TEIL EINS
HANNAH
Kapitel eins
Ich bürstete meine Haare, als Ivan ins Schlafzimmer kam. Er sagte nichts, stand nur da und sah mich an. Ich ließ mich nicht einfach einschüchtern, aber er war ein großer Mann und ihn umgab eine Aura, die deutlich machte, dass er nicht vor Gewalt zurückschrecken würde, wenn es nötig war. Er war in der undurchsichtigeren Ecke der Finanzwelt tätig. Undurchsichtig, aber unglaublich lukrativ. Möglicherweise musste er dort Leute einschüchtern und bedrohen, wenn es nötig war. Ich hatte miterlebt, wie seine Lakaien um ihn herumscharwenzelten, hatte die argwöhnischen Blicke in ihren Augen bemerkt. Ich hatte sogar mitbekommen, was sie hinter seinem Rücken murmelten, wenn sie glaubten, dass niemand zuhörte.
Aber, obwohl unsere Beziehung auseinanderfiel wie die Säume eines billigen T-Shirts, war ich immer noch seine Ehefrau. Bevor wir verheiratet waren, hatte er mich wie eine Göttin behandelt. Danach, in nur wenigen Monaten, war ich nur noch irgendein Weib.
Seit kurzem hatte er abfällige Bemerkungen gemacht, aber er war nie gewalttätig gewesen. Bis jetzt.
Ich war entsetzt und schrie laut, als er mir die Bürste aus der Hand schlug, an meinen Haaren zog und mich vom Hocker auf den Boden schleifte.
„Wie wär‘s, wenn du mir genau sagst, wofür diese hier sind“, sagte er und drückte eine Blisterverpackung mit Tabletten in mein Gesicht, sodass die Folie meine Haut zerkratzte.
Es ist schwer, klar zu denken, wenn deine Haare aus deiner Kopfhaut gerissen werden, also entschied ich mich für die erste Lüge, die mir einfiel. „Sie helfen gegen Kopfschmerzen. Ich bekomme sowas ja ab und an, du erinnerst dich?“ Das hätte vielleicht funktionieren können. Es war die Wahrheit, dass ich unter Kopfschmerzen litt, aber es war immer häufiger eher eine praktische Ausrede.
Er zog mich hoch, ignorierte meinen Schmerzensschrei. „Ich habe das überprüft, Schlampe.“ Er drückte die Verpackung gegen meinen Mund. „Die Antibabypille. Du hast mich die ganzen Monate über belogen.“
Ich hätte ihm in diesem Moment vielleicht erklärt, dass ich nicht glücklich mit unserer Ehe war, dass sie ein Fehler war und dass ein Kind da mit hineinzuziehen nichts besser machen würde – das hätte ich, wenn er nicht mit seiner Hand ausgeholt und mir damit ins Gesicht geschlagen hätte. Seine andere Hand hielt noch immer meine Haare fest, also fiel ich nicht zu Boden, aber es fühlte sich so an, als ob mein Gehirn gegen meine Schädeldecke knallte.
„Lügen, jeden verdammten Tag. Jeden Cent aus mir rausquetschen, den du in deine kleinen schmierigen Hände bekommen kannst. Du hattest nie vor, ein Kind mit mir zu bekommen, oder?“ Schmerz kann einen Menschen dazu bringen, alles zu sagen. Deswegen ist Folter so effektiv. „Nein, das hatte ich nicht.“ Es war dumm, genau diesen Moment für diese Worte der Wahrheit zu wählen, ein verrückter Zeitpunkt, es ihm zu sagen. „Du bist nicht dafür gemacht, Vater zu werden.“ Und ich auch nicht, eine Mutter zu sein, es blieb aber keine Zeit, dies genauer zu erläutern, denn er holte ein zweites Mal mit seiner Hand aus. So wie er mich festhielt, war es unmöglich, dem Schlag auszuweichen. Dieses Mal ließ er aber meine Haare los, als er zuschlug, und ich wurde gegen die Wand geschleudert. Es schien eine gute Idee zu sein, auf den Boden zu gleiten, nicht, dass ich eine Wahl gehabt hätte; der Schlag hatte mich fast betäubt. Lächerlicherweise dachte ich, dass es das gewesen war, dass er mich dort liegen lassen und seinen Zorn mit nach unten nehmen würde, um ihn in Whiskey zu ertränken. Es brauchte die Spitze seines Schuhs, die auf meine Rippen traf, um mir klarzumachen, in welcher Gefahr ich mich befand. Aber da war es schon zu spät.
Ich weiß nicht, wie lange die Schläge dauerten; ich war nach dem dritten oder vierten Kick wie gelähmt. Als ich wieder zu Bewusstsein kam, war ich in eine Decke von unserem Bett eingewickelt. Ich wusste nicht, ob er sie als eine letzte freundliche Geste über mich gelegt hatte, bevor er mich hier zurückgelassen hatte, oder ob ich sie selbst vom Bett gezogen hatte, in dem Versuch, mich vor den Schlägen zu schützen. Was auch immer der Grund war, es war eine weiche Unterlage, auf der ich liegen konnte, bis es mir möglich war, mich zu bewegen. Ich war mir nicht sicher, wann das sein würde; es schien so, als ob jeder Teil meines Körpers schmerzen würde. Ich war noch am Leben, also tröstete ich mich in der Hoffnung, dass er keinen schweren Schaden angerichtet hatte.
Schock kann schwerer wiegen als Schmerz, einen lahmlegen, um dem Körper die Zeit zu geben, die er braucht, um sich zu erholen. Ich bin ein paar Mal aufgewacht, einmal lange genug, um mich selbst zum Bett zu ziehen und meinen vor Schmerz pochenden Kopf auf dem Kissen abzulegen. Ein Teil von mir erwartete, dass Ivan nach mir zu sehen würde, der andere Teil von mir war voll von Angst vor dem, was er tun würde, wenn er wiederkam. Ich sah mich nach meinem Handy um. Da ich es nicht finden konnte, nahm ich an, dass er es mitgenommen hatte. Es war egal. Es gab niemanden, den ich anrufen konnte. Ich hatte kurz daran gedacht, die Polizei zu rufen, aber bevor ich eine finale Entscheidung treffen konnte, schlief ich wieder ein, um dem Schmerz zu entkommen.
Als ich aufwachte, konnte ich am veränderten Tageslicht erkennen, dass viel Zeit vergangen war. Ich faltete mich auseinander und hob meinen Kopf leicht an, um zu sehen, ob ich etwas hören konnte. Wenn Ivan noch hier war, dann war er beeindruckend ruhig. Vielleicht war es ihm peinlich, dass er die Fassung verloren hatte. Aber nicht genug, um sich bei mir zu entschuldigen. Ich drehte mich um, mir blieb vom Schmerz die Luft weg. Wo zuvor verschiedene Teile meines Körpers einzeln schmerzten, war ich nun vollkommen mit überwältigendem Schmerz bedeckt. Was alles noch ungemütlicher machte, war die Tatsache, dass ich pinkeln musste.
Ich rutschte vorsichtig und voller Schmerz an den Rand des Bettes und versuchte, auf die Füße zu kommen. Als klar wurde, dass das meine Möglichkeiten übersteigen würde, kroch ich langsam im Rhythmus Hand-Knie-Hand-Knie, stoppte alle paar Zentimeter, um zu Luft zu kommen, und stöhnte, wenn der Schmerz durch meine Brust fuhr. Es war eine Tortur, über die kalten Fliesen des Badezimmers zu krabbeln, und ich verteilte Tränen auf dem Boden. Und dann folgte der Kampf, auf die Toilette zu kommen. Ich griff nach dem Rand der Schüssel, zog mich selbst hoch, stöhnte vor Schmerz, als ich mich umdrehte, um mich hinzusetzen, spürte mehr Schmerz in diesem Moment und noch mal mehr, als ich schließlich pinkelte. Ich war wenig überrascht, als ich in die Toilettenschüssel schaute und überall Blut sah.
Ich nutzte den Rand der Badewanne, um auf die Beine zu kommen, anstatt wieder zu krabbeln. Es war eine schlechte Idee … gerade zu stehen … denn jetzt konnte ich mich selbst im Badezimmerspiegel sehen. Es verschlug mir vor Schreck den Atem und ich legte meine Hände an mein Gesicht. Nichts schien gebrochen zu sein, aber mein Gesicht war ein einziges Durcheinander. Rote Striemen auf meiner einen Wange, lilafarbene Flecken auf beiden, meine Oberlippe blutig und geschwollen. Mehrere Beweise seines Zorns waren über beide Arme verteilt, und als ich mein T-Shirt hochzog, schluckte ich schwer beim Anblick der vielen Blutergüsse auf beiden Seiten. „Arschloch“, murmelte ich.
Ich hatte nicht geplant, die Polizei zu rufen, aber ich musste ihn für das, was er getan hatte, bezahlen lassen. Um das zu tun, brauchte ich mein Telefon. Ein Foto war schließlich mehr wert als tausend Worte.
Ich brauchte lange, um die Stufen runterzugehen. Ich umklammerte das Geländer fest mit beiden Händen, atmete schwer bei jedem Schritt nach unten, stöhnte, als der Schmerz mich überwältigte, und wartete, bis er nachließ, bevor ich mich wieder bewegte. Es gab viele Tränen und mehrere Momente, in denen ich mir sicher war, nicht mehr weitergehen zu können, bevor ich es endlich in den Flur schaffte. Die Tür zur Küche schien eine Million Kilometer weit entfernt zu sein. Ich war in diesem Moment verzweifelt genug, nach Ivan zu rufen, meine Stimme ein schwermütiges Piepsen, das hinter keiner der geschlossenen Türen zu hören sein würde. Ich versuchte es noch mal, aber auch dieser Versuch war nicht viel lauter und das Geräusch verschwand schnell in der Stille, die mir auf einmal merkwürdig vorkam.
Normalerweise, wenn Ivan zu Hause war, würde der Fernseher laut laufen. Das Arschloch musste ausgegangen sein.
Es schien so, als wäre ich alleine. Daran sollte ich gewöhnt sein.
Ich erreichte die Küchentür und drückte sie auf. Der Schmerz verlangsamte alles, darunter auch meine Reaktionen, also dauerte es ein paar Sekunden, bevor ich verstand, was ich da sah. Und dann noch ein paar mehr, um zu realisieren, dass der Körper, der da ausgestreckt auf dem Küchenboden lag, der meines geliebten Ehemannes war.
Kapitel zwei
Auch wenn ich es gekonnt hätte, wäre ich nicht zu ihm hingerannt. Stattdessen stand ich im Türrahmen und versuchte zu erkennen, ob sich sein Brustkorb hoch- und runterbewegte, was ein Hinweis darauf wäre, dass er am Leben war, oder ob ich Glück hatte und das grausame Arschloch den Löffel abgegeben hatte.
Aber die Tränen ließen meinen Blick verschwimmen und erst als ich unter Schmerzen durch den Raum schlurfte, wurde mir klar, dass das Glück mir einmal mehr nicht hold war. Er atmete. Wie ich so dastand und auf ihn hinunterschaute, mich fragte, was ich tun sollte, öffnete er seine Augen und starrte mich an.
„Wurg da bla.“
Hatten die Schläge mein Gehör angegriffen? „Was?“
Er verzog sein Gesicht – nein, sein halbes Gesicht – und versuchte es noch einmal. Die hochgewürgten Geräusche ergaben keinen Sinn. Es dauerte ein Weilchen, bis Klarheit in mein von Schmerz gezeichnetes Gehirn einzog. Ein Schlaganfall … er hatte einen Schlaganfall gehabt! Er hatte wahrscheinlich seinen Blutdruck hochgetrieben, als er die Scheiße aus mir herausgeprügelt hatte. Karma. Diese Vorstellung brachte mich zum Lächeln, dann verzog ich wieder mein Gesicht und führte einen Finger an meine aufgeplatzte Lippe.
„Wurg da bla.“
Ich schaute auf ihn und grinste. „Ist das deine Art, Entschuldigung zu sagen?“ Ich hätte ihn so gerne dorthin gekickt, wo es wehtut, und hätte das auch getan, wenn nicht jede Bewegung so starke Schmerzen mit sich gebracht hätte. Mein Telefon lag auf der Küchenanrichte. Ich brauchte mehrere Minuten, um Fotos der Blutergüsse, die sich über meinen Körper verteilten, zu machen, und verdrehte mich schmerzvoll, um so viele davon wie möglich zu dokumentieren. Erst als ich fertig war, wählte ich die 112.
Es lag vielleicht eher an der Art, wie ich es sagte, meine Stimme kaum lauter als ein Flüstern, statt an dem, was ich sagte, was sowohl die Polizei als auch zwei Krankenwagen kaum ein paar Minuten später kommen ließ. Ich kämpfte mich zur Tür und stützte mich auf den Türrahmen, als sie nach und nach in der Einfahrt vorfuhren. Der Trupp, um mich zu retten.
Sie gingen ganz vorsichtig mit mir um, halfen mir auf eine Trage und legten mir eine Decke um. Ich hatte bis dahin nicht realisiert, dass ich zitterte, hatte nicht bemerkt, dass ich weinte, bis einer der Sanitäter mit einem kühlen Tuch über mein Gesicht wischte. „Ruhig, nicht weinen, Sie sind jetzt in Sicherheit.“
Sie müssen mir etwas gegen die Schmerzen gegeben haben, denn kaum, dass ich mich versah, saß ich in einer Nische, umringt von einem weißen Vorhang, und Kabel führten in verschiedene Richtungen von den Monitoren zu meinem Körper. Ein beruhigendes Piepsen hüllte mich ein. Ich hörte Stimmen, aber ich erkannte keine davon, und nichts, was sie sagten, war an mich gerichtet.
Als jemand zu mir kam, ein Mann in Krankenhauskleidung, der so aussah, als wäre er um die sechzehn, und der sich selbst als Dr. Peterson vorstellte, war der Schmerz wieder da. Er überprüfte meine Daten und schaute vielwissend auf die Monitore, so als wollte er sich selbst versichern, und vielleicht auch mich, dass er wusste, was er tat.
„Trotz allem“, sagte er, „machen Sie sich sicher Sorgen um Ihren Ehemann? Ich kann Sie beruhigen und Ihnen mitteilen, dass er stabil ist. Die nächsten vierundzwanzig Stunden sind entscheidend.“ Sein eher engelhaftes Gesicht wurde durch ein plötzliches Stirnrunzeln getrübt. „Leider hat die Tatsache, dass er auf dem harten Boden für eine so lange Zeit gelegen hat, Folgen für ihn.“
Ich hätte ihm sagen können, dass mir Ivans Gesundheitszustand egal war und ich mich sicher nicht für irgendwelche Folgen oder Konsequenzen interessierte und dass alles, was ich wollte, mehr von welchem Medikament auch immer sie mir gegeben hatten war, um endlich wieder einzuschlafen. Als der Doktor so aussah, als wollte er mir mehr über die Notlage meines Mannes erzählen, bewegte ich mich leicht und stöhnte dann. Dafür brauchte ich kein Schauspieltalent; der Schmerz war kaum zu ertragen.
„Okay“, sagte Peterson. „Konzentrieren wir uns mal darauf, Sie wieder in Ordnung zu bringen.“ Er verschwand und kam ein paar Momente später mit einer Schwester im Schlepptau zurück. Sie murmelten etwas, dann fummelten sie an dem intravenösen Zugang in meinem rechten Arm rum und dann kam die barmherzige Erlösung.
Während der nächsten paar Stunden, als ich immer wieder mal aufwachte und dann wieder einschlief, wurde ich geröntgt, gescannt und untersucht von Leuten, deren Namen und medizinische Qualifikationen ich nur durch eine durch Medikamente bedingte Vernebelung hören konnte. Ich hatte Schmerzen, als jemand damit kämpfte, eine Vene in meinem verletzten Arm zu finden, aus der sie schließlich etwas, was nach einer ziemlich großen Menge Blut aussah, abnahmen. Alles wurde mir bis ins kleinste Detail erklärt, was ich aber sofort wieder vergaß. Schlussendlich wurde ich in ein kleines Zimmer mit vier Betten gerollt und mir wurde auf ein Bett geholfen.
Eine Krankenschwester wuselte herum, legte mich hin, überprüfte die Monitore und fragte mich pausenlos, ob ich irgendetwas brauchte.
„Nein“, sagte ich, nicht zum ersten Mal. „Mir geht es gut, danke.“ Die Wirkung von was auch immer sie mir zuvor gegeben hatten, ließ nach, aber die stechenden Schmerzen, die ich zuvor gespürt hatte, waren nun ein dumpfes Zwicken geworden. Ich musste klar denken können; es war besser, in Alarmbereitschaft zu sein.
Die Krankenschwester machte noch ein bisschen Aufhebens um mich, sagte dann entschuldigend: „Da draußen sind ein paar Polizisten, die mit Ihnen sprechen möchten; glauben Sie, dass Sie das können?“
Es war definitiv besser, in Alarmbereitschaft zu sein, wenn ich mit ihnen sprechen wollte. Nicht, dass es etwas gab, um das ich mich sorgen musste, nichts, das ich verstecken musste. Ich war an nichts von alledem schuld. Zur Abwechslung war ich das Opfer.
Sie mussten ja nicht erfahren, dass ich plante, Ivan für das bezahlen zu lassen, was er mir angetan hatte. Das ging sie wirklich nichts an.
Kapitel drei
Ich bin mir nicht ganz sicher, warum ich Ivan geheiratet habe. Nachdem ich die Uni abgeschlossen hatte, nahm ich eine Stelle bei einer sehr exklusiven PR-Firma an. Mein Plan war es, hart zu arbeiten und so nach oben zu kommen. Das war, bevor ich herausfand, was für eine schrecklich brutale Welt es war. Ich hatte mir schon gedacht, dass es schwer werden würde, aber im Vergleich zu ein paar der Barrakudas, die ich getroffen hatte, war ich ein hilfloses Kätzchen.
Also tat ich das, was Frauen bereits zuvor jahrhundertelang getan hatten. Ich wählte den einfachen Weg. Ich war schön, gebildet, charmant und, wenn die Situation es verlangte, jedes Mannes perfekte andere Hälfte. Und es gab ausreichend Männer, die für so eine Möglichkeit gerne bezahlten. Nun, nicht wirklich bezahlten, ich war keine Prostituierte, obwohl ich glaube, dass es Leute gibt, die sagen würden, dass Miete, Kreditkarten, Taschengeld oder was immer ich wollte anzunehmen, so ähnlich war, wie bezahlt zu werden. Meiner Meinung nach, setzte ich meine natürlichen Talente ein.
Also, warum hatte ich Ivan geheiratet?
Weil ich zwei Dinge bemerkt hatte, als ich neununddreißig geworden war. Das erste war, dass es mehr Zeit und Geld brauchte, um so gut auszusehen, wie ich es tat; das zweite war, dass ich anfing, mich mit anderen Frauen zu vergleichen, die sich in den Pubs und Clubs rumtrieben, die ich regelmäßig besuchte. Die ebenso schönen, aber jüngeren Frauen. Es wurde immer offensichtlicher, dass die Männer, an denen ich interessiert war, an ihnen interessiert waren.
Jeder, der glaubte, dass es nur auf den Charakter ankam, machte sich selbst etwas vor. Im geschäftigen Nachtleben des exklusiven Londons in den 2020er Jahren war es das Aussehen, das zählte.
Es war in dieser Zeit des Selbstzweifels, dass Ivan in meiner Umlaufbahn auftauchte. Er war reich, gutaussehend für einen Mann um die siebzig und schmeichlerisch aufmerksam. Er umwarb mich mit Wochenendausflügen in Fünf-Sterne-Hotels, einem Diamantarmband, das ich während eines Wochenendes in New York bei Tiffany’s bewundert hatte, und Shoppingtrips zu Harrods. Alles, was eine Frau wie ich wollte.
„Heirate mich“, hatte er gesagt, als wir nur ein paar Monate nach unserem Kennenlernen in einem Restaurant beim Abendessen waren. Er fasste in seine Tasche, holte eine Ringschachtel heraus und öffnete sie mit seinem Daumen.
Das Glitzern des Diamanten unter den Lampen des Restaurants raubte mir fast den Atem. Es war ein riesiger, fast schon vulgär großer Solitär-Ring.
Ich war immer gegen Ehe oder jede Art von fester Bindung gewesen. Mein Vater, der die Familie – mich – verlassen hatte, als ich gerade mal zehn Jahre alt war, hatte vieles zu verantworten. Dank ihm wollte ich nicht wieder in eine Situation kommen, in der ich sitzengelassen werden konnte. Aber jetzt war ich beinahe vierzig und vielleicht war es an der Zeit, clever zu sein und an meine Zukunft zu denken. Ich sah mir Ivan in diesem exklusiven Restaurant an, sah wie sein Hemd sich über seiner Wampe spannte und die Knöpfe kämpften, sie im Zaum zu halten, und dachte, dies könnte vielleicht ein guter Schachzug für mich sein. Er war fast siebzig, übergewichtig, mit Farbe in den Wangen. Er trank zu viel und rauchte Zigarren, wann immer er konnte. Er sah aus wie ein Mann, der nicht besonders viel älter werden würde. Ich dachte mir, bei ihm müsste ich mir keine Sorgen machen, dass er mich sitzenlässt – zu sterben wäre etwas anderes und sein Tod würde mich mehr als nur komfortabel zurücklassen, was das Finanzielle anging. „Ja“, sagte ich und schob meine Hand über den Tisch, damit er den Ring an den richtigen Finger stecken konnte, „ich heirate dich.“
‚Drum prüfe …‘ – wer kennt ihn nicht, den zweiten Teil dieses nervigen Sprichworts? Ivan hatte einen Familienbesitz ein paar Kilometer von Windsor entfernt erwähnt. Was er nicht erwähnt hatte, war, dass er erwartete, dass wir dort lebten. Die ganze verdammte Zeit. Er hatte im Haus ein Büro und kümmerte sich von dort aus immer noch um seine Finanzgeschäfte. Er machte es auch mehr als klar, dass er das Trampeln kleiner Füße in nicht allzu ferner Zukunft erwartete.
Ich war schnell desillusioniert von der Wende, die mein Leben genommen hatte. Ich hatte mich in eine verdammte Hausfrau verwandelt. Das größte der Gefühle, was Ivan duldete, war eine Reinigungskraft alle zwei Wochen. Und sogar dann bestand er darauf, dass sie in jedem Raum überwacht werden musste, aus Angst davor, dass sie vielleicht etwas der zerschlissenen Familienerbstücke in seinem putzigen, kitschigen ländlichen Müllhaufen kaputtmachen würde.
Ich brauchte nicht lange, um zu erkennen, dass mein Ehemann mich nicht liebte. Es hätte eigentlich keine Überraschung sein sollen. Ich liebte ihn ja auch nicht. Das große Problem waren unsere unterschiedlich hohen Erwartungen. Ich hatte bekommen, was ich wollte, obwohl wie begraben auf dem Land zu leben nicht unbedingt genau das war, was ich mir für mein Leben vorgestellt hatte, aber er bekam nicht, was er wollte. Ein Kind. Ivan hatte gewartet, bis er fast siebzig war, bevor ihm klar wurde, dass er eines wollte, und erwartete, dass seine Frau eine Zuchtstute sein würde. Seine Wahl fiel auf mich, weil ich schön war und, so dachte er zumindest, schöne Babys machen würde.
Er nahm auch an, dass ich weitaus jünger war, als es der Tatsache entsprach, aber welche Frau ab einem bestimmten Alter lügt denn nicht und zieht ein paar Jahre ab, oder, wie in meinem Fall, sechs.
Als es weiterhin keine Anzeichen eines Kindes gab, wurde die Distanz zwischen uns – bereits so groß wie der Grand Canyon – noch größer. Ich begann eher Abneigung als Besitzansprüche in seinen Blicken zu erkennen, spürte einen kalten Widerwillen beim Pressen seiner Lippen auf meine Wange. Bis zu diesem letzten Tag, als die Entdeckung dessen, was er als einen Verrat meinerseits empfand, ihn den Verstand hin zu grausamem Hass endgültig verlieren ließ.
***
Ich wurde für ein paar Tage im Krankenhaus behalten, bevor ich entlassen wurde, mit dem Hinweis, wiederzukommen, wenn ich Kopfschmerzen bekam oder beim Pinkeln wieder Blut zu sehen war.
Es vergingen ein paar weitere Wochen, bis Ivan nach Hause kommen durfte.
Er war nur für ein paar Tage zu Hause, als mir klar wurde, dass ich nicht bleiben konnte. Es war etwas unglaublich Banales, das mir den letzten Stoß versetzte. Ich scannte die Bücherregale in unserem Wohnzimmer auf der Suche nach einem Buch, das meine Stimmung heben sollte, überging dabei die, die ich noch nicht gelesen hatte, und bevorzugte die, die ich bereits kannte und von denen ich wusste, sie würden meine Stimmung heben. Solche, in denen, auch wenn sie nicht unbedingt glücklich bis ans Ende ihrer Tage leben würden, die weibliche Hauptfigur immer obenauf aus der Sache rauskam. Ich war auf den Knien, durchsuchte die unteren Regalreihen, zog jedes Buch eins nach dem anderen heraus und steckte es frustriert wieder zurück, wenn es nicht das war, was ich wollte. Und dann fand ich ein Buch, das ich seit Jahren nicht gelesen hatte. Es passte perfekt zu meiner Stimmung und ich holte es mit einem Lächeln aus dem Regal.
Ich kämpfte mich erschöpft auf die Beine und ging zum Sofa, setzte mich hin und kuschelte mich ein. Bereit, in das Buch einzutauchen, blätterte ich durch den Anfang von Kapitel eins, wenig überrascht, als etwas aus den Seiten herausfiel. Ich hatte die Angewohnheit, das was gerade griffbereit war, als Lesezeichen zu benutzen, und fand regelmäßig Kassenzettel, Papierreste oder alte Umschläge zwischen den Seiten eines Buches, das ich gelesen hatte. Was immer es dieses Mal war, flatterte einmal, bevor es mit der Vorderseite nach unten auf dem Teppich landete. Es war gerade so außerhalb meiner Reichweite und Bewegungen bereiteten mir immer noch Schmerzen, aber während ich las, konnte ich es immer wieder in meinem Augenwinkel sehen, sodass ich nach nur ein paar Seiten genervt stöhnte, das Buch auf das Sofa legte und meine Beine langsam auf den Fußboden schwang.
Ich griff nach der kleinen Karte und drehte sie mit wenig Neugier um, meine Augen wurden aber groß, als ich erkannte, dass es ein Foto von mir und meinem alten Freund war.
Ich rutschte das Sofa entlang und hielt es näher an die Lampe. Ich wusste, wer es war, natürlich. Mark Shepherd. Wie konnte ich einen Mann vergessen, der so hoffnungslos in mich verliebt gewesen war? Ich drehte es um, um die Rückseite zu sehen. Dort war nichts notiert. Das war egal; ich brauchte nur Sekunden, um mich zu erinnern, wann es aufgenommen worden war. Vor zwanzig Jahren. Während meines letzten Unijahres. Das Jahr, um sich auf den Hintern zu setzen und sich hinter die Lehrbücher zu klemmen.
Ich fuhr mit einem Finger über sein Gesicht und griff nach der Erinnerung. Sie kam wie eine Umarmung aus der Vergangenheit zu mir zurück und zum ersten Mal seit Ivans Angriff auf mich spürte ich, wie die Anspannung und Angst, die mich fest im Griff gehabt hatten, nachließen.
Mark hatte dafür gesorgt, dass ich mich geliebt fühlte.
Ich hätte ihn nie gehen lassen dürfen.
Kapitel vier
Mark Shepherd – ich hatte ihn das erste Mal in der ersten Uniwoche gesehen, als ich noch voller Aufregung war, weg von Zuhause und in Bristol zu sein, wo alles und jeder nur so vor Potenzial triefte. Wie die meisten Frauen schaute ich mir jeden gutaussehenden, oder fast gutaussehenden, Typen genau an, gab ihnen Bewertungen von 1 bis 10, basierend alleine auf ihrem Aussehen. Wir waren jung, selbstverliebt und oberflächlich. Mark hatte eher ein kindliches, rundes Gesicht, sein Körper war schlaksig und jungenhaft, aber dennoch war er einen zweiten Blick wert und kam auf eine gute Sieben auf meiner persönlichen Adonisskala. Ich studierte Public Relations und Psychologie; er studierte Psychologie und Jura, also belegten wir ein paar der gleichen Module, aber wurden uns nie näher vorgestellt. Er hielt sich eher am Rand der Menge auf, war abgedrängt von lauteren, aktiveren und durchsetzungsfähigeren Typen, mit denen es einfach mehr Spaß machte, Zeit zu verbringen.
Während meines ersten Unijahres lebte ich auf dem Campus. Die Unterkunft war teuer, zweckmäßig und kam mit einer langen Liste an Regeln und Regularien. Meine Mutter bezahlte die Rechnungen, also störten mich die Kosten nicht. Es waren die nervenden Regeln und Regularien, die es taten.
Als ich meiner Mutter erzählte, dass ich umziehen wollte, konnte ich einen Hauch von Sorge in ihrer Stimme erkennen. Nicht um mich, oder aus Angst um mein Wohlergehen außerhalb des Campus; nein, ich wusste genau, wovor sie Angst hatte. Dass, wenn ich unglücklich war, ich aufgeben und für immer nach Hause zurückkehren würde. Ich konnte spüren, wie sich meine Lippen zu einem spöttischen Lächeln formten. Das würde sie gar nicht glücklich machen. Unsere Beziehung war eine, geprägt durch kindliche und mütterliche Pflicht, nicht Liebe. Ich war mir nicht mal sicher, ob sie mich überhaupt mochte.
Ich wusste auch, sie würde glücklicher sein, wenn ich über die Ferien nicht nach Hause kommen würde. Ich versuchte, meine Stimme vorsichtig neutral zu halten, während ich erklärte, wie viel einfacher es wäre, wenn ich während des Sommers in Bristol bleiben würde. „Ich könnte mich natürlich nach einem Job umsehen, wenn ich nach Hause komme, schauen, ob ich etwas in Thornbury finden kann. Ich will nicht den ganzen Sommer rumsitzen und dir im Weg sein.“
„Könntest du dort einfacher einen Job finden?“ Das ging schneller, als ich erwartet hatte. Vielleicht war ich töricht gewesen und sie hatte bereits darüber nachgedacht. Vielleicht hatte ich sie unterschätzt.
„Ja.“ Ich zog das Wort lang, so als ob ich das erste Mal über diese Idee nachdachte. „Vielleicht ist das wirklich das Beste. Hierzubleiben während des Sommers. Solange es für dich in Ordnung ist, meine Miete zu bezahlen.“
Da war das kleinste bisschen Zögern, bevor sie antwortete. „Ich denke, es ist sinnvoll, sich nach etwas außerhalb des Campus umzusehen. Solange es nicht mehr kostet.“
Zum Glück hatte ich eine günstigere Unterkunft gefunden. Ich hatte mich bereits mit ein paar Mitstudierenden angefreundet, die im selben Boot wie ich saßen, und gemeinsam klickten wir uns durch die Webseiten, um etwas Passendes zu finden. Wir waren nicht wählerisch, günstig war die einzige Bedingung, die wir hatten.
Das Haus, das wir fanden, war eine baufällige Bruchbude, etwa fünfzehn Minuten zu Fuß vom Unicampus entfernt. Es gab drei Schlafzimmer und ein gefliestes Badezimmer oben; unten, was einmal ein Wohn- und ein Esszimmer waren, waren jetzt zwei weitere Schlafzimmer, und in einer schlechtgebauten Erweiterung war ein zweites Badezimmer untergebracht. Dieses wurde an das Haupthaus so schlecht angebaut, dass, wenn es stark regnete, kleine Bäche innen an den Wänden entlangliefen. An einem sonnigen Tag, wenn man seinen Kopf zurücklehnte und hochschaute, konnte man einen Riss, durch den es himmelblau schien, erkennen.
Dieses erste gemeinsame Jahr war wild. Keiner von uns fünf interessierte sich dafür, dass der Ort eine Bruchbude war. Wir konnten tun, was wir wollten – und taten dies auch regelmäßig. Es gab keine Auflagen für Partys oder Alkohol oder Drogen. Also nutzten wir das aus. Und uns gegenseitig. Männer kamen und gingen in regelmäßigen Abständen als Teil einer Reihe von beiderseitig vereinbarten Wie-gekommen-so-zerronnen-Beziehungen, die Gesichter der Männer mit ihrer jungen, unreifen Schönheit nahezu austauschbar, ihre Körper muskulös und athletisch. Es war alles so leicht.
Von den fünf Leuten, die in dem heruntergekommenen Haus lebten, war ich die Einzige, die nie einen offiziellen Teilzeitjob hatte, um über die Runden zu kommen. Dies war zum Teil dank der Großzügigkeit meiner Mutter, aber hauptsächlich wegen meines inoffiziellen Teilzeitjobs … die Großzügigkeit mancher der Männer, die ich datete.
Überhaupt, worin lag der Sinn, einen fabelhaften Körper zu haben, wenn ich ihn nicht für mehr als reine Deko benutzen wollte? Es war ja nicht so, als wäre das harte Arbeit gewesen. Die Männer waren immer älter. Manchmal sehr alt. Und mitleiderregend. Tatsächlich fragte ich mich oft, ob es da einen direkten Zusammenhang gab zwischen dem Grad, wie mitleiderregend sie waren, und der Höhe der Summe, die sie bereit waren, für Gesellschaft zu bezahlen.
Dies war das einzige Vergnügen, das ich von den Treffen mit ihnen hatte.
Aber als das letzte Jahr vor der Tür stand, wusste ich, dass sich die Dinge ändern mussten. Ich hatte mich bereits für eine Stelle bei einer der größeren PR-Firmen in London beworben. Das Einstiegsgehalt war nicht besonders gut, aber ich war darauf erpicht, die Karriereleiter hinaufzuklettern.
Sehr gute Noten würden mir die Stelle nahezu garantieren. Ich war klug, nur etwas unkonzentriert, und ließ mich leicht ablenken. Ich hatte keine andere Wahl, als mich von meinem sozialen Umfeld zu distanzieren. Das fiel mir schwer. Noch mehr, als ich bemerkte, wie sehr sie Party machten, wenn ich nicht dabei war, meine Abwesenheit dabei von so wenig Konsequenz wie ein Glas Wasser, das aus einem Teich geschöpft wurde. Es war eine Tortur. Ich dachte, meine Freunde würden irgendwann nach mir suchen, aber wenn ich sie in den Hörsälen traf, war es so, als ob sie meine Abwesenheit bei welchem gesellschaftlichen Ereignis auch immer die Nacht zuvor stattgefunden hatte, gar nicht bemerkt hatten. Das lag an der Oberflächlichkeit unserer Beziehungen. Es gab niemanden, dem ich nahestand, keine Busenfreundin, die mir das Ohr abkaute und mich darüber auf dem Laufenden hielt, was so passierte. Es war mir egal. Es machte es einfacher, sich zurückzuziehen, sich auf das Endspiel zu konzentrieren.
Das war um die Zeit, als mir Mark erst richtig auffiel. In den zwei Jahren, seit ich zuerst sein Potenzial erkannt hatte, hatte er sich körperlich zum Positiven verändert – er war mehr als nur ein Junge jetzt. Ich sah ihn in der Bibliothek. Er machte den Anschein, als würde er dort hingehören, war über seine Bücher gebeugt, eines vor ihm aufgeschlagen und ein Notizbuch daneben, in das er hineinschrieb. Sein Stift kritzelte wild. Er war voll konzentriert.
Seine verbissene Konzentration inspirierte mich, zu versuchen, es ihm nachzumachen. Das sorgte dafür, dass mir nicht langweilig wurde. Binnen kürzester Zeit war ich von ihm fasziniert. Ich hatte oft auf Psychologievorlesungen verzichtet, aber fing jetzt an hinzugehen, überschaute vom Türrahmen aus den gesamten Saal mit seinen gestaffelten Sitzreihen auf der Suche nach Marks verwuscheltem Kopf mit dunklen Haaren. Über die nächsten Wochen hinweg kam ich Mark im Vorlesungssaal immer näher, bis ich endlich fast direkt vor ihm saß. Er war immer einer der Letzten, die gingen; ich beobachtete, wie er seine Notizen noch mal überprüfte, bevor er alles vorsichtig einpackte, während andere Studierende umherliefen, lachten und redeten.
Ich wartete auf meinen Moment, diese kleine Ruhepause, wenn die lautesten Studierenden gegangen waren und der nächste Strom von Studierenden noch nicht reingekommen war.
„Gute Vorlesung, oder?“, sagte ich und warf meine teuer gefärbten blonden Haare zurück, um noch besser nach oben zu ihm schauen zu können. Ich vergrößerte mein Lächeln und klimperte mit den Wimpern. Oh ja, ich konnte das Spiel spielen, wenn ich es wollte. Ich ließ meine Haare fallen und zeigte auf das Podium. „Das war so eine tolle Vorlesung, dass sich mein Kopf richtig dreht. Ich hole mir jetzt einen Kaffee und schau mal, ob ich das alles irgendwie verstehen kann.“ Ich nickte und ging ein paar Stufen nach oben und drehte mich mit einem nachdenklichen Blick um. „Du kennst doch sicher das Sprichwort ‚Vier Augen sehen mehr als zwei‘ – hättest du Lust, dich mir anzuschließen? Vielleicht können wir darüber sprechen, was er gesagt hat. Das könnte helfen, es besser zu verstehen, glaube ich.“ Ich lachte mit gespielter Verlegenheit. „Entschuldige, vergiss es; du hast es wahrscheinlich schon längst verstanden.“ Ich war der festen Überzeugung, dass Subtilität eine Verschwendung bei Männern war, also war meine Einladung klar, nahezu auf den Punkt. Wenn er das so verstand, dass ich nicht besonders klug war, oder auf jeden Fall weniger intelligent als er, würde er, wenn wir uns erst mal besser kennenlernen würden, schnell bemerken, dass das eine falsche Annahme war. Ich war, wie das Lehrpersonal an meiner Schule mit deutlichem Sarkasmus sagte, zu schlau für mein eigenes Wohl. Aber ich konnte mich dumm stellen, wie niemand sonst.
„Sicher.“ Er nickte in Richtung Ausgang. „Wir sollten sowieso schnell hier raus, außer du willst hierbleiben und der Vorlesung über Informationstechnik zuhören.“
Ich war mir nicht sicher, ob das ein Witz sein sollte. Dann grinste er und ich lachte, um mein erleichtertes Aufatmen zu überdecken.
Es gab mehrere Cafés über den Campus verteilt. Wir gingen zum nächstgelegenen und saßen bald an einem kleinen Tisch im hinteren Teil. Die Luft war etwas schlecht, aber das war zu meinem Vorteil. Nachdem wir ein paar Minuten an unseren Getränken genippt hatten, wischte ich mir über die Stirn. „Es ist warm hier, oder?“
Ich zog die Jacke aus, die ich trug, und ließ sie über die Lehne meines Stuhls fallen. Ich trug ein langärmeliges Baumwoll-T-Shirt, der Stoff abgenutzt durch die vielen Jahre des Waschens. Es gehörte zu meinen Lieblingsstücken; ich würde es tragen, bis es auseinanderfiel, und wahrscheinlich noch für ein Weilchen danach. Ich zog daran, zog am V-Ausschnitt und pustete Luft in mein Dekolleté. Ich sah, wie er hinschaute. Ein kurzer verstohlener Blick. Genug, so hoffte ich, um Interesse zu bekunden. Ich wäre sauer gewesen, wenn ich diese ganze Zeit für einen Mann verschwendet hätte, der nicht an Frauen interessiert war. Und wenn er Frauen mochte, dann gab es keinen Grund, warum er nicht an mir interessiert sein sollte. Ich war das perfekte Gesamtpaket. Mutter Natur hatte mir üppige Brüste, eine dünne Taille und lange Beine gegeben, alles, was ich mehr als selbstbewusst gerne bei jeder Gelegenheit herzeigte. Ich wurde oft als schön bezeichnet, manchmal als exotisch. Wohlgemerkt, wenn Leute mich besser kennenlernten, war das Wort, das am meisten benutzt wurde, um mich zu beschreiben, „Schlampe“. Ich machte mir da keine Illusionen; es war die viel angebrachtere Bezeichnung.
Ich legte einen Arm über die Stuhllehne, um so besser meine Attribute vorzeigen zu können, und griff mit meiner leeren Hand nach einer Flasche Cola. „Also, wie fandest du die Vorlesung?“
„Sie war gut. Der Professor ist ein toller Dozent. Ich mag die Art, wie er das, was er sagt, mit Zitaten aus Forschungsliteratur untermauert.“
Mark hatte eine tiefe, melodische Stimme und eine Art, mit Worten umzugehen, die meine Aufmerksamkeit erweckte, auch wenn das Thema, über das er sprach, langweilig wurde. Er wusste viel über das Thema und es brauchte nicht mehr als das eine oder andere zustimmende Mhm von mir, um ihn am Reden zu halten.
Er würde bald gehen. Ich kannte seinen Stundenplan besser als meinen eigenen und er hatte eine Jura-Vorlesung als Nächstes. Da er, soweit ich das einschätzen konnte, nie eine verpasst hatte, gab es keinen Grund, zu versuchen, ihn mit dem Versprechen eines Quickies zu ködern. Er redete immer noch, gestikulierte, um das, was er sagte, zu unterstreichen, sein Gesicht lebendig vor Begeisterung, die ich nie für einen meiner Kurse aufbringen konnte. Sein Gesicht, leicht engelhaft zwei Jahre zuvor, war dünner geworden. Es wurde geteilt durch eine gebogene Nase oberhalb von Lippen, die voller waren als sonst bei Männern. Ich stellte mir vor, wie sie meine berührten, sich dann langsamer bewegten. Viel langsamer. Ich bekam Gänsehaut.
„Geht es dir gut?“, fragte er besorgt. Er sah hoch zur Klimaanlage, die zwischen den Rohren an der Café-Decke angebracht war. „Da kann manchmal ganz schön kalte Luft rauskommen; du musst vorsichtig sein, dass du dich nicht verkühlst.“
Wir könnten woanders hingehen und du könntest mich aufwärmen. Das wäre, was ich zu jedem anderen Mann, den ich kannte, gesagt hätte, und wir würden in mein oder sein Zimmer gehen oder an einen der zwielichtigen, privaten Orte, die über den Unicampus verteilt waren – die Technikräume im Erdgeschoss des Hauptgebäudes, die Hütten der Gärtner, die eigentlich abgeschlossen sein sollten, es aber selten waren, und sogar das Gebüsch an der nördlichen Mauer. Ich war an all diesen Orten die letzten Jahre über gewesen. Aber wie ich so über den Tisch schaute und seinen ernsthaft besorgten Gesichtsausdruck in mich aufnahm, wusste ich, dass dieser Typ anders war. Oder vielleicht war ich es. Diese Sache mit dem Lernen, vielleicht hatte es meine Hirnchemie verändert.
Ich stand so plötzlich auf, er zuckte erschrocken zusammen.
„Sorry.“ Ich fuhr mit einer Hand durch meine Haare. „Ich habe vergessen, dass ich ein Tutorial habe. Ich muss mich beeilen.“ Ich sammelte meine Bücher, meine Tasche und meinen Mantel ein und, auch wenn mir alles jeden Moment aus der Hand zu fallen drohte, ging ich schnell aus dem Café. Er rief meinen Namen. Ich konnte ihn über den Trubel hinweg hören, wie ein Summen, bevor er sich auflöste und vergangen war, bevor ich den Ausgang erreicht hatte.
Ich hatte gelogen; es gab kein Tutorial. Es gab Vorlesungen, die ich besuchen sollte, aber sogar mit meiner neugefundenen Begierde, erfolgreich sein zu wollen, konnte ich mich nicht dazu bringen, mehr als eine am Tag anzuhören. Stattdessen brachte ich die ausgeliehenen Bücher zurück in die Bibliothek und ging los in meine Bude. Es war eine Erleichterung, als niemand zu Hause war. Ich brauchte Ruhe, um meine Gedanken zu sortieren.
Mark – er hatte sich unter meine Haut gelegt.
Es war ein merkwürdiges Gefühl, das mich aus dem Café rennen ließ.
Vielleicht war es Liebe gewesen.
Kapitel fünf
Liebe war ein Konzept, mit dem ich nicht vertraut war. Ich war mehr als nur flüchtig vertraut mit Lust. Es gab keine Haken und Ösen, keinen Zwang zur Chemie oder Versprechen ewiger Zuneigung. Eine schnelle Nummer, danke sehr vielmals, und auf zum nächsten. Das war, woran ich gewöhnt war. Es war, was ich wollte. Eine gegenseitig vergnügliche Erfahrung, bei der es mir egal war, ob sie nicht anriefen, nicht auftauchten, sich nicht scherten. Ich sah das ebenfalls so, jede Beziehung eine tagein, tagaus Sache. Ich suchte nicht nach mehr und sicherlich nicht genau in dem Jahr, in dem ich mir vorgenommen hatte, mich meinem Studium zu widmen.
Aber es war zu spät.
Mark wartete beim nächsten Mal am Eingang des Vorlesungssaals, als sich unsere Stundenpläne überschnitten. Er sagte nichts, als ich mich zu ihm gesellte, er griff nur nach meiner Hand und hielt sie, während andere Studierende vorbeiwirbelten und völlig ahnungslos gegenüber dem Drama waren, das sich gerade abspielte.
Monatelang war ich die perfekte Freundin. Wir lernten zusammen. Besuchten Vorlesungen zusammen, immer wenn wir konnten. Sprachen anschließend über sie, dröselten Beobachtungen auf, bis sie für uns beide Sinn ergaben. Ich fing sogar an, mich anders zu kleiden – weniger Pseudo-Goth, eher Pseudo-Streberin. Auch wenn die neue Rolle mir Spaß machte, bin ich mir nicht sicher, ob es Mark je aufgefallen war. In seiner liebenswerten Art war ihm so etwas nicht wichtig und ich hätte Stofffetzen anhaben können und er hätte immer noch wertschätzend gelächelt.
Es war erbaulich, fast schon überwältigend, vollkommen befriedigend. Er behandelte mich, als wäre ich aus edlem Porzellan gemacht, als ob seine Finger mein Fleisch verletzen würden.
Ich fuhr mit dem Finger noch einmal über das Foto und hielt bei der Wölbung von Marks Wange inne. Es war etwas Gutes gewesen. Ich kämpfte mich auf die Beine und ging für ein Glas Wein in die Küche. Wenn ich schon in Erinnerungen schwelgen würde, dann brauchte ich etwas, das die Reise leichter machte. Es erschien mir logisch, die Flasche zurück in die Vergangenheit mitzunehmen. Meine Vergangenheit war ein stacheliger Ort für einen Besuch; die Linderung durch den Alkohol würde nötig sein.
Mit einem Kissen hinter mir und meinen Beinen unter eine Decke gekuschelt, hielt ich das Bild von Mark in der einen Hand, während ich den schön gekühlten Sauvignon trank und meine Gedanken in eine Zeit zurückwandern ließ, in eine Phase, in der ich wirklich dachte, dass ich anders wäre.
Oder waren es nur die Zeiten, die anders waren? In den Monaten, in denen wir zusammen waren, war ich entschlossen, die guten Noten zu bekommen, die sicherstellen würden, dass ich einen guten Start in London hatte, also war ich zufrieden damit, mich auf mein Studium zu konzentrieren. Als die Abschlussprüfungen vorbei waren, als wir alles gegeben hatten, was wir konnten, und alles, was jetzt noch zu tun blieb, auf das Ergebnis zu warten war, änderten sich die Dinge.
Ich kann sogar den genauen Zeitpunkt benennen.
Mark und ich waren bereits seit sechs Monaten zusammen gewesen. Das meiste davon war in einem Dunstschleier aus Lernen verschwunden, in dem wir beide fest entschlossen waren, gut abzuschneiden, aber es gab auch Stunden und Tage, an denen wir Händchen hielten, spazieren gingen, redeten und einfach glücklich waren, zusammen zu sein.
Er würde den Sommer über nicht in Bristol bleiben, sondern besuchte stattdessen seine Eltern in ihrem Haus in Cheltenham.
„Komm doch für ein langes Wochenende mit“, hatte Mark gedrängt, nachdem wir für ein paar Tage gefeiert hatten und mehrere Stunden an das Auskurieren unserer jeweiligen Kater verloren hatten. „Du hast noch keinen Job; mach das Beste draus. Meine Eltern würden dich sehr gerne kennenlernen.“
Seine Eltern würden mich sehr gerne kennenlernen. Ich sah in sein attraktives Gesicht und wusste, dass es das gewesen war. Das Ende der Idylle. Ich wusste, dass er mich liebte. Das hatte er mir oft genug gesagt. Und ich hatte dasselbe erwidert. Worte ohne Bedeutung. Ich erinnerte mich an meinen Vater, der dasselbe gesagt hatte, als er mich ins Bett brachte. Als er sein kratziges Gesicht gegen meine zehnjährige Wange drückte und mir sagte, wie sehr er mich liebte. Ich erinnerte mich an die Worte, so als ob sie immer noch nachhallen würden. Die letzten Worte, die er jemals zu mir gesagt hatte. Am nächsten Morgen war er weg. Ohne Entschuldigung oder ein Auf Wiedersehen. Niemals mehr gesehen. „Thailand“, sagte meine Mutter viele Tage später, als ich den Mut aufgebracht hatte, nachzufragen.
Der Schmerz des Verlassenwerdens ließ mich fest versprechen, dass niemals jemand mich je wieder verletzen würde. Es war einfach besser, wenn die Absperrungen zum Schutz an Ort und Stelle blieben. Mark hätte es fast geschafft, sie zu durchbrechen, aber jetzt waren sie wieder fest aufgestellt und es war an der Zeit, etwas zu beenden, das nie hätte anfangen sollen.
Ohnehin, wenn er oder seine Eltern gewusst hätten, wie ich plante, mein Geld während des Sommers zu verdienen, hätten sie mich blitzschnell beiseitegelegt.
„Ich habe Job-Interviews, die auf mich warten“, sagte ich und blieb während der nächsten Tage bei dieser Lüge, bis er schließlich ging und mir versprach, mich anzurufen und jede Minute an mich zu denken, weil er mich verzweifelt vermissen würde.
Als er weg war, überzeugte ich mich selbst, dass diese Monate eine Anomalie gewesen waren. Es war so, als ob ich monatelang im Ruhemodus gewesen und auf einmal aufgewacht war. Ich schaute schockiert auf meine langweiligen Streberinnen-Klamotten und gab sie schnell beim nächsten Second-Hand-Shop ab, bevor ich meine älteren, knapperen, trendigeren Klamotten ausgrub und wieder in ein Leben zurückkehrte, das ich gelebt hatte, bevor ich ihn traf.
Es dauerte nicht lange, dort anzuknüpfen, wo ich aufgehört hatte. Alte Freunde und Freundinnen verhielten sich so, als ob ich nicht monatelang wie verschollen gewesen war, alte Männerbekanntschaften waren erfreut, meine Anrufe entgegenzunehmen, und mehr als nur erfreut, unsere besonders befriedigenden lukrativen Arrangements wieder aufzunehmen.
Marks Anrufe an mich blieben unbeantwortet. Seine immer verzweifelteren Nachrichten wurden ungelesen gelöscht. Ich hatte wohl gehofft, dass er den Hinweis verstehen würde, ohne dass ich ein Wort sagen musste. Vielleicht hätte ich seinen nächsten Schritt vorhersehen sollen. Wenn ich das getan hätte, hätte ich meine Mitbewohner vorgewarnt, dass es zwischen mir und Mark vorbei war. Ich hätte ihnen gesagt, ihm zu sagen, oder jedem anderen, der nach mir suchte, dass ich gegangen war, nach Übersee, irgendwohin, überall hin.
Ich stieg eines späten Abends aus dem Taxi, einer meiner betagten Freunde rutschte hinter mir aus dem Auto. Seine Hände waren überall auf mir mit beharrlicher Ungeduld, entschlossen, den Wert seines Geldes, das er mir gegeben hatte, auf andere Art wiederzubekommen.
Ich trug eines meiner verführerischen Kleider. Nicht, dass dieser bestimmte Mann wirklich eine Form von Ermutigung brauchte, aber es war Teil meiner Dienstleistung, so fabelhaft auszusehen, dass sich jeder Mann nach mir verzehren würde, damit der Mann, der an meiner Seite war, sich wie ein Gott fühlte, weil er mich um sich hatte. Das Kleid war kurz, mit tiefem Ausschnitt und hauteng.
Wir lachten, während das Taxi wegfuhr. Meines war forciert, das Lachen meines betagten Begleiters war lüstern und voller Erwartung. Ich versuchte, ihn nach drinnen zu bekommen. Nicht, dass ich prüde war, aber die Nachbarn hatten sich bereits beim Vermieter wegen des Betragens ein paar der Bewohner beschwert. Meine Mitbewohner waren experimentierfreudig und hatten nichts gegen wechselnde Partner oder einen flotten Dreier oder Vierer, abhängig davon, wer willens war, mitzumachen, aber sie waren überhaupt nicht daran interessiert, eine Geschäftsvereinbarung einzugehen. Sie sagten es nicht, aber ich wusste, dass sie dachten, dass ich eine Schlampe war, weil ich mich für das, was sie kostenlos herausgaben, bezahlen ließ.
Vielleicht wären sie beeindruckter gewesen, wenn sie gewusst hätten, wie viel ich wirklich verdiente. Dimitri, der Mann, dessen Hände verzweifelt versuchten, seine knochigen Finger an meine Nippel zu bekommen, war eine meiner besseren Investitionen. Es brauchte nur ein paar Stunden des Lachens über seine idiotischen, misogynen, rassistischen Witze, ein Essen in einem von Bristols besten Restaurants und so um die zehn Minuten, während sein kleiner Pimmel rumstocherte, dazu ein bisschen Schauspiel, während ich meine Wonne herausschrie – nicht wegen dem, was er tat, sondern darüber, dass es fast vorbei war. Die 200 Tacken hatte ich mir wirklich verdient.
Ich dachte an das Geld, als ich eine Gestalt aus dem Schatten eines der verwucherten Büsche im kleinen Vorgarten treten sah. Schuld konkurrierte mit Verärgerung, als ich erkannte, wer es war.
Mark.
Kapitel sechs
Ich durchsuchte meine Tasche nach meinen Schlüsseln und öffnete die Tür. „Geh schon mal hoch“, sagte ich zu Dimitri und schubste ihn leicht. Ich wusste von unseren vorherigen Treffen, dass er nach ein paar Drinks kampflustig werden konnte. Das führte normalerweise zu Sex, der gröber war, als ich es bevorzugte, der glücklicherweise aber auch schneller vorbei war, das glich sich also aus. Auf jeden Fall waren die blauen Flecken nie lange zu sehen. Durch das Trinken wurde er auch zu mehr als einfach nur lächerlich machohaft und besitzergreifend. Ich konnte sehen, wie er Mark ansah, mit geschmälerten Augen und einem spöttischen Grinsen auf den Lippen. Ich konnte beinahe sehen, wie er dachte: Mit dem könnte ich es aufnehmen.
Das könnte er wahrscheinlich auch. Dimitri machte jeden Morgen Sport. Er war vielleicht dreimal so alt wie wir, aber er war fit. Und stark. Mark, der immer etwas weich um die Hüfte gewesen war, hatte sich in den Wochen, in denen ich ihn nicht gesehen hatte, nicht verändert. Ich schätzte, dass er seine Sorgen in Bier in seinem liebsten Pub ertränkt hatte.
„Ich bin in einer Minute oben.“ Ich zwinkerte Dimitri zu und schubste ihn noch einmal etwas fester durch die Tür. „Er ist ein alter Freund. Ich spreche nur kurz mit ihm.“ Ich lehnte mich zu ihm, stieg auf die Zehen meiner Stilettos, sodass mein Mund nahe an seinem Ohr war. „Fang ja nicht ohne mich an, okay?“ Ich lutschte fest an seinem Ohrläppchen, bevor ich ihn mit einem sinnlichen Grinsen und einem weiteren Schubser davonziehen ließ. Dieses Mal widersetzte er sich nicht und ging in den kleinen, unordentlichen Flur. Ich wartete, bis er die Stufen hochgelaufen und aus meinem Sichtfeld verschwunden war, dann drehte ich mich zu Mark.
„Was machst du hier?“
Er trat einen Schritt nach vorne in den Lichtstrahl, der aus dem Flur schien. In dem helleren Licht konnte ich erkennen, was die Schatten zunächst verborgen hatten. Seine Wangen waren hager, da waren dunkle Flecken um seine Augen und, um das Bild des völligen Elends komplett zu machen, zitterte seine Unterlippe. „Du bist nicht an dein Telefon gegangen. Ich war besorgt. Ich dachte, dass dir irgendwas passiert ist.“
Das war es auch. Ich war zu Sinnen gekommen. Ich konnte es mir nicht – würde es mir nicht – erlauben, irgendwem nahe zu sein, so verletzlich zu sein, so offen für Schmerz.
Er trat einen Schritt näher an mich heran und streckte eine Hand in meine Richtung. Sie blieb unerwidert zwischen uns, nahezu vereinsamt, wie abgetrennt. Ich konnte erkennen, dass Schweißtropfen auf seiner Stirn auftauchten, und versuchte, den Hauch von Hoffnung in den traurigen Hundebaby-Augen zu ignorieren, sowie auch diese dumme Entschlossenheit in dieser verdammten Hand.
„Nichts ist passiert.“ Versteh doch endlich, was ich dir sagen will, du dummer Junge; zwing mich nicht dazu, es dir auch noch zu buchstabieren, weil ich dir wirklich, wirklich nicht wehtun möchte. „Ich bin einfach weitergezogen.“
„Mit ihm?“ Er sah zu dem Fenster oben, wo das Licht angegangen war, dann wieder in mein Gesicht, sein Gesichtsausdruck kämpfte dabei mit Fassungslosigkeit, Verzweiflung und gebrochenem Herzen.
Es bereitete mir kein Vergnügen, ihm zuzusehen, wie er litt, während er die Wahrheit erkannte. Ich konnte fast schon das Knacken und das anschließende Poltern hören, als das Podest, auf das er mich gestellt hatte, zusammenfiel und Stein um Stein zu Boden krachte.
„Ich habe Gerüchte gehört“, sagte er. „Aber ich hatte sie nicht geglaubt.“
Gerüchte? Das war nicht wirklich überraschend. Ich seufzte laut. „Mein Leben, bevor ich dich kennengelernt habe, ging dich nichts an. Als wir zusammen waren, war ich treu.“ Es war nur eine kleine Notlüge, damit er seinen Stolz behalten konnte. Ich war fast treu gewesen.
„Und jetzt?“
„Jetzt?“ Ich schüttelte den Kopf. „Es war toll, solange es gedauert hat, Mark, aber es ist Schluss.“
„Einfach so!“
Ich wollte irgendwas Abgedroschenes raushauen, sowas wie alles hat einmal ein Ende, aber auf einmal spürte ich ein Stechen von Schuld, weil ich, wenn auch unbeabsichtigt, für den Schmerz, der in seinen Augen flackerte, verantwortlich war. „Es tut mir leid. Ich bin nicht gut darin, auf Wiedersehen zu sagen. Ich hatte gehofft, du würdest verstehen, was Sache ist, als ich nicht auf deine Anrufe geantwortet habe.“
Er sah mich fassungslos an. „Verstehen, was Sache ist? Ich liebe dich, ich dachte –“
„Was? Dass wir für immer zusammenbleiben würden? Hör auf zu träumen. Wir hatten eine tolle Zeit, aber es war immer klar, dass es irgendwann endet.“ Ich wusste das; es schien so, als tat er das nicht.
Es gab ein Rattern, als das Fenster über uns sich öffnete. Mark und ich sahen beide nach oben und sahen Dimitris nackte Schultern herauslehnen. Ich hob die Hand, um jegliche Bemerkung zu stoppen, die er vielleicht machen wollte. „Ich komme.“
„Nicht ohne mich, Puppe.“ Er kicherte, zog sich wieder ins Zimmer zurück und schloss das Fenster mit einem Knall, sodass das Glas im Rahmen wackelte.
„Ich muss gehen.“ Ich drehte mich halb von ihm weg.
„Nein, geh nicht, bitte, Hannah.“ Er griff nach meinem Arm, seine Finger schnitten in meine Haut.
„Ich bekomme leicht blaue Flecken, weißt du.“
Er ließ mich los und fuhr mit einer Hand über sein Gesicht. „Ich verstehe nicht, ich dachte, du liebst mich.“
„Das habe ich.“ Liebe ist so ein flüchtiges Gefühl. Du kannst jemanden an einem Tag so hoffnungslos lieben, ihn auf die Wange küssen, dann verschwinden, wie mein Vater es getan hatte, nur um niemals mehr gesehen zu werden. „Jetzt tue ich das nicht mehr. So einfach ist das.“ Ich drückte die Tür auf. „Ich muss wirklich gehen.“
„Zu ihm? Er ist alt genug, um dein Vater zu sein.“
Mein Geduldsfaden wurde langsam dünn. „Er ist gut zu mir. Nun, das ist alles. Keine weiteren Entschuldigungen oder Erklärungen mehr. Es hat Spaß gemacht. Es ist vorbei. Geh deiner Wege, Mark, und bitte“, ich ging einen Schritt in den Flur, kickte einen zurückgelassenen Schuh mit mehr Gewalt als nötig aus meinem Weg, sodass er an die gegenüberliegende Wand flog und mit einem Wumms auf dem Boden landete, „komm nicht wieder zurück.“
Das letzte Mal, als ich ihn gesehen habe, war, als er dort stand, mit einem Blick wie ein zurückgelassenes Hundebaby im Gesicht. Er ist nicht direkt gegangen. Ich weiß das, denn ich habe durch eine Lücke in dem kaputten Briefkastenschlitz gespäht und lenkte fast ein, als ich ein „Ich werde dich immer lieben“ hörte. Aber nur fast. Ich wusste, ich hatte das Richtige getan. Männer wollten dich immer dann, wenn du sie nicht wolltest; wenn du sie wolltest, dann verschwanden sie. Es war besser, diejenige zu sein, die verschwand.
Mark musste noch lernen, dass das Leben voller Elend und Schmerz war. Ich hatte ihm einen Gefallen getan.
Erst als Dimitri oben auf der Treppe auftauchte, nackt, mit einer Erektion, die auf sein ungeduldiges, lüsternes Gesicht zeigte, ging ich von der Tür weg und die Stufen hoch, um das Geld zu verdienen, das er mir bereits gegeben hatte.
***
Ich ließ das Foto neben mir auf das Sofa fallen. Mark hatte mich so sehr geliebt.
Ich schlürfte an meinem Wein, meine Gedanken wanderten beharrlich zu diesen Monaten, in denen wir zusammen waren. War das das letzte Mal, als ich wirklich glücklich war?
Vielleicht hatte ich falschgelegen und wir hätten es doch schaffen können. Zwanzig Jahre zuvor war ich zu jung, um zu realisieren, dass nicht alle Männer wie mein Vater waren. Nicht alle Männer gingen weg.
Ich werde dich immer lieben.
Vielleicht war es noch nicht zu spät.
TEIL ZWEI
HANNAH UND SUSAN
Kapitel sieben
Susan
Sie waren an der Reihe, das Weihnachtsessen auszurichten, und Susan hatte die letzten paar Wochen damit verbracht, Listen zu erstellen, in Geschäfte zu rennen und mit vollgestopften Einkaufstaschen wieder nach Hause zurückzukehren. Putzen, kochen, einpacken. Und jetzt, am Tag davor, war sie fast mit allem fertig. Der Baum war aufgestellt und geschmückt. Überall hing von irgendwas eine Weihnachtsbaumkugel oder ein Stück Lametta.
Der Platz unter dem Baum war vollgestellt mit wunderschön eingepackten Geschenken. Manche waren für ihren Ehemann, Mark. Manche für ihre zwei Schwestern, ihre Ehemänner und ihre Kinder. Auch etwas für ihre Mutter und ihren Ehemann. Aber die meisten der Geschenke waren für ihren Sohn.
„Du verwöhnst den Jungen“, hatte ihre Mutter mehr als einmal gesagt.
Susan wurde vorgeworfen, dass sie ihn verweichlichen würde, dass sie ihr einziges Kind an ihren Rockzipfel gebunden hatte, den armen Jungen erstickte. Sogar ihr Ehemann, ein freundlicher, einfühlsamer Mann, glaubte, dass sie sich zu sehr in sein Leben einmischte. „Du musst loslassen können. Du schneidest ihm die Luft ab und er wird anfangen, es zu hassen.“
Wenn sie vielleicht mehr Kinder gehabt hätten, dann hätte sie die Liebe teilen können, aber obwohl sie welche wollten und es weiter versuchten, kam es nie dazu, also schenkte sie all die Liebe, die sie in sich trug, ungefiltert Andrew.
Aber sogar die kritischsten der Nörgler, und das wäre ihre Mutter, würden zugeben müssen, dass Drew ein lieber Junge war. Höflich und mit Manieren, seinen Eltern alle Ehre machend. Als Susan diese Art von Lob hörte, verspürte sie ein warmes Glühen der Zufriedenheit. Seht ihr, wollte sie ihnen allen sagen, ihn mit Liebe zu überschütten, verursachte überhaupt keinen Schaden. Sie hätte es getan, wenn Selbstüberschätzung sie nicht verunsichern würde, da war die Angst, dass sie vielleicht vom Blitz getroffen werden würde, weil sie so stolz auf ihn war.
Ein fröhlicher, intelligenter Junge, der, wenn er einen Makel hatte, so wenig Ehrgeiz wie sein Vater hatte. Es war Susan gewesen, die ihn ermutigt hatte, über ein Unistudium nachzudenken, es war sie, die ihm eine strahlende Zukunft vorhersagte, sobald er sich erst mal für einen zuverlässigen Berufsweg mit gesunder Bezahlung entschieden hatte.
Als er auch nur ein bisschen Interesse an Informatik gezeigt hatte, war das schon genug für Susan gewesen. Sie verbrachte jede freie Minute der letzten paar Wochen mit Recherche darüber, welche Uni die beste sein würde. Es gab sieben in und um Bristol, aber sie grenzte das schnell auf zwei ein, die Informatik anboten. Die University of Bristol und die University of West of England. Sie druckte Informationen über beide aus und legte sie in zwei verschiedenen Ordnern ab, bevor sie sie wie ein Geschenk einpackte und mit einem breiten weihnachtlichen Band zusammenband und noch eine große, hängende Schleife als besondere Verzierung hinzufügte. Sie legte das Paket unter den Weihnachtsbaum und war immer noch damit beschäftigt, den besten Platz dafür zwischen all den anderen Geschenken zu finden, als sie bemerkte, dass sie nicht mehr alleine im Raum war. Noch ein letztes Zurechtrücken und sie drehte sich um zu Mark, der mit einer Schulter gegen die Wand gelehnt dastand. Sie stellte sich aufrecht hin, machte einen Schritt zurück und warf einen zufriedenen Blick auf die Geschenkeauslage.
„Bist du dir sicher, dass du weißt, was du da machst?“
„Bitte verdirb es nicht.“ Sie reichte ihm die Hand und seufzte, als sie spürte, wie sich seine Finger um ihre schlossen. Es gab keine Gegenwehr, als er sie zu sich zog, und sie schmiegte sich in die Wölbung seines Körpers, wo sie wie ein perfekt gemachtes Puzzleteil hineinpasste, ihre individuellen Stärken und Schwächen perfekt zusammenpassend. Sie vervollständigten sich, hatten sie schon von Beginn an, und ihre Liebe wurde über die Jahre nur stärker. „Er wird es lieben. Du weißt, wie er ist; er ist zu gelassen.“ Er ist genau wie du, wollte sie sagen, intellektuell brillant, aber nutzlos, wenn es um den Blick in die Zukunft geht. Wenn es nach Mark ginge, würden sie immer noch in dem winzigen Apartment, das sie zuerst gekauft hatten, wohnen, und er würde immer noch in dieser Firma ohne Zukunftsaussichten arbeiten. Es war sie gewesen, die auf den Umzug in ein kleines Haus gedrängt hatte, dann ein paar Jahre später, als ihre Ersparnisse es zuließen, in dieses größere. Es war sie gewesen, die ihn ermutigt hatte, Risiken einzugehen, sich auf offene Stellen bei besseren Unternehmen zu bewerben und sich dann sogar noch etwas Besseres zu suchen, wenn er erst mal ein paar Jahre lang Erfahrung gesammelt hatte. Es war ihr zu verdanken, dass sie dieses liebliche Zuhause hatten und Mark Seniorpartner in einer erfolgreichen und gut angesehenen Anwaltskanzlei war.
Sie drückte ihm einen Kuss auf die Wange. „Nun, wenn du Abendessen möchtest, lässt du mich lieber los.“ Sie war nicht überrascht, als er, anstatt das zu tun, was sie sagte, sie noch enger umarmte.
„Drew ist bis später weg; warum gehen wir nicht nach oben und legen eine Siesta ein?“
Und das taten sie. Susan konnte ihm nie widerstehen. Da Drew zu Hause lebte und seine Freunde oft ohne Vorankündigung an ihrer Tür standen und manchmal sogar tagelang in ihrem Gästezimmer unterkamen, waren die Momente der Spontanität selten und umso besonderer, wenn es sie gab.
Vielleicht hätte sie am nächsten Tag an diese Momente denken sollen, als Drew ihr liebevoll eingepacktes Geschenk öffnete. Im Zimmer war es laut: das schrille Quieken der zusammen sieben Kinder ihrer Schwestern, das tiefe Grölen durch das Lachen ihrer Schwäger, die ständigen Kommentare ihrer Schwestern zu jedem geöffneten Geschenk und die Stimme ihrer Mutter, die versuchte, von allen gehört zu werden. Sie wurden leiser, als Drew die Ordner öffnete und Susan mit einem entschlossenen Ausdruck in den Augen, den er von seinem Vater gelernt hatte, ansah. „Ich gehe auf die University of Glasgow; ich habe mir das schon angeschaut.“
Sie verschwendete damals keinen Gedanken an die Freiheit, die sie und Mark haben würden; alles, woran sie denken konnte, war, wie weit Glasgow entfernt war. Es hätte genauso gut am anderen Ende der Welt sein können. „Glasgow!“ Sie hatte gelacht, ein forciertes, schroffes Geräusch, wollte glauben, dass er scherzte. „Sei nicht albern. Warum um alles in der Welt würdest du bis nach Glasgow gehen wollen?“
„Sie bieten da einen angesehenen Informatik-Kurs an.“ Drew warf die Ordner, bei denen sie sich so viel Mühe gegeben hatte, auf das Sofa, wo sie kurz hin- und herwankten, bevor sie auf den Boden rutschten.
Susan starrte sie an. Die Informationen, die sie so fleißig zusammengetragen und ausgedruckt hatte, waren rausgerutscht. Die Seiten lagen zusammengesackt am unteren Ende des Sofas. Weggeworfen, wie ihre Träume. Ihre Träume. Sie schluckte den Schrecken herunter, der sich in ihrem Hals verfangen hatte. War es das gewesen? Lebte sie stellvertretend durch ihren Sohn, um das Leben aufzuholen, das sie selbst verpasst hatte?
Zehn Jahre älter als die ältere ihrer jüngeren Schwestern, wurden ihre Pläne, an die Uni zu gehen, zerstört, als ihr Vater, unterwegs in den USA wegen einer vorübergehenden Versetzung, ihre Mutter angerufen hatte, um ihr zu sagen, dass er jemanden getroffen hatte, sich vollauf und unerwartet verliebt hatte und nicht wieder zurückkommen würde. Er würde Geld schicken – er war kein völliges Schwein –, aber was er schickte, deckte kaum die Hypothek ab, als die Zinsen durch die Decke schossen. Ihre Mutter wechselte in die Nachtschicht, was die Kosten für die Kinderbetreuung einsparte, aber sie begann, sich mehr und mehr auf ihre älteste Tochter zu verlassen, um das riesige Loch, das die Abwesenheit ihres Ehemannes in ihrem Leben und ihren Finanzen hinterlassen hatte, zu füllen.
Als Susan die Schule mit Noten abschloss, mit denen sie auf jede Uni, die sie wollte, hätte gehen können, bewarb sie sich für einen Job im örtlichen Supermarkt, der es ihr erlaubte, in Gleitzeit zu arbeiten. Und wenn sie es, hier und da, lähmend langweilig fand, wenn sie hören konnte, wie die grauen Zellen anfingen zu rosten, sagte sie zu sich selbst, dass eines Tages … eines Tages … ihr Leben besser werden würde.
Zwei Dinge hielten sie davon ab, zu verbittern. Sie liebte ihre Schwestern. Jan und Emma waren bezaubernde Kinder, die zu charmanten, witzigen, unterhaltsamen, klugen Teenagerinnen heranwuchsen. Susan hätte damals als Spätstudierende an die Uni gehen können, hätte ihre Träume wieder angehen können und sie wahr werden lassen. Aber ihre Schwestern waren beide so klug und sie hatten ebenfalls derartige Pläne. Für alle davon war Geld nötig. Und daher blieb Susan in ihrem Job im selben Supermarkt, wo ihre Loyalität mit einer Stelle im Management belohnt wurde, von wo aus sie mit Stolz und nahezu überwältigender Eifersucht beobachten konnte, wie ihre Schwestern ihre Träume in die Hand nahmen.
Nachdem sie ihr Studium abgeschlossen hatten, verließen sie beide Bristol, um in London zu arbeiten, und Susan hatte Mark getroffen, also war der Abschiedsschmerz nicht zu traumatisch. Und als ein Jahr später ihre Mutter einen Mann heiratete, der ein Arbeitskollege war, und das Land verließ, um in Spanien zu leben, suchte Susan eine Stütze bei Mark. Vielleicht war das der Grund, warum sich ihre Beziehung so schnell entwickelt hatte, wie sie es getan hatte. Sie war zuvor noch nie alleine gewesen; konnte nicht die Leere des nun viel zu großen Hauses, in dem sie ihr Leben lang gelebt hatte, ertragen. Als ihre Mutter vorschlug, es zu verkaufen, hatte Susan nicht die Energie, traurig, sitzengelassen, verloren zu sein.
Es war damals, als Mark ihr eine Rettungsleine zuwarf. „Willst du mich heiraten?“
Sie waren bei McDonald’s, sie war gerade dabei in einen Big Mac zu beißen, den sie bestellt hatte. Sie saß einfach da und konnte sich nicht dazu bringen, den Burger zu essen, öffnete schließlich ihren Mund, um ihn wieder rauszuziehen, und ließ ihn unordentlich auf die Tüte fallen, die sie nur Sekunden zuvor aufgerissen hatte. Dann halt ein anderes Mal.
Die Frage kam so unerwartet, die Location war so unpassend, vielleicht hatte sie es sich eingebildet. Sie sah von dem auf einmal unappetitlichen Essen auf und schaute über den Tisch hinweg in Marks Augen. Er sah verwirrt aus. „Entschuldige, ich bin am Tagträumen“, sagte sie. Natürlich hatte er ihr keinen Antrag gemacht. Sie waren in einem McDonald’s um Himmels willen, das war sicher nicht der richtige Ort für einen romantischen Antrag. „Hast du mich etwas gefragt?“
„Ich habe dich gefragt, ob du mich heiraten willst, Susan.“
Sie starrte ihn an, wollte nein sagen, dass es da eine Welt gab, die sie noch nicht gesehen hatte, ein Leben, das sie noch nicht gelebt hatte. Aber sie fühlte sich immer noch verloren, und deshalb griff sie nach der Rettungsleine, die er ihr zugeworfen hatte. „Ja, ich will dich heiraten.“
Kapitel acht
Susan
Das war vor neunzehn Jahren. Susan hatte es nie bereut, an diesem Tag „ja“ gesagt zu haben, aber sie war sich nicht sicher, ob sie ihn geliebt hatte. Nicht damals. Das kam erst später und wuchs nach und nach, während sie ein gemeinsames Leben aufbauten. Eines, das besser wurde, als ihre Schwestern wieder in die Nähe zogen, wodurch sie sich wieder ganz fühlte. Dann, um alles final zusammenzufügen, bekamen sie und Mark ein Kind.
Und jetzt verließ Drew sie.
Ihre Augen huschten über das Informationsmaterial, das sie so gewissenhaft zusammengesammelt hatte. Beide Universitäten hatten ein hervorragendes Informatik-Programm. Es gab absolut keinen Grund, warum Drew den ganzen Weg nach Schottland auf sich nehmen sollte. Aber sie war nicht dumm. Jetzt eine große Sache daraus zu machen, würde nur bedeuten, dass er auf seinem Standpunkt beharren würde. Er mochte vielleicht die Intelligenz seines Vaters geerbt haben, aber seine Dickköpfigkeit kam zweifelsohne von ihr.
Es wurde schnell klar, dass jeder andere – jeder – dachte, er hätte mit Glasgow die richtige Entscheidung getroffen. Sogar Mark, ganz zu ihrem Ärgernis.
„Es wird ihm guttun, für ein paar Jahre weg von zu Hause zu sein. Lass ihn etwas Unabhängigkeit lernen.“
Ihre Mutter, die ihren jährlichen Besuch aus Spanien machte, war besonders lautstark in ihrem Lob von Drews Uni-Auswahl und nutzte die erstbeste Möglichkeit, ein paar Worte mit ihrer Tochter im Geheimen zu wechseln. „Ich kann erkennen, dass du damit nicht zufrieden bist –“
„Glasgow, Mama! Könnte es noch weiter weg sein?“
„Das ist eine Zugfahrt entfernt. Ein kurzer Flug. Er geht nicht nach Australien.“ Evelyn March legte ihre Hand sanft auf den Arm ihrer Tochter. „Du kannst das jetzt nicht erkennen, aber es wird das Beste für alle sein. Es ist Zeit, den Rockzipfel abzuschneiden. Er wird endlich atmen können, und du wirst erkennen, dass er auch außerhalb deines Herrschaftsgebietes vollkommen sicher sein wird. Du wirst wieder arbeiten gehen können. Ein Leben leben, das sich nicht um dein Kind dreht.“
„So wie du es getan hast?“ Die Verbitterung in ihren Worten überraschte sie beide, ihre Mutter zog ihre Hand zurück, so als ob sie sich verbrannt hätte. Susan griff nach ihr, eine Geste, die zum Scheitern verurteilt war, da ihre Mutter einen Schritt zurückmachte, nickte und sich durch den Türspalt in das Zimmer, in dem alle anderen ihre Aperitifs genossen, drückte. Mark war leichtfertig mit den Abmessungen der Zutaten umgegangen und sie konnte den Lärmpegel steigen hören.
Sie hoffte, ihre Mutter würde noch einen weiteren Drink zu sich nehmen und vergessen, dass sie sich beleidigt fühlte. Wenn Susan nicht das verdammte Essen kochen müsste, dann würde sie selbst ein paar Cocktails in sich reinschütten und ihre Sorgen, dass ihr einziges Kind eine Uni so weit weg ausgewählt hatte, ertränken.
Drew war gut im Umgang mit seinen jüngeren Cousins und Cousinen. Er hatte sie hoch in die Mansarde mitgenommen, wo er eine Art Hobbyraum hatte, und würde sie dort beschäftigen, bis das Essen fertig war. Ab diesem Zeitpunkt würden die trinkenden Mitglieder der Party immun gegenüber ihrem Lärm sein. Jan und Emma, immer zum Fahren verpflichtet, schienen nicht den Rabatz, den ihr Nachwuchs verursachte, zu hören, denn sie machten nie Anstalten, sie zum Ruhigsein zu bewegen. Sie bevorzugten die Art der Erziehung, die ihren Kindern im Grunde erlaubte, zu tun, was sie wollten – und zu sagen, was sie wollten –, normalerweise in einer Lautstärke, die üblicherweise mit einer Gesundheitswarnung der Regierung versehen ist.
Susan liebte ihre Schwestern, aber sie entwickelten sich zu jener Art von privilegierten Müttern, die die Frauen ihres Alters die Augenbrauen hochziehen ließen und Frauen im Alter ihrer Mutter entweder verbittert kritisierten oder ignorierten, indem sie ihnen aus dem Weg gingen, so gut es eben möglich war.
Da Kritik die Nackenhaare beider ihrer Schwestern hätte aufstellen lassen, war Susan fast schon erleichtert, dass ihre Mutter den Weg des Ignorierens wählte. Dass sie dies erzielte, indem sie Glas um Glas mit Alkohol hinunterstürzte, war dabei egal. Zum Glück war sie eine glückliche Betrunkene. Was ihren Partner Jacinto anging, zeigte er seinen gestiegenen Alkohollevel nur durch die Verschlechterung seines sowieso bereits nahezu unverständlichen Englisch, sodass zum Ende der Nacht niemand, nicht mal mehr seine Ehefrau, ihn verstehen konnte.
Susan stand im Türrahmen des Wohnzimmers. „Möchte noch jemand was zu trinken?“, sagte sie, obwohl sie wusste, dass Mark sich gut um alle kümmerte. Alles lief nach Plan in der Küche, also setzte sie sich hin und stieg in die Unterhaltungen, die im Gange waren, ein. Wie die meisten Frauen konnten ihre Schwestern und ihre Mutter mehrere davon gleichzeitig führen, ohne den roten Faden zu verlieren, sprangen von einem Thema zum nächsten und dann wieder zurück, mit kaum einer Atempause dazwischen.
Mark, wie auch die anderen Ehemänner, gab meist nach einem Weilchen auf, dem Ganzen zu folgen. In etwa zwanzig Minuten würde sie die Männer zusammengepfercht in einer Ecke finden und ihre Mutter und Schwestern würden sich enger zusammensetzen, wenn die Gespräche privater in ihrer Natur wurden.
Sie würden warten, bis Susan wieder in die Küche gegangen war, um die letzten Vorbereitungen für das Essen zu treffen, bevor sie ihre Köpfe zusammensteckten und über sie sprachen. Drew hatte Glasgow in den Raum geworfen, bevor er mit seinen Cousins und Cousinen verschwand. Eine hinterlistige Masche, da er wusste, sie würden sie bearbeiten, während er weg war.
Nach dem Essen wäre sie ihnen ausgeliefert. Die Kinder würden wieder mit Drew verschwinden. Mark würde seine Schwäger in seine Männerhöhle mitnehmen, eigentlich das Gästezimmer, das er als Arbeitszimmer benutzte, mit einem lächerlich übergroßen Fernseher, der einen Ehrenplatz hatte, und sie würden Sport oder einen Film schauen. Wahrscheinlich Stirb Langsam. Schon wieder. Jedes Jahr schauten sie ihn mindestens einmal und jubelten jedes Mal so, als ob sie nicht wissen würden, wie er ausging, und als ob sie glaubten, dass er vielleicht doch noch anders ausgehen würde.
Das tat er nicht. Er endete jedes Mal auf dieselbe Art und Weise. Das war in Stein gemeißelt. Genauso wie Drews Weggehen nach Glasgow. Seine Zukunft bereits vorherbestimmt.
Würde er nächstes Weihnachten nach Hause kommen? Oder würde er nach Ausreden suchen und die Ferien in Glasgow verbringen? Sie sah sich in dem Zimmer voller lebendiger Gesichter ihrer Familienmitglieder um und wollte sie anschreien. Verschwindet, ihr alle. Nehmt eure lauten Gören mit und geht. Wenn dies unser letztes Weihnachten mit Drew ist, würden Mark und ich es gerne mit ihm verbringen. Nur wir drei. Die drei verdammten Musketiere.
Aber natürlich sagte sie das nicht. Sie sagte nichts, sondern lächelte einfach weiter. Wie sie es immer getan hatte. Lächeln und darauf warten, bis dieser endlose Tag endlich vorbei war.
Das war unausweichlich. Wie auch die Inquisition durch ihre Schwestern und ihre Mutter, die sie durch die Mangel nehmen würden, alles nur zu ihrem Wohle natürlich. Besorgt um sie. Sie prognostizierte, dass sie genau mit diesen Worten anfangen würden. Sie grinste fast spöttisch im Angesicht der Unausweichlichkeit des Ganzen, als sie die verschwörerischen Blicke bemerkte, während sie, nach einem Essen, für das sie sich abgeplagt hatte, gerade mit dem Aufräumen fertig waren, die Freude daran ruiniert durch das, was kommen würde.
Sie konsumierte ein paar Gläser Wein während des Essens, und als die Gruppe sich aufteilte, wie sie es vorhergesagt hatte, füllte sie ihr Glas noch einmal. Es sollte nun eigentlich der Moment kommen, um sich auszuruhen und die bequeme Glückseligkeit eines gefüllten Magens für ein Weilchen zu genießen, eine Zeit, in der die Frauen miteinander reden konnten, ohne Angst zu haben, unterbrochen zu werden. Stattdessen lag in der Stille eine erwartungsschwere Vorahnung.
Sie ging wieder in das Wohnzimmer. Susan nahm ihren gewohnten Platz am Ende des langen Sofas mit dem Weinglas in der Hand ein. Ihre Mutter saß am anderen Ende. Jan und Emma zögerten kurz, bevor sie sich auf die Stühle setzten. Emma sprang nahezu direkt auf, um den Platz zwischen Susan und ihrer Mutter einzunehmen. Es war fast schon witzig, dass Susan richtig geraten hatte, dass es Emma sein würde, immer die Stimme der Vernunft, die ernannt worden war, als Erste zu sprechen.
„Wir machen uns Sorgen um dich, Susan“, sagte sie und lehnte sich zu ihr, legte dabei eine Hand sanft auf den Schenkel ihrer Schwester. Sie zog sie überrascht weg, als die Antwort ein ausgedehntes, gackerndes Lachen war.
Susan stellte ihr Glas auf dem Abstelltisch ab, als sie wegen des Lachens fast ihren Merlot wie Blutspritzer auf dem cremefarbenen Damaststoff des Sofas verschüttete. „Entschuldigung.“ Es wäre einfacher gewesen, das Lachen zu kontrollieren, wenn ihre Schwester nicht so beleidigt ausgesehen hätte, sich nicht für etwas Besseres gehalten hätte. Deswegen ging das Lachen auch noch ein Weilchen länger unkontrolliert weiter, die Tränen strömten über ihre Wangen. Es ließ langsam nach und wurde zu einem Kichern, bevor sie endlich aufhörte. Wenn die Stille zuvor unbehaglich war, war sie jetzt unheilvoll.
„Na ja, du kannst sehen, warum wir besorgt sind!“
Emma wandte sich zu ihrer Mutter mit einem Blick, der sie zum Stillsein ermahnte, bevor sie es noch einmal versuchte. Dieses Mal ohne die Hand auf dem Schenkel, verängstigt, dass es eine etwas zu forsche Geste war. „Sobald Drew Glasgow erwähnt hat, wussten wir, dass es Ärger gibt –“
„Wir?“ Es war besser, genau zu wissen, mit wem sie es hier zu tun hatte. Hatten sie sich alle gegen sie verschworen? Sogar Mark?
Emma wedelte mit der Hand im Raum herum. „Wir drei. Wir wussten, wie du dich fühlen würdest.“ Sie versuchte es mit einem Lächeln. „Da wir alle Mütter sind, denke ich.“
Susan zog eine Augenbraue nach oben, aber wies nicht darauf hin, dass ihre eigene Mutter mehr als erfreut gewesen war, als sie ausgezogen waren, oder wie sie nach Spanien abgehauen war, ohne einmal zurückzublicken oder dem kleinsten bisschen Rücksicht auf ihre älteste Tochter. Die Tochter, die ihre Schwestern aufgezogen hatte, die für sie da war während ihrer Abschlussprüfungen, während der harten Unijahre, den Freunden, den Aufs und Abs und die sie alle zusammenhielt, während ihre Mutter arbeitete.
Sie verübelte ihnen das nicht. Jeder ging irgendwann. Das gehörte zum Leben. Jetzt auch Drew. Das bestätigte, dass sie recht hatte. „Ich finde es in Ordnung, dass Drew nach Glasgow geht. Es ist eine gute Uni. Er hat eine gute Entscheidung getroffen.“ Sie hatte keine Ahnung, ob es eine gute Uni war oder nicht. Sie hatte sie nicht recherchiert. Sie war sich aber sicher, dass sie absolut akzeptabel war. Wenn sie nur nicht so weit weg wäre. Hatte sie das laut gesagt? Sie war sich der besorgten Blicke bewusst, die zwischen ihren Schwestern und ihrer Mutter hin- und hergeworfen wurden, und griff nach ihrem Glas, sodass sie Zeit hatte, sich die richtigen beschwichtigenden Worte auszudenken. „Ich freue mich darauf, mehr Zeit für mich selbst zu haben. Ich denke darüber nach, wieder in den Arbeitsmarkt einzusteigen.“
„Gut“, nickte ihre Mutter, als ob damit alles in Butter wäre. „Du musst endlich dein Leben leben.“
Susan hatte es ein paar Jahre zuvor, als Drew in die Schule kam, bereits in Betracht gezogen, eine Teilzeitstelle anzunehmen, aber Mark war nicht erfreut darüber gewesen, dass sie wieder zu der einzigen Art von Arbeit zurückkehren wollte, die ihr vertraut war. „Ich bin mir nicht sicher, ob es den richtigen Eindruck macht, eine Frau zu haben, die im örtlichen Supermarkt arbeitet“, sagte er mit einem Lachen, so als ob er es nicht böse meinte oder er nicht wirklich ein Snob war.
Es war ihre Schuld. Sie hatte ihn gedrängt, an die Spitze zu kommen, und jetzt, wo er dort war, mochte er die Aussicht.
Sie zuckte mit den Schultern, blieb zu Hause und war zufrieden damit, die beste Ehefrau und Mutter wie möglich zu sein. Genau die Sache, die Drew jetzt davonjagte. Wenn er wegging, war sie immer noch eine Mutter, oder? Und immer noch eine Ehefrau. Ihr Leben hatte immer noch einen Sinn. „Aber er geht so weit weg.“
Dieses Mal konnte sie an den Gesichtsausdrücken der Personen um sie herum erkennen, dass sie es laut gesagt hatte, dass sie ihr Klagen gehört hatten. „Hört zu!“ Sie sprang auf, sodass sie zusammenzuckten. „Ich verhalte mich lächerlich. Es ist nur Glasgow. Es wird alles gutgehen. Nun“, sagte sie und griff nach der Fernbedienung. „Ich habe die Ansprache des Königs aufgezeichnet; lasst uns anhören, was Charlie zu sagen hat.“
Kapitel neun
Susan
Bristol Temple Mead war immer geschäftig, aber es erschien Susan so, als ob es in der Menschenmenge kein bisschen Platz gab, kaum Luft zum Atmen und definitiv keinen Raum, um den Griff am Arm ihres Sohnes loszulassen, trotz seiner ständigen Versuche, sich wegzuziehen.
Drew schaute offensichtlich ungeduldig zu seiner Mutter. „Ich muss mich beeilen, Ma, oder ich verpasse meinen Zug.“
Wenn er den Zug verpassen würde, dann müsste er bei ihr bleiben. Sie umfasste seinen Arm noch enger. Sie verhielt sich lächerlich, natürlich tat sie das, aber der Gedanke daran, dass er so weit wegzog, verursachte ihr Herzschmerz und Hämmern in ihrem Kopf. Die Angst hatte scharfe Nägel in sie gehämmert, und als sie ihn ansah, in sein junges, unschuldiges, jungenhaftes, liebliches Gesicht, vergruben sie sich noch etwas mehr, und sie wurde direkt in den Entbindungsraum zurückversetzt, zu den qualvollen Schmerzen, bevor er blau und schlaff auf die Welt kam. Auch jetzt, achtzehn Jahre später, konnte sie sich immer noch an den Schock erinnern, als sie glaubte, dass er gestorben war, dass sie etwas falsch gemacht hatte, dass sie ihr Kind getötet hatte. Und dann schrie er sich seinen Weg in ihr Herz, verwurzelte sich selbst so tief, dass es ihr niemals mehr möglich sein würde, loszulassen.
Die Masse an Menschen am Bahnsteig schien sich nicht zu bewegen, ihre Hälse alle erdmännchenähnlich in dieselbe Richtung gestreckt. Im ersten Moment dachte Susan, die Zeit wäre stehengeblieben, oder vielleicht hoffte sie das nur. Ihre Hand griff enger um Drews Arm, während sie tief einatmete. Er sah sie mit einer Mischung aus Sorge und Verärgerung an.
Sie warf ihm ein unsicheres Lächeln zu, von dem sie hoffte, dass es zuversichtlich aussah. Sie war nicht verrückt geworden. Die Zeit war nicht stehengeblieben. Die Leute standen nur wie angewurzelt da und schauten auf die hellgelben Informationen, die auf der Anzeigentafel für Abfahrten angezeigt wurden. Andere bewegten sich, bahnten sich einen Weg durch die Lücken zwischen stillstehenden Gestalten. Es war unmöglich, den Lärm in seine Einzelteile zu zerlegen – das Brummen und Krächzen der Zugmotoren, Sicherheitsdurchsagen, das Stimmengewirr, Schreie, Lachen, das Poltern von Rollkoffern – es war fast überwältigend.
Oder war es der anstehende Verlust, der so schwer auf ihrer Brust lastete? Susan wusste, dass es ihre Schuld war, dass ihr Sohn sich entschieden hatte, nach Glasgow zu gehen. Sie hatte zu sehr geklammert und jetzt würde sie ihn verlieren. Vielleicht für immer. Sie spürte ein Ziehen an ihrem Arm, als er einen Schritt nach vorne machte, die Augen nun auf die Anzeigentafel fixiert, hellgelbe, entschlossen auffällige Ziffern, die die nackte Wahrheit erzählten. Der Zug war pünktlich. Er würde nach Glasgow fahren und Drew mitnehmen.
Verlass mich nicht. Die Worte ein schmerzvoller Schrei in ihrem Kopf. Sie kniff die Lippen fest zusammen. Sie durfte sie nicht aussprechen.
„Hier sind wir also“, sagte Drew und nickte auf die Ticketschranke. Er stellte seine prallgefüllte Reisetasche neben seine Füße auf den Boden, die Bewegung erlaubte es ihm, seinen Arm aus ihrer Umklammerung zu befreien. Bei dem Tamtam um das Balancieren seiner Reisetasche auf dem Rollkoffer, den Mark gezogen hatte, wurde Susan ignoriert. Sie starrte auf die beiden Personen, die sie auf der Welt am meisten liebte. Sie würde einen von ihnen verlieren. Zum Glück hatte sie noch den anderen.
Sie hätte es bevorzugt, mit Drew durch die Schranke zu gehen, um mit ihm seinen Platz zu finden, sicherzustellen, dass er sein Gepäck gut verstaute und die Sandwiches rausholte, die sie für ihn zubereitet hatte. Sie wollte den Rat, den sie ihm bereits gegeben hatte, noch einmal wiederholen, dass er gut auf sich aufpassen, sich gute Freunde suchen, sich von schlechter Gesellschaft fernhalten, gut essen und nicht zu viel trinken sollte. Es gab so viel, das sie gerne gesagt hätte, aber er war, bereits mit dem Telefon in der Hand, bereit durchzugehen. Eine letzte Umarmung. Sie schlang ihre Arme fest um ihn, hielt sich fest. Seine Arme waren eine Sekunde um sie gelegt, ließen dann los und seine Hände drückten ihre Arme nach unten. Drückten sie weg. „Ich rufe an, sobald ich angekommen bin“, sagte er, bückte sich, um sie auf die Wange zu küssen. „Macht euch keine Sorgen um mich; ich werde klarkommen und werde wieder zurück sein, bevor ihr mich vermissen könnt.“
Ich vermisse dich jetzt schon. Sie steckte ihre Hände in ihre Taschen, um sich selbst davon abzuhalten, nach ihm für eine weitere Umarmung zu greifen, für eine weitere Chance, seinen Geruch einzuatmen. Wenn sie es tat, würde sie vielleicht das hölzerne Eau de Cologne, das er als junger Mann bevorzugte, riechen, es würde die Erinnerung an ihn als Baby vertreiben und es würde einfacher sein, ihn gehen zu lassen.
„Tschüss, Sohn.“ Mark zog Drew für eine Umarmung zu sich, beide hielten sich fest und ließen im selben Moment los, ihre Hände ruhten auf den Armen des jeweils anderen, Augen trafen sich, ein Lächeln erschien. „Pass ja auf dich auf. Wenn du in Schwierigkeiten gerätst, außer es ist was Ernstes, wollen wir davon nichts wissen!“ Mark stellte ein Jaulen per Pantomime dar, als Susan ihn an die Schulter boxte. „Ich mache Scherze!“
Aber sie wusste, dass er das nicht tat. Für Mark war Drew ein Mann, der aufbrach, um Fuß in der wandelnden Welt zu fassen. Für sie war er ein Junge, ihr Sohn, und egal, welches Eau de Cologne er trug, er war immer noch ihr Baby. Das würde er immer sein.
Drew lachte, umarmte sie noch einmal schnell, bevor er sich durch die Ticketschranke mit seinem Gepäck drängelte. Auf der anderen Seite blieb er stehen und winkte ein letztes Mal, bevor er seine Reisetasche über seine Schulter hob, den Griff des Koffers mit der anderen Hand nahm und sich unter die Menschenmasse mischte, die sich Richtung Zug bewegte.
Susan streckte ihren Hals, um ihm hinterherzusehen. Drew war groß und für eine Weile konnte sie ihn im Auge behalten, dann auf einmal war er weg und sie weinte laut, so wie sie es all die Jahre zuvor getan hatte, als er endlich aufgetaucht war, feucht und glitschig, schrumpelig und anbetungswürdig.
„Er ist weg.“
„Er wird wiederkommen, hör auf, dir Sorgen zu machen.“ Mark zog sie zu sich heran und küsste sie auf die Stirn. „Ich schwöre, du würdest alles für den Jungen tun.“
„Ich würde für ihn töten.“
Marks Lachen war laut und ansteckend und zauberte ein Lächeln auf ihre Lippen. Sie konnte es durch ihn hindurchvibrieren hören. Er dachte, sie würde Witze machen. Dass seine eher zurückhaltende Ehefrau überdramatisch war, dass sie zu so einer Art von Gewalt auf keinen Fall fähig sein könnte. Er kannte sie gut, aber nicht so gut. Sie würde für ihren Sohn töten. Marks legte seinen Arm enger um sie, als er aufhörte zu lachen. „Wie wär’s, wenn wir uns einen Drink holen, huh?“
Er hatte weiter seinen Arm um sie gelegt, als sie sich durch den Bahnsteig der überfüllten Station drängelten, vielleicht aus Sorge, dass sie sich umdrehen, über die Ticketschranke springen und losrennen würde, um ihren Sohn zu umarmen.
Sie spürte das Gewicht seines Arms auf ihrer Schulter, wie ein Anker, der sie an Ort und Stelle hielt. Er war ein guter Mann. Sie würde auch für ihn töten.
Kapitel zehn
Hannah
Ich stand im Flur, umgeben von meinen Louis-Vuitton-Koffern. Meine Initialen, ein großes HB, unterbrachen den Streifen auf der Vorderseite von jedem von ihnen. Ich war mir so sicher gewesen, dass unsere Ehe halten würde. Ich ließ sogar dieselben beiden Buchstaben auf dem Griff anbringen. Wie dumm ich gewesen war.
Ich ließ sie dort stehen und stieg die knarzende, alte Treppe bis zum Absatz hoch. Ivans Tür war geschlossen. Ich legte meine Finger auf die Türklinke und drückte sie, ohne zu klopfen, runter. „Ich bin dann mal weg“, sagte ich und sah ihm direkt in die Augen. Er bewegte sich nicht oder antwortete. Ich ging ein paar Schritte in das Zimmer hinein, spürte, wie die Anspannung in meinen Schultern stärker wurde, widerstand der Versuchung, mich umzudrehen und loszurennen. Er konnte mir nicht wehtun, aber Angst lässt einen nicht so einfach los. „Ich habe noch keine genauen Pläne. Ich schlage hier vielleicht wieder auf.“
Es schien ihm egal zu sein.
Zehn Minuten später war das Gepäck in den Kofferraum und auf den Rücksitz meines roten BMWs gestopft. Zum Glück war ich seit unserer Hochzeit klug gewesen. Um fair zu sein, musste man Ivan lassen, dass er nie an der Menge von Geld gezweifelt hatte, die ich zu brauchen schien, damit mein Kontostand überaus gut gefüllt war.
Ich hatte ausreichend Ersparnisse, um einen Hotelaufenthalt für ein paar Wochen zu garantieren. Länger, wenn ich meine Erwartungen herunterschrauben könnte. Aber im Hotel zu bleiben, passte nicht zu meinem Plan.
Also kam es dazu, dass ich ein paar Stunden später vor dem Inbegriff der Vorstadt parkte, auch bekannt als das Haus meiner Mutter. Ich starrte aus dem Autofenster und seufzte. Ein paar Tage hier und ich würde schreien. Eine Woche und ich würde mir die Augen ausreißen. Zwei Wochen und ich würde vielleicht auf Gewalt zurückgreifen müssen.
Aber ich kannte die Rolle, die ich spielen musste, und zurück nach Hause zu ziehen, würde dabei helfen. Es würde alles authentisch wirken lassen, was sicher nicht funktionieren würde, wenn ich in einem luxuriösen Hotel wohnen würde.
Ich hatte ihr nicht Bescheid gegeben, dass ich kommen würde. Ich war mir nicht sicher, was sie sagen würde, also stand ich mit unangekündigtem Auftauchen auf der sichereren Seite. Ich würde sie vor vollendete Tatsachen stellen. Sie würde sich zu sehr um die neugierigen Nachbarn auf jeder Seite des Reihenhauses scheren, um mir die Tür zu weisen. So sehr sie sie auch in mein Gesicht knallen lassen wollte.
Obwohl sie nie so etwas wie eine liebevolle Mutter gewesen war, war es erst, als ich mit sechzehn von der Schule suspendiert wurde, dass unsere Beziehung zusammenbrach.
Mutter wurde zu einem Meeting mit der Schulleiterin einberufen, eine große, knochige Frau mit ungewöhnlich langen Armen und Fingern und dem ziemlich passenden Namen Crabtree. „Ich bin schockiert, entsetzt und enttäuscht, Ihnen sagen zu müssen, Mrs. Parker, dass Ihre Tochter erwischt wurde …“, sie zögerte und schluckte, bevor sie ihre Stimme zu einem kaum hörbaren Flüstern senkte. „In flagrante delicto.“
Meine arme Mutter, die ihren ersten Freund überhaupt geheiratet hatte, meinen Vater, und, da war ich mir sicher, nur mit ihm geschlafen hatte, schaute angemessen entsetzt, aber es war offensichtlich, dass sie keine Ahnung hatte, wovon die Schulleiterin sprach.
„Sie haben mich und Simon beim Bumsen erwischt, Ma.“ Ich schaute nach oben, als sie es immer noch nicht kapierte. „Sex, Ma. Ich und Simon hatten Sex.“
Dieses Wort kannte sie natürlich.
„Simon und ihre Tochter wurden beide für eine Woche suspendiert und können erst wieder zurück in die Schule kommen, wenn uns versichert wird, dass …“, Crabtrees Gesicht zerknitterte, als sie nach dem richtigen Begriff suchte, „… dieses Verhalten sich nicht wiederholt.“
„Natürlich.“ Ich konnte die Zahnräder im Kopf meiner Mutter arbeiten hören.
„Wir hoffen, dass es keine Konsequenzen geben wird, die weiter Hannahs Ausbildung behindern.“
„Konsequenzen?“
„Sie hat Angst, dass ich mich habe anbumsen lassen, Ma.“ Ich schüttelte den Kopf. „Das sollte nicht passiert sein; Simon hat ein Kondom benutzt. Obwohl“, ich senkte den Kopf, so als ob ich über das Ganze gründlich nachdachte, „er musste ihn ziemlich schnell rausziehen, als wir gestört wurden. Ich hoffe, das wird keine Konsequenzen haben.“
„Ich gehe mit ihr zum Arzt, um sicherzugehen.“ Meine Mutter zögerte, ihre Hand fest am Griff von einer von nur zwei Handtaschen, die sie besaß. Sie war an den Rändern abgenutzt, ein bisschen wie sie selbst. „Hannah bekommt deswegen keine Schwierigkeiten, oder? Mit der Polizei meine ich.“
Mrs. Crabtree schnaufte. „Hannah und Simon haben beide Glück, Mrs. Collins. Sie sind über sechzehn.“
Also hatte ich letztes Jahr das Gesetz gebrochen. Nicht, dass mich das gestoppt hätte, aber es war wahrscheinlich besser, dass sie das nicht wussten. Oder dass die Jungs mir ihr Taschengeld gaben, im Austausch dafür, dass sie zwischen meinen Beinen rumfummeln durften oder an meine kaum entwickelten Brüste grabschen konnten.
Zum Glück wussten sie nichts davon.