Leseprobe The Ex | Ein fesselnder Psychothriller über eine zerstörerische Obsession

Kapitel 3

Ich möchte meine neue Nachbarin nicht kennenlernen.

Versteht mich nicht falsch, ich genieße es, Menschen zu treffen und etwas über ihr Leben zu erfahren und so, aber heute habe ich einfach keine Lust darauf. Und wenn ich ehrlich bin, hält mich mehr zurück als nur meine Nerven. Ich werde unsere alten Nachbarn, Trina und Danny, vermissen. Sie wohnten von Anfang an neben uns, als wir vor drei Jahren in die Maple Court gezogen sind. Man konnte gute Gespräche mit ihnen führen und sie haben sich nie über irgendetwas beschwert. Jetzt muss ich mit jemand Neuem ganz von vorn beginnen.

Jaja, ich übertreibe, das gebe ich zu. Aber als wir in Nummer acht einzogen, hatte ich mir vorgenommen, ein unauffälliges Leben zu führen. Ich wollte meine Interaktionen mit den anderen Menschen in der Straße auf ein gelegentliches Winken beschränken. Wenn der Höhepunkt ein kurzes Gespräch über das Wetter war, ohne in etwas Bedeutendes einzutauchen, war ich glücklich. Mein Plan war, meine Privatsphäre zu schützen. Das gelang mir auch für die ersten drei Monate, aber mit der Zeit und den freundlichen Gesichtern von Trina und Danny wurde ich unvorsichtig. Bevor ich mich versah, nahmen Jack, die Kinder und ich an Grillabenden und Dinnerpartys teil. Und jetzt kenne ich jeden in Maple Court.

Als wir zum ersten Mal in die Sackgasse kamen, hatten wir einen kleinen Vorsprung. Wir kannten bereits die Greens, die direkt vor uns eingezogen waren. David und Ellie sind schon lange Freunde unserer Familien, seit Jack und Dave gleich nach der Uni beste Freunde wurden. Ellie und ich verstehen uns, als kennen wir uns schon ewig, und ihre Kinder, Ethan und Olivia, sind vom Alter her nah an unseren beiden kleinen Teufeln.

Als wir uns eines Nachmittags alle unterhielten, erwähnten David und Ellie, dass sie gerade eine Anzahlung für ein Haus in Cedarwood Rock gemacht hätten, einer kleinen Stadt außerhalb von Seattle. Und dass ein weiteres Haus in derselben Straße, Maple Court, zum Verkauf stünde. Tatsächlich suchten wir bereits länger und schon recht verzweifelt nach einem Haus zum Kaufen. Wir lebten in einer Zweizimmerwohnung mit Dorothy, unserer kleinen Tochter. Sie wurde täglich größer, und wir versuchten, ein weiteres Baby zu bekommen, also brauchten wir schnell mehr Platz. So verzweifelt wir auch sein mochten, waren wir unsicher darüber, ob wir die Nachbarn unserer alten Freunde werden sollten. Irgendwie fühlte es sich an, als würden wir in ihren Raum eindringen. Doch sie schlugen uns diesen Gedanken aus dem Kopf und überzeugten uns. Mit ihrer Zustimmung besichtigten wir das Haus Nummer acht. Es war Liebe auf den ersten Blick. Eine Tour durch das Vorstadtviertel besiegelte den Deal, und der Rest, wie man so schön sagt, ist Geschichte.

Den ganzen gestrigen Tag über beobachtete ich die Umzugswagen. Arbeiter mit Rückenstützen und verschwitzten Stirnen schleppten schwere Möbel und Kartons in Nummer sechs. Ich habe bisher nicht mit der neuen Nachbarin gesprochen, konnte jedoch Blicke auf sie erhaschen, als sie auspackte. Es war nicht meine Absicht, sie durch mein Schlafzimmerfenster auszuspionieren, aber ihr fehlten noch die Vorhänge.

Ich habe schon ein paar Dinge über sie gehört. Die Gerüchteküche in Maple Court läuft täglich auf Hochtouren. Sie soll in ihren späten Dreißigern sein und ist vom Alter her ähnlich wie Ellie und ich. Einen Ehemann, Freund oder Kinder hat sie wohl nicht. Sie zieht ganz allein in ein Vierzimmerhaus. Eines, das dringend renoviert werden muss. Und laut dem Brief, den Trina und Danny uns allen geschrieben haben, gab unsere neue Nachbarin ein kleines Vermögen für das Anwesen aus. Ich weiß wenig über diese Frau, außer ihrem Familienstand, aber es erscheint mir seltsam, dass jemand in ihrem Alter so viel für Trina und Dannys Haus bezahlt. Ich meine das nicht negativ, der Ort ist nur nicht besonders gut gealtert.

Wie üblich haben unsere Nachbarn Bradley und Gabrielle Morris, aus der Nummer zehn, jeden einzelnen aus der Straße zu einem Grillfest eingeladen. Es findet heute um eins zu Ehren unserer neuen Nachbarin statt.

Die Morrises können einfach nicht anders, als solche Dinge zu veranstalten, und finden immer einen Grund dafür. Oder vielleicht sind sie einfach die typischen neugierigen Zeitgenossen. Bradley arbeitet in der IT und ist der Mittelmanagement-Typ, während Gabrielle eine Hausfrau mit zu viel Freizeit ist. Partys scheinen der Höhepunkt ihrer Existenz zu sein. Andererseits sind sie der beste Weg, immer auf dem neuesten Stand in Bezug auf das Dorfgeflüster zu bleiben. Das ganze Jahr über sieht man sie in ihrem Garten bei irgendwelchen Veranstaltungen – seien es Geburtstage oder Feiertagsfeiern - sie stecken all ihre Energie in diese Events. Sie haben einen Sohn und eine Tochter im Alter von zehn und zwölf Jahren, die es offensichtlich satthaben, dass ständig andere Leute in ihren privaten Raum eindringen.

Ich will heute unbedingt zu Hause bleiben und das Grillfest auslassen. Aber das geht nicht. Das wäre kein guter Start zwischen mir und der Frau in Nummer sechs. Besonders, wenn alle anderen aus unserer Sackgasse dort sind und die Neue mit Freundlichkeit überschütten. Also werde ich ein Lächeln aufsetzen und das durchziehen - wie eine anständige Nachbarin.

„Schatz, hast du mein Basecap gesehen?“, ruft Jack aus dem Schlafzimmer. Ich bin im Badezimmer und mache mich gerade fertig. Dot und Noah sind unten und schauen Cartoons. An manchen Tagen, das schwöre ich, ist der Fernseher wie ein drittes Elternteil.

Jack kommt ins Badezimmer, als ich ihm nicht sofort antworte. „Bianca? Hast du gehört, was ich gesagt habe?“

„Ja, Jackson“, antworte ich. Er hasst es, wenn ich seinen vollen Namen benutze. „Und nein, ich weiß nicht, wo dein Basecap ist.“

„Ich habe es vor ein paar Tagen auf die Kommode gelegt. Vielleicht hast du es verlegt, als du geputzt hast.“

„Ich habe nichts angefasst“, sage ich, während ich mich im Spiegel fixiere und schminke. Meine Antwort schickt Jack einen kalten Schauer über den Rücken.

„Bist du sicher? Ich habe es auf jeden Fall dorthin gelegt. Du hast immerhin die Angewohnheit, Dinge umherzuräumen.“

Mir entkommt ein Schnauben. Nie würde ich es zugeben, aber er hat einen Nerv getroffen. „Nein, Jack. Ich habe nicht die Angewohnheit, Dinge umherzuräumen. Wenn ich etwas von dir anrühre, dann weil ich nach meinem Ehemann aufräume, der dafür zu faul ist.“

Jacks Nasenflügel weiten sich, als er sich zu mir beugt. Er ist kurz davor, die Fassung zu verlieren, als Noah von unten ruft.

„Papa, Hilfe!“

Noah ist zweieinhalb und befindet sich gerade in einer Phase, in der ausschließlich Papa helfen darf. Wenn Jack in der Nähe ist, will er nur ihn und niemand anderen, der ihm bei seinen täglichen Problemen hilft. Zuerst war es süß, aber der Reiz ist längst verflogen.

„Okay, Kumpel“, ruft Jack und beißt die Zähne zusammen, als er geht. Ich beobachte, wie er sich bemüht, die Dinge zwischen uns nicht eskalieren zu lassen, solange die Kinder in Hörweite sind. Das ist, was unser Eheberater empfohlen hat. Ich erkenne, dass ich meinen Teil dazu beitragen sollte, meinen Mann nicht zu provozieren, aber ich bin es leid, für jedes noch so kleines Problem in diesem Haus verantwortlich gemacht zu werden. Ja, ich bin mehr zu Hause als Jack. Er arbeitet Vollzeit als Geschichtslehrer an der Cedarwood Rock Highschool, zusammen mit David, während ich nur Teilzeit in unserer lokalen Bibliothek aushelfe.

Wenn ich nicht auf die Kinder aufpassen müsste, würde ich jede freie Minute in der Bibliothek verbringen. Versteht mich nicht falsch, meine Kinder bedeuten mir alles. Aber an manchen Tagen wäre ich lieber im Job und würde jemandem helfen, ein Buch zu finden, oder ihm eine Empfehlung zu geben, von der er nicht wusste, dass er sie braucht. Aber nur, weil ich mehr Zeit zu Hause verbringe, heißt das nicht, dass ich sie damit vergeude, mir neue Wege zu überlegen, meinen Mann in den Wahnsinn zu treiben. Mit wenig Aufwand könnte ich Jacks dummes Basecap bestimmt finden.

Unfähig zu widerstehen, verlasse ich das Badezimmer und finde das Seattle Mariners Basecap schneller, als es gedauert hat, nach dem verdammten Ding zu fragen. Es liegt in unserem begehbaren Kleiderschrank, direkt auf einem Stapel seiner schmutzigen Wäsche, die er noch nicht in den Wäschekorb geworfen hat. Ich rolle die Augen und seufze, als ich danach greife. Wenn es nicht Jacks Lieblingscap wäre — das er seit unserer gemeinsamen Zeit an der U-Dub hat — würde ich das abgewetzte Ding wegwerfen.

Jacks Launen zerreißen mich, wie sie es immer tun. Ich hatte nicht geplant, meinen Sonntag auf diese Weise zu verbringen. Wir haben zwar noch eine halbe Stunde, bis das Grillfest beginnt, aber ich möchte ausnahmsweise pünktlich sein. Der Running Gag der Straße ist, dass wir immer die letzten sind. Es sollte mir egal sein, aber es nervt.

Sobald ich mit dem Schminken fertig bin und meine Haare zum dritten Mal zurechtgerückt habe, beschließe ich, nach unten zu gehen und die Bande aufzuscheuchen. Zwei kleine Kinder dazu zu bringen, sich fertig zu machen, ist ungefähr so einfach, wie es klingt. Bevor ich anfange, die beiden vom Fernseher wegzuziehen, reiche ich Jack das Cap.

„Hier.“

„Wo—?“

„Auf deinem Haufen schmutziger Wäsche. Vielleicht könntest du“, ich bremse mich, bevor ich den Gedanken ausführe, und schlucke die aufsteigende Frustration runter, die droht, wie ein Vulkan auszubrechen. Ich muss härter daran arbeiten, die Dinge, die andere Leute sagen, nicht an mich heranzulassen. Wie Dr. Carabello sagt: „Wir kontrollieren nur uns selbst.“

Es fällt mir immer noch schwer, mich wieder an die Therapie zu gewöhnen. Bestimmt gibt es viele, die davon profitieren, aber ich bin skeptisch, wie lange wir unsere Emotionen so unterdrücken können. Das ist bereits mein zweiter Durchgang. Vor einigen Jahren brauchte ich Hilfe bei einem Problem, das keine Therapie je wird lösen können.

„Danke“, sagt Jack, der meine Bemühung, zivil zu bleiben, zu bemerken scheint. Er klopft das Cap ab. Das Ding ist abgenutzt und alt, aber er schaut es immer noch an, als erinnere es ihn an die guten alten Zeiten. Ich wünschte, er würde mich auch so ansehen.

„Was wollte Noah?“, frage ich rasch.

„Dass ich sein Saftpäckchen repariere“, antwortet Jack mit einem Glucksen.

„Ah, das Saftpäckchen.“ Ich nutze die Gelegenheit, um die Spannung in meiner Wirbelsäule zu lösen und meine Aufmerksamkeit auf andere Dinge zu lenken. Unser Sohn schiebt ständig den Strohhalm zu tief in das Saftpäckchen und verliert ihn. Wir haben angeboten, ihm den Saft in ein Glas zu gießen, aber er findet Gläser „eklig“. Die typische Logik eines zweieinhalbjährigen Kindes.

Ich gehe an Jack vorbei, beuge mich zu meiner Tochter hinunter und stelle sicher, dass ich ihre Aufmerksamkeit habe, bevor ich sie anspreche. Wenn sie Fernsehen schaut, ist sie in ihrer eigenen Welt.

„Fünf Minuten noch, okay, Dot? Hast du mich gehört?“

„Huh?“ Sie runzelt die Stirn, als ob ich Norwegisch spreche.

Ich unterdrücke ein Seufzen, beuge mich tiefer und sehe sie mit weit aufgerissenen Augen an. „Fünf Minuten noch.“

„Okay, Mama.“ Dot schenkt mir ein strahlendes Lächeln. Es schmilzt mein Herz, wie jedes Mal. Von den beiden ist sie die gehorsamere. Noah tut zwar meistens, was man ihm sagt, aber er ist der sturste Mensch, den ich je getroffen habe. Na gut, der Zweitsturste. Sein Vater hält derzeit den Rekord.

„Was machen wir heute?“, fragt Dot.

„Wir gehen rüber.“

„Wozu?“

„Zum Grillen. Hab ich doch schon mehrmals gesagt.“ Dots Blick irrt umher, während ihr Mund offen steht. Ich könnte genauso gut der Nachbarskatze erklären, wie eine Uhr funktioniert. „Mach dich bitte fertig. Und zieh dir etwas Luftiges an, es ist warm draußen.“

„Okay“, antwortet sie und hüpft eine Sekunde später davon. Ich wünschte, ich könnte ebenso mühelos von einer Aufgabe zur nächsten übergehen.

„Papa“, meldet sich Noah und rückt zu Jack, der dachte, es sei okay, sich aufs Sofa fallen zu lassen und mit dem Handy zu spielen. Jack grummelt nur und schaut nicht einmal auf, während sich Noah an seinem Knie festhält.

„Komm schon, Daddy“, sage ich zu Jack.

„Okay, ich komme. Lass uns dich anziehen, kleiner Mann.“

„Jaaaa“, ruft Noah, aufgeregter, als er müsste. Er nimmt Jacks Hand und geht mit ihm die Treppe hoch, wobei er sich an seinem Stoffelefanten festhält. Das Ding hat schon einiges mitgemacht.

Bevor ich nach oben gehe, schnappe ich mir ein paar Sachen, die wir vielleicht beim Grillen brauchen. Es klingt albern, schließlich gehen wir nur ein Haus weiter, aber ich habe gern ein paar Dinge für die Kinder dabei. Einige nennen es Kontrolle. Ich nenne es organisiert sein.

Ich betrete mit Noahs alter Windeltasche die Küche. Er ist schon früh trocken gewesen, deshalb ist das eher eine „Oh oh-Notfalltasche“. Außerdem passt eine Menge Snacks für wählerische Esser hinein, jung wie alt.

Während ich in der Küche bin, bemerke ich einen Schatten aus dem Augenwinkel. Panik schießt durch meinen Körper, bis ich realisiere, dass es nur unsere neue Nachbarin ist, die in ihrem Haus umherläuft. Ich sehe sie durch das Fenster über dem Zaun, kann ihr Gesicht aber nicht erkennen. Sie hat noch keine Vorhänge aufgehängt, sodass ihr Zuhause für alle einsehbar ist. Wir haben durchsichtige Vorhänge an allen unseren Fenstern, die Sonnenlicht hereinlassen und gleichzeitig genügend Privatsphäre bieten. Ich kann nicht anders, als sie zu beobachten.

Sie scheint in Eile zu sein. Kein Wunder, dieses Grillen ist für sie bestimmt ein totaler Albtraum. Wahrscheinlich stehen noch zwei Dutzend Kisten zum Auspacken bei ihr rum, stattdessen muss sie einen Haufen Fremde bespaßen. Sie kommt in meine Richtung, eine Kiste in den Armen, und gerät gleich in meinen Blickbereich. Ich überlege, an meinem Platz zu bleiben, aber im letzten Moment verziehe ich mich.

„Lächerlich“, flüstere ich. Wovor habe ich Angst? Ich könnte in ihr eine Freundin finden, immerhin habe ich kaum mehr als eine Handvoll Menschen in dieser Welt, auf die ich mich verlassen kann. Andererseits ist es wahrscheinlich besser so. Ich habe noch keine Spielzeuge aus ihren Kisten kommen sehen. Und die zerbrechlichen Dekorationen, die sie in ihrem Haus aufgestellt hat, deuten darauf hin, dass sie in einem kinderfreien Haushalt lebt.

Wir hätten uns nichts zu sagen. Die Kinder sind das einzige, woran ich momentan denke. Sie nehmen so viel meiner Zeit in Anspruch – im positiven Sinne, natürlich. Aber ich kann nicht anders, als zu bemerken, dass ich mich selbst mit jedem Jahr mehr verliere.

Was stimmt bloß nicht mit mir? Ich erfinde Ausreden und beurteile diese Frau, bevor ich sie überhaupt getroffen habe. Nur, weil sie keine Kinder hat, heißt das nicht, dass wir nichts gemeinsam haben können, oder? Früher hatte ich ein ziemlich aufregendes Leben. Jack und ich sind oft ausgegangen und hatten viel Spaß zusammen. Vielleicht hat diese Frau ähnliche Geschichten zu erzählen. Aber nein, mein verdammtes Gehirn würde so einen Gedanken niemals zulassen. Als würde es wollen, dass die Beziehung zu unserer neuen Nachbarin scheitert, noch ehe sie begonnen hat.

Ich war nicht immer so. Früher war ich extrem selbstbewusst. Eine neue Freundin zu finden, ging nicht Hand in Hand mit einer Menge ausgedachter Probleme. Sobald ich jetzt jemand Neuen treffe, suche ich nach jeder Entschuldigung, mich nicht involvieren zu müssen. Ich finde Mängel, die nicht existieren, oder übertreibe die, die es gibt. Es ist nicht nur meine eigene Schuld, nach dem, was passiert ist. Aber vielleicht ist es an der Zeit, etwas daran zu ändern.

Sobald die Luft rein ist, schlüpfe ich aus meinem Versteck und fahre fort, die Tasche zu packen. Nicht, dass unsere neue Nachbarin einen Schreck bekommt, weil ich wie eine verrückte Stalkerin aus irgendeiner Ecke gesprungen komme. Was auch immer es mich kostet, ich werde mich ihr beim Grillen vorstellen und versuchen, sie kennenzulernen. Um jeden Preis.

Kapitel 4

Wir sind hinter dem Zeitplan. Ich weiß nicht, wie das passieren konnte, aber wir werden zu spät zum Grillfest kommen. Wir müssen buchstäblich nur ins Haus nebenan – und trotzdem hat mir die Zeit mal wieder einen Strich durch die Rechnung gemacht.

Offiziell begann das Grillfest um ein Uhr. Trotz meiner größten Bemühungen haben wir es wieder nicht geschafft, rechtzeitig für eine verdammte Veranstaltung fertig zu werden, die weniger als dreißig Meter von unserem Haus entfernt stattfindet.

Ich dachte, es wäre schlau, mich zuerst fertigzumachen. Normalerweise bin ich die Letzte, die sich anzieht, nachdem ich die Kinder dazu gebracht habe. Ich wollte den üblichen Stress, mein Make-up und meine Haare in letzter Minute zu machen, vermeiden. Dabei habe ich nicht berücksichtigt, dass Jack und Noah zwanzig Minuten in Noahs Zimmer mit der Eisenbahn spielen würden.

„Verdammt noch mal“, sage ich zu Jack, sobald wir im Schlafzimmer sind. Ich kann meine Wut nicht mehr unterdrücken. „Noah hätte vor fünfzehn Minuten fertig sein sollen. Wir kommen zu spät!“

„Beruhig dich“, schießt er zurück. „Wir haben nur gespielt. Außerdem ist das nur ein Grillfest bei den Nachbarn. Es ist ja nicht so, als müssten wir eine Stunde fahren.“

„Darum geht's nicht. Ich wollte einmal irgendwo pünktlich sein, und jetzt sind wir es wieder nicht.“

„Und wenn schon“, faucht Jack und verschwindet ins Bad, um zum dritten Mal seine Haare zu checken. Es ist völlig sinnlos. Er wird sowieso sein verdammtes Cap aufsetzen, sobald er in die Sonne tritt.

Ich überlege, ob ich ihm wegen seiner Bemerkung nachgehen soll, um ihm ordentlich die Meinung zu sagen, aber wir sind sowieso zu spät dran. Außerdem bringt es nichts, Jack anzuschreien. Es ist ihm völlig egal, was ich von ihm denke, und auch nicht das erste Mal, dass er meine Gefühle abtut.

Früher war das anders. An der Uni brannten wir so sehr füreinander, dass uns alle darum beneideten. Ich hätte nie gedacht, dass wir irgendwann an diesen Tiefpunkt kommen würden. Nicht nach all den Turbulenzen. Vor allem nicht nach jener Nacht.

Ich schüttele den Gedanken ab und frage mich, wie lange wir noch durchhalten. Unsere Beziehung hängt bereits am seidenen Faden.

„Bitte schön, ich bin fertig“, sagt Jack und kommt theatralisch die Arme ausbreitend aus dem Badezimmer.

„Oh, wie nett“, presse ich durch zusammengebissene Zähne mit einem falschen Lächeln hervor. Er ist noch einen dummen Kommentar davon entfernt zu erfahren, was ich wirklich von ihm halte. Wenn nebenan nicht so viele Leute wären, würde ich die Tür schließen und loslegen. Stattdessen balle ich die Hände zu Fäusten und ignoriere Jacks kindisches Verhalten. Die Eheberatung entpuppt sich immer mehr als reine Zeitverschwendung.

Wir brauchen noch mal fünfzehn Minuten, bis wir endlich das Haus verlassen. Die Verzögerung zwingt mich dazu, meine Haare erneut zu überprüfen. Während ich oben vorm Spiegel stehe, decke ich die Narbe auf meiner Stirn mit einer weiteren Schicht Make-up ab. Ich hasse das Ding, aber das rechtfertigt nicht die Kosten einer teuren Schönheits-OP. Und selbst wenn – der Eingriff würde den Schmerz, der hinter der Wunde sitzt, nicht verschwinden lassen.

Jack verlässt als Letzter das Haus, in der Hand eine Kühlbox voller Alkohol. Ich gehe voraus, halte dabei Noahs Hand. Ausnahmsweise will er nicht getragen werden. Wir nehmen den schmalen Pfad zum Nachbarhaus, der zu einem unverschlossenen Seitentor führt. Ich atme tief durch, als wir hineingehen.

Abgesehen von der neuen Nachbarin scheinen wir die letzte Familie aus der Sackgasse zu sein, die gefehlt hat. Natürlich.

„Willkommen, Familie Anderson“, ruft Bradley hinter seinem übergroßen Grill, den er stolz bedient. Er trägt eine schwarze Schürze mit der weißen Aufschrift „Mit der Lizenz zum Grillen“. Damit ist das die am wenigsten peinliche Schürze, die ich je an ihm gesehen habe.

Ich schenke Bradley ein rasches Lächeln und winke, während ich einen Platz suche, um unsere Sachen abzustellen und die Kinder zum Spielen zu entlassen. Es sind noch sieben andere Kinder da, mit denen sie herumtollen können. Abgesehen von Ethan und Olivia sind die meisten älter, doch niemanden scheint es zu stören, dass unsere Kleinen mitmachen.

Ich gehe zu Ellie, die neben David steht. Das Paar ist in ein Gespräch mit Renato und Bonita Rodriguez vertieft, der Familie von Nummer Sieben gegenüber. Die drei Rodriguez-Kinder spielen Fußball mit einigen der anderen Kinder.

„Hi, Bianca“, sagt Bonita strahlend. Sie ist Kinderkrankenschwester im örtlichen Krankenhaus. Aufgrund ihres vollen Dienstplans verpasst sie diese Nachbarschaftstreffen oft – aber heute nicht.

Ich finde es beruhigend, dass sie in der Nähe wohnt, falls mit den Kindern mal etwas sein wollte. Ich sage Hallo und umarme sie kurz. Sie drückt mich doppelt so fest zurück. Renato grüßt ebenfalls, dann kehrt er zu seinem Gespräch mit David zurück. Kurz darauf muss er eingreifen, als sein ältester Sohn Miguel den Ball nicht abgeben will.

Jack stößt zu uns und stellt die Kühlbox mit dem Alkohol ab. Es ist Sonntag, und wir müssen beide morgen wieder arbeiten. „Dave. Ellie“, sagt Jack zu unseren Freunden, beinahe brummend.

„Ihr seid gekommen“, antwortet Ellie mit einem breiten Grinsen.

Ich nicke und lächle.

Ellie streicht ihre Ponysträhnen zurück. Seit ich sie kenne, trägt sie dieselbe Frisur. Der Look passt einfach zu ihrer Persönlichkeit. Verlässlich. Deshalb verstehen wir uns auch so gut.

Ellie ist mein Anker bei allen gesellschaftlichen Dingen in der Straße. Obwohl ich in der Maple Court jeden kenne – manche besser als andere – fällt es mir immer noch schwer, mich unter die Leute zu mischen. Ich fühle mich fehl am Platz, als gehöre ich nicht wirklich dazu. Diese nervige Stimme in meinem Kopf sagt mir ständig, ich solle still sein und mich verkriechen.

„Wurde auch Zeit“, kommentiert David grinsend unser Zuspätkommen. Er nimmt einen Schluck Bier und wird von Ellie in die Seite geboxt. „Was denn?“, fragt er. „Sie sind doch zu spät?“

Bonita schüttelt den Kopf und versteckt ihr Lächeln nur halbherzig.

David verschränkt die Arme vor der Brust, die Bierflasche in der Hand. „Mann, war doch nur ein Scherz.“

„Schon gut“, sage ich.

Bevor es unangenehm wird, entschuldigt sich Bonita und hilft ihrem Mann, Miguel zur Schnecke zu machen. Beide sprechen so schnell auf Spanisch mit ihrem Sohn, dass ich nicht annähernd mitkomme.

Jack murmelt etwas vor sich hin und seufzt. Dann öffnet er die Kühlbox und holt sich ein Bier, ohne zu fragen, ob ich auch eins will. Zur Begrüßung dreht er den Deckel ab und sagt: „Prost“, während er die Flasche mit Davids anstößt.

David nimmt einen Schluck. „Na, wie läuft's bei den Andersons heute?“

Jack setzt sich mit einer Hand das Basecap auf. „Wie immer. Und bei euch?“

„Kann mich nicht beklagen.“

Ethan und Olivia eilen zu ihrem Vater. „Papa“, sagt Ethan. „Spielst du mit uns?“

„Jetzt nicht, mein Großer. Vielleicht später.“

„Okay“, sagt Olivia enttäuscht. Dann rennen die beiden zurück zu den anderen Kindern. Jack sieht ihnen nach und wirkt fast, als würden ihm die beiden leidtun. Ellie schüttelt den Kopf und zieht mich von den Männern fort.

„Na, wie läuft's, Bee?“ fragt sie und benutzt ihren Spitznamen für mich – ähnlich wie Jack früher „Honey Bee“ zu mir sagte. Ein Name, den er schon lange nicht mehr benutzt. Sie weiß es nicht, aber jedes Mal, wenn Elli ‚Bee‘ sagt, versetzt mir das einen schmerzhaften Stich.

„Ach, du weißt schon. Das Übliche“, antworte ich.

„Ich meine nicht zu Hause, sondern bei dir und Jack?“ Sie dreht sich verschwörerisch zu unseren Männern um.

Ich seufze. Warum habe ich ihr bloß von der Eheberatung erzählt? Klar, ich wollte es mir von der Seele reden, aber ich hätte wissen müssen, dass sie das Thema nicht auf sich beruhen lässt.

„Es geht“, antworte ich.

„Nur geht?“

„Du weißt, was ich meine. Wir kommen klar.“

„Das klingt nicht sehr überzeugend.“

Ich würde gern tiefer darauf eingehen, aber es sind zu viele Leute in der Nähe.

„Wir schaffen das“, sage ich schließlich. Ellie wirkt enttäuscht. Ihr Blick verrät mir, dass sie auf mehr gehofft hat. Vielleicht darauf, dass die Therapie eine Wunderlösung ist – dann könnte sie David dazu bringen, es auch zu versuchen. Dass auch sie Probleme haben, ist kein Geheimnis.

Ellies und Davids Kinder sind vier und sechs. Das Leben mit kleinen Kindern ist hart. Vielleicht kämpfen wir alle gerade mit unseren Ehen.

Wie auf Kommando stellt sich Gabrielle Morris zu uns, bevor wir weiterreden können. Ich weiß nicht, warum, aber ich habe mich noch nie gut mit Gabrielle verstanden. Seit unserem Einzug strahlt sie mir gegenüber eine subtile Abneigung aus. Als würde sie nur darauf warten, dass ich einen Fehler mache.

„Hallo, ihr zwei“, sagt Gabrielle. „Wie geht es euch an diesem schönen Tag?“

„Gut“, sagen Ellie und ich gleichzeitig. Wir klingen wie zwei Schülerinnen vor ihrer Lehrerin. Gabrielle ist in unserem Alter, aber sie benimmt sich, als wäre sie zehn Jahre älter. Mindestens. Ellie steht ihr auch nicht besonders nahe. Genau wie ich findet sie Gabrielle zu steif, zu kontrollierend. Sie leitet diverse Nachbarschaftsgruppen und Ausschüsse. Außerdem ist sie im Elternbeirat der Grundschule, auf die Dot geht – direkt neben der Highschool, an der Jack und David unterrichten. Ich weiß nicht, woher sie die Energie für all das nimmt.

„Es gibt reichlich Essen, also bedient euch ruhig“, bemerkt Gabrielle mit einem Schmunzeln.

„Danke“, antworte ich. Mein Blick gleitet zu dem Buffet, das Gabrielle ohne Zweifel stundenlang vorbereitet hat. „Sieht köstlich aus“, presse ich hervor. Es klingt vielleicht paranoid, aber ich bin mir sicher, dass Gabrielle sich so viel Mühe gibt, um uns anderen ein schlechtes Gewissen zu machen. Vor allem mir.

„Wo ist denn die Ehrengästin?“, fragt Ellie, bevor Gabrielle weiterzieht.

„Noch nicht da.“

Ich lasse meinen Blick durch den Garten schweifen. Mit etwas Glück taucht die neue Nachbarin gar nicht auf. Ein gemeiner Gedanke – aber ich kann ihn nicht abstellen. Die einzigen anderen Nachbarn, die fehlen, sind Iris Harrison und Darell Vargas. Iris ist oft verreist, und Darell bleibt am liebsten für sich. Er ist noch nie zu einem Grillfest oder Abendessen erschienen.

Das stört mich nicht. Ich kann ihn nicht ausstehen. Ich habe unzählige Male versucht, freundlich zu ihm zu sein, ihn zu grüßen – aber alles, was ich zurückbekomme, sind harte, kalte Blicke. Und das Schlimmste: Er ist nicht zu allen so. Ich sehe ihn oft mit Renato und Bonita reden. Warum er mich nicht mag, weiß ich auch nicht.

Ich verdränge den Gedanken an Darell und überlege stattdessen, wie unangenehm es für die neue Nachbarin sein wird, allein in einen Garten voller Familien zu kommen, die sich untereinander kennen.

Mein persönlicher Albtraum.

„Keine Sorge, meine Damen. Unser Ehrengast wird sicher gleich da sein. Niemand widersteht einem Morris-Grillfest.“

Wir lachen gezwungen, während Gabrielle weiterzieht. Kaum ist sie weit genug weg, entspanne ich mich innerlich.

„Mein Gott“, zischt Ellie, als hätte sie die Luft angehalten.

„Sie hat einen eigenen Charme“, bemerke ich.

„So kann man das natürlich auch nennen. Wie auch immer, ich brauche einen Drink.“

„Ich auch“, sage ich und bin dankbar, dass Jack und David genug Alkohol mitgebracht haben, um ein ganzes Schiff zu versorgen.

Bald schon liegt der rauchige Duft von gegrilltem Fleisch in der Luft, vermischt mit dem Stimmengewirr der Erwachsenen. Die Kinder lachen und schreien durcheinander. Bradleys Bruder stößt mit seiner Frau und den Kindern dazu und bringt noch mehr Lärm und Chaos mit sich. Ihr Anblick lässt mich an Jacks Bruder Andy denken. Wir sehen ihn und seine Frau mit ihren drei Kindern nur selten. Sie wohnen an der Ostküste.

Ich husche zu Ellie, die sich in der schattigen Ecke des Gartens aufhält. Wir tratschen, während wir Wodka-Mixgetränke genießen. Es gibt schlechtere Arten, den Nachmittag zu verbringen. Dave und Jack schauen hin und wieder zu uns rüber. Ich kann mir ausmalen, was Jack seinem Freund über mich erzählt. Ich will nicht vom Schlimmsten ausgehen, aber wahrscheinlich erzählt er David gerade, was für eine schreckliche Ehefrau ich bin.

Wir sind bereits eine Stunde hier, und noch immer kein Zeichen der neuen Nachbarin. Doch gerade, als ich mich aufraffen will, um Ellie und mir eine neue Runde Drinks zu holen – die wir an einem Sonntagnachmittag eigentlich nicht trinken sollten – breitet sich plötzlich eine gespannte Stille über dem Garten aus.

Ich folge dem kollektiven Blick unserer Freunde und Nachbarn, meine Neugier sofort geweckt.

Da ist sie – schreitet durch das Gartentor mit einer mühelosen Eleganz, die in dieser lockeren Gesellschaft völlig fehl am Platz wirkt.

Sie ist umwerfend. Ein großer Sonnenhut verdeckt ihr Gesicht zum Teil, während ein fließendes Kleid ihre anmutige, Aufmerksamkeit erheischende Erscheinung unterstreicht. Mit jedem Schritt umgibt sie eine einschüchternde Präsenz, die mir auf seltsame Weise vertraut vorkommt. Ihre Augen tauchen unter dem Rand des Hutes auf, und ich erkenne einen intensiven Blick, den ich bisher nur bei einer einzigen Person in meinem Leben gesehen habe.

Ich hoffe inständig, dass das bloß eine verrückte Halluzination ist. Ich kenne unsere neue Nachbarin.

Ihr Name ist Nicole Stokes. Jacks verrückte Ex-Freundin aus der Uni.

„Wie?“, flüstere ich.

Mein Blick wandert zu Jack, suche nach einem Hinweis oder irgendeinem Anzeichen dafür, was er denkt. Erkennt er sie? Natürlich tut er das. Man vergisst keine Frau wie Nicole. Jack ist mitten im Lachen erstarrt, das Bier halb zum Mund erhoben. Er kann den Blick nicht von ihr abwenden. Sein Starren zieht sich in die Länge, schwer von unausgesprochenen Worten, die nur ich hören kann. Ein Hauch von Wut blitzt in seinen Augen auf, und ich weiß, dass er den Schmerz erneut durchlebt.

Ein Knoten zieht sich in meinem Magen zusammen, als auch in mir eine Welle quälender Erinnerungen hochkocht. Erinnerungen, von denen ich gehofft hatte, sie zu vergessen.

Was zum Teufel macht sie hier?

Kapitel 5

Ich kann nicht aufhören, Nicole anzustarren. Ich schwöre bei Gott, ich halluziniere. Unmöglich, dass sie gerade hier ist. Sie kann nicht unsere neue Nachbarin sein.

Mein Blick wandert zwischen Nicole und Jack hin und her, während die Bewohner aus der Maple Court nacheinander zu ihr gehen und sich vorstellen. Alle lächeln und machen freundliche Gesten, als wäre sie die netteste Person auf der ganzen Welt. Aber sie kennen Nicole Stokes nicht. Nicht so, wie Jack und ich sie kennen.

„Was ist los?“, fragt Ellie. „Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.“

Nah dran. Ich hätte nie gedacht, Nicole wiederzusehen. Nicht nach dem, was damals in der Uni passiert ist. Nicht nach —

„Bee?“, fragt Ellie und unterbricht meine Gedanken.

„Alles gut“, bringe ich hervor, weiß aber, dass die Worte wenig überzeugend sind.

„Bist du sicher? Deine Hand zittert.“

Ich starre auf das leere Glas, das in meiner unruhigen Hand vibriert. Ich stelle es auf dem Betonrand in der Ecke des Gartens ab. Das ist unser Platz, und niemand nutzt ihn sonst. Die Leute, die zu diesen Grillabenden kommen, wissen, wie es läuft. Jack und David haben die Terrasse für sich beansprucht. Bradley sitzt gern in seinem Lieblings-Liegestuhl und reißt schlechte Witze. Alles ist Teil einer feinen Balance. Doch jetzt ist Jacks Ex aus dem Nichts aufgetaucht und bringt alles durcheinander.

Ich beobachte Nicole, während sich immer mehr Leute ihr vorstellen. Sie hat ihren übergroßen Hut abgenommen und kein einziges Haar tanzt aus der Reihe. Sie ist genauso schön, wie ich sie in Erinnerung habe. Mich überkommt eine Welle der Eifersucht, wie ich sie seit achtzehn Jahren nicht mehr gefühlt habe.

Nicole rückt näher an Jack heran. Mein Mann hält seinen Blick auf sie gerichtet, Wut brodelt in seinen Augen. Eine Wut, die ich nur ein paar Mal in meinem Leben gesehen habe. Er hat bisher nicht einmal in meine Richtung geschaut.

„Tja, wir sollten wohl Hallo sagen“, bemerkt Ellie und steht auf.

„Was? Warum?“

Ellie starrt mich mit gerunzelter Stirn an. „Was meinst du mit ‚warum‘? Deshalb sind wir doch hier. Um sie kennenzulernen. Außerdem ist es nett.“

„Okay“, murmle ich verloren. Keine Chance. Ich bin buchstäblich in die Ecke gedrängt. Falls ich nicht über den Zaun hüpfen und nach Hause rennen möchte, sitze ich hier fest.

„Auf, auf“, sagt Ellie. „Ich weiß, das ist nicht deine Lieblingssituation, Bee, aber wer weiß, vielleicht freunden wir uns mit ihr an.“

Es kostet mich alle Kraft, nicht in manisches Lachen auszubrechen und Ellie zu verraten, was für eine schreckliche Person Nicole ist. Später vielleicht, in privater Runde, aber nicht jetzt. Nicht vor all diesen Leuten. Ich muss zivilisiert bleiben und darf mich nicht von ihr beeinflussen lassen. Zumindest, bis ich herausgefunden habe, was Nicole hier macht.

Ich stehe mit Ellies Hilfe auf und klopfe mir den Staub ab. Bevor wir den Garten zu der Traube um Nicole durchqueren, sehe ich, wie sie Jack anblickt. Er starrt zurück, die Zähne zusammengebissen. Ich bilde mir das nicht ein. Das ist wirklich seine Ex. Diejenige, die uns damals beinahe zerstört hätte.

Sie sieht genauso aus wie früher, abgesehen von ein paar Falten um die Augen. Schlanke Figur, glänzendes Haar.

Aber Jack fragt sich nicht, was hätte sein können. Er sieht aus, als wolle er sie töten - und ich weiß, warum.

Ellie nimmt meinen Arm. „Komm schon. Lass uns das hinter uns bringen. Ich bin sicher, sie beißt nicht.“

Ich schüttle den Kopf und murmle vor mich hin, aber Ellie merkt es nicht. Sie weiß nicht, wer Nicole Stokes ist oder was sie uns angetan hat. Aber ich weiß es. Ich weiß alles über sie und die gewalttätige Art, wie sie versucht hat, zwischen Jack und mich zu kommen. Ich dachte, diese Zeit läge hinter uns, aber hier ist sie.

Nicole erreicht Jack — meinen Mann. Er hält das Bier so fest, als wolle er es zerbrechen. Und das Schlimmste: Er hat nicht einen einzigen Blick in meine Richtung geworfen. Warum? Versucht er, so zu tun, als wäre sie nicht Nicole? Oder ist er so überrumpelt von ihrer Anwesenheit, dass sein Gehirn den Betrieb eingestellt hat?

Der Knoten in meinem Magen zieht sich enger. Weitere Gedanken und Möglichkeiten drängen sich in meinen Kopf. Am Ende bleiben nur Fragen, auf die ich keine Antwort habe.

Gerade, als Nicole Jack ansprechen möchte, grätscht Bradley dazwischen und spricht zuerst mit ihr. Er trägt immer noch seine Schürze. Seiner verzweifelten Suche nach Aufmerksamkeit sei Dank. Bradley quatscht Nicole die Ohren über seinen Grill und das Wetter voll. Er ist wie ein kleines Kind, das mit den Geschenken prahlt, die es zum Geburtstag bekommen hat.

Ich bin gerettet. Für den Moment. Ich löse mich von Ellie und umgehe die Morris-Show, versuche, Nicoles Blick aus ihren stechenden Augen zu entkommen.

„Bee?“, ruft Ellie mir nach.

„Ich bin gleich zurück“, antworte ich über die Schulter, während ich auf Jack zugehe. Aber ich werde nicht gleich zurück sein. Nicht, wenn ich es verhindern kann.

Jack bemerkt mich endlich und atmet erschrocken aus. „Bianca, sag mir bitte, dass das nicht wahr ist.“

Ich ziehe ihn so schnell wie möglich von der Gruppe weg. In gedämpftem Ton stelle ich ihm die einzige Frage, auf die ich eine Antwort will. „Was macht sie hier?“

Jack zuckt mit schockgeweiteten Augen die Schultern. „Woher soll ich das wissen?“

„Du wusstest nicht, dass sie die neue Nachbarin ist?“

„Natürlich nicht! Denkst du nicht, ich hätte etwas gesagt? ‚Übrigens, Liebes, unsere neue Nachbarin ist meine verrückte Ex aus der Uni.‘ Für wie dumm hältst du mich?“

Er sagt die Wahrheit. Ich sehe die Bestürzung in seinen Augen. Er ist genauso entgeistert wie ich.

„Was machen wir jetzt?“, will ich wissen. Doch ich erkenne, dass meine Frage sinnlos ist. Es gibt nichts, was wir tun können. Nicht, wenn Jack jedes Mal, wenn ich versuche, über die Vergangenheit zu sprechen, dicht macht. Ich weiß nicht, wie ich mit dieser Situation umgehen soll. Mein einziger Vorschlag wäre, nie wieder das Haus zu verlassen und sicherzustellen, dass wir auf Nicoles Seite unseres Grundstücks einen neun Meter hohen Stacheldrahtzaun errichten. Wäre praktisch.

Jack zuckt wieder mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Das ist verrückt. Warum sollte sie das Haus direkt neben unserem kaufen?“

Das ist eine gute Frage. Und eine, die ich aufklären werde. Besonders, wenn ich an den Brief denke, den Trina und Danny uns allen geschrieben haben. Sie sagten, die Käuferin hätte darauf bestanden, ihr Zuhause zu kaufen, und habe ihnen ein Angebot gemacht, das weit über dem Marktpreis lag. Nicole musste gewusst haben, wer ihre Nachbarn sein würden. Ich muss es bloß beweisen.

Ich lasse nicht zu, dass Nicole uns auseinanderreißt, wie sie es vor all den Jahren beinahe geschafft hat. Ich lasse nicht zu, dass sie unsere Ehe zerstört.