
Vier leere Gläser trafen zeitgleich auf den Holztisch und gaben ein dumpfes Geräusch von sich.
»So, und jetzt könnt ihr mich vielleicht mal erzählen lassen.« Sophia sagte es in ihrer Lehrerinnenstimme, die keine Widerworte duldete. Sie stand im absoluten Kontrast zu ihrer sonst so quirligen Art.
Sofort pressten die drei anderen ihre Lippen aufeinander, unterdrückten jedes Prusten, das sich schon wieder nach oben bahnte.
»Danke.« Sophia nickte zufrieden und griff geschäftig nach der Karaffe, um einzuschenken. »Also … Er heißt Mac und ich kenne ihn aus einer Kneipe. Ich war mit ein paar Kolleginnen dort und naja …« Sie senkte ihre Stimme und strich sich verlegen eine ihrer braunen Afrolocken hinters Ohr. »Ich bin gestolpert und auf seinem Schoß gelandet.«
Im nächsten Moment brach schallendes Gelächter im Raum aus.
»Du solltest dir diesen Move langsam mal patentieren lassen«, schlug Piper vor, was die anderen beiden nur noch lauter lachen ließ.
»Haha, sehr witzig«, grummelte Sophia und stellte das Glas ab, bevor sie beleidigt die Arme vor der Brust verschränkte. »Es war echt super rutschig! Außerdem fand er es alles andere als lustig. Er hat mich aufgefangen wie ein Held und sich Sorgen gemacht.«
»So viele, dass er anschließend jeden Zentimeter deines Körpers untersucht hat?« Piper spielte mit ihren Augenbrauen.
»Ich finde das sehr nett.« Natürlich kam dieser Kommentar von Wren.
»Dass er sie gefangen oder verantwortungsvoll untersucht hat?«, fragte Elif und ihr Mundwinkel zuckte. »Warte, das hat er doch, oder? Sich verantwortungsvoll um dich gekümmert?«, fügte sie an Sophia gewandt hinzu.
Das Kirschrot auf ihren Wangen war Antwort genug.
»Dann wirst du ihn wieder sehen?«, fragte Wrenley.
»Mal sehen.« Sophia strich nervös an ihrem Glas entlang.
»Warte! Du hast ihn wiedergesehen!« Überrascht stellte Piper ihre Füße vom Stuhl auf den Boden und lehnte sich nach vorne.
Sophia zuckte mit den Achseln. »Könnte sein, dass er in meiner Wohnung sitzt und darauf wartet, dass ich wiederkomme.«
Piper lachte.
»Oh Sophia, ich freu mich für dich.« Wrens Augen strahlten, als würde sie imaginäre Herzen aussenden … und Elifs Kiefer knirschte vor Sorge und Verärgerung.
»Du kannst einen fremden Mann doch nicht allein in deiner Wohnung lassen!«
»Er ist doch nicht allein. Anhängsel ist da. Und der weiß sich zu verteidigen.«
Anhängsel war ihr uralter schwarzer Kater mit drei Beinen und einem abgeschnittenen Ohr. Sie hatte ihn aus dem Tierheim gerettet. Wie genau er Teile seines Körpers verloren hatte, wussten sie nicht. Nur, dass er das liebste und dankbarste Lebewesen auf diesem Planeten war.
»Das zählt nicht«, widersprach Elif kopfschüttelnd.
»Was soll Mac bei mir denn machen? Mich ausrauben? Was denkst du bekommt man für einen alten Röhrenfernseher?«
Es war ein Wunder, dass Sophia immer noch dieses alte Teil besaß, und ein noch größeres, dass er funktionierte. Es war nicht so, als würde Sophia schlecht verdienen. Doch materielle Dinge waren ihr nicht wichtig. Deshalb investierte sie jeden Dollar, den sie übrighatte, in ihre Junior-High-Schüler oder irgendein gemeinnütziges Projekt, das sie selbst ins Leben gerufen hatte.
»Außerdem ist er Polizist.«
»Hast du seine Marke gesehen?«
»Elif!«, riefen Sophia, Piper und Wren im Chor.
Verteidigend hob sie ihre Hände. »Schon gut, schon gut. Ich meine ja nur.«
»Ich glaube, das ist der richtige Zeitpunkt, um meine Neuigkeiten zu erzählen«, ergriff Piper das Wort.
»Wovon sprichst du? Hast du etwa auch jemanden kennengelernt?« Wren rieb freudig ihre Hände.
»Nein, aber …« Piper machte eine Spannungspause. »Ich habe den Artikel für Elif klargemacht.«
»Was?« Von einer Sekunde auf die andere strahlte Elif über das ganze Gesicht. »Ist das dein Ernst?«
»Natürlich. Sonst würde ich es doch nicht sagen. Wir können ein Porträt machen, wie du vorgeschlagen hast, oder ein Interview. Ich wäre eher fürs Interview, es ist nahbarer. Was meinst du?«
»Unbedingt. Gott, bin ich dir dankbar. Ich dachte schon, du hättest es vergessen. Wie hast du das denn gemacht?«
Pipers Stirn furchte sich. »Ich habe meine Seele verkauft.«
»Wie?«, fragte Wren.
»Sie will Razzles Kaubonbons«, erklärte Sophia grinsend.
»Nein … also, doch.« Pipers Mundwinkel zuckten nach oben. »Es geht um ein Interview, das ich vorher führen muss.«
»Aber die liebst du doch.«
»Ja, schon. Außer sie finden in Montreal mit Edgar van der Linden statt.«
»Du triffst Edgar van der Linden?« Sophia riss die Augen auf. »Wie cool ist das denn?«
»Edgar wer?« Natürlich kannte Elif Edgar van der Linden nicht. Er entwarf keine Hosenanzüge oder Bleistiftröcke. Zumindest nicht, wenn sie jenseits von sexy sein sollten. Er designte viel mehr absolut umwerfende, starke und feministische Mode. Weil Frauen alles sein konnten, was sie wollten, wenn sie sie trugen. Und nebenbei waren die Klamotten auch noch nachhaltig und fair produziert, wie sie bei ihrer Recherche herausgefunden hatte. Er war ein absolut perfektes Material für ihre Kolumne. Doch genau das hatte der ganzen Sache die Krone aufgesetzt, denn Edgar van der Linden war nicht nur ein Macho. Nein, er war jemand, der seine Ideale setzte, wo er dachte, dass es der Welt gefiel. Denn neben den guten Neuigkeiten hatte sie bei ihrer Suche auch weitere Erfahrungsberichte und Beschwerden bezüglich seines Umgangs mit seinen Mitarbeitenden gefunden. Er war ruppig, arrogant, und nutzte seine Position aus, um zu bekommen, was er wollte. Und dabei war ihm offensichtlich jedes Mittel recht. Es war kein Wunder, dass Piper von Anfang an ein schlechtes Bauchgefühl gehabt hatte.
»Van der Linden«, beendete Wren. »Selbst ich habe von ihm gehört. Obwohl seine Designs weder meinem Geschmack noch meinem Budget entsprechen.« Wrenley trug am liebsten weite Jogginghosen und Hoodies. Ein weiterer Versuch, ihr wunderschönes Inneres zu verstecken.
»Aha.« Elif war nüchtern wie immer. »Wartet kurz.« Sie zückte ihr Handy und eine Sekunde später leuchtete der gutaussehende Mann mit den dunkelbraunen Haaren auf, den Piper in den letzten Tagen viel zu oft auf ihrem eigenen Computer hatte ansehen müssen. Es musste ein älteres Bild sein, denn auf den neueren trug er einen modernen Vokuhila, der viel zu laut Künstler schrie.
»Verstehe«, sagte Elif.
»Was?«, fragte Piper.
»Er ist heiß.«
»Ziemlich heiß«, bestätigte Sophia und fächerte sich Luft zu.
»Zeig her«, Wrenley riss Elif das Handy aus der Hand. Augenblicklich trat eine Röte auf ihre blassen Wangen.
»Hallo, Leute? Darum geht es hier überhaupt nicht!«
»Dann stört es dich nicht, dass er so heiß ist, dass einem die Spucke wegbleibt und du Angst hast, es zu vermasseln?« Elif hob fragend eine Augenbraue.
»Äh, nein!«, echauffierte sich Piper.
»Oh, und was genau ist dann das Problem? Ich meine, du liebst Mode, du liebst Interviews. Du solltest aus dem Häuschen sein.«
Piper schnaubte. »Vielleicht, wenn er sich nicht an seine Models ranmachen würde.«
»Er macht was?«
»Wirklich?«
»Echt?«
Es waren Fragen voller Empörung, die keiner Antwort bedurften. »Ganz genau eine solche Reaktion ist angebracht. Aber mein Chefredakteur Terry sieht die Sache gelassen und meinte, dass das sicher nur Gerüchte sind, die über ihn verbreitet wurden. Um ihn zu sabotieren, oder was weiß ich.« Wütend nahm Piper einen Schluck von ihrem Paloma, als könnte der Tequila sie beruhigen. Was er konnte. Sonne, Strand, Meer … Edgar van der Linden. Mist.
»Vielleicht stimmt es nicht. Ich weiß selbst am besten, dass man der Presse nicht immer Glauben schenken kann.« Natürlich bestand die Möglichkeit, dass die Geschichten über den Designer falsch sein konnten. Genaugenommen war das der Gedanke, an dem Piper sich verzweifelt festhielt, um sich einzureden, dass das Interview keine grauenhafte Idee war. Andererseits steckte in jeder Story ein wahrer Kern, und was dieses eine Thema anging, da genügte ein Funken, um alles niederzubrennen. Das wusste sie selbst viel zu gut. Ebenso wie der Stein in ihrer Magengrube, der sie seit dem Gespräch mit Terry drückte und gerade schon wieder schmerzhaft von einer Seite auf die andere rollte.
»Dann ist das Interview genau das Richtige.«
»Was? Wie meinst du das Elif?« Fassungslos schüttelte Piper den Kopf.
»Das ist doch ganz klar. Du wirst einfach nach Montreal fliegen und ihm so auf den Zahn fühlen, dass er sein wahres Ich nicht verstecken kann. Wenn er schuldig ist, wird er sich verraten. Dafür musst du sorgen.« Elifs Stimme war gegen Ende immer fester geworden.
»Und wie genau soll sie das anstellen?«, fragte Wren vorsichtig.
»Ihr wird schon etwas einfallen. Wir reden hier von Piper. Dieser Artikel wird in ihre Kolumne passen, zu ihr und dem, was ihr wichtig ist. Sie kriegt das hin.«
Pipers Blick glitt von Elifs selbstzufriedenem Gesichtsausdruck zu Wren und Sophia, die sie auf einmal ermutigend ansahen, während die Hoffnung in ihren Augen aufblitzte. Und mit einem Mal war das Gewicht in Pipers Mitte verschwunden. Sie wollte dieses Interview irgendwie durchziehen, oder sich im letzten Moment eine Ausrede überlegen, aber Elifs Worte hatten alles geändert. Sie hatte Pipers Interview in eine Mission verwandelt, für die sie bereit war, alles zu geben.
Zieh dich warm an Edgar van der Linden, du wirst dir wünschen, nie um dieses Interview gebeten zu haben.
Kapitel 2
Ed
Ein absoluter Scheißtag.
Ed riss die Seite aus seinem Skizzenblock, knüllte das Papier zusammen und warf es zu den anderen auf den Betonboden. Wieder malte er die Silhouette einer Frau auf die nächste Seite. Ganz intuitiv griff er nach dem roten Filzstift in der Metallbox und zog die Kappe ab. Das Bild eines Capes schoss ihm durch den Kopf. Das war eine Idee.
Sofort entspannten sich seine Muskeln, während der Entwurf in seinem Geist immer detailreicher wurde. Das Cape reichte plötzlich bis zu den Knöcheln einer schönen Frau. Beinahe schon wie der Umhang einer Königin. Darunter zeichnete sich ein hautenges, dunkelrotes Kleid mit Gürtel ab. Im nächsten Moment trug die Frau eine Leggins aus Latex, die bis über die hohen Schuhe reichte. Das könnte gehen. Er wollte gerade den Stift ansetzen, um seine Vorstellung zu Papier zu bringen, da verharrte seine Hand in der Luft.
Wirklich rot?, fragte er sich. Nein. Er verschloss den Stift und griff nach dem braunen, drehte ihn in seiner Hand hin und her. Das Kleid in seinem Kopf wurde pink und setzte sich dramatisch darunter ab. Es war viel besser als das Bild zuvor. Alles passte perfekt zusammen, fühlte sich gut an – bis aus braun auf einmal kackbraun wurde.
Na super. Das war garantiert nicht der Schlüssel für die neue Kollektion, die er der Welt präsentieren wollte. Und überhaupt, ein Cape? Das war sowas von letzte Saison! Was hatte er sich nur dabei gedacht? Er musste etwas völlig Neues zeigen und keinen alten Kaffee aufwärmen. Sonst würde er die Erwartungen der Leute niemals erfüllen. Dabei ging es um alles. Um seine Zukunft. Schließlich hatte er in den letzten Jahren alles für diesen Moment gegeben. Kleine Kollektionen entworfen, Werbung auf Social Media geschaltet und seinen eigenen Store eröffnet, um endlich bei der Fashion Week mitwirken zu können und so hoffentlich den Sprung auf den Weltmarkt zu schaffen. Immerhin war es von Toronto, der zweitgrößten Fashion Week in Nordamerika, nur ein Katzensprung bis nach New York.
Seine Träume waren groß. Doch zu geben hatte er auf einmal gar nichts mehr, als hätte er bei dem Weg bis zu diesem Punkt bereits jede Karte gespielt. Und zu allem Überfluss tickte auch noch die Zeit. Es gab kein Puffer für kreative Bedenkzeit und eine zweite Chance erst recht nicht.
Er spürte die Hitze in seine Gliedmaßen schießen. Wieder griff er zu dem roten Stift. Doch statt einer Lösung für sein Problem malte er dem Frauenbild Hörner und einen Teufelsschwanz. Vielleicht sollte er sich lieber als Karikaturist auf der Straße versuchen.
Da klopfte es an der Tür.
»Herein«, grollte er.
Sein Assistent, Noah, streckte den Kopf zur Tür herein. »Sorry, Ed. Die Kleine von Fembition ist da.«
»Wer?«
Noah seufzte und trat nun vollends in den Türspalt. Er trug eine dunkelrote Hose und dazu eine Weste, die an das Cape in seinem Kopf erinnerte. Ein Stich in seiner Magengrube. So schrieb man also aus Versehen ab.
»Ed? Hast du mir nicht zugehört?«
»Mhm.« Er fuhr hoch und blickte dem jungen Assistenten wieder ins Gesicht.
»Piper Thompson von Fembition ist hier für das Interview mit dir«, wiederholte Noah und seine Stimme schwebte im Raum wie Großbuchstaben. »Ich hatte dir gestern extra nochmal Bescheid gegeben«, fügte er vorwurfsvoll hinzu.
»Das kann nicht sein. Daran könnte ich mich erinnern«, antwortete Ed, obwohl er genau wusste, wovon Noah sprach. Gerade war der falsche Zeitpunkt und heute der falsche Tag, um mit jemandem von der Presse zu sprechen. Das konnte nur schiefgehen.
»Wirklich, Ed?« Noah schüttelte genervt den Kopf, hielt ihm stand, anstatt klein beizugeben. Er erkannte wohl die offensichtliche Lüge. Dabei war er noch nicht lange hier. Doch das würde ihm nichts nützen, Ed war derjenige, der hinter dem Schreibtisch des Chef-Büros saß, und sich seine Assistenten aussuchen konnte.
»Auf jeden Fall kann ich jetzt nicht. Ich habe zu tun.« Ed zeigte auf das Chaos, in dem er sich befand. »Du musst das verschieben. Das ist dein Job. Falls du das vergessen haben solltest.«
Noah presste die Lippen zusammen, überlegte offenbar gerade, wie er die Angelegenheit lösen konnte, als die Tür vollends aufflog.
Es knallte laut, als sie die Wand traf. Ed fuhr ruckartig zurück. Da rollte bereits eine Frau wie eine Lawine in sein Büro. Sie war winzig, kaum größer als ein Meter sechzig, und doch füllte sie mit ihren riesigen Augen und der sprühenden Aura, die sie umgab, den gesamten Raum aus.
»Ganz bestimmt werden wir das Interview nicht verschieben. Ich bin nicht umsonst um vier aufgestanden, um meinen Flieger zu erwischen«, bretterte sie los.
»Hallo?« Eds eigene Stimme klang leider nur halb so vorwurfsvoll, wie er es beabsichtigt hatte, weil er nicht damit aufhören konnte, ihr Gesicht anzustarren. Ihre knallroten Lippen, ihre zarte Haut, die Zornesfalte auf ihrer Stirn …
Doch seine Worte schienen die Frau ohnehin nicht zu interessieren. Sie stolzierte bereits los und war mit einem Mal direkt vor ihm, funkelte ihn mit einem Blick an, der ihm bis ins Mark schnitt. Er hielt ihm stand, während der Geruch von künstlicher Kirsche seine Nase umwehte. Ein Duft, der ihm bekannt vorkam, ohne ihn zuordnen zu können.
»Wie sie wissen, ist mein Name Piper Thompson und ich …«
»… werde das nächste Mal warten, bis man mich hereinbittet«, beendete er ihren Satz. Immerhin hatte er seine Schlagfertigkeit wiedergefunden. »Es ist nämlich verdammt unhöflich, einfach hereinzuplatzen.« Er kniff die Lider zusammen, beobachtete wie ihre Schultern mitsamt ihren Mauern für eine Sekunde herunterfielen, und ihm somit die Oberhand schenkten.
Sein Blick glitt über ihren Körper. Ihre wunderbaren weiblichen Rundungen, die in dem olivgrünen Maxirock mit raffinierter Drapierung und Beinschlitz steckten. Nett. Sehr nett anzusehen.
»Nebenbei ist es ein ungeschriebenes Gesetz, dass man die Klamotten des Designers tragen sollte, wenn man ihn in seinen Räumlichkeiten besucht.« Bullshit, und doch konnte er sie sich viel zu gut in dem neongelben Kleid aus der vorletzten Kollektion vorstellen.
»Wenn der Designer das nächste Mal etwas Originelles entwirft, werde ich das vielleicht tun.«
Autsch. Ihr Blick bohrte sich in seine Augen. Oder hatte sie sie ihm längst mit ihren Krallen ausgekratzt. Sein Herz schlug schneller. Fuck. Was passierte hier gerade?
»Ich geh dann mal«, erklang die weit entfernte Stimme von Noah. War er immer noch da gewesen? Eine Tür fiel ins Schloss und ehe er sich versah, hatte Piper einen Finger auf seinem Skizzenbuch, als wollte sie es durchbohren.
»Das ist es also, was du in uns Frauen siehst? Den wahrgewordenen Teufel?«
»Waren wir beim Du?« Ein Glück konnte sein Mund reagieren, auch wenn in seinem Kopf nur Zuckerwatte schwebte.
Sie fuhr jedoch unerschütterlich mit ihrem Verhör fort. »Wieso entwirft man für jemanden Kleidung, wenn man so wenig von ihm hält?«
»Wieso nicht? Ich mag die Herausforderung.«
»Dann ist es schwerer, etwas für Frauen zu entwerfen? Weil wir individueller sind? Besonders? Anders?«
»Mit dem langen Schwanz? Natürlich.«
Ihre Mundwinkel glitten für eine Millisekunde nach oben, nur um in einer noch finstereren Miene anzukommen. Doch es genügte, um ihm eine Gänsehaut über den Rücken zu jagen. Vielleicht war es gar nicht so schlimm, von der kreativen Arbeit etwas Abstand zu nehmen …
»Können wir dann endlich mit dem Interview anfangen? Ich habe noch etwas anderes zu tun.« Sie setzte sich auf den Stuhl ihm gegenüber und kramte in ihrer Tasche, bis ein kleiner, glitzernder Notizblock und ein pinker Einhornkugelschreiber zum Vorschein kamen.
»Etwa ins Feenland zurückkehren? Oder noch andere Designer von der Arbeit abhalten?«
Sie kniff die Augen zusammen und schickte damit ein Kribbeln durch seinen Körper.
»Ich würde das Gespräch gerne aufzeichnen. Ist das okay?«, fragte sie unbeirrt. Spürte sie sie nicht? Die Spannung im Raum und die Schwingungen, die sein Herz aus dem Konzept brachten?
Ed nickte kaum merklich, um sich bloß nichts anmerken zu lassen.
Sie legte das kleine Aufnahmegerät auf den Glastisch, und ein rotes Lämpchen verriet, dass es lief.
»Fangen wir nochmal von vorne an. Ich bin Piper.«
»Ed.«
»Eddy?«
»Ed.«
Schon wieder hatte sich ein kleines Lächeln auf ihre Lippen geschlichen, dass in einem Husten hinter ihrer Hand verschwand. Das bedeutete, sie merkte es auch, oder nicht?
»Entschuldigung,« murmelte sie schnell. »Also … wie ist es, der neue Newcomer-Designer zu sein?«
»Fantastisch.« Kurze Antworten waren gut. Ungefährlich.
»Fantastisch«, wiederholte sie seine Antwort sarkastisch und nickte. »Dann steht die Kollektion für die nächste Show?«
»Selbstverständlich.« Nicht. Doch das würde er ihr bestimmt nicht aufs Brot schmieren. Immerhin ging es in diesem Interview darum, seinen Ruf aufzupolieren, und nicht ihn weiter zu zerstören. Es hatte in letzter Zeit genug schlechte Presse über ihn gegeben. Dabei hatte er nur versucht, sie alle auf Abstand zu halten. Keine Angriffsfläche zu bieten, was offensichtlich nach hinten losgegangen war. Die Menschen wollten ihm schaden, ihn zerstören, und sie würden immer einen Weg finden, ihm das Leben zu erschweren. Wieso sonst hätte seine ehemalige Assistentin Gerüchte verbreiten sollen, dass er sie zu einem Date einladen wollte, während es in Wahrheit umgekehrt gewesen war? Er musste endlich lernen, dass er am Ende nur sich selbst vertrauen konnte.
»Dann ist eine kleine Schneeballlandschaft ein Indiz für kreatives Schaffen und nicht für eine Blockade?« Piper riss seine Aufmerksamkeit wieder zu sich, während sie auf die zerknüllten Entwürfe um sie herum zeigte. Für einen kurzen Moment hatte er sein Arbeitsumfeld vergessen.
»Offensichtlich.« Hoffentlich kam er nach dem Gespräch nicht selbst in die Hölle, weil er ihr nicht dir Wahrheit sagte. Dabei wollte er es. Tief in seinem Innern wollte er es.
»Mhm.« Piper nickte, und ehe er sich versah, beugte sie sich nach unten und griff nach einem der Blätter.
Sofort bereute Ed seinen letzten Gedanken. »Warte!«
Doch im nächsten Moment lag das Papier bereits aufgefaltet in ihrem Schoß. Es war eine seiner ersten Ideen des Tages. Wenigstens eine der besseren, aber absolut nicht für andere Augen bestimmt.
Die Ader auf seiner Stirn pulsierte. Er wollte aufspringen, es ihr aus der Hand reißen, aber ein einziges Wort ließ ihn verharren.
»Wow.« Pipers Finger glitten geschmeidig über die Silhouette der Frau, die in einem kurzen Hosenanzug steckte. Die aufbrausende Aura um sie war verschwunden.
»Mit einem steigenden Revers und Umschlägen an den Armen und Beinen wäre er perfekt.« Ihre Stimme war leise, fast bewegten sich ihre vollen Lippen lautlos. Sie war abgetaucht in ihre eigene, kleine Welt, genau wie es ihm normalerweise ging, wenn er zeichnete. Hatte sie überhaupt gemerkt, dass sie gesprochen hatte?
Eds Blick glitt über die weichen Konturen ihrer Wangen, die von ihren kurzen, dunklen Haaren umspielt wurden, über ihren zarten Hals und ihre Arme, bis hin zu ihren feinen Fingern, die das Bild immer noch hielten, und plötzlich wich jegliche Spannung aus seinem Körper.
Sie hatte recht. Wie … wie um alles in der Welt konnte sie recht haben, und das nach nur einem kurzen Blick? Er hatte Stunden darüber gesessen, tausende Varianten erschaffen, nur um von der Idee eines Anzuges abzukommen und sich komplett zu verrennen. Wie konnte sie so einen Blick fürs Detail haben? Jemand anders und nicht er? Die Ader auf seiner Stirn pulsierte heftiger, bis im nächsten Augenblick eine Sicherung in ihm durchbrannte.
»Hast du Modedesign studiert, oder was?«, fuhr er sie an.
»Natürlich nicht.«
Er beugte vor, entriss ihr das Papier und knallte es auf den Tisch.
»Tut mir leid.« Erschrocken über seinen Ausbruch wich Piper zurück. «Ich … bin zu weit gegangen.«
»Das sehe ich auch so. Mal sehen, was dein Boss davon hält«, schnauzte er sie an. Obwohl er sich niemals beschweren würde, zeigte die Drohung Wirkung.
Ihre Hände verkrampften in ihrem Schoß. »Es tut mir wirklich leid. Gibt es etwas, das du über deine neue Kollektion erzählen willst?«, fragte sie kleinlaut.
»Nein.« Was denn auch? Dass er noch immer nicht fertig war und sie ihm gerade die Lösung für sein Problem unterbreitet hatte? Eine Lösung, die er nicht verwenden konnte, weil sie von jemand anderem als ihm selbst gekommen war.
»Oder möchtest du etwas zu dem letzten Artikel von dir erzählen? Über die Frau, die du gekündigt hast, nachdem sie dich abblitzen ließ?«
Von wegen. Ein Knurren drang aus seiner Kehle. Darüber würde er ganz sicher nicht mit ihr sprechen. Sie würde die Tatsachen verdrehen, wie seine alte Assistentin es getan hatte, nachdem er sie abgewiesen hatte. Sie hatte zu viel in ihre Geschäftsbeziehung hineininterpretiert. Dabei hatte Ed ihr nur einmal einen Kaffee mitgebracht. Einmal! Natürlich hatte er sie kündigen müssen, weil sie ihm nach dem Vorfall nicht mehr in die Augen sehen konnte. Er würde niemals verstehen, was in den Köpfen anderer Menschen vor sich ging. Sie waren falsch und aus irgendeinem Grund gefiel es ihnen allen viel zu sehr, sein Leben zu zerstören und ihn als Sündenbock zu benutzen.
»Schon gut.« Sie hob verteidigend die Hände und löste die überschlagenen Beine voneinander, was das Blut durch seine Adern schießen ließ.
»Dann sag du mir einfach, was ich fragen soll.« Sie sah ihn an, ließ seine Haut kribbeln, als könnte sie sie mit einem einzigen Blick auflösen, um zu sehen, welche Geheimnisse darunter lagen.
Sein Kiefer verspannte, ihr Kugelschreiber klickte und brachte die geladene Stimmung endgültig zur Explosion wie ein zündendes Streichholz.
»Weißt du was? Rein gar nichts. Geh einfach.« Das hier führte zu nichts. Sollten sie doch alle denken, was sie wollen.
»Aber … du hast noch nicht eine Frage richtig beantwortet.«
»Ist mir egal. Ich will, dass du gehst!«
»Wir könnten nochmal zurückspulen, von vorne anfangen?«
Wer zur Hölle war diese schleimige Frau und was hatte sie mit der wilden und rohen Erscheinung gemacht, die hier reingestürmt war? Es war ihm egal. Hauptsache, sie verschwand und erinnerte ihn nicht daran, dass er zu klein war. Zu unbedeutend. Ein Versager. Fuck. Wo zur Hölle kamen diese Gedanken auf einmal wieder her? Nein. Sie musste verschwinden, damit er endlich wieder Raum für neue, eigene Ideen hatte. Ja, darum ging es. Um nichts anderes.
Er stützte sich mit seinen Armen auf dem Schreibtisch ab und starrte sie mit allem nieder, was er zu geben hatte. »Verschwinde.«
»Das meinst du doch nicht ernst.« Sie beugte sich ihm entgegen. In ihrem Blick lag Fassungslosigkeit und Reue, doch beides wurde langsam von der gewaltigen Wut abgelöst, die er auch selbst empfand. Seine Finger gruben sich in die Tischkante, suchten Halt, damit er sich nicht in dem Gefühl und ihren Augen verlor.
»Sofort!« Seine Stimme durchschnitt die Luft.
Endlich reagierte sie. »Wie du meinst.« Piper steckte viel zu langsam Stift und Block zurück in die Tasche und danach das Aufnahmegerät, bevor sie sich wie in Zeitlupe erhob. »Aber nur, dass du es weißt: Ich werde diesen Artikel schreiben. Und glaub mir, das, was du mir gerade gegeben hast, wird reichen.«
Mit diesen Worten fuhr sie um und stürmte so schnell aus dem Büro, wie sie dort angekommen war.
Fuck. Fuck. Fuck.
***
»Alles gut?«, fragte Noah und trat in den Türrahmen, der wie ein Mahnmal immer noch offenstand.
»Mhm.« Endlich schaffte Ed es, den Blick von der offenen Tür abzuwenden. Er ließ sich auf seinen Stuhl fallen.
»Okay.« Noah machte einen zögerlichen Schritt auf ihn zu und schloss die Tür hinter sich. »Ihr wart ziemlich schnell fertig …« Es war mehr eine Frage als eine Aussage.
»Ja.«
»Dann hat sie alles?«
»Laut ihr schon.« Nochmal fuck. Denn natürlich war es nicht egal, was die Menschen von ihm dachten. Es war wichtig. Nur so würden sich seine Klamotten nach der Show verkaufen. Wenn es überhaupt eine geben würde, bei dem wie es gerade lief …
»Was heißt das? Es war ziemlich laut bei euch.« Noah presste die Lippen zusammen, ehe er endlich sagte, was ihm unter den Nägeln brannte: »Ehrlich gesagt ist sie total aufgebracht an mir vorbeigestürmt.«
»Ach, ist sie das?«, fragte Ed, als wäre es nicht ihnen beiden klar.
»Ed, ich bin nicht dein Feind.« Noah machte noch einen Schritt auf ihn zu, versuchte seinen Blick einzufangen. »Also?«
»Was willst du denn hören?« Eds Arme schossen wütend nach oben.
»Hast du es verbockt?«, fragte Noah ruhig, als würde Eds gesamte Wut, die er ihm entgegenschleuderte, einfach nur an ihm abprallen. Aber genau genommen galt sie ihm auch nicht. Sie galt Piper, der Welt und … vor allem sich selbst.
»Vielleicht.« Da kam ihm ein Einfall. »Nein … eigentlich hat sie es verbockt.«
»Wie das?«
Ed fuhr sich aufgebracht durch seine strubbeligen Haare. »Indem sie meinen Müll durchwühlt hat. Spionage nennt man so etwas.«
»Sie hat was? Hier bei dir? Vor deinen Augen?«
»Ja. Sie hat«, er deutete auf die zerknüllten Blätter um ihn herum, »sich einfach ein Papier geschnappt und es aufgefaltet. Ob Müll oder nicht, das ist mein Eigentum.«
»Und was ist dann passiert?«
»Sie hat mich kritisiert.« Und nebenbei einen verdammt guten Einfall gehabt. Aber das behielt er für sich. »Also habe ich sie rausgeschmissen.«
»Mann, hättest du es nicht einfach schlucken können? Wir sind von ihr und dem, was sie schreibt, abhängig. Außerdem … seit wann kannst du nicht mit Kritik umgehen? Vor allem bei einem Entwurf, den du selbst für Mist hältst.«
Seit sie aus dem Mund eines verdammt attraktiven Biests kam und es sich nicht um Kritik, sondern einen Verbesserungsvorschlag handelte. Hätte sie einfach gesagt, dass seine Idee scheiße war, dann hätte er einen Konter gebracht, aber so … Sie hatte auf einmal die Hüllen fallen lassen und etwas von sich preisgegeben. Etwas Ehrliches, das hinter der aufbrausenden Art steckte, und aus irgendeinem Grund hatte das auch die Mauern zu dem Versteck in seinem Innern eingerissen. Was er unter keinen Umständen dulden konnte.
»Was weiß ich denn?«, raunzte er Noah an. »Es war halt einfach so. Außerdem soll sie doch schreiben, was sie will. Schließlich gibt es keine schlechte Presse.«
»Wenn das stimmen würde, hätten wir das Interview wohl kaum ausgemacht, um dein Image zu verbessern.«
Ed schnaubte genervt. Wieso musste Noah Recht haben?
»Wir müssen das wieder geradebiegen. Du wirst dich entschuldigen und …«
»Ich werde mich sicher nicht entschuldigen!«, fuhr Ed ihn an, wovon Noah sich nicht im Geringsten verunsichern ließ. Im Gegenteil – er klang nur noch gelassener.
»Doch das wirst du, weil du nicht willst, dass ich bald arbeitslos bin. Außerdem wird es dich schon nicht umbringen.«
Das Bild von der feurigen Brünetten schoss ihm durch den Kopf. »Selbst wenn ich es überlebe, wird das sicher nicht reichen.«
»Doch, das wird es. Du hast doch gesagt, du hattest einen guten Draht zu dem Chefredakteur von Fembition, als du ihn vor ein paar Monaten kennengelernt hast. Diesmal wirst du und nicht ich ihn anrufen und mit ihm reden.«
Ed kniff sich in die Nasenwurzel. Er wollte Noah nochmal widersprechen, aber wozu hatte er ihn sonst eingestellt, wenn er nicht auf ihn hörte? Schließlich sollte er sich um genau solche Angelegenheiten kümmern. Angelegenheiten, bei denen er nicht einfach tun und lassen konnte, was er für richtig hielt, weil es um so viel mehr ging, als das, was er verstand. Nämlich Mode.
Ein frustriertes Schnauben löste sich aus seiner Kehle. »Von mir aus.«
»Na also.« Noah nickte zufrieden und wandte sich ab, um aus dem Büro zu gehen. »Ich verlass mich auf dich.« Die Tür fiel ins Schloss.
Was für ein beschissenes und erdrückendes Gefühl.