Leseprobe The Do-Over | Eine Second Chance Friends-to-Lovers Romantic Comedy

Prolog

Hast du jemals darüber nachgedacht, welche Schlüsselereignisse dein Leben geprägt haben? Ich nicht. Für mich änderte sich alles an dem Tag, an dem mein Dad uns verließ. Obwohl es viel seltener vorkommt als früher, als ich jünger war, spukt er immer noch gelegentlich in meinen Träumen herum und die Geschichte spielt sich jedes Mal auf dieselbe Weise ab. Sie beginnt an einem dieser frischen Herbsttage, an denen der Himmel hell, der Wind aber kalt ist. Ich bin acht Jahre alt und gehe von der Schule nach Hause. Meine Mutter hält meine rechte Hand, und meine Schwester Saffy läuft auf der anderen Seite. Sie ist drei Jahre älter als ich und weigert sich, Mums Hand zu halten, weil das babyhaft ist.

„Bevor wir nach Hause kommen, muss ich euch noch etwas sagen, Mädchen“, sagt Mum mit ruhiger Stimme. „Es geht um euren Vater.“

Ich sehe Saffy an und begegne kurz ihrem Blick. Nachrichten, die Dad betreffen, sind nie gut.

„Was hat er denn jetzt angestellt?“, fragt Saffy mit dem weltmüden Tonfall einer Teenagerin, die verzweifelt versucht, so zu tun, als sei sie älter als sie ist. „Geht es wieder um Geld?“

„Ich fürchte ja“, sagt Mum sanft.

Saffy rollt mit den Augen. „Was haben sie diesmal mitgenommen?“

Für keine von uns ist der Besuch des Gerichtsvollziehers etwas Neues. Seit wir klein waren, gehört das zu unserem Alltag. Jedes Mal, wenn es passiert, verspricht Dad, ein neues Kapitel aufzuschlagen, überhäuft uns mit kitschigen Geschenken, und die Dinge verbessern sich für eine Weile. Dann, gerade wenn wir denken, dass er es endlich ernst meint, taucht wieder der Gerichtsvollzieher auf, um den Fernseher und alles andere, aus dem er noch ein bisschen Geld herausquetschen kann, zu pfänden, und wir stehen wieder am Anfang.

„Diesmal ist es ein bisschen ernster, Liebes“, sagt Mum und seufzt tief. „Wie es aussieht, hat euer Vater die Miete für unser Haus nicht bezahlt. Das hat er mir erst heute Morgen erzählt, als der Mann von der Stadtverwaltung auftauchte. Ich weiß nicht, wie ich es euch sagen soll, Mädchen, also sage ich es einfach: Sie haben uns aus unserem Haus rausgeworfen.“

„Aber wo sollen wir denn jetzt wohnen?“, fragt Saffy entsetzt.

„Ich habe mit Nan gesprochen, und sie hat zugestimmt, uns bei sich wohnen zu lassen, bis wir wieder auf eigenen Füßen stehen. Sie wartet zu Hause auf uns. Das Wichtigste ist, dass nichts davon eure Schuld ist und dass ihr nicht versuchen müsst, es in Ordnung zu bringen.“

„Aber Dad wird es doch in Ordnung bringen, oder nicht?“, frage ich.

„Dieses Mal nicht, Thea, Liebes. Dein Dad ist fort.“

„Fort? Wohin ist er denn gegangen?“

Wieder ein tiefer Seufzer. „Ich weiß es nicht, und es ist mir auch egal. Es kommt der Moment, an dem man nicht mehr darauf warten kann, dass jemand die richtige Entscheidung trifft. Er hat eine Chance nach der anderen bekommen, aber ich kann nicht mehr. Es ist mir gegenüber nicht fair, und euch beiden gegenüber auch nicht. Von jetzt an ist er nicht mehr Teil unseres Lebens. Wir drei gegen den Rest der Welt.“

Ich kann mich noch gut an das Gefühl der Demütigung erinnern, als wir unter den wachsamen Augen unserer Nachbarn die Müllsäcke mit unseren spärlichen Habseligkeiten auf den Rücksitz von Nans Auto luden. Menschen, die wir als Freunde betrachtet hatten, wollten plötzlich nichts mehr mit uns zu tun haben, so als hätten wir eine ansteckende Krankheit, vor der sie Angst hatten. Der einzige Ort, an dem ich mich sicher fühlte, war die Schule, wo die Lehrer sorgfältig darauf achteten, dass wir nicht schikaniert wurden. Wir sahen Dad nie wieder. Ein paar Jahre später bekam Mum einen Brief, in dem stand, dass er gestorben sei und ob sie eine Beerdigung für ihn organisieren wolle. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich unser Leben bereits radikal verändert. Sobald Saffy und ich sicher in der weiterführenden Schule untergebracht waren, hatte Mum ihren Teilzeitjob im Laden gekündigt und eine Vollzeitstelle als Empfangsdame in einer Wirtschaftsprüfungsgesellschaft angenommen. Dort lernte sie Phil kennen, der so ganz anders war als Dad. Nachdem sie eine Weile mit sich gerungen hatte, beschloss sie, dass es gut für uns alle wäre, einen Abschluss zu finden. Also bezahlte sie die Begräbniskosten und wir gingen zu Dads Beerdigung. Es war ein oberflächlicher Gottesdienst und wir waren die einzigen Trauernden. Niemand weinte. Ich glaube, keine von uns wusste, was sie fühlen sollte. Um die düstere Stimmung aufzulockern, kaufte Phil uns nach der Beerdigung allen ein Eis, und ich bin mir nicht sicher, ob wir danach überhaupt noch an Dad dachten. Jedenfalls sprachen wir nicht über ihn.

Da unsere Geschichte im Großen und Ganzen ein glückliches Ende nahm, frage ich mich manchmal, warum mich der Traum immer noch heimsucht. Natürlich kenne ich die Antwort: Er soll mich an den Wandel erinnern, der an jenem Tag in mir passierte, als ich vom Rücksitz von Nans Auto auf unser mit einem Vorhängeschloss gesichertes Haus blickte. Bis dahin war ich immer ein glückliches, etwas nachlässiges Kind gewesen, welches damit zufrieden war, in der gesellschaftlichen Mittelschicht zu leben. An diesem Tag jedoch änderte sich meine Einstellung völlig: Ich lernte intensiver als alle anderen und erzielte bei allen Prüfungen durchweg Bestnoten. Niemand würde mir jemals wieder mein Zuhause wegnehmen. Diese Demütigung wollte ich nie wieder spüren. Ich nahm mir vor, allen Widrigkeiten zu trotzen und die Beste zu sein, die ich sein konnte. In allem.

Kapitel 1

Ich spüre, dass Margaret näherkommt, lange bevor ich sie sehen kann. Seit heute Morgen ist jede Faser von mir in höchster Alarmbereitschaft. Unbewusst setze ich mich in meinem Stuhl etwas aufrechter hin und richte meinen Blick fest auf die Vereinbarung, an der ich zu arbeiten versuche. Gerade jetzt muss ich wirken wie ein absolut engagierter Profi.

„Sie sind jetzt bereit für Sie, Thea“, sagt sie leise. „Kommen Sie bitte mit mir und nehmen Sie Ihre Sachen mit.“

Während wir durch den offenen Bereich gehen, in dem die Kollegen sitzen, die ihren Einstieg ins Berufsleben bei uns absolvieren, spüre ich, wie die Blicke der Junior Associates mich verfolgen.
Mein Herz klopft so heftig, dass ich das Gefühl habe, es könnte jeden Moment aus meinem Brustkorb springen. Meine Hände zittern vor Nervosität, ich habe alles gegeben. Wenn ich jetzt scheitere, muss ich ein ganzes Jahr auf die nächste Chance warten. Es steht also alles auf dem Spiel.
Auch wenn die Entscheidung offiziell erst am Ende des Tages bekanntgegeben wird, brodelt die Gerüchteküche im Büro längst. Bisher wurde angeblich nur eine der anderen Bewerberinnen zur Partnerin befördert. Alana, die weithin als eine der Favoritinnen galt, lief vorhin weinend durch die Lobby. Offenbar hat sie es nicht geschafft.

Morton Lansdowne ist eine der größten Kanzleien im Bereich Unternehmensrechts. Neben dem Londoner Hauptsitz, in dem ich arbeite, gibt es Büros in so ziemlich jeder relevanten Hauptstadt der Welt. Für die meisten Möchtegern-Wirtschaftsjuristen ist allein die Möglichkeit, hier eine Referendariats-Stelle zu ergattern, das Maß aller Dinge. Partner zu werden, selbst zunächst als Juniorpartner, ist wie ein Sechser im Lotto – nur ohne Glück, dafür mit sehr viel Arbeit.
Sagen wir es mal so: Man arbeitet nicht für ein Unternehmen wie Morton Lansdowne, wenn man seine Freizeit schätzt. Work-Life-Balance bedeutet hier: leben, um zu arbeiten. Je härter man arbeitet, desto weiter kommt man. Wer auf geregelte Arbeitszeiten, ungestörte Wochenenden und Urlaub besteht, ist hier fehl am Platz.

Ein weiteres jährlichen Highlight im Kanzleialltag, neben dem Tag der Ernennung neuer Partner und Partnerinnen, ist der Tag der Einführung der Referendarinnen und Referendare. Wie die meisten großen Kanzleien nehmen wir jedes Jahr eine bestimmte Anzahl von Absolventen für ihr Rechtsreferendariat auf. Sie verbringen zwei Jahre bei uns und wechseln zwischen den Abteilungen, um möglichst viel über die verschiedenen Aufgaben zu erfahren, die wir für unsere Mandanten übernehmen. Am Ende des Referendariats werden nur einige wenige ausgewählt, die als Anwälte bei uns bleiben. Der Rest wird, wie wir sagen, wieder ‚in die freie Wildbahn entlassen. Im Rahmen des Einführungstages sind wir, die derzeitigen Associates, angehalten, die neuen Referendare und Referendarinnen im Rahmen eines Arbeitsessens kennenzulernen. Danach wird wild darüber spekuliert, wer von ihnen es schaffen kann und wer keine Chance hat.

Es dauert ewig, bis der Aufzug kommt. Neben mir trommelt Margaret leicht auf ihren Oberschenkel. Als persönliche Assistentin von Martin Osborne, dem geschäftsführenden Partner des Londoner Büros, wird sie die Entscheidung über mein Schicksal bereits kennen. Ich versuche also, jede ihrer Gesten zu deuten. Es fällt mir schwer, nicht in jede noch so kleine Geste von ihr eine Bedeutung hineinzuinterpretieren. Während ich so unter Strom stehe, dass ich mich kaum bewegen kann, scheint sie völlig entspannt zu sein. Ist das ein gutes Zeichen? Oder bedeutet es, dass ich bereits abgeschrieben bin?

„Hören Sie auf, Thea“, murmelt sie diskret.

„Womit?“, flüstere ich zurück.

„Zu versuchen, die Entscheidung schon an mir abzulesen. Ich verrate nichts. Das ist nicht das erste Mal, dass ich die Kandidaten zu ihrem Termin begleite. Weiß ich, ob Sie Erfolg hatten oder nicht? Ja. Werde ich es zwischen hier und dem Sitzungssaal irgendwie verraten? Nein.“

„Ich bin Anwältin, Margaret. Wenn ich nicht versuchen würde, wäre ich schlecht in meinem Job.“

„Und ich bin Martins Assistentin, unter anderem wegen meiner absoluten Diskretion. Das ist mein Job. Ich kann Ihnen also versichern, dass Ihr mühevolles Vorhersehen-wollen ein sinnloses Unterfangen ist. Ah, da ist er ja endlich.“

Die Fahrstuhltüren öffnen sich. Ich bin überrascht, meinen Freund Alasdair unter den darin stehenden Kollegen zu sehen. Er und ich haben im selben Jahr hier angefangen und uns auf Anhieb gut verstanden. Er arbeitet jetzt im Immobilienbereich. Nicht mehr an Fusionen und Übernahmen, für die ich verantwortlich bin. Wir sehen uns also nur selten. Gespräche im Fahrstuhl sind strengstens untersagt, also sehe ich ihm in die Augen, hebe fragend die Augenbrauen und forme lautlos mit den Lippen: „Singapur?“ Er fährt sich dezent mit der Hand an den Hals: schiefgelaufen. Bei der Transaktion, an der er gearbeitet hat, ist offensichtlich etwas schiefgelaufen. Deshalb ist er wieder in London. Als der Aufzug in der sechsten Etage hält, wünscht Alasdair mir beim Aussteigen „Viel Glück“.
Im siebten Stock steigen die übrigen Kollegen aus, sodass nur Margaret und ich in den obersten Stock fahren.

Im achten Stock angekommen, in dem sich die Büros der Seniorpartner und der Sitzungssaal befinden, schlottern mir die Knie als das Pling im Aufzug erklingt und sich die Tür öffnet. Ich muss die Zähne zusammenbeißen, um das auffällige Aufeinanderklappern zu vermeiden. Margaret bemerkt meine zunehmende Unruhe, legt mir beruhigend die Hand auf den Arm.

„Kein Herzinfarkt, bitte“, sagt sie und lächelt. „Ich habe eine Erste-Hilfe-Ausbildung, aber heute wäre es mir zu viel, meine Fähigkeiten unter Beweis stellen zu müssen.“

Trotz ihres lockeren Tonfalls sind Geschichten über Nervenzusammenbrüche auf dem Weg zur Partnerentscheidung legendär. Über Mitarbeitende, die auf dem Weg in die Chefetage einen Nervenzusammenbruch erlitten haben oder einer hat sich vor zwei Jahren im Fahrstuhl übergeben. Kaum zu glauben, dass er immer noch in der Firma arbeitet, er hat sich jedoch nie wieder als Partner beworben und musste deswegen in ein anderes Büro wechseln. Eine besonders demütigende Geschichte, vor der sich jeder fürchtet, stammt jedoch aus dem Jahr nach meinem Eintritt in die Kanzlei. Ich würde sie nicht glauben können, wenn ich damals nicht Referendarin im Team des Senior Associate gewesen wäre. Das absolute Musterbeispiel dafür, wie ein Partner unserer Meinung nach sein sollte: Er war äußerst intelligent und ein echtes Energiebündel, dem nichts entging. Man munkelte, dass er irgendwo im Barbican eine Wohnung hatte, dem größten Kultur- und Konferenzzentrum Londons. Wir scherzten immer, dass er wahrscheinlich selber nicht mal genau wusste, wo sie lag, und dass er sie definitiv nie betreten hatte, weil er sich immer im Büro aufhielt.

Wie immer war es am Tag der Bekanntgabe der Partner Margarets Aufgabe, ihn abzuholen. Wir versuchten, uns auf unsere Arbeit zu konzentrieren, brachten aber kaum etwas zustande, während wir auf die Entscheidung darüber, ob er es geschafft hatte, warteten. Eine Stunde verging, und niemand von uns vermutete etwas Ungewöhnliches. Bei manchen Leuten gehen die Entscheidungsgespräche sehr schnell, weil sich die Seniorpartner alle einig sind. Bei anderen können sie sich sehr in die Länge ziehen und die Form eines Vorstellungsgesprächs annehmen – eine letzte Chance dafür, auch Skeptiker zu überzeugen und zu beweisen, dass man die Kriterien erfüllt. Nach zwei Stunden wurden wir unruhig. Beinahe drei Stunden vergingen, bis die Nachricht durchsickerte, dass unser Mann die Firma verlassen hatte und nicht wiederkommen würde. Am Ende des Tages hatte ein anderer Senior Associate seinen Platz an der Spitze unseres Teams eingenommen, aber was passiert war, erfuhren wir erst Wochen später. Wie bereits vermutet, hatte das Treffen die Form eines intensiven Vorstellungsgesprächs angenommen, und der Druck, der durch die vielen geleisteten Arbeitsstunden hinzukam, war für ihn zu viel gewesen. Er war im Sitzungssaal in Ohnmacht gefallen, und als wäre das nicht schon demütigend genug, hatte er sich offenbar auch noch in die Hose gemacht.

Mein Ansporn heute ist vor allem die Erinnerung an diese Katastrophe begründet. Während wir den Korridor entlanggehen, wende ich mich an Margaret.

„Habe ich noch Zeit für einen kurzen Abstecher zur Toilette?“

„Ja“, antwortet sie. „Aber beeilen Sie sich. Die Seniorpartner mögen es nicht, wenn man sie warten lässt.“

Die Toiletten befinden sich auf jeder Etage an derselben Stelle und ich kenne den Weg. Obwohl ich selten hier oben war, seit ich bei Morton Lansdowne arbeite, weiß ich, wo ich sie finde. Als ich mir die Hände wasche, sehe ich mich im Spiegel an.

„Komm schon, Thea. „Hau sie um.“

„Bereit?“, fragt Margaret, als ich wieder auftauche.

„Ja. Danke.“

Die Büros der Londoner Anwaltskanzleien lassen sich in zwei Lager aufteilen. Das erste besteht aus denjenigen, die es wahrscheinlich schon seit Anbeginn der Zeit gibt; sie sind auffallend düster gestaltet, mit viel poliertem Holz und Messingbeschlägen. Obwohl Morton Lansdowne eine alteingesessene Kanzlei mit einer langen Geschichte ist, fällt sie eindeutig in die zweite Kategorie und gehört zum modernen Typ: Unsere Büros sind hell und modern. Der Sitzungssaal, auf den wir jetzt zugehen, könnte direkt vom Set einer Fernsehserie wie Suits stammen. Die Glaswand ist mit einem sorgfältig aufgebrachten, durchscheinenden Muster versehen, in das in regelmäßigen Abständen die Buchstaben ML in verschnörkelter Schrift eingraviert sind. Sie erweckt den Anschein von Transparenz, ohne dass von außen wirklich etwas zu sehen ist. Im Gegensatz zu den unteren Stockwerken, die helle Türen und Schreibtische mit dunkelgrauen Teppichen haben, liegt in diesem Stockwerk ein hellgrauer Hochflorteppich aus und die dunklen mahagonifarbenen Türen reichen bis zur Decke, was zweifellos Klasse ausstrahlen soll.

Margaret klopft an, das Rasen meines Herzens hat sich ein wenig beruhigt. Jetzt schlägt es mir nur noch bis zum Hals. Für einen Moment befürchte ich, dass ich mich vor den Seniorpartnern übergeben muss und somit in die Ruhmeshalle meiner Vorgänger einziehe.

„Kommen Sie herein“, ruft eine tiefe Stimme, die nach Martin Osborne klingt.

„Thea Rogers ist hier“, sagt Margaret zu ihm, bevor sie zur Seite tritt, um mich durchzulassen. Sie schließt die Tür leise hinter mir.

„Thea, vielen Dank, dass Sie Zeit für das Gespräch eingeräumt haben“, sagt Martin herzlich, als ob ich ihm damit einen Gefallen tue. „Bitte, setzen Sie sich.“

Als der mächtigste Mann im Londoner Büro meinen Namen ausspricht, verspüre ich kurz den vertrauten Ärger. Ich mag meinen Namen nicht mehr. Er klingt weich und vergessen. Ein Name, der vielleicht zu einer Bibliothekarin passt, aber nicht zu einer Spitzenanwältin. Ich würde liebe den Namen einer Kriegerin tragen, Xena zum Beispiel. Eine meiner Klassenkameradinnen in der Oberstufe hieß Xanthe, und obwohl ich sie zusammen mit den anderen in der Klasse dafür gehänselt habe, beneidete ich sie insgeheim immer darum. Mit X als Anfangsbuchstaben fällt man auf. Thea Rogers ist das genaue Gegenteil; ohne einen einzigen harten Laut, der ihm etwas Biss verleiht, ist es ein Name, den man sofort vergisst.

Diese kurze gedankliche Ablenkung hilft, ich schaffe es ohne Zwischenfall vom Eingang zu dem von Martin zugewiesenen Sitzplatz. Obwohl ein paar Plätze leer sind, die meisten der Seniorpartner sind anwesend.

„Ich denke, Sie kennen jeden“, fährt Martin fort, „und wir kennen Sie offensichtlich ebenfalls, also schlage ich vor, dass wir die Vorstellung überspringen und gleich zur Sache kommen. Jeremy und Helen können heute nicht persönlich bei uns sein, aber sie haben sich über die Konferenzschaltung eingewählt.“ Er deutet auf einen Bildschirm an der Wand hinter sich, aus dem zwei Gesichter starren.

„Hallo, Thea“, sagen sie gemeinsam.

„Gut.“ Martin wendet sich an mich. „Haben Fragen, bevor wir beginnen?“

„Nein, danke.“

„Fantastisch.“ Er tippt auf eine Taste des vor ihm aufgeklappten Laptops. Mein Bild erscheint auf Wand, an die die Präsentation projiziert wird, darunter steht mein Name. „Thea, wie Sie wissen, bieten wir eine Partnerschaft bei Morton Lansdowne nur wirklich außergewöhnlichen Kandidaten an. Die Anforderungen sind hoch, der Ruf bedeutet in unserer Branche alles. Eine Verwässerung dessen durch Mittelmäßigkeit können wir nicht zulassen. Ich muss Sie sicher nicht mit den genauen Zahlen langweilen: Der Prozentsatz derer, die, wie Sie, als Referendare zu uns kommen und später Partner werden, ist verschwindend gering. Unabhängig vom Ergebnis sollten Sie daher sehr stolz darauf sein, dass Sie es bis zu diesem Gespräch geschafft haben. Eine große Leistung. Was auch immer passiert, ich möchte, dass Sie das wissen.“

Ich höre aufmerksam zu und versuche abzuschätzen, in welche Richtung das Ganze gehen wird. Klingt nicht gerade vielversprechend bislang. Meine Laune sinkt rapide.

„Schauen wir uns die Einzelheiten Ihrer Leistung an“, fährt er fort und tippt erneut auf die Tastatur, um ein Diagramm aufzurufen. „Seit Ihrer Beförderung zum Senior Associate haben Sie jedes Ihrer Quartalsziele stets übertroffen. Nicht schlecht. Wir setzen bewusst aggressive Ziele. Nicht nur zum Wohle des Unternehmens, sondern auch, um das Durchhaltevermögen zu testen, das wir in unseren zukünftigen Führungskräften suchen.“ Ein Kreisdiagramm erscheint. „Bei Ihren Kollegen und Teammitgliedern sind sie beliebt. Das hat zwar keinen Einfluss auf unsere Entscheidung, aber als wir uns im Team erkundigten, ob Sie die richtige Führungspersönlichkeit für ein Unternehmen wie unseres wären, war die Antwort durchweg positiv. Noch wichtiger ist, dass die Kunden Sie schätzen. Da wir das nicht in einem Diagramm darstellen können, habe ich dafür keine Abbildung. Man sieht Sie als jemand, die vertrauenswürdig ist, hart arbeitet und ein außergewöhnliches Auge für Details hat.“

Okay, das hört sich schon besser an. Die Flamme der Hoffnung lodert wieder auf.

„Aber“, fährt Martin fort, „auch wenn all diese Dinge lobenswerte Eigenschaften von Ihnen als Senior Associates sind, bedeutet das nicht automatisch Potenzial für eine Partnerschaft. Dafür braucht es mehr, ein Partner muss einen Zusatzwert für die Kanzlei bedeuten. Verstehen Sie das?“

Und weg ist die Hoffnung.

„Ja“, sage ich.

„Als Partnerin sind Sie das Gesicht der Kanzlei. Sie müssen Vertrauen aufbauen und Mandanten binden. Wir werden nicht zuletzt wegen der Partner beauftragt oder abgelehnt. Daher suchen wir jemanden, der sich den Respekt eines neuen Mandanten verdienen und auch ins Boot holen kann. Morton Lansdowne also zu seinem vertrauten Ratgeber für alle Aspekte des Wirtschaftsrechts macht. Als Seniorpartner müssen wir entscheiden, ob wir Ihnen diese Überzeugungskraft zutrauen. Dabei ist auch Ihr Alter zu berücksichtigen. Mit zweiunddreißig Jahren sind sie für einige Partner zu jung.“

Das war’s dann. Sie denken, ich sei zu jung. Alles umsonst. Ich konzentriere mich nur darauf, eine neutrale Miene zu bewahren. Das frustrierte Aufheulen muss warten, bis ich allein bin, damit niemand Zeuge meines schwachen Moments wird.

„Die Entscheidung, ob wir eine Partnerschaft anbieten oder nicht, ist eine Verantwortung, die wir sehr ernst nehmen“, sagt Martin.
Ich höre kaum noch zu.
„Dass wir es uns mit Ihrer Bewerbung nicht leicht gemacht haben, kann ich Ihnen versichern. Nach reiflicher Überlegung und Diskussion sind wir zu dem Schluss gekommen, dass Sie alle entscheidenden Qualitäten haben, deshalb möchten wir Ihnen die eine Juniorpartnerschaft bei Morton Lansdowne anbieten. Herzlichen Glückwunsch, Thea.“

Für einen Moment starre ich ihn entgeistert an. Habe ich das richtig verstanden? Der Beifall der anderen Seniorpartner bestätigt es.

„Nun“, sagt Martin, als der Beifall abgeklungen ist. „Sie kennen die Regeln. Wir erwarten, dass auch Sie das Büro sofort verlassen. Heute Abend eine formelle Bekanntgabe machen, und danach können Sie die Neuigkeiten natürlich gerne mit Freunden und Familie teilen. Sie haben das Wochenende frei. Um zu feiern, wie es Ihnen angemessen erscheint. Am Montagmorgen um sieben Uhr erwarten wir sie dann wieder im Büro. Haben Sie noch irgendwelche Fragen, bevor ich Margaret bitte, Sie hinauszubegleiten?“

„Nein. Danke. Ich werde Sie nicht enttäuschen, versprochen.“

Martin lächelt. „Wir setzen darauf, dass Sie Ihr Wort halten.“

Auf dem Weg ins Erdgeschoss mit Margaret, erlaube ich mir eine kleine, diskrete Siegesgeste. Nach all den Jahren, und vor allem nach den letzten vier Monaten ohne einen einzigen freien Tag. Thea Rogers, jüngste Partnerin bei Morton Lansdowne, im zarten Alter von zweiunddreißig Jahren. Ich habe ich es geschafft.

Kapitel 2

Auf dem Rückweg zu meinem Reihenhaus in Walthamstow mustere ich die anderen Leute in der U-Bahn. Halb erwarte ich, dass sie bemerken, dass mir gerade etwas Außergewöhnliches passiert ist, dass ich irgendwie anders bin. Mir gegenüber sitzt ein Mädchen mit großen Kopfhörern, die sie sich über die Ohren gezogen hat. Sie steckt die Nase in ein Buch mit Eselsohren, das sie wahrscheinlich in einem Secondhandladen gekauft hat, und ich ertappe mich dabei, dass ich mir wünsche, sie möge den Blick heben und mich erkennen, so als wäre ich eine Art Berühmtheit, weil ich jetzt Partnerin in einer großen Anwaltskanzlei bin.

Mir ist klar, dass das irrationaler Unsinn ist. Innerhalb der Mauern von Morton Lansdowne werde ich vielleicht für die nächste Woche oder so eine Berühmtheit sein, aber auch dort wird es nicht lange dauern, bis ich nur noch einer der Partner bin. Hier draußen gibt es für niemanden einen Grund, sich darum zu scheren, aber es fällt mir schwer, nicht trotzdem einen Hauch von Enttäuschung zu spüren. Ich brenne darauf, jemandem die Neuigkeiten mitzuteilen, aber einen Fremden anzusprechen und damit herauszuplatzen, kommt wahrscheinlich nicht gut an, vor allem in einer Stadt wie London. Außerdem ist da noch das Schweigeabkommen zu berücksichtigen. Ich schaue auf die Uhr: viereinhalb Stunden, bis ich es jemandem sagen darf.

Im Haus ist es still, als ich die Haustür hinter mir schließe und die Post vom Boden aufhebe, aber in meinem Kopf kann ich die Frage meiner vier Wände schon beinahe hören. Es ist Freitagmittag. Was machst du hier?

Obwohl ich kaum Zeit darin verbringe, bin ich unheimlich stolz auf mein Haus. Als ich als Referendarin bei Morton Lansdowne anfing, suchte ich bewusst nach der billigsten Unterkunft, die ich mir vorstellen konnte. Damals landete ich in einer WG in Peckham, in einem Zimmer, das so klein war, dass nicht einmal ein normales Einzelbett hineinpasste. Der geschäftstüchtige Vermieter, der offensichtlich jeden Tropfen Profit aus seiner Investition herauspressen wollte, hatte anstelle eines Bettes eine Sperrholzplatte zurechtgesägt, die von Stangen gestützt wurde, welche an der Wand befestigt waren. Die Schaumstoffmatratze hatte er an einer Seite gekürzt. Im Sommer war es kochend heiß, im Winter eiskalt, und dank des florierenden Geschäfts eines Typen im Stockwerk darüber roch es in der ganzen Wohnung ständig nach Gras. Aber all das war mir egal. Die Miete war billig, und ich konnte anfangen zu sparen.

Als ich Junior Associate wurde, war die Versuchung, an einen besseren Ort zu ziehen, fast unwiderstehlich, aber ich hielt an meinem Plan fest und sah zu, wie meine Ersparnisse fast exponentiell wuchsen. In meiner knapp bemessenen Freizeit recherchierte ich die Immobilienpreise in verschiedenen Teilen Londons, immer darauf bedacht, das beschissenste Haus in der schönsten Straße zu suchen, da dort das beste Wachstumspotenzial lag. Als ich dann genug Geld hatte, um eine annehmbare Anzahlung zu leisten und eine Hypothek aufzunehmen, wusste ich genau, wonach ich suchte und wo. Ich wusste auch, dass ich für mein Geld nicht das Beste bekommen würde, wenn ich auf Nummer sicher ginge und mich an einen Makler wandte. Zum Entsetzen meiner Mutter und meines Stiefvaters ersteigerte ich mein Drei-Zimmer-Reihenhaus in Walthamstow, ohne es vorher zu besichtigen. Es handelte sich um eine Nachlassversteigerung, in der es als modernisierungsbedürftig beschrieben wurde, was sich als Untertreibung erwies. Zu meinem Glück war zumindest die Bausubstanz in Ordnung in Ordnung, aber das war auch schon alles.

In den ersten drei Jahren lebte ich quasi auf einer Baustelle und je nachdem, wie ich es mir leisten konnte, renovierte ich Zimmer für Zimmer. Das Badezimmer kam zuerst dran. Ursprünglich befand es sich auf der Rückseite des Hauses, im Erdgeschoss. Und war mit schrecklich verfärbten, türkisfarbenen Sanitärobjekten ausgestattet, die mir eine Gänsehaut bereiteten. Mit Hilfe von Brian, einem ortsansässigen Bauunternehmer, der den Klischees trotzte, indem er erstaunlich vernünftige Preise verlangte und sich sogar während meiner häufigen Abwesenheit die Hände schmutzig machte, konnte das Bad bald in eines der Schlafzimmer im ersten Stock verlegt werden. Mit wunderschönen modernen Armaturen und einer Dusche ausgestattet, die einen solchen Druck hat, dass sie einem beinahe die Haut abzieht. Als das erledigt war, fand ich heraus, dass ich mit dem Rest des Hauses, der sich in verschiedenen Zuständen des Chaos befand, ganz gut leben konnte. Schließlich war es ja nur ein gelegentlicher Schlafplatz, und wenn ich nicht da war, hielt mich Brian per E-Mail über die Renovierungsarbeiten auf dem Laufenden.

Am fertigen Haus ist von der heruntergekommenen Immobilie, die ich einst gekauft hatte, kaum mehr etwas zu erkennen. Die Eingangstür führt nach wie vor in einen schmalen Flur, der mit original viktorianischen Fliesen ausgelegt ist, und auf der linken Seite ist eine Tür zu einem kleinen Raum, der mir als Arbeitszimmer dient. Es ist nützlich für die Arbeit, die ich am Wochenende erledige, wenn ich nicht im Büro sein muss. Doch damit enden die Ähnlichkeiten. Der eigentliche Zauber entsteht, wenn man durch die Tür am Ende des Flurs geht. Das mittlere Empfangszimmer, die ehemalige Küche und das Badezimmer wurden zu einem großen, offenen Wohnbereich zusammengelegt, der sich nun über den gesamten hinteren Teil des Hauses erstreckt.

Auf der einen Seite befindet sich eine Hightech-Küche, auf der anderen führt eine schwebende Treppe, die in der Ecke versteckt ist, nach oben. Dazwischen stehen zwei bequeme weiche Sofas für den Empfang von Gästen (nicht, dass ich jemals welche hätte), dazwischen ein niedriger Couchtisch. Die Rückwand wurde so weit wie möglich nach hinten versetzt, um einen Wintergarten unterzubringen, welcher nun als Essbereich dient. Durch Flügeltüren gelangt man zu dem, was vom Garten übrig geblieben ist: eine kleine Terrasse voller Blumenampeln, die von üppigen Blumenbeeten umgeben ist, für deren Pflege ich einer Gartenbaufirma viel Geld zahle.

In der Post findet sich nichts Interessantes. Ein paar Rechnungen, die ich ignorieren kann, weil sie per Lastschriftverfahren bezahlt werden, und die übliche Sammlung von Lieferservice-Menüs und anderem Unsinn. Ich stelle meine Laptoptasche im Arbeitszimmer ab und werfe die Post in den Mülleimer, dann ziehe ich im Flur die Schuhe aus und gehe in die Küche, um mir eine Tasse Tee zu machen. Dieser Plan scheitert schnell, denn ich stelle fest, dass die Schachtel mit den Teebeuteln leer und die Milch im Kühlschrank zu Quark geworden ist. Ich traue mich nicht, sie zu öffnen oder auf das Haltbarkeitsdatum zu sehen, und werfe sie in den Mülleimer. Mich überkommt eine vage Erinnerung, wann ich den letzten Teebeutel benutzt habe, und ich stelle mit Schrecken fest, dass zu der Zeit Schnee lag. Ich sehe nach links auf die Wand. Brian hatte vorgeschlagen, sie mit Tafelfarbe zu streichen, damit ich sie als Ausdruckswand nutzen kann, und tatsächlich steht dort das Wort Teebeutel auf der Wandtafel, hingekritzelt in meiner Handschrift.

Da ich ein freies Wochenende vor mir habe und noch nicht weiß, wie ich es ausfüllen soll, beschließe ich, dass ein Einkaufsbummel angebracht ist. Ich könnte zu mich bei Sainsbury’s gehen und mich mit ein paar lebenswichtigen Dingen und einer dieser Mini-Champagnerflaschen eindecken, damit ich das Glas erheben kann, wenn die Nachricht von meiner Beförderung auf der Website des Unternehmens veröffentlicht wird. Vielleicht besorge ich sogar eine große Flasche; da Alasdair im Lande ist, kommt er vielleicht und hilft mir beim Feiern.

Mit einem Lächeln im Gesicht schließe ich die Haustür hinter mir ab und mache mich auf den Weg. Wenn alles gut geht, sollte ich mit diesem Einkaufstrip ein paar Stunden totschlagen können, was mich fast bis zu dem magischen Moment um fünf Uhr brächte, an dem ich anfangen kann, Leute anzurufen, um ihnen meine Neuigkeiten mitzuteilen.

***

Als ich meine Tüte mit den Lebensmitteln auf der Arbeitsplatte in der Küche abstelle, fällt mein Blick automatisch auf die übergroße Uhr an der Wand. Halb zwei. Ich bezweifle sehr, dass es in der Main Street von Walthamstow ein Zeitportal gibt, was bedeutet, dass die Batterie leer sein muss. Ein Blick auf meine Smartwatch ist allerdings auch nicht viel ermutigender. Obwohl ich versucht habe, langsam zu gehen und im Supermarkt zu stöbern, hat mein Ausflug weniger als eine Stunde gedauert, und ich muss noch weitere dreieinhalb Stunden herumbringen. Ein kurzes Durchstöbern der Schubladen, nachdem ich die Einkäufe weggeräumt habe, bringt eine Packung Batterien zum Vorschein, die wahrscheinlich seit meinem Einzug dort liegt. Ich stecke also eine neue in die Uhr und stelle sie, während der Wasserkocher das Wasser für meinen zweiten Versuch, eine Tasse Tee zu trinken, aufheizt.

Was um alles in der Welt machen die Leute an einem Freitagnachmittag, frage ich mich, während ich an meinem Schreibtisch sitze, an meinem Tee nippe und aus dem Fenster starre. Die Parknischen vor meinem Haus sind leer, aber während ich hinaussehe, schert ein schwarzer Geländewagen ein und stößt dabei an den Bordstein. Der Fahrer macht keine Anstalten, den Wagen gerade auszurichten, sondern springt heraus, fast bevor er überhaupt angehalten hat. Es ist eine Frau, wahrscheinlich im gleichen Alter wie ich, bekleidet mit engen Leggings und einem Crop-Top.

„Beeil dich, Rollo“, höre ich sie drängen, während sie die Hintertür aufreißt. „Du hast kaum Zeit, dich umzuziehen, bevor deine Klavierstunde beginnt.“

Ich beobachte, wie ein Junge langsam vom Rücksitz klettert. Er kann nicht älter als sieben Jahre alt sein. Seine Schuluniform besteht aus schwarzen Lederschuhen mit grauen Socken, grauen Flanellhosen und einem grünen Blazer mit einem Logo darauf. Darunter trägt er ein weißes Hemd und eine grüne Krawatte. Man muss kein großer Detektiv sein, um herauszufinden, dass er so gekleidet nicht in die örtliche Grundschule geht. Die Frau zerrt ihn praktisch über den Bürgersteig, und weil ich mich unglaublich langweile, stoppe ich zur Belustigung die Zeit.

Sieben Minuten und dreiundvierzig Sekunden später tauchen die beiden wieder auf. Die Frau ist immer noch gleich gekleidet und sieht noch genervter aus, aber der Junge scheint nichts zu bemerken und schlurft hinter ihr her. Jetzt trägt er ein weißes T-Shirt, dunkelblaue Shorts und weiße Turnschuhe und hat ein Notenheft dabei. Sie packt ihn in den Geländewagen und manövriert mit einer Geschicklichkeit, die offensichtlich das Resultat von viel Übung ist, wieder aus der Parklücke und rast die Straße hinunter.

„Wenn es das ist, was die Leute am Freitagnachmittag machen, können sie es behalten“, murmele ich lächelnd vor mich hin.

***

Endlich ist es fünf. Mein Puls beschleunigt sich erneut, als ich die Website von Morton Lansdowne aufrufe und zur entsprechenden Seite navigiere. Während ich mein Bild und meinen Lebenslauf betrachte, die zwischen denen der anderen Partner eingefügt wurden, wallt Stolz in mir auf. Ich lasse die Seite eine Weile auf mich wirken und sinniere über meine Leistung, bevor ich meine Mutter und Phil anrufe. Sie hatten noch nie etwas mit meiner Arbeit zu tun, aber sicher werden sie verstehen, dass das eine große Sache ist.

„Thea!“ Phil ist am anderen Ende der Leitung. „Was für eine schöne Überraschung. Ist alles in Ordnung?“

„Ja, alles in Ordnung, Phil“, versichere ich ihm. „Ich rufe nur an, weil ich eine gute Nachricht habe.“

„Oh, dann warte mal. Ich hole besser deine Mutter an den Hörer. Sie wird mich sonst nur ausquetschen und sich dann aufregen, wenn ich mich nicht an alle Details erinnern kann.“ Es knackt, als er den Hörer auf die Seite legt, und dann höre ich ihn rufen: „Cath, Cath! Komm schnell. Thea ist am Telefon und sie sagt, sie hat Neuigkeiten.“

„Hallo, mein Schatz“, höre ich die Stimme meiner Mutter nach einer Weile. „Phil sagt, du hast Neuigkeiten. Geht es dir gut? Du steckst doch nicht in Schwierigkeiten, oder?“

Trotz ihrer Bemühungen war Zuspruch noch nie eine Stärke meiner Mutter. Wenn man ihren Erziehungsstil seit Vaters Weggang beschreiben wollte, wäre das höflichste Wort, soweit es mich betrifft, distanziert. Zugegebenermaßen hatte sie anfangs eine Menge zu bewältigen, und die Dinge verbesserten sich erst, als sie mit Phil zusammenkam. Da war ich dreizehn. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich ihr etwas zurückhaltender Erziehungsstil bereits verfestigt. Vermutlich spielte die Tatsache, dass ich sehr unabhängig war, auch eine Rolle, denn sie stand Saffy immer näher als mir.

„Ich bin nicht in Schwierigkeiten“, erkläre ich, nachdem Phil sich wieder in das Gespräch eingeschaltet hat. „Wie ich schon zu Phil gesagt habe, es sind gute Nachrichten. Ich wurde zur Partnerin ernannt, kannst du das glauben?“

Eine lange Pause entsteht. Zu lang.

„Das ist schön, Liebling“, sagt Mum schließlich. „Herzlichen Glückwunsch. Wir sind sehr stolz.“

„Ihr wisst nicht, was das ist, oder?“ Ich seufze.

„Nicht genau“, gibt sie zu. „Aber es ist offensichtlich wichtig für dich, also freuen wir uns sehr. Apropos gute Nachrichten, hat Phil dir von Saffys OFSTED-Bericht erzählt?“

Ich höre kaum zu, während sie fröhlich über meine Schwester plaudert, die in der Vorschule der Stadt arbeitet, in der wir aufgewachsen sind. Ich versuche, mich nicht darüber aufzuregen. Mum fällt es leichter, zu verstehen, was Saffy tut, aber es besteht kein Zweifel, dass meine Blase des Stolzes ein böses Leck bekommen hat. Es hätte sie doch bestimmt nicht umgebracht, ein bisschen enthusiastischer zu sein, oder?

Nach etwa zehn Minuten hört sie auf zu reden, und wir beenden das Gespräch mit dem üblichen Versprechen, bald wieder miteinander zu telefonieren. Es ist unwahrscheinlich, dass wir das tun; sie meldet sich nie bei mir, und ich rufe sie nur einmal im Monat oder so an. In der Hoffnung auf ein besseres Ergebnis schicke ich Alasdair eine Nachricht.

Vermutlich hast du die Neuigkeiten gehört. Ich habe Champagner im Kühlschrank, falls du Lust hast, mit mir zu feiern. T xx

Die Häkchen an der Nachricht werden sofort blau und ich kann sehen, dass er tippt.

Hört sich gut an. Leider bin ich gerade am Flughafen. Der Singapur-Deal geht weiter, welch Überraschung. Trotzdem Glückwunsch – du hast es absolut verdient. Vielleicht können wir eine verspätete Feier abhalten, wenn ich zurück bin? A xx

Und jetzt? Einen kurzen Moment lang überlege ich, ob ich Mum und Phil anrufen soll, um ihnen zu sagen, dass ich übers Wochenende nach Hause komme. Vielleicht können sie sich ein bisschen mehr freuen, wenn ich es ihnen richtig erklärt habe. Oh, wem mache ich was vor? Das wird ein Wochenende, an dem sie nur darüber reden, wie klug Saffy ist, während mein teurer Champagner in ihren Gläsern warm und schal wird. Seufzend werfe ich meinen Laptop an, logge mich ins Netzwerk ein und navigiere zu der Vereinbarung, an der ich am Morgen gearbeitet habe. Sobald ich sie anklicke, erhalte ich eine Meldung:

Dieses Dokument ist für die Bearbeitung durch Jessica Thorne gesperrt.

Wow! Offensichtlich haben sie nicht gezögert, meine Arbeit neu zuzuweisen. Das wird ein sehr langes Wochenende werden.

Kapitel 3

Endlich Montag. Mir kam es so vor, als würde das Wochenende nie enden. Ich gestehe, dass ich einen großen Teil davon in meinem Arbeitszimmer verbracht habe, um das Kommen und Gehen von Rollo und der Frau mit dem SUV zu beobachten. Ich habe versucht, herauszufinden, ob sie seine Mutter oder ein Kindermädchen ist. Körperlich sehen sie einander nicht ähnlich; sie ist blond und hat ein schmales, leicht verkniffenes Gesicht, er ist dunkelhaarig und hat rundere Züge. Die könnte er aber vermutlich auch von seinem Vater haben. Am Samstagabend bin ich zu dem Schluss gekommen, dass sie wahrscheinlich die Mutter des unglücklich benannten Rollo ist, allein schon wegen der Art, wie sie mit ihm spricht. Wenn ich jemals ein Kind bekäme, was höchst unwahrscheinlich ist, und ein Kindermädchen spräche so mit ihm, dann hätten wir ein Problem.

Zu Hause zu sein und nichts zu tun zu haben, war offensichtlich nicht gut für mich, denn ich wurde ein wenig besessen und versuchte, mir vorzustellen, wie ihr Leben aussieht. Der arme Rollo wird, soweit ich das feststellen konnte, intensiv unterrichtet, mit dem Ziel, seine geistige Entwicklung so weit wie möglich voranzutreiben. Das ganze Wochenende ist sie mit ihm ein- und ausgegangen, und wenn ich mir das Zubehör für jeden Ausflug ansehe, scheint keiner davon zum Vergnügen gewesen zu sein. Am Samstagmorgen hatte er Schwimmunterricht, gefolgt von einer Art Kampfsport. Danach kamen sie zum Mittagessen nach Hause, bevor er mit einem Stapel Bücher wieder in den Geländewagen verfrachtet wurde, vermutlich für den Nachhilfeunterricht. Der Sonntag schien auch nicht erholsamer zu sein, denn sie waren schon früh auf den Beinen und gingen zum Fußball. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, während er widerwillig in seinem Trikot ins Auto kletterte, ist Fußball wirklich nicht sein Ding. Am Sonntagnachmittag haben sie, wie ich glaube, einen gesellschaftlichen Besuch abgestattet, denn sie tauschte endlich die Sportklamotten gegen ein Sommerkleid. Rollo jedoch sah davon nicht begeisterter aus, als von seinen anderen Aktivitäten.

Sarah (mein erfundener Name für sie) und Rollo zu beobachten, brachte mich dazu, noch einmal zu überdenken, ob ich die Gelegenheit eines seltenen freien Wochenendes nicht doch hätte nutzen sollen, um meine Familie zu besuchen. Auch wenn ich glaube, dass ich zu Recht sauer auf Mums verhaltenen Enthusiasmus bin, hatte ich Zeit, darüber nachzudenken, und ich habe begriffen, dass es nicht nur ihre Schuld ist. Sie sieht Saffy mehrmals in der Woche und half sogar bei der Kinderbetreuung, als Saffys Sohn Louis noch ein Baby war. Sie kümmerte sich um ihn, während Saffy arbeitete, bis er alt genug war, um in die Vorschule zu gehen. Das letzte Mal habe ich sie an Weihnachten gesehen, ein kurzer Besuch von ein paar Stunden vor fast sechs Monaten. Ich kann mich noch gut an Saffys verwirrtes Gesicht erinnern, als Louis den Chemiebaukasten auspackte, von dem ich dachte, dass er sowohl Spaß machen als auch lehrreich sein würde. Allerdings hatte ich nicht bemerkt, dass er für Kinder unter zehn Jahren ungeeignet war. „Ich lege ihn erst einmal beiseite“, hatte sie freundlich gesagt, während meine Wangen vor Verlegenheit brannten. „Er wird den Baukasten lieben, wenn er alt genug ist, um die Dinge zu verstehen.“

Ist es da verwunderlich, dass es Mum und Phil leichter fällt, mit Saffy Kontakt aufzunehmen als mit mir? Vielleicht, so sagte mir meine kritische innere Stimme, würden sie sich mehr für mich interessieren, wenn ich mir mehr Zeit genommen hätte, mich mit ihnen zu beschäftigen und ihnen mein Leben zu erklären. Ich war kurz davor, sie am Sonntagnachmittag noch einmal anzurufen, nahm sogar ein paar Mal den Hörer ab und rief ihre Nummer auf, bevor mir klar wurde, dass das wahrscheinlich kontraproduktiv wäre. Bis zu einem gewissen Grad sind wir alle Gewohnheitstiere, und wenn ich meine monatlichen Telefonate mit zwei Anrufen an einem Wochenende unterbräche, wären sie wahrscheinlich besorgt und würden vermuten, dass ich eine Art heimlichen Zusammenbruch erlebe. Also habe ich es gelassen, und jetzt ist die Gelegenheit verstrichen.

Ich selbst bin ein Gewohnheitstier, und wenn ich nicht gerade auf Reisen bin, folgt mein Tagesablauf einem festen Muster. Kurz vor fünf Uhr stehe ich auf, ziehe mir die am Vorabend bereitgelegten Klamotten an und verlasse gut zehn Minuten später das Haus, wobei ich meinen präzise gepackten Handgepäckkoffer mitschleppe, wenn ich verreise. Im Winter, wenn es kalt und dunkel ist, macht das nicht viel Spaß, aber im Sommer finde ich die frühen Morgenstunden magisch. Die Straßen sind ruhig und die U-Bahn auf meiner halbstündigen Fahrt nach Farringdon, der nächstgelegenen Station zum Büro, ist bis auf ein paar andere Frühaufsteher leer. Wenn ich kurz vor sechs Uhr im Büro ankomme, begrüße ich den Nachtwächter und mache mich auf den Weg in den Fitnessraum im Untergeschoss, wo ich mein Training absolviere. Nachdem ich geduscht und mein Haar geföhnt habe, bin ich normalerweise um sieben Uhr an meinem Schreibtisch. In der Anfangsphase eines Geschäfts bleibe ich in der Regel bis acht Uhr abends, aber es kann auch zehn Uhr oder Mitternacht werden, bis ich die Kanzlei verlasse. Manchmal, wenn ein Geschäft kurz vor dem Abschluss steht, verlasse ich sie überhaupt nicht. Wie schon gesagt: Man ergreift diesen Beruf nicht, wenn man Wert auf persönliche Freizeit legt. Ich jedoch liebe es, ständig Probleme zu lösen und innovative Wege zu finden, Hindernisse zu umgehen und Ergebnisse für unsere Mandanten zu erzielen. Der Adrenalinstoß, wenn man unter starkem Druck steht und einen Weg findet, eine scheinbar unüberwindbare Barriere zu durchbrechen, ist besser als der Rausch jeder Droge, denke ich.

Unter der üblichen Flut von E-Mails, die ich am Wochenende bearbeitet habe, befand sich die Information über meinen neuen Auftrag und die dafür notwendige dreiwöchige Reise nach New York. Außerdem gratulierte mir unsere Personalabteilung zu meiner neuen Aufgabe und lud mich zu einem Meeting mit einer gewissen Janice um sieben Uhr in einem der Besprechungsräume im siebten Stock ein, bevor ich mich auf den Weg zum Flughafen mache. Meine Haare sind noch etwas feucht von der Dusche, als ich den Meetingraum betrete. Sie erwartet mich bereits. Sie gehört zu den Menschen, die mir vage bekannt vorkommen; wahrscheinlich habe ich sie schon einmal gesehen, aber ich hatte noch nie Gelegenheit, mit ihr zu sprechen. Ich schätze sie auf Anfang vierzig, und ihr schön geschnittener Hosenanzug umschmeichelt ihre üppige Figur.

„Tut mir leid, dass ich zu spät bin“, sage ich und schaue auf meine Uhr.

„Oh, das sind Sie nicht“, versichert sie mir in einem sachlichen Ton. „Machen Sie sich keine Sorgen. Ich musste für einen der anderen Juniorpartner ein Problem lösen, deshalb bin ich etwas früher gekommen. Ich bin übrigens Janice, Ihre persönliche Assistentin.“

„Oh!“ Ich bin mir nicht sicher, was ich sonst sagen soll. Ich weiß, dass die Partner persönliche Assistenten haben, aber das ist ein Teil der Position, mit der ich mich nie wirklich beschäftigt habe, und wenn ich ehrlich bin, weiß ich nicht, was persönliche Assistenten tun.

„Es ist schon komisch“, bemerkt sie. „Jeder neue Partner reagiert auf die gleiche Weise. Man konzentriert sich so sehr auf das Bewerbungsverfahren und darauf, ob man es schaffen wird, dass man gar nicht daran denkt, was danach passiert. Ich vergleiche es mit dem Heiraten.“

Ich bin neugierig. „Was meinen Sie?“

„Bewerber um die Partnerschaft sind wie zukünftige Bräute. Sie setzen ihre ganze Energie dafür ein, den perfekten Hochzeitstag zu planen und dafür zu sorgen, dass absolut nichts schiefgehen kann, denn das kleinste Missgeschick würde alles zunichtemachen. Das sind Sie während des Bewerbungsverfahrens, falls Sie es noch nicht erraten haben. Dann findet das Vorstellungsgespräch statt, bei dem nichts schiefgeht, und sie gleiten auf einer Welle der Euphorie durch das Gespräch. Dann fahren sie in die Flitterwochen. Man muss lernen, verheiratet zu sein, aber niemand scheint jemals an diesen Teil zu denken. Wie war eigentlich Ihr freies Wochenende?“

„Die Wahrheit? Ich habe mich noch nie so gelangweilt.“

Sie lacht. „Ich glaube, das machen sie absichtlich. Sie langweilen einen zu Tode, damit Sie es kaum erwarten können, wieder am Arbeitsplatz zu sein. Wie auch immer, die Hochzeit ist vorbei und ich bin Ihr neuer Ehemann. Freut mich, Sie kennenzulernen.“ Sie hält mir ihre Hand hin, damit ich sie schütteln kann.

„Mal sehen, ob ich erraten kann, was Sie jetzt denken“, fährt sie fort, als wir am Tisch Platz nehmen und sie die Mappe öffnet, die vor ihr liegt. „Sie fragen sich, was ich mache und ob Sie mich brauchen. Schließlich haben Sie noch nie eine Assistentin gebraucht.“

Ich lächle. „Schuldig im Sinne der Anklage.“

„Okay, fangen wir mit den Grundlagen an. Dies ist eine polygame Ehe. In der realen Welt ist das illegal, aber hier ist es eben so. Was ich damit sagen will, ist, dass ich nicht ausschließlich für Sie arbeite. Ich habe noch vier weitere Juniorpartner, um die ich mich kümmere, also denken Sie bitte nicht, dass ich jede wache Stunde damit verbringe, nach Möglichkeiten zu suchen, Sie glücklich zu machen. Wenn diese Ehe gedeihen soll, muss man geben und nehmen. Es mag unhöflich klingen, aber ich vergleiche Juniorpartner oft mit Welpen. Sie brauchen eine feste Hand und ein bisschen Training, bis wir unseren Rhythmus finden. Seien Sie also bitte nicht beleidigt, wenn ich ein paar Mal Nein zu Ihnen sagen muss, während wir uns kennenlernen. Sie haben viel zu tun, ich habe viel zu tun, und wenn wir keine klaren Grenzen ziehen, werden wir schnell im Chaos enden. Ergibt das Sinn?“

Ihre direkte Art hat etwas, das mir gefällt, und ich beginne zu ahnen, dass Janice und ich uns gut verstehen werden. „Ja, perfekt“, antworte ich.

„Gut. Kommen wir nun zu dem, was ich tue und was ich nicht tue. Regel Nummer eins: Ich mache keine juristischen Sachen. Ich kenne mich zwar ein wenig damit aus, denn man kann nicht an einem Ort wie diesem arbeiten, ohne dass etwas davon auf einen abfärbt, aber ich habe keine juristische Ausbildung und es ist nicht meine Aufgabe. Wenn Sie wollen, dass Dokumente gefunden oder Sachen kopiert werden, dann sind dafür die Praktikanten und Mitarbeiter zuständig. Meine Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass alles andere reibungslos abläuft, damit Sie hundert Prozent geistige Kapazität für Ihre Arbeit haben. Ich habe so ziemlich jeden Tag rund um die Uhr Bereitschaft, außer an den Weihnachtstagen. Wenn Ihre Katze in einem Baum festhängt, während Sie in Kuala Lumpur sind, rufen Sie mich an und ich kümmere mich darum. Haben Sie eine Katze?“

„Nein.“ Ich lächle wieder. „Aber was wäre, wenn ich eine Katze hätte und sie am ersten Weihnachtsfeiertag im Baum stecken bliebe?“

Ich freue mich zu sehen, dass sich ihre Mundwinkel nach oben ziehen. „Dann retten Sie sie entweder selbst oder sie muss warten. Katzen sind unverwüstliche Geschöpfe. Ein Tag in einem Baum wird sie nicht umbringen, und sie hat die Gelegenheit, eine wertvolle Lektion fürs Leben zu lernen. Leben Sie allein?“

„Ja, ich lebe allein.“

„Ich hätte gerne einen Schlüssel zu Ihrem Haus.“

„Warum?“

„Sie sind in New York und fragen sich plötzlich, ob Sie den Ofen angelassen haben.“

Ich lache. „Unwahrscheinlich. Um ehrlich zu sein, bin ich mir nicht einmal sicher, ob ich den Ofen in meinem Haus jemals benutzt habe. Bei den seltenen Gelegenheiten, bei denen ich zu Hause bin, bestelle ich mir lieber etwas.“

„Gut. Ihre Zentralheizung verweigert den Dienst. Ich organisiere den Klempner und lasse ihn rein.“

„Das macht Sinn. Ich habe aber keinen Ersatz dabei.“

„Kein Problem. Geben Sie mir den, den Sie haben, ich lasse einen Zweitschlüssel anfertigen und bringe Ihnen das Original zurück, bevor Sie zum Flughafen fahren. Sie sind für den British Airways-Flug um 11.45 Uhr ab Heathrow gebucht, also habe ich einen Wagen bestellt, der Sie um 8.45 Uhr abholt. Genug Zeit, um einen Schlüssel nachmachen zu lassen.“

„Acht Uhr fünfundvierzig scheint ziemlich knapp zu sein“, bemerke ich, während ich meinen Haustürschlüssel vom Schlüsselbund abziehe und ihn ihr gebe. „Ich möchte nicht im Verkehr stecken bleiben und den Flug verpassen.“

„Das werden Sie nicht. Ich habe sogar extra Zeit eingeplant, da ich Sie noch nicht kenne. Ihre Bordkarte ist ausgedruckt und ich gehe davon aus, dass Sie kein Gepäck aufgeben, sodass Sie über eine Stunde vor Abflug durch die Sicherheitskontrolle kommen sollten. Selbst wenn Sie aufgegebenes Gepäck hätten, habe ich genügend Zeit für den Check-in in der Business Class eingeplant. Wenn Sie Glück haben, bleibt Ihnen sogar noch Zeit für eine schnelle Tasse Kaffee in der Lounge. Füllen Sie jetzt bitte diese Formulare aus.“ Sie reicht mir ein paar Blätter Papier, die ich schnell überfliege.

„Janice, warum müssen Sie wissen, welche BH-Größe ich habe und wo ich meine Unterwäsche kaufe?“

„Katastrophenschutz“, sagt sie schlicht. „Sie sind mitten in den Verhandlungen in Singapur und Ihr Hotel brennt ab. Bis Sie Ihre Arbeit beendet haben, habe ich Ihnen ein neues Hotelzimmer besorgt und all Ihre Kleider ersetzt.“

„Reicht es nicht aus, die richtige Größe zu kennen?“, frage ich noch einmal, während ich beginne, den Fragebogen auszufüllen.

„Nope. Wie Sie sicher wissen, ist eine Größe zehn in einem Geschäft nicht dasselbe, wie eine Größe zehn in einem anderen. Sie haben Größe zehn, nehme ich an?“

„Gibt es irgendetwas, das Sie nicht wissen?“

„Wenn Sie das alles ausgefüllt haben, hoffe ich, dass es so ist. Kaufen Sie Ihre Anzüge von der Stange oder haben Sie einen Schneider?“

„Von der Stange.“

„Das dachte ich mir schon. Ich werde Ihnen einen Termin bei meiner Schneiderin verschaffen. Sie werden es mir danken.“

„Das ist ein schöner Gedanke, Janice, aber ich glaube kaum, dass ich Zeit haben werde –“

„Sie kommt ins Büro. Ich buche sie für Sie. Machen Sie sich keine Sorgen wegen der Kosten; sie ist erstaunlich günstig und Ihr Bekleidungszuschuss deckt das alles ziemlich gut ab.“

Nachdem ich die forensisch anmutenden Formulare ausgefüllt habe, die sogar die Frage beinhalten, welche Art von Tampon ich bevorzuge, gebe ich sie ihr zurück. Sie wirft einen Blick darauf und erklärt sich damit zufrieden.

„Eine letzte Sache“, sagt sie und schiebt mir eine Karte über den Tisch. „Das ist Ihre Schlüsselkarte für den Zugang zur Tiefgarage. Wir haben keine zugewiesenen Stellplätze, also parken Sie einfach dort, wo ein Platz frei ist.“

„Die brauche ich nicht“, sage ich und schiebe sie zurück. „Ich habe kein Auto.“

„Sie haben doch einen Führerschein, oder?“

„Ja, aber da ich in London lebe, habe ich noch nie das Bedürfnis nach einem Auto verspürt.“

„Anfängerfehler.“ Sie seufzt. „Man sollte immer einen Plan B haben. Die Vertreter des Petrochemie-Unternehmens, die aus Doha eingeflogen sind, um sich mit Ihnen zu treffen, werden kaum beeindruckt sein, wenn Sie zu spät kommen, weil die Bahn streikt.“

Das geht einen Schritt zu weit. „Janice“, beginne ich. „Ich habe weder die Zeit noch die geistige Kapazität, mir ein Auto zu kaufen. Selbst wenn ich eines hätte, wüsste ich nicht, wie ich einen Parkausweis oder andere Dinge, die dafür nötig wären, besorgen sollte, und ich bezweifle, dass Ihre Freunde von der Petrochemie-Firma glücklich darüber wären, wenn ich zu spät komme, weil ich mich nach einer Versicherung oder Ähnlichem umgesehen habe.“

„Natürlich nicht!“, ruft sie aus, als wäre ich ein besonders dummes Kleinkind. „Dafür bin ich ja da. Ich nehme an, Sie sind damit einverstanden, dass ich ein paar passende Vorschläge mache? Welche Farbe mögen Sie – Schwarz, Dunkelblau oder Silber?“

„Sind das die einzigen Optionen?“

„Sie könnten auch Grau nehmen. Die Geschäftsleitung lehnt alles ab, was sie als Partyfarben bezeichnet.“

„Hm. Dunkelblau, denke ich.“

„Überlassen Sie das mir. Gibt es noch etwas, bevor ich gehe?“

„Nein.“ Kleinlaut füge ich hinzu: „Danke, Janice.“ Ich habe beschlossen, dass ich sie mag, aber dieses Treffen hat sich ein bisschen so angefühlt, als wäre ich von einem der Züge überrollt worden, mit denen ich nicht länger fahren soll.

Kapitel 4

Als New York hinter mir in der Dunkelheit verschwindet und das Kabinenpersonal anfängt, unsere Getränke vor dem Abendessen zu verteilen, strecke ich meine Beine aus und gönne mir einen Seufzer der Zufriedenheit. Es liegt noch ein langer Weg vor uns, aber die ersten Verhandlungen waren vielversprechend, und ich bin zufrieden damit, wie ich mich geschlagen habe. Das Geschäft selbst ist für Morton Lansdowne eher ein kleineres; als Senior Associate habe ich an viel größeren Geschäften mitgearbeitet, aber der Unterschied ist, dass ich diesmal die Verhandlungen im Namen unseres Mandanten führe, anstatt, wie in der Vergangenheit, nur zu unterstützen. In diesem Fall ist der Kunde ein kleiner, aber bekannter britischer Verlag, der von einem führenden und viel größeren US-Verlag mit einem Übernahmeangebot bedacht wurde. Unsere ersten Gespräche konzentrierten sich auf die Analyse der Finanzlage beider Unternehmen, ihrer Aktiva und Passiva, und bisher haben wir noch keine Ungereimtheiten feststellen können. Ich werde eine Woche lang in London sein, bevor wir wieder zusammenkommen, um uns mit dem möglichen Zeitplan für die Fusion zu befassen.

Obwohl ich Janice für keines der von ihr skizzierten Katastrophenszenarien in Anspruch nehmen musste, sind während meiner Reise verschiedene Formulare in meinem Posteingang aufgetaucht. Mein anfängliches Entsetzen darüber, dass die Finanzierungsformulare, die sie mir für das Auto schickte, mit dem Porsche-Logo bedruckt waren, wurde in typischer Janice-Manier abgetan.

Ein Porsche gehört für eine unverheiratete Partnerin sozusagen zur Standardausstattung, und ich musste einige ziemlich große Hebel in Bewegung setzen, um die Warteliste zu umgehen. Machen Sie sich keine Sorgen wegen der Kosten; Ihr Autokostenzuschuss deckt den größten Teil des Kaufpreises, sodass das Auto Sie nicht viel mehr kosten wird, als wenn Sie als Angestellte etwas Alltägliches fahren würden.

Wie von Zauberhand tauchten auch ausgefüllte Formulare für die Versicherung und ein Antrag auf eine Parkerlaubnis der Stadtverwaltung von Walthamstow auf. Als ich sie fragte, woher sie wisse, an welche Behörde sie sich wenden müsse, antwortete sie knapp:

Ich weiß, wo Sie wohnen. Das ist nicht gerade eine Wissenschaft. Sie können mir später danken.

Alle noch bestehenden Zweifel an der Unantastbarkeit meines Privatlebens wurden durch das Eintreffen zweier weiterer Formulare zunichte gemacht. Das erste verlangte Angaben zu allen unmittelbaren Familienmitgliedern, deren Adressen und Geburtsdaten. Auf meine unvermeidliche Frage, warum sie diese Informationen benötige, erhielt ich eine einzeilige Antwort.

Wann haben Sie das letzte Mal daran gedacht, jemandem in Ihrer Familie eine Geburtstagskarte zu schicken?

Normalerweise schreibe ich ihnen an dem Tag eine Nachricht, wenn ich mich daran erinnere.

Ich denke, das können wir besser machen. Ich schicke Ihnen ein paar Karten zum Unterschreiben, und ich sorge dafür, dass sie zum richtigen Zeitpunkt verschickt werden.

Es wurde noch schlimmer, als ich zugeben musste, dass ich nicht nur den Geburtstag meines Neffen nicht kannte, sondern mir auch nicht ganz sicher war, wie alt er war. Als ich am nächsten Tag ihre Antwort las, musste ich lachen.

Louis wird am 15. September sechs Jahre alt. Ich werde ihm eine Karte schicken, soll ich?

Wie haben Sie das nur herausgefunden?

Aus dem Geburts-, Heirats- und Sterberegister. Auch das ist keine große Kunst.

Das letzte Formular betraf meinen Beziehungsstatus und war als optional gekennzeichnet. Obwohl ich es durchgelesen habe, habe ich es nicht ausgefüllt, weil ich nicht ganz sicher bin, was ich sagen soll. In ihrer Begleit-E-Mail erklärte Janice, dass ich ihr keine Einzelheiten mitteilen müsse, dass es aber hilfreich wäre, zu wissen, ob ich einen Lebensgefährten oder eine Lebensgefährtin habe. Falls diese zu bedürftig und fordernd würden, könnte sie eingreifen und sie wieder auf Linie bringen. Die Vorstellung, dass Janice sich in eine Beziehung einmischt, ist selbst für mich zu schrecklich, um darüber nachzudenken.

Während ich an meinem Champagner nippe und beginne, das neueste Paket von Dokumenten durchzulesen, das die Mitarbeiter vorbereitet haben, denke ich an mein erstes Treffen mit Janice und meine Zweifel, ob ich überhaupt eine persönliche Assistentin brauche. Nach nur drei Wochen im Job frage ich mich, abgesehen von dem Beziehungsfragebogen, wie ich jemals ohne sie ausgekommen bin.

***

Obwohl mein Flug an einem Samstagmorgen landet, habe ich eine Nachbesprechung mit einem der Seniorpartner, gefolgt von einer Besprechung über die nächsten Schritte mit den Associates, die an der Fusion arbeiten, also bringt mich das Taxi direkt ins Büro, welches, wie immer, voller Leben ist. Auf dem Weg dorthin erhalte ich eine Nachricht von Janice.

Es tut mir leid, dass ich heute nicht im Büro sein kann, aber ich habe ein Päckchen mit Dokumenten, Ihren Autoschlüsseln und Geburtstags-/Weihnachtskarten für Ihre Familie am Empfang abgegeben. Der Termin für die Schneiderin ist für Dienstag um 15 Uhr angesetzt. Ich habe ihn in Ihren Kalender als Abstrich-Termin beim Frauenarzt eingetragen, um alle, die diesen Termin buchen wollen, abzuschrecken. Wenn es Probleme gibt, lassen Sie es mich wissen, ansonsten sehen wir uns am Montag. J.

Ich lächle, als ich das lese. Obwohl ich mich nicht ganz wohl dabei fühle, Gynäkologie als Deckmantel zu verwenden, kann ich die Weisheit hinter Janice’ Logik erkennen. Hätte sie etwas so Banales wie einen Termin bei einem Schneider in meinen Kalender geschrieben, wäre er fast sofort gestrichen worden. Morton Lansdowne macht jedoch großes Theater um seine Gleichstellungspolitik, also wird es niemand wagen, einen medizinischen Termin zu stören, vor allem keinen, der mit der weiblichen Biologie zu tun hat. Bleibt nur zu hoffen, dass niemand die Häufigkeit meiner Abstrich-Termine verfolgt, denn sonst könnten die Alarmglocken läuten, wenn sie glauben, dass ich sie öfter mache, als ich sollte. Um ehrlich zu sein, bin ich nicht davon überzeugt, maßgeschneiderte Anzüge zu brauchen, aber es ist Janice wichtig. Ich glaube aber, dass es eine kleine Anerkennung für die Arbeit ist, die sie für mich leistet, also lasse ich die Schneiderin Maß nehmen. Wenn ich einen Anzug kaufe, hat Janice hoffentlich das Gefühl, dass ich ihren Rat annehme, und ich habe einen Pluspunkt bei ihr gesammelt.

Meine Nachbesprechung mit John Curbishley, einem der Seniorpartner, ist für 11.00 Uhr angesetzt. Dass man mir John zugeteilt hat, ist der einzige Teil meiner Partnerschaft, der sich bisher als schwierig erwiesen hat. Obwohl er enorm erfahren ist und ich ihn respektiere, machen seine übermäßig schroffe Art und seine Tendenz, einen bei der kleinsten Kleinigkeit in Stücke zu reißen, die Zusammenarbeit schwierig, um es taktvoll auszudrücken. Treffen mit ihm sind eher etwas, das man erträgt, als dass man sich darauf freut. Es ist nicht üblich, zu spät zu einem Treffen mit einem Seniorpartner zu kommen, aber zu früh zu sein, ist auch verpönt, da dies auf ein schlechtes Zeitmanagement hindeutet. Also stelle ich sicher, dass ich genau fünf Minuten zu früh vor seinem Büro im achten Stock erscheine. Die Höflichkeit wird natürlich nur selten erwidert, und es ist schon fast viertel nach elf, als sich die Tür öffnet und Andrew, ein weiterer neu ernannter Partner, mit genervtem Blick erscheint.

„Er ist heute Morgen definitiv mit dem falschen Fuß aufgestanden“, murmelt er mir zu, nachdem er sich vergewissert hat, dass die Tür fest verschlossen ist. „Es gab nur eine einzige Klausel im Vertragsentwurf, die ihm nicht gefiel, aber er hat mir trotzdem die Hölle heiß gemacht.“

Bevor ich antworten kann, geht die Tür wieder auf.

„Kommen Sie rein, Thea“, sagt John knapp. Er entschuldigt sich nicht dafür, dass er mich hat warten lassen, aber das hatte ich auch nicht erwartet. Er ist dafür bekannt, dass er sich einen Dreck um den Kalender anderer Leute schert, oder um irgendetwas anderes. Man munkelt, dass ein Juniorpartner einmal darum gebeten hat, eine Besprechung zu verschieben, damit er seine Mutter an ihrem Sterbebett besuchen könne. Seine Antwort soll so ätzend gewesen sein, dass der Juniorpartner seine Mutter nicht mehr sehen konnte, bevor sie starb. Sein scharfes Urteil bezüglich des Engagements des besagten Juniorpartners für die Kanzlei soll diesen dann sogar dazu gebracht haben, in Tränen auszubrechen. Er ist ein Haudegen der alten Schule, und als ich ihm in sein Büro folge, bin ich misstrauisch.

„Nehmen Sie Platz“, sagt er zu mir und schließt die Tür. Seine wässrigen blauen Augen hinter der Drahtbrille blicken ausdruckslos, während er seine Anzugsjacke aufknöpft und sich mit seiner kräftigen Statur in einen Stuhl auf der anderen Seite des kleinen Konferenztisches sinken lässt.

„Also“, sagt er und richtet seinen Blick unverwandt auf mich. „Was, zum Teufel, hat ein Unternehmen von der Größe von Bookisti mit einem kleinen Verlag wie MacOsterley zu schaffen? Die haben doch sicher Wichtigeres zu tun?“ Das ist ein klassischer Einstieg; er will sehen, ob ich den geschäftlichen Zusammenhang verstehe.

„Oberflächlich betrachtet scheint das der Fall zu sein“, sage ich sanft. „Aber MacOsterley ist ein Vorreiter. Ihr Geschäftsmodell unterscheidet sich grundlegend von dem der meisten Verlage, und Bookisti möchte auf dem Kamm dieser Welle surfen, falls sich herausstellt, dass MacOsterley mit dieser Strategie richtigliegt.“

„Die Konkurrenz aufkaufen, bevor sie zu einer Bedrohung wird“, sinniert er.

„Genau.“

„Und was hat MacOsterley davon? Plant Bookisti tatsächlich, in das Unternehmen zu investieren, oder klaut es nur den Namen und verlagert alles nach China, so wie alle anderen?“

„Sie sagen, sie wollen die Produktion im Vereinigten Königreich ausbauen. Das Verlagswesen hat ein kleines Imageproblem mit der Öko-Lobby, daher ist MacOsterleys Meinung, dass Bücher in geringerer Auflage näher am Ort des Konsums gedruckt werden sollten, im Moment sehr heiß diskutiert.“

„Was zum Teufel meinen die mit in geringerer Auflage näher am Ort des Konsums? Das ist ein verdammter Verlag, kein beschissener Snack-Hersteller.“ Er versucht, mich zu ärgern, das merke ich jetzt schon. Wenn es ihm gelingt, mein Verständnis der Sachlage so weit zu erschüttern, dass ich an mir selbst zweifle, wird er es als Sieg betrachten. Er ist wirklich eine Kröte.

„Nehmen wir Ihr China-Modell“, sage ich und halte meine Stimme ruhig. „Ja, man kann fünftausend Exemplare eines Titels ziemlich billig drucken, aber die Umweltauswirkungen sind problematisch. Da sind die Bäume, die für die Herstellung des Papiers gefällt werden müssen, die Tinte, der Treibstoff für den Transport und so weiter. Von den fünftausend Originalen werden vielleicht nur dreitausend verkauft, sodass am Ende zweitausend davon im Schredder landen. MacOsterley hat viel in PoD investiert, und davon will Bookisti ein Stück abhaben.“

„PoD?“

„Print on Demand.“

„Was für eine Zeitverschwendung. Das wird sich nie lohnen.“

„Für Amazon lohnt es sich bereits, und wo Amazon führt –“

„– werden die anderen folgen“, beendet er zähneknirschend meinen Satz und mir fällt auf, dass ich diesen Schlagabtausch tatsächlich gewinnen könnte.

„Genau. Ich glaube, Bookisti sieht MacOsterley als eine Möglichkeit, im PoD-Markt einen Fuß in die Tür zu bekommen, ohne ihre Hauptmarke zu gefährden, falls es nicht funktioniert.“

„Ist es das, was sie gesagt haben?“

„Nein, natürlich nicht. Sie erzählen das übliche Geschwätz, dass sie mit einem angesehenen britischen Verlagshaus zusammenarbeiten wollen, aber das glaubt keiner.“

Bevor er wieder spricht, starrt er mich eine gefühlte Ewigkeit lang an.

„Gute Arbeit, Thea“, knurrt er schließlich. „Aber werden Sie nicht selbstgefällig, verstanden? Kleine Geschäfte wie dieses, die oberflächlich betrachtet einfach erscheinen, haben die unangenehme Angewohnheit, sich umzudrehen und Ihnen in den Arsch zu treten, wenn Sie es am wenigsten erwarten. Wenn wir dadurch in den Arsch gefickt werden, können Sie sich sicher sein, dass ich Sie doppelt so hart in den Arsch ficken werde. Das ist natürlich nur metaphorisch gemeint. Sie müssen also nicht zur Personalabteilung rennen und sich über sexuelle Belästigung beschweren. Habe ich mich klar ausgedrückt?“

„Ja, John.“

„Gut. Raus hier.“

Als ich meine Sachen packe und die Tür öffne, feuert er seinen letzten Schuss ab. „Machen Sie nicht den Fehler, zu glauben, dass Sie in New York für mich unerreichbar sind. Ich erwarte regelmäßige Berichte, und ich kann Ihren Arsch leicht von hier aus ficken, wenn Sie Mist bauen. Verstanden?“

Ich lächle süß, während ich die Tür schließe, dann mache ich sehr vorsichtig eine Reihe höchst unprofessioneller Siegesgesten in Richtung Tür.

***

Als ich die Besprechung über die nächsten Schritte beendet und einige wichtige E-Mails bearbeitet habe, ist es fast vier Uhr nachmittags, aber der Jetlag sorgt dafür, dass ich noch viel Energie habe. Ich fahre mit dem Aufzug zur Tiefgarage hinunter, wo angeblich mein neues Auto auf mich wartet. Es dauert eine Weile, bis ich die Parklücke finde, aber das beruhigende Aufleuchten der Blinker, als ich den Entriegelungsknopf am Schlüsselanhänger drücke, bestätigt mir, dass ich am richtigen Ort bin. Es ist schon eine Weile her, dass ich das letzte Mal am Steuer saß, also nehme ich mir die Zeit, mich mit allen Bedienelementen vertraut zu machen, bevor ich mich über die Rampe in den Verkehr einfädle, um nach Hause zu fahren. Janice hat natürlich schon den Parkausweis an der Windschutzscheibe befestigt, und als ich vorfahre, bin ich überrascht, dass der Parkplatz vor meinem Haus leer ist. Ich passe auf, dass ich die teuren Leichtmetallräder nicht an der Bordsteinkante zerkratze, und manövriere das Auto in eine der Parknischen, dann nehme ich mein Gepäck vom Beifahrersitz und öffne die Haustür. Der SUV ist nicht zu sehen, aber dann fällt mir ein, dass Rollo Samstagnachmittags Nachhilfe erhält.

Kaum habe ich begonnen, die aktualisierten Dokumente von der Besprechung der nächsten Schritte zu kommentieren, taucht der SUV auf. Ich beobachte, wie er stehen bleibt und die Straße neben meinem Auto komplett blockiert. Mit wütendem Blick steigt Rollos Mutter aus. Sie schaut sich den Parkausweis auf dem Porsche genau an. Zu meiner Überraschung marschiert sie dann den Weg zu meinem Haus hinauf und klingelt an der Tür.

„Hallo“, sage ich, nachdem ich ihr die Tür geöffnet habe.

„Ja, hallo“, antwortet sie verwirrt. „Entschuldigen Sie die Störung, aber ich frage mich, ob Sie gesehen haben, in welches Haus der Besitzer dieses Autos gegangen ist?“

„Das ist mein Auto“, antworte ich neutral.

„Ah, richtig“, sagt sie und nimmt einen scheinbar jovialen Ton an, der überhaupt nicht zu der Wut in ihren Augen passt. „Sie müssen neu sein, denn dieses Haus steht schon so lange leer, wie ich mich erinnern kann. Die Sache ist, dass das mein Parkplatz ist. Sie werden sich einen anderen suchen müssen.“

Für einen Moment verstumme ich angesichts der unverhohlenen Anspruchshaltung dieser Frau. Seit ich hier wohne, habe ich zwar kein Auto besessen, aber ich weiß genau, dass kein einziger Parkplatz personengebunden ist. Es gilt: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst.

„Oh, du meine Güte“, sage ich. „Es tut mir so leid. Ich hole nur schnell die Schlüssel.“ Ich schließe die Tür halb und beobachte sie aus dem Arbeitszimmerfenster, während ich meine Autoschlüssel hole. Tatsächlich tippt sie ungeduldig mit dem Fuß. Tut mir leid, Sarah-oder-wie-auch-immer-du-heißt, aber du bekommst gleich eine Lektion in Sachen Manieren.

„Da bin ich“, sage ich, als ich nach draußen trete und die Tür hinter mir schließe. „Würden Sie mir bitte zeigen, wie ich erkenne, welcher Platz zu welchem Haus gehört, bevor ich diesen Platz räume? Ich würde nur ungern jemand anderem Unannehmlichkeiten bereiten.“

„Das ist, äh, eher eine informelle Sache“, antwortet sie und sieht plötzlich nicht mehr ganz so eingebildet aus. „Ich parke immer hier.“

Ich setze einen verwirrten Gesichtsausdruck auf. „Tut mir leid, ich muss etwas verpasst haben. Ich dachte, Sie sagten, dieser Platz gehöre offiziell Ihnen.“

„Hören Sie“, sagt sie und wechselt erneut die Taktik, diesmal zu nackter Aggression. „Ich habe keine Zeit, mich hier mit Ihnen über die Etikette des Parkens auf der Straße zu streiten. Tatsache ist, dass ich immer hier parke, dass ich einen engen Zeitplan habe und dass ich es begrüßen würde, wenn Sie Ihr Auto wegfahren würden, damit ich mit meinem Tag weitermachen kann.“

„Nein.“

„Was? Was soll das heißen, nein? Haben Sie mir denn gar nicht zugehört?“

Das habe ich, Sarah-oder-wer-auch-immer-du-bist, und dein Verhalten stinkt, offen gesagt. „Tatsache ist, dass ich seit mehreren Jahren hier wohne“, entgegne ich. „Und obwohl das Auto neu ist, kenne ich die Parkvorschriften in dieser Straße sehr gut. Dieser Platz ist besetzt. Ich schlage vor, dass Sie tun, was jeder andere in Ihrer Situation tun würde. Suchen Sie sich einen anderen Parkplatz, anstatt zu versuchen, mich von einem Platz zu verdrängen, auf dem ich ganz legal geparkt habe.“

Einen Moment lang starrt sie mich an, als könnte sie nicht begreifen, was ich gesagt habe. Das eindringliche Hupen eines Lieferwagens, der hinter ihr angehalten hat, holt sie wieder auf den Boden der Tatsachen zurück.

„Das kann doch nicht wahr sein“, schreit sie, stürmt zurück zu ihrem Auto, steigt ein und knallt die Tür hinter sich zu. Als sie Gas gibt, treffen sich meine Augen für den Bruchteil einer Sekunde mit denen von Rollo, und ich könnte schwören, dass er mir das Wort Entschuldigung zuruft.

Kapitel 5

Ich denke immer noch über meine surreale Begegnung mit Rollos Mutter nach, als mein Telefon piept und eine Nachricht anzeigt. Es ist Alasdair.

Wo auf dieser Welt bist du im Moment?

Zu Hause, kannst du dir das vorstellen? Bin heute Morgen aus New York gekommen. Und du?

Die Häkchen werden sofort blau und ich sehe, dass er tippt, also warte ich auf seine Antwort, anstatt mich wieder meinen Anmerkungen zu widmen.

Auch in London. Willst du deine Beförderung feiern?

Ich lächle, während ich meine Antwort formuliere.

Klingt gut. Ich habe Wein im Kühlschrank …

Seine Antwort kommt sofort.

Scheiß auf Wein. Ich werde unterwegs Champagner besorgen. Wir sehen uns in einer Stunde.

Ich konzentriere mich wieder auf das Dokument, und es scheint kaum Zeit vergangen zu sein, als die Türklingel seine Ankunft ankündigt. Ich markiere die Stelle, an der ich gerade bin, damit ich weiß, wo ich später weitermache, und öffne die Haustür.

„Der obligatorische Porsche?“, fragt er mit einer hochgezogenen Augenbraue und einem schelmischen Grinsen und schwenkt eine Flasche Dom Pérignon in Richtung meines Autos. „So ein Klischee, Darling. Ich hätte nie gedacht, dass du dem Herdentrieb des Unternehmens folgst.“

„Ach, halt die Klappe“, sage ich lachend, während ich zurücktrete, um ihn hereinzulassen. „Ich habe mir den Wagen nicht ausgesucht, falls du das wissen willst.“

„Wie ist er denn dann hierhergekommen? Stimmt es, dass sie von der geheimen Partner-Porsche-Fee geliefert werden?“

„Meine Assistentin hat ihn beschafft, während ich in New York war. Offenbar bin ich zu wichtig und zu teuer, um mich jetzt auf Züge zu verlassen.“

„Natürlich sind Sie das, Eure Majestät.“ Er verbeugt sich tief. „Wie ist die Aussicht von den berauschenden Höhen des Olymps?“

„Bist du gekommen, um zu feiern oder um dich zu betrinken?“

„Beides, natürlich. Aber im Ernst: Ich könnte mich nicht mehr für dich freuen. Wenn es jemand verdient hat, Partnerin zu werden, dann du.“

„Danke. Warum hast du dich nicht beworben?“

„Ich denke, ich habe immer noch einen kleinen grauen Fleck auf meiner Weste.“

„Das ist doch sicher längst vergessen, oder?“

Eines der Dinge, die ich immer an Alasdair bewundert habe, ist die Art und Weise, wie sein Gehirn im Handumdrehen vom Arbeits- in den Spielmodus umschalten kann. Während wir zusammen unser Referendariat bestritten, bewunderte ich regelmäßig seine Fähigkeit, ein Konzept zu erfassen und es umzusetzen, oft noch während der Rest von uns darüber nachdachte. Aber am Ende des Tages verließ er das Büro, als ob ihn nichts in der Welt kümmerte. Obwohl seine Kompetenz nie angezweifelt wurde, warf seine Fähigkeit, so leicht abschalten zu können, leider Fragen in Bezug auf sein Engagement auf, und seine erste jährliche Beurteilung war, wie er sagte, ein bisschen wie ein Autounfall. Danach verhielt er sich viel vorsichtiger, aber das Stigma verfolgte ihn noch eine ganze Weile.

„Nun, da du jetzt auf der anderen Seite der Macht stehst, könntest du vielleicht ein gutes Wort für mich einlegen.“ Er grinst, um mich wissen zu lassen, dass er es nicht ernst meint, und schwenkt wieder die Flasche. „Ich glaube, die ist auf dem Weg hierher ein bisschen durchgeschüttelt worden. Soll ich sie in den Kühlschrank stellen, damit sie sich ein bisschen beruhigt, bevor wir sie öffnen? Es ist das gute Zeug, und es wäre eine Schande, deinen Flur damit neu zu dekorieren.“

Ich erwidere sein Grinsen. Das klingt nach einer guten Idee. „Aber wie in aller Welt willst du mich in der Zwischenzeit unterhalten?“

***

Das erste Mal hatten Alasdair und ich in der Nacht Sex, nachdem verkündet worden war, dass wir die einzigen aus unserem Jahrgang waren, die Morton Lansdowne behalten wollte. Wir fuhren in die Stadt, um zu feiern, und landeten schließlich betrunken in seiner ziemlich schäbigen Wohnung im Bett. Am nächsten Morgen wachte ich mit rasenden Kopfschmerzen auf und bereitete mich auf die üblichen Schuldzuweisungen und peinlichen Gespräche vor. Zu meiner Erleichterung stellte ich aber schnell fest, dass Alasdair nicht so funktionierte. Er führte mich zum Frühstück aus, um meinen Kater zu kurieren, wir schliefen noch einmal miteinander und dann ging ich nach Hause. Seitdem haben wir eine stillschweigende Vereinbarung, dass wir sexuell zwar mehr als nur Freunde sind, aber sonst nichts läuft. Wir sind einfach nur Kumpels, die sich treffen, wenn es uns überkommt, so wie heute.

Sex mit Alasdair ist ganz wie der Mann selbst. Ehrlich, fröhlich und beruhigend direkt. Ich habe nie die Zeit gemessen, aber ich glaube, das Ganze würde ziemlich genau in einen der fünfzehnminütigen Abrechnungszeiträume passen, für die Morton Lansdowne-Anwälte leben und sterben. Er gehört nicht zu den ängstlichen Liebhabern, die stundenlang da unten herumfummeln und dir das Gefühl geben, dass du unzulänglich bist, weil das, was sie tun, dich nicht zu einem sofortigen, erschütternden Orgasmus bringt. Ich glaube nicht, dass ich während einer sexuellen Begegnung mit einem Mann jemals einen Orgasmus hatte, aber das heißt nicht, dass ich den Akt nicht genieße, und fünfzehn Minuten sind in meinen Augen lang genug. Einmal habe ich einen Artikel darüber gelesen, dass tantrischer Sex stundenlang dauern kann, und meine unmittelbare Reaktion war: Wer will das schon?

Glücklicherweise ist Alasdair genauso wenig an tantrischem Sex interessiert wie ich, und er macht sich mit dem für ihn typischen Enthusiasmus an die Arbeit. Obwohl wir uns nicht sehr oft sehen, kennen unsere Körper die Bewegungen instinktiv. Ich gebe zu, dass es Zeiten gab, in denen ich die ganze Sache auf Autopilot laufen ließ, während ich mit einem heiklen Arbeitsthema rang. Alasdair merkt das in der Regel nicht; tatsächlich konnte ich einmal eine E-Mail lesen und beantworten, während er mitten im Flow war. Wir befanden uns in der Missionarsstellung und ich hörte mein Telefon auf dem Nachttisch summen. Ich nahm es vorsichtig in die Hand und hielt es auf Armeslänge hinter ihn, während ich mit dem Daumen meine Antwort tippte und dabei die notwendigen ermutigenden Geräusche von mir gab. Ich war ziemlich zufrieden mit diesem Multitasking, aber als ich es bei einer anderen Gelegenheit wieder versuchte und er mich dabei erwischte, kamen wir überein, dass Sex wahrscheinlich eine telefon- und arbeitsfreie Aktivität sein sollte.

Auch wenn ich immer etwas finden kann, das mit der Arbeit zu tun hat, befinden wir uns im aktuellen Projekt noch in einer so frühen Phase, dass ich es geistig zurückstellen und mich ganz auf den Moment mit Alasdair konzentrieren kann. Danach wickelt er sich in meinen Bademantel und geht nach unten, um den Champagner zu holen. Ich lege mich zurück ins Bett und lausche seinen Bewegungen, bevor ich das verräterische Ploppen höre.

„Bitte sehr“, sagt er, als er mit zwei vollen Champagnerflöten wieder auftaucht. Er reicht mir eine und krabbelt wieder ins Bett. „Auf dich, Morton Lansdownes neueste, schönste und sicherlich talentierteste Partnerin.“ Er hebt sein Glas und stößt es gegen meins, dann nimmt er einen großen Schluck davon.

„Schmeichler“, grummle ich, während ich ebenfalls nippe und den trockenen Fruchtgeschmack und das Prickeln der Bläschen auf meiner Zunge genieße. „Ich könnte deine Meinung zu etwas gebrauchen. Warte kurz.“

Er trägt noch immer meinen Morgenmantel, also schlüpfe ich aus dem Bett und sprinte nackt die Treppe hinunter. Ich überprüfe, ob der Bürgersteig draußen leer ist, bevor ich meinen Laptop aus dem Arbeitszimmer hole und einen ebenso schnellen Rückzug antrete.

„Was hältst du davon?“, frage ich ihn, während ich Janice’ Beziehungsfragebogen aufrufe und ihm den Laptop reiche, damit er ihn lesen kann.

„Ist das eine Personalsache?“, fragt er, während er ihn mit den Augen abscannt.

„Nein. Janice, meine Assistentin, will, dass ich ihn ausfülle, damit sie weiß, wen sie einschüchtern muss, wenn mein Privatleben mit meinem Beruf in Konflikt zu geraten droht.“

„Du kannst mich darauf nicht eintragen“, sagt er und sieht plötzlich todernst aus.

„Warum nicht?“, frage ich. „Wenn du befürchtest, dass eine Beziehung mit einem Partner ein weiterer Makel für dich sein könnte, kann ich dir sagen, dass das nicht stimmt. Wir arbeiten nicht einmal in der gleichen Abteilung, sodass es für mich ziemlich schwierig wäre, dich zu bevorzugen. Außerdem begann unsere Beziehung, als wir beide noch Associates waren. Mich könnte also keiner beschuldigen, dich zu einer Art Dies-für-Das-Vereinbarung zu zwingen.“

„Oh, darüber mache ich mir keine Sorgen.“ Er lacht, offensichtlich erfreut über meine Argumentationslinie. „Es ist nur so, dass es keine Kategorie für mich gibt. Sieh mal hier, wo Art der Beziehung steht. Die Optionen sind Ehepartner/Partner, Verlobte(r) oder Freund/Freundin. Freund und gelegentlicher Fickkumpel zählt offensichtlich nicht. Aber eins muss ich Janice lassen. Sie ist verdammt gründlich.“

„Wem sagst du das. Sie ist so sehr mit der Notfallplanung beschäftigt, dass ich mich wundere, dass sie nicht nach einer umfassenden Liste von körperlichen Merkmalen und Muttermalen gefragt hat, für den Fall, dass ich irgendwo bei einem Erdbeben verschüttet werde und sie meinen Körper identifizieren muss. Sie ist erschreckend effizient. Also, soll ich dieses Formular vergessen?“

„Das würde ich vorschlagen. Wir sehen uns nicht oft genug, als dass ich mit deinem Beruf in Konflikt geraten könnte, oder? Obwohl …“ Er hält inne und sieht mich wieder ernst an. „Es gibt etwas, das ich dir schon lange sagen wollte. Ich habe es vorher nicht erwähnt, weil, nun ja, es gibt Dinge, die man nicht unbedingt im Rausch der Leidenschaft anspricht.“

Oh, Mist. Wird er die Regeln unserer Beziehung brechen und das L-Wort sagen? Ich mag Alasdair sehr, aber ich habe unsere Beziehung nie als etwas Ernsteres angesehen als die Fickfreunde, die er gerade beschrieben hat. Einer der Gründe, warum es mit uns funktioniert, ist, dass er, der selbst Anwalt ist, den Druck, der auf mir lastet, versteht. Er versucht nicht, mehr zu nehmen, als ich ihm geben kann – und umgekehrt. Wenn er jetzt anfängt, mir seine Liebe zu erklären, verändert das die Dynamik in einer Weise, die mir überhaupt nicht behagt.

„Was ist es?“, frage ich ihn nervös.

Er fixiert mich mit seinem Blick, beugt sich ganz langsam vor und streicht mit seinen Lippen ein paarmal über meine. Normalerweise mag ich dieses Gefühl, aber er macht mich nervös. Schließlich spricht er, seine Stimme ist nicht mehr als ein Murmeln.

„Ich bin am Verhungern. Sollen wir etwas bei dem Vietnamesen bestellen, den du so magst? Auf meine Rechnung natürlich.“

„Du absoluter Mistkerl“, schimpfe ich und schlage ihm auf die Schulter. „Ich dachte, du würdest etwas Tiefgründiges und Bedeutungsvolles von dir geben.“

„Oh.“ Er tut so, als wäre er überrascht. „Das wollte ich mir für später aufheben, aber jetzt, wo du es ansprichst, hast du mich wohl in Zugzwang gebracht. Willst du mich heiraten, Thea?“

„Natürlich nicht.“

„Na gut. Dann eben vietnamesisch.“

***

„Darf ich dir eine Frage stellen?“, fragt er einige Zeit später. Wir haben das vietnamesische Essen mit dem restlichen Champagner hinuntergespült, lümmeln auf dem Sofa und arbeiten an einer Flasche Wein. Mein Kopf liegt in Alasdairs Schoß, und zum ersten Mal seit langem fühle ich mich entspannt und ein wenig benommen.

„Sag schon“, fordere ich ihn auf, ohne die Augen zu öffnen.

„Denkst du, dass du eines Tages heiraten wirst?“

„Ist das eine ernsthafte Frage oder wieder eine deiner Verarschungen?“

„Es ist eine ernste Frage.“

„Ich halte es für unwahrscheinlich.“

„Weil?“

Ich öffne meine Augen und setze mich auf. „Weil alles. Wann zum Beispiel würde ich Zeit für eine Beziehung finden, die zu einer Ehe führen könnte? Wer will schon mit mir verheiratet sein? Ich bin mit meinem Job verheiratet. Gerade du solltest das verstehen.“

„Das tue ich. Aber denkst du denn nie darüber nach?“

„Was, ein kleines Häuschen mit Rosen über der Tür und einem weißen Lattenzaun? Entzückende Kinder mit rosigen Wangen, die auf den Feldern herumtollen, während ich gesunde Leckereien backe? Ein gut aussehender Ehemann, der mit bloßen Händen Bäume fällen kann, aber im Schlafzimmer ach so sanft ist?“

Er lacht. „Das klingt, als hättest du dir viele Gedanken darüber gemacht.“

„Nur, weil das mein Ich-bin-in-der-Hölle-aufgewacht-Szenario ist. Die Realität sieht so aus, dass ich entweder einen anderen Anwalt heirate, weil das die einzigen Menschen sind, die den Druck der Arbeit verstehen. Aber wir würden einander nie sehen, was soll das also bringen? Oder ich heirate einen Berufsfremden, und wir streiten uns zwei Jahre lang darüber, warum ich nie zu Hause bin, bevor wir uns auf unschöne und teure Weise scheiden lassen.“

„Seit wann bist du so abgestumpft?“

„Ich bin nicht abgestumpft, ich bin realistisch. Und was ist mit dir? Glaubst du, dass du heiraten wirst? Die ganze Sache mit den 2,4 Kindern und dem Labrador?“

Er denkt lange nach, bevor er antwortet, und ich nutze die Gelegenheit, um unsere Gläser aufzufüllen. Ich will es nicht zugeben, aber diese Frage habe ich mir selbst auch schon öfter gestellt und nie eine befriedigende Antwort gefunden. Würde ich gerne jemanden kennenlernen, mit dem ich mein Leben teilen kann? Ja. Wäre ich bereit, dafür die Karriere aufzugeben, die ich liebe? Nein, ich glaube, das würde mich zerstören, nach allem, was ich investiert habe, um dahin zu gelangen, wo ich gerade bin. Ist Alasdair meine Zukunft? Definitiv nicht, aber ich hoffe, wir werden Freunde bleiben, was auch immer passiert.

„Weißt du“, sagt er schließlich und reißt mich aus meinen unbehaglichen Gedankengängen, „ich glaube, für den richtigen Menschen würde ich die Juristerei gerne aufgeben. Ich glaube, tief im Inneren habe ich das schon immer gewusst. Vielleicht ist es mir deshalb nicht so wichtig, ob ich Partner werde oder nicht. Sag das aber keinem bei der Arbeit, ja?“

„Keine Sorge.“ Ich versuche, meine Überraschung zu verbergen. „Dein Geheimnis ist bei mir gut aufgehoben. Ich hätte nur nicht gedacht, dass du so ein Romantiker bist.“

„Wie kannst du so etwas sagen?“, fragt er spöttisch verlegen. „Ich habe dir heute Champagner und ein Abendessen spendiert.“

„Das hast du“, gebe ich zu. „Aber wo sind die Rosen?“

„Aah, so ein Mist. Ich habe sie im Laden vergessen.“

Ich beuge mich vor und gebe ihm einen Kuss. „Du wirst eines Tages ein sehr guter Ehemann sein, da bin ich mir sicher. Ich gebe es nur ungern zu, aber ich fange an zu schwächeln. Willst du über Nacht bleiben? Die einzige Regel ist, dass wir nicht über die Ehe sprechen.“

„Ja, okay.“

Kapitel 6

Ich kann nicht glauben, dass schon Weihnachten ist. Mir kommt es vor, als hätten meine Füße in den letzten sechs Monaten kaum den Boden berührt. Obwohl der Auftrag mit den Verlagen wegen einer Umstrukturierung bei Bookisti ins Stocken geraten ist, wurde ich sofort mit einem anderen Auftrag betraut, für den ich zwischen London und Paris pendeln muss. Der Auftrag in Paris nimmt gerade Fahrt auf, deshalb hoffe ich inständig, dass Bookisti noch ein wenig weiter umstrukturiert, denn zwei gleichzeitig laufende Transaktionen sind der schlimmste Albtraum eines jeden Anwalts für Fusionen und Übernahmen.

Während ich den Porsche in Richtung des Hauses von Mum und Phil in Maidstone lenke, bin ich gut gelaunt. Am Weihnachtsmorgen gibt es um diese Zeit so gut wie keinen Verkehr, und das Navi sagt mir, dass ich es ohne Probleme rechtzeitig zum Geschenkeöffnen schaffen werde, das vor dem Mittagessen stattfindet. Ich werfe einen Blick auf die Einkaufstasche, die – vollgestopft mit ordentlich verpackten Geschenken – auf dem Beifahrersitz neben mir steht. Zu meiner Belustigung hat Janice nicht nur alle Geschenke gekauft und eingepackt, sondern mir auch einen hilfreichen Spickzettel mitgegeben, damit ich über jedes einzelne Geschenk so viel erzählen kann, dass die Illusion entsteht, ich hätte es selbst gekauft.

Einer Sache kann ich mir absolut gewiss sein: Während ich mich auf die M25 in Richtung Dartford und Kent begebe, hat Rollos Mum ihr Auto garantiert bereits auf den nun freien Platz vor meinem Haus gestellt. Sie scheint geradezu davon besessen zu sein, und obwohl sich die Lage in letzter Zeit etwas beruhigt hat, hat sie im Laufe der Monate immer wieder versucht, mich am Parken zu hindern. Als ich eines Samstags nach Hause kam, war die Parknische mit diesen gelben Kegeln abgesperrt, mit denen die Gemeinden die Leute am Parken hindern, wenn sie Straßenarbeiten durchführen wollen. Ich gebe zu, dass ich einen Moment lang darauf hereingefallen bin, bis ich misstrauisch wurde, weil nur ein Parkplatz betroffen war. Nach einer kurzen Untersuchung stellte sich heraus, dass sie die Kegel von einer Baustelle um die Ecke geholt hatte, also stapelte ich sie ordentlich vor ihrer Haustür, bevor ich wie üblich parkte. Ihr schmutzigster Trick, für den ich ihren Einfallsreichtum zähneknirschend bewundere, kam ans Licht, als ich von einer dreiwöchigen Reise nach New York zurückkam und feststellen musste, dass sie mein Auto als zurückgelassen gemeldet hatte. In dem höflichen Schreiben der Stadtverwaltung, in dem man mir mitteilte, dass eine Beschwerde vorlag, wurde natürlich nicht erwähnt, wer sich an sie gewandt hatte, aber es war ziemlich offensichtlich.

Es klingt kleinlich, aber ich konnte das nicht ohne einen Vergeltungsschlag durchgehen lassen. Nicht, weil mir der Parkplatz besonders wichtig wäre; ich wollte ihr nur zu verstehen geben, dass ich weiß, was sie getan hat, und dass ich mich nicht herumschubsen lasse. Am darauffolgenden Wochenende stellte ich mein Auto absichtlich um die Ecke, etwa fünf Minuten bevor sie und Rollo vom Nachhilfeunterricht zurückkommen würden. Und tatsächlich, sie fuhr eifrig in die Lücke und hüpfte mit einem triumphierenden Gesichtsausdruck aus dem Auto. Zu ihrem Pech spielte mir ihr typisch rücksichtsloses Parken direkt in die Hände, und ein kurzer Anruf bei der Stadtverwaltung, um diese über ein auf dem Bordstein geparktes Auto zu informieren, führte zu einer Kralle und dem höchst befriedigenden Anblick, sie am nächsten Morgen vor Wut heulen zu sehen, als sie losfahren wollte. Ich bin nicht stolz darauf, aber seitdem hat sie nichts mehr versucht, und ich denke, der Zweck heiligt die Mittel.

„Liebling! Fröhliche Weihnachten.“ Meine Mutter strahlt, als sie die Tür des Hauses aufreißt, in dem sie und Phil seit ihrer Hochzeit leben. Sie drückt mich an ihren vollen Busen, was mich in meine Kindheit zurückversetzt. Ich erwidere die Umarmung.

„Lass dich ansehen“, fährt sie nach einem Moment fort, hält mich an den Schultern fest und mustert mich genau. „Du hast wieder abgenommen, stimmt’s? Du siehst müde aus, isst du auch richtig?“

„Mir geht’s gut, Mum. Ehrlich.“

„Hm. Du bist sehr blass. Bist du sicher, dass du nicht über Nacht bleiben kannst? Dein Zimmer ist schön hergerichtet und du siehst aus, als könntest du es gebrauchen, ein bisschen verwöhnt zu werden. Onkel Ted kommt morgen mit Gina und den Mädchen vorbei. Ich bin sicher, sie würden dich gerne sehen.“

„Tut mir leid, Mum. Der zweite Weihnachtsfeiertag ist ein Arbeitstag in Frankreich, also nehme ich den Eurostar am frühen Morgen.“

„Ah, nun gut. Wenn es nicht anders geht, dann müssen wir eben das Beste daraus machen, solange wir dich hier haben. Komm doch rein. Wir haben die Geschenke verteilt, aber es war ein Vollzeitjob, Louis zu überreden, mit dem Auspacken zu warten, bis du da bist.“

Ich folge ihr durch den Flur ins Wohnzimmer, wo der Rest meiner Familie versammelt ist. Phil hat es sich auf seinem üblichen Platz bequem gemacht, einem weichen Ledersessel vor dem Fernseher, und meine Schwester Saffy sitzt mit ihrem Mann Tim und einem sehr zappeligen Louis auf dem Sofa.

„Tut mir leid, dass ihr warten musstet“, sage ich zu ihnen, während Mum sich in den Sessel neben Phil niederlässt.

„Mach dir keine Sorgen. Schön, dich zu sehen, Thea, und frohe Weihnachten. Möchtest du ein Glas Sekt?“ Phil erhebt sich aus seinem Sessel und geht zu der Anrichte hinüber, die ihm als Bar dient. Es ist eine von denen, die sich öffnen lassen und dann ein beleuchtetes, mit Spiegeln ausgekleidetes Inneres enthüllen. Und es ist voller Flaschen seltsamer Liköre, die er und Mum im Laufe der Jahre an verschiedenen Feiertagen gekauft haben. Wenn man ein Musterbeispiel für jemanden aus der Mittelschicht sucht, dann ist es Phil. Er mag sein Zuhause, seine Annehmlichkeiten und er liebt meine Mutter über alles. Er mag nicht aufregend sein, aber wir lieben ihn wie den Vater, der Papa nie war.

„Nur ein halbes Glas, bitte, Phil“, sage ich. „Ich muss noch fahren.“

„Ist in deiner Tasche ein Geschenk für mich?“, fragt Louis hoffnungsvoll.

„Ja, in der Tat“, sage ich. „Möchtest du, dass ich es dir gebe?“

Er nickt aufgeregt und macht große Augen, als ich die Schachtel mit seinem Namen herausfische und sie ihm reiche, dann verteile ich den Rest der Geschenke an meine Familie.

„Darf ich es aufmachen, Mum? Darf ich?“

Ich sehe, dass Saffy mich misstrauisch anschaut. Offensichtlich ist sie besorgt, dass sich das Chemiebaukasten-Drama wiederholt.

Sie seufzt. „Na mach schon.“

Eifrig reißt er am Verpackungspapier und ich halte den Atem an.

„Oh, wow! Sieh mal, Mum. Sieh mal, was Tante Thea mir gekauft hat!“

Ihr bleibt der Mund offen stehen. „Eine Spiderman-Heldenfigur? Wo zur Hölle hast du denn so eine her? Die sind doch schon seit Ewigkeiten überall ausverkauft.“

„Ich, ähm, hatte Glück“, antworte ich. „Es gab einen Laden in London, der welche hatte, und ich war wohl zur richtigen Zeit am richtigen Ort.“ Ich mache mir eine mentale Notiz, dass ich Janice sagen muss, dass sie eine absolute Heldin ist.

„Du hast sehr großes Glück, Louis. Was sagst du zu Tante Thea?“

„Danke“, sagt er pflichtbewusst.

„Es war mir ein Vergnügen, Louis.“ Erleichtert atme ich auf.

Auch die anderen Geschenke kommen gut an, und ich mache mich als Beschenkte auch gar nicht so schlecht. Saffy und Tim haben mir eine kleine Flasche des Dior-Parfüms geschenkt, das ich mag, und Mum und Phil sind wie jedes Jahr mit M&S-Gutscheinen auf Nummer sicher gegangen.

„Wir würden dir gerne etwas anderes schenken“, sagt meine Mutter entschuldigend, als ich mich bedanke. „Aber es ist so schwierig, etwas für dich zu kaufen.“

„Das ist schon in Ordnung“, versichere ich ihr. „Mit M&S-Gutscheinen kann man nichts falsch machen.“

„Und, wie läuft es auf der Arbeit?“, fragt Saffy in der Pause zwischen dem Öffnen der Geschenke und dem Mittagessen. Mum ist in der Küche verschwunden, um nach dem Truthahn zu sehen, Louis ist in seine Geschenke vertieft und Phil und Tim prüfen, ob der Wein in Ordnung ist, was anscheinend bedeutet, dass sie sich gegenseitig große Gläser einschenken und als Ausrede murmeln, dass sie dem Wein Raum zum Atmen geben müssen.

„Ich habe mehr zu tun als je zuvor. Und du?“

„Oh, wie immer, wie immer. Darf ich dich etwas fragen?“

„Natürlich.“

„Wie kommt es, dass du behauptest, so viel zu tun zu haben wie noch nie, aber auf wundersame Weise Zeit findest, das diesjährige Must-Have-Spielzeug für deinen Neffen zu besorgen? Ein Spielzeug, das so begehrt ist, dass wir Normalsterblichen nicht einmal in dessen Nähe kommen können. Was hast du gemacht? Einen Regierungsbeamten bestochen? Die Firma gekauft?“

„Warum muss es etwas Verdächtiges sein? Vielleicht hatte ich einfach Glück, wie ich schon sagte.“

„Komm schon, Thea. Ich bin es, mit der du sprichst.“

Ich seufze. „Wenn ich es dir sage, versprichst du mir dann, nicht böse zu sein?“

„Du hast meinem Sohn das Weihnachtsfest versüßt. Wie könnte ich da böse sein?“

Ich lächle sie verschwörerisch an. „Meine Assistentin hat es gekauft. Ich habe keine Ahnung, woher sie es hat.“

Sie lacht. „Ich hätte es wissen müssen. Deine Geschenke waren dieses Jahr verdächtig gut. Als ich die Form der Schachtel sah, hatte ich einen Moment lang Angst, es könnte eine Barbiepuppe sein.“

„Wäre das denn so falsch gewesen? Sollten wir nicht von geschlechtsspezifischem Spielzeug wegkommen?“

„Hm. Ich bin mir nicht sicher, ob Louis schon so ein politisches Bewusstsein hat. Wie dem auch sei, danke deiner Assistentin in meinem Namen.“

***

Ich war eigentlich ein bisschen traurig darüber, dass ich nicht über Nacht bleiben konnte, denn es war einer der schönsten Weihnachtstage, die ich seit langem mit meiner Familie verbracht habe. Meine Mutter, Gott segne sie, war fest entschlossen, mich vollzustopfen, und gab mir sogar ein paar Reste als Essenspaket mit. Ich habe es nicht übers Herz gebracht, ihr zu sagen, dass ich sie direkt in den Müll werfen muss, weil sie verderben würden, bevor ich aus Paris zurückkomme. Die größte Überraschung des Tages war jedoch, dass ich nach Hause kam und feststellte, dass der Parkplatz vor meinem Haus leer war und keine Spur vom SUV von Rollos Mum zu sehen war. Vielleicht waren sie ja über Weihnachten verreist. Einen Moment lang fragte ich mich, welche Art von Geschenken der arme Rollo wohl auszupacken hätte. Wahrscheinlich etwas Lehrreiches und nichts so Frivoles wie die Actionfigur, über die sich Louis so gefreut hat.

Während der Eurostar durch Nordfrankreich rast, lege ich das Dokument, an dem ich gerade arbeite, vorübergehend zur Seite und öffne mein E-Mail-Programm, um Janice ein Dankesschreiben zu schicken.

Ich will gerade mit dem Tippen beginnen, als eine Benachrichtigung auf meinem Bildschirm erscheint, die besagt, dass ich eine neue E-Mail von unserem geschäftsführenden Gesellschafter Martin Osborne erhalten habe. Daran ist nichts Ungewöhnliches, denn er verschickt regelmäßig E-Mails, um Aktionen anzukündigen, Ergebnisse mitzuteilen oder Teams zu erfolgreichen Transaktionen zu gratulieren. Ich glaube, sie sollen motivieren, aber in der Regel überfliege ich nur die Betreffzeile und lösche die Mail dann, ohne die Details zu lesen. Die Betreffzeile dieser E-Mail lautet einfach nur John Curbishley. Das weckt mein Interesse so sehr, dass ich die E-Mail öffne und den Rest lese.

An alle Partner und Mitarbeiter,

mit großer Trauer muss ich bekannt geben, dass unser Freund und Seniorpartner John Curbishley nach kurzer Krankheit verstorben ist. Er hinterlässt seine Frau Alice und seine beiden Söhne Richard und Stephen. Ich habe der Familie im Namen aller Mitarbeiter von Morton Lansdowne mein aufrichtiges Beileid ausgesprochen und seiner Frau versichert, dass wir alles in unserer Macht Stehende tun werden, um sie in den kommenden schweren Tagen zu unterstützen.

Das Bestattungsunternehmen wird ein elektronisches Kondolenzbuch einrichten, und ich habe Margaret gebeten, Ihnen allen den Link dazu zukommen zu lassen, sobald er verfügbar ist. Natürlich wird dies über die Feiertage etwas länger dauern.

Persönlich möchte ich nur sagen, wie sehr ich John als Freund und Kollege bewundert habe, und ich weiß, dass viele von Ihnen genauso empfinden werden. In Anbetracht dessen möchten wir alle im Vereinigten Königreich ansässigen Mitarbeiter bitten, ihre Termine so zu legen, dass sie an seiner Gedenkfeier teilnehmen können. Margaret wird den Termin bekannt geben, sobald wir Nachricht von der Familie erhalten. Wir erwarten, dass es einen Gottesdienst in der Temple Church geben wird, gefolgt von einem Empfang in Skinners Hall, dem Sitz der Ehrwürdigen Gesellschaft der Skinner, in der John aktives Mitglied war.

Meine erste Reaktion ist Unglauben. Obwohl ich John überhaupt nicht mochte, gehörte er während der gesamten Zeit, die ich bei Morton Lansdowne verbracht habe, zum Inventar, und ich kann mir die achte Etage ohne seine grüblerische, bösartige Präsenz nicht vorstellen. Auch die Erwähnung seiner Familie verwirrt mich ein wenig. Es fällt mir schwer, mir vorzustellen, dass John oder einer der anderen Seniorpartner und -partnerinnen ein Leben außerhalb der Arbeit hat. Ich frage mich, welche Krankheit das war. Als ich ihn vor etwas mehr als einer Woche zu einer unserer regelmäßigen Nachbesprechungen traf, schien er in seiner üblichen bissigen Form zu sein. Ich rufe mir sein Büro ins Gedächtnis, um zu sehen, ob ich mich daran erinnern kann, dass dort Bilder seiner Familie gestanden hätten. Ich glaube, es gab einen Rahmen auf seinem Schreibtisch, aber ich habe nie einen Blick auf das Bild werfen können.

„Meine Damen und Herren“, ertönt die Stimme über die Lautsprecheranlage, als der Zug langsamer wird, „wir erreichen in Kürze Paris Gare du Nord. Im Namen des Zugführers und des gesamten Personals möchte ich Ihnen dafür danken, dass Sie Eurostar für Ihre heutige Reise gewählt haben. Wir wünschen Ihnen einen angenehmen Aufenthalt in Paris. Wenn Paris nicht Ihr Endziel ist, wenden Sie sich bitte an einen unserer Bahnhofsmitarbeiter, der Ihnen gerne behilflich sein wird, Ihren Anschlusszug zu erreichen. Vielen Dank und guten Morgen.“

Ich klappe meinen Laptop zu und fange an, meine Sachen zusammenzusuchen. Dabei schiebe ich alle Gedanken an John beiseite und konzentriere mich auf den bevorstehenden Tag.

Kapitel 7

Offensichtlich hatte John gute Beziehungen, denn obwohl seit der E-Mail, in der sein Tod bekanntgegeben wurde, kaum zwei Wochen vergangen sind, ist bereits alles arrangiert und die Trauerfeier findet an diesem Tag statt. Als Alasdair und ich ankommen, ist die Temple Church bereits voll, und ich frage mich, ob wir noch einen Platz finden werden. Die Bänke in der Mitte stehen leer, aber selbst von meinem Standpunkt aus kann ich die Reservierungsschilder erkennen. Verzweifelt schaue ich die anderen Kirchenbänke auf und ab, als ich plötzlich Janice sehe, die mir zuwinkt und auf einen Platz neben sich zeigt.

„Ich habe einen Platz für meine Lieblingspartnerin reserviert“, flüstert sie mir verschwörerisch zu, nachdem ich mich zu ihr durchgedrängt habe. „Obwohl ich nicht wusste, dass Sie in Begleitung erscheinen würden.“ Einen Moment lang mustert sie Alasdair neugierig, bevor sie weiterspricht. „Ich habe Sie schon einmal irgendwo gesehen. Immobilien, nicht wahr?“

„Sehr gut“, antwortet Alasdair.

„Ich denke, wenn ich ein bisschen rüberrücke, können wir Sie beide unterbringen“, sagt sie und ruckelt hin und her, um Platz zu schaffen. Als wir sitzen, ist es so eng, dass ich spüre, wie sich sowohl Janice’ als auch Alasdairs Hüfte in meine graben.

„Ich bin zwar dankbar dafür“, murmle ich Janice zu, „aber ich bin nicht sicher, ob es gut ist, Favoriten zu haben.“

„Nun, ich habe welche“, erwidert sie. „Sie sind die Einzige, die sich immer bedankt, und dafür werden Sie bevorzugt behandelt.“

Ich will ihr gerade sagen, wie deprimierend niedrig diese Messlatte ist, als Orgelmusik einsetzt, die Türen aufschwingen und einen Mann in langen Gewändern enthüllen, der ein verziertes Kreuz an einer langen Holzstange trägt. Als die Orgel immer lauter wird, hebt er es in die Höhe und schreitet in die Kirche. Hinter ihm gehen in feierlicher Prozession Martin Osborne und die anderen Seniorpartner in ihren Ordenskleidern. Der Mann mit dem Kreuz bleibt vor den leeren Sitzbänken stehen, und die Partner stellen sich in der zweiten Reihe der Kirchenbänke auf.

„Wow“, flüstere ich Alasdair zu. „Die volle Besetzung. Alle Seniorpartner sind hier.“

Nach den Partnern kommt eine weitere Gruppe von Männern, die in Pelzmäntel gehüllt sind. „Vertreter der Skinners Gesellschaft“, informiert mich Janice, als sie hinter den Partnern Platz nehmen. „Und hier kommen die Freimaurer“, fährt sie fort, während sich eine weitere Prozession von Männern in dunklen Anzügen, die bunte Schärpen und Ketten um den Hals tragen, hinter den Skinners in die Kirchenbänke einreiht.

„Ich sage Ihnen eins“, murmelt Janice. „Wenn man das juristische Herz Londons auslöschen wollte, hätte ein Bombenabwurf auf diese Versammlung eine verheerende Wirkung.“

Die letzte Gruppe, die die Kirche betritt, ist, so vermute ich, Johns Familie. Allen voran schreitet eine elegant gekleidete Frau, die ich auf Ende fünfzig schätze, zusammen mit zwei jungen Männern, die ihren Gesichtszügen nach ganz offensichtlich ihre Söhne sind. Ich beobachte sie genau, während sie ihren Platz in der ersten Reihe einnehmen, und bewundere, wie gelassen sie unter diesem Druck bleiben. Es muss ein emotionaler Moment für sie sein, aber alle drei wirken völlig gefasst und halten ihren Kopf hoch.

„Sie macht das gut, nicht wahr?“, flüstert Alasdair. „Das muss ein riesiger Schock gewesen sein. Ich habe gehört, er hatte einen Herzinfarkt. Nicht ganz mit dem Gesicht in der Suppe, aber auch nicht weit davon entfernt.“

Während die letzten Mitglieder der Familienprozession Platz nehmen, nicke ich. Mein flüchtiger Blick wird zu einem erstaunten Blinzeln, als ich feststelle, dass ich die beiden Personen erkenne, die neben Johns Söhnen sitzen. Was, zum Teufel, haben Rollo und seine Mutter hier zu suchen? Bevor ich jedoch etwas zu Alasdair sagen kann, bittet uns der Pfarrer, uns für das Intro des Chores zu erheben.

***

„Ich glaube, John hätte sich darüber gefreut“, bemerke ich, während Alasdair, Janice und ich uns auf den Weg durch die Stadt zur Skinners Hall machen, wo der Empfang stattfindet. Die Firma hat Busse bestellt, aber es ist ein schöner, frischer Wintertag, und so haben wir drei beschlossen, zu Fuß zu gehen.

„Findest du es nicht seltsam, dass keiner seiner Söhne eine Laudatio gehalten hat?“, bemerkt Alasdair. „Ich meine, es war schön, was die anderen Leute über ihn gesagt haben, aber man hat keinen Einblick bekommen, wie er zu Hause war.“

„Ich würde trotzdem gerne wissen, in welcher Verbindung er zu Sarah steht“, sage ich.

„Wer ist Sarah?“, fragt Janice.

„Ich habe keine Ahnung, wie sie wirklich heißt. Die Frau, die etwas abseits von den anderen Familienmitgliedern saß, mit dem kleinen Jungen. Sie wohnt in der gleichen Straße wie ich.“ Ich beschließe, die Parkplatzstreitigkeiten nicht zu erwähnen, denn das ist keine Geschichte, die mich in meinem besten Licht erscheinen lässt.

„Vielleicht die Tochter?“, schlägt Alasdair vor.

„Nein“, sagt Janice entschieden. „Er hatte keine Töchter. Zwei Söhne, das war’s. Sie könnte mit einem der Söhne zusammen sein, obwohl sie viel älter aussah als die beiden, und ich bin mir ziemlich sicher, dass er keine Enkelkinder hatte.“

„Woher wissen Sie das alles?“, fragt Alasdair. Mich wundert ihr Kenntnisreichtum überhaupt nicht, aber er ist der beeindruckenden Janice bis zu diesem Tag ja auch noch nie persönlich begegnet.

„Ich rede mit den Leuten“, sagt sie geheimnisvoll.

Tagsüber draußen zu sein, ist seltsam. Ständig sehe ich mich schuldbewusst um, als ob jeden Moment einer der Seniorpartner auftauchen und wissen wollen würde, warum ich nicht im Büro bin. Martin hat sich in seinem letzten Schreiben allerdings ziemlich klar ausgedrückt. Als Zeichen des Respekts gegenüber John mussten alle, die an der Trauerfeier und dem Empfang teilnahmen, ihre Telefone ausschalten und solange unerreichbar bleiben, bis die Feierlichkeiten offiziell beendet waren.

„Vielleicht war sie ein Kindermädchen oder Au-pair der Familie“, schlägt Alasdair nach einer Weile vor.

Wir denken darüber nach, doch dann verwerfe ich die Idee: „Zu jung. Sie kann nicht mehr als zehn Jahre älter sein als die Söhne. Vielleicht eine Babysitterin?“

„Warum sollte die Babysitterin mit bei der Familie sitzen?“, erwidert Alasdair.

„Das können Sie sie gleich selbst fragen“, rät uns Janice. „Wir sind da.“

Offensichtlich gibt es eine Art Empfangsschlange, denn obwohl die Busse ihre Fahrgäste längst abgeladen haben und weggefahren sind, steht immer noch eine lange Reihe wartender Trauergäste vor dem Eingang zur Skinners Hall. Während wir der Tür langsam näher rücken, bin ich dankbar für das schöne Wetter, denn im Regen hätte sich mein Haar in einen nicht zu bändigenden Lockenkopf verwandelt.

Schließlich schieben wir uns hinein und werden von Johns Witwe und seinen beiden Söhnen begrüßt. „Mein herzliches Beileid“, sage ich, während ich ihre Hand schüttle und dann weitergehe, um den Vorgang mit jedem der beiden Jungen zu wiederholen. Aus der Nähe kann ich sehen, dass die beiden Johns hellblaue Augen geerbt haben, aber wo seine kalt und berechnend waren, sprühen ihre vor Leben. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich es fast für Belustigung halten, was ich in ihrem Ausdruck lese.

Am Ende der Empfangsschlange stehen zwei Kellner, die jeweils ein silbernes Tablett mit einer Auswahl an Getränken in der Hand halten. Ich nehme mir ein Glas Champagner und scanne den Raum, den gedämpfte Gespräche durchdringen. Beim zweiten Durchgang entdecke ich sie. Sie steht ganz allein da und nippt an einem Glas Champagner. Rollo neben ihr hält ein Glas Orangensaft in der Hand. Sie sieht verloren aus, und trotz unserer Feindschaft empfinde ich ein wenig Mitleid mit ihr, auch wenn meine Neugierde wächst, herauszufinden, wer sie ist. Ich starre sie immer noch an, als sie plötzlich aufschaut und meinem Blick begegnet. Ich kann sehen, wie sich ihre Augen kurz verengen, dann ergreift sie Rollos Hand und durchquert den Raum in meine Richtung. Ich werfe einen Blick zurück, um sicherzustellen, dass mein Geleitschutz – Janice und Alasdair – noch da ist, muss aber feststellen, dass die beiden bereits in ein Gespräch mit anderen Leuten vertieft sind. So ein Mist. Ich muss das jetzt alleine durchstehen, so gut ich kann.

„Es tut mir leid“, sagt sie, als sie mich erreicht. „Sie kommen mir bekannt vor, aber ich kann Sie nicht einordnen. Kenne ich Sie von irgendwoher?“

„Ich wohne in Ihrer Straße“, antworte ich.

„Sie ist die Dame, die dich wegen des Parkplatzes angeschrien hat“, fügt Rollo hinzu, was meiner Meinung nach nicht sehr hilfreich ist.

Ich sehe förmlich, wie der Groschen fällt, und mache mich auf die unvermeidliche Szene gefasst. Was dann passiert, überrascht mich. Sie lächelt.

„Sie haben für die Parkkralle gesorgt“, sagt sie, aber es ist keine Bosheit in ihrem Ton.

„Erst nachdem Sie mein Auto als ohne Besitzer gemeldet haben“, antworte ich.

„Das ist fair“, gibt sie zu. „Jedenfalls tut es mir leid. Ich habe im letzten Jahr eine Menge durchgemacht und ich glaube, ich habe das an vielen Leuten, auch an Ihnen, ungerechtfertigt ausgelassen. Übrigens, ich heiße Rebecca.“

„Thea. Freut mich, Sie kennenzulernen, denke ich.“

„Keine Sorge, ich beiße nicht. Ich nehme an, Sie waren Kollegen?“

„Ja. Ich bin eine der Partnerinnen bei Morton Lansdowne.“

„Haben Sie ihn gemocht?“

„Ich habe ihn respektiert.“

„Guter Versuch, der Frage auszuweichen.“

„Darf ich fragen, woher Sie ihn kannten?“

„Sicher. Das ist Rollo, mein Sohn. John ist – Entschuldigung, war – ich muss mich daran gewöhnen, das zu sagen. John war sein Vater.“

Einen Moment lang scheint die Zeit stillzustehen, während ich versuche, diese Information zu verdauen.

„Damit haben Sie nicht gerechnet, oder?“ Rebecca grinst. „Ist schon in Ordnung. Niemand tut das.“

„Wie?“, ist alles, was ich zustande bringe, bevor mir die Worte ausgehen.

„Oh, auf die übliche Weise. Ich bin sicher, Sie brauchen keine Präsentation dafür, oder? Ein reicher, verheirateter Anwalt verführt eine dumme Frau, die es eigentlich hätte besser wissen müssen. Es ist ein klassisches Märchen; ich glaube, Disney arbeitet an einer Verfilmung davon. Es ist ein bisschen wie Die Schöne und das Biest, nur dass sie schwanger und das Biest noch biestiger wird. Sie blickt zu Rollo hinunter, der unbeeindruckt aussieht, als hätte er diese Geschichte schon oft gehört.

„Liebling“, sagt sie zu ihm. „Ich glaube, da drüben gibt es ein paar Snacks. Warum legst du nicht ein paar auf einen Teller und bringst sie Thea und Mami?“

„Kann ich auch etwas haben?“, fragt er.

„Aber natürlich. Aber schling sie nicht hinunter, lass dir Zeit. Ich will nicht, dass dir auf diesem teuren Teppich schlecht wird.“

„Tut mir leid“, sagt sie, während Rollo in Richtung Buffet davonstapft. „Ich versuche, ihn vor dem Schlimmsten zu bewahren, aber ich kann mir auch nicht helfen.“ Verschwörerisch senkt sie ihre Stimme. „Die Wahrheit ist, dass ich froh bin, dass das Arschloch tot ist. Ich weiß, das klingt, als sei ich eine schreckliche Person, aber ich kann nichts dafür, wie ich fühle.“

Bevor ich überhaupt eine Antwort formulieren kann, werden wir unterbrochen.

„Rebecca, Liebling, da bist du ja. Wo ist Rollo?“ Ich drehe mich um und stehe Johns Frau gegenüber. Der heutige Tag wird immer verrückter.

„Entschuldigung, wie unhöflich von mir.“ Nahtlos wendet sie sich an mich. „Ich glaube nicht, dass wir uns schon begegnet sind, außer eben in der Empfangsschlange. Ich bin Alice, Johns Witwe.“

„Thea, Juniorpartnerin“, antworte ich.

„Thea wohnt in der gleichen Straße wie ich“, erklärt Rebecca, während Alice einen Arm um sie legt und sie drückt.

„Wirklich? Wie klein die Welt doch ist. Ich bin so froh, dass du jemanden hast, mit dem du reden kannst. Ich hatte schon Angst, dass du dich mit all diesen spießigen Anwälten langweilst.“

„Ich habe Rollo rübergeschickt, um den Buffet-Tisch zu inspizieren“, erzählt Rebecca. „Thea hat sich nach unserer Situation erkundigt, und es gibt einige Dinge, die er noch nicht hören sollte.“

„Ganz recht. Der arme Junge kann nichts dafür, wer sein Vater war, nicht wahr? Aber jetzt, da John tot ist, können wir die Dinge für euch beide in Ordnung bringen. Oh, Himmel, ich sehe schon, dass Martin versucht, meinen Blick zu erhaschen. Ich gehe besser und spiele die pflichtbewusste, trauernde Ehefrau.“

Langsam überkommt mich das Gefühl, ich sei durch ein Portal in ein Paralleluniversum geschlüpft. Je länger ich in diesem Raum verweile, desto weniger Sinn macht die Welt.

„Ich glaube nicht, dass das für Ihre Ohren bestimmt war“, sagt Rebecca mit einem Lächeln. „Sie macht ihre Sache sehr gut, aber ich glaube, sie ist genauso froh, ihn los zu sein, wie ich. Gehen Sie nach dem Empfang nach Hause?“

„Wahrscheinlich sollte ich zurück ins Büro.“

Sie zieht eine Grimasse. „Das hat er auch immer gesagt. Er tat immer so, als würde die Welt untergehen, wenn er nicht an seinem Schreibtisch saß. Er hielt sich für so verdammt wichtig, aber was bleibt, hm? Er bekommt keinen Stern auf dem Hollywood Walk of Fame, weil er dem fetten Unternehmen A geholfen hat, das Wichsgeschäft B zu kaufen. All die Stunden, all die langen Nächte, all das Geld. Und alles, was von ihm übrig bleibt, sind eine gleichgültige Frau, zwei legitime erwachsene Kinder, die ihn kaum kannten, eine Ex-Geliebte, die ihn hasst, und ein unehelicher Sohn, der sich hoffentlich nicht an ihn erinnern wird. Und was seinen ach-so-wertvollen Job betrifft: Es ist so, als würde man eine Stecknadel in einen Teich fallen lassen. Sie leuchtet kurz auf, aber wenn sich das Wasser über ihr schließt, verursacht sie nicht einmal ein paar kleine Wellen, sondern gerät in Vergessenheit. Verzeihung, ich sollte das wahrscheinlich nicht zu Ihnen sagen. Champagner verursacht bei mir ein loses Mundwerk. Ich schnappe mir lieber Rollo und gehe, bevor ich mich zum Gespött mache.“

Als sie sich umdreht, um nach ihrem Sohn zu sehen, regt sich etwas Rebellisches in mir. Bevor ich die Chance habe, es mir anders zu überlegen, berühre ich sie am Arm.

„Ich pfeife auf das Büro. Ich habe Wein im Kühlschrank, wenn Sie vorbeikommen wollen.“

Sie lächelt breit. „Abgemacht. Ich lasse Ihnen sogar einen Parkplatz frei.“

Kapitel 8

Schließlich einigen wir uns darauf, uns um 21 Uhr bei Rebecca zu treffen, damit sie die Möglichkeit hat, Rollo zu baden und ins Bett zu bringen. Ich bin ein wenig besorgt, als ich an ihrer Tür klingle, eine Flasche Chablis unter dem Arm. Was, wenn der Waffenstillstand von heute Nachmittag nur vorübergehend war?

„Thea, pünktlich auf die Minute.“ Lächelnd öffnet sie die Tür. „Kommen Sie rein. Ich bringe Rollo gerade zu Bett. Er ist erschöpft, aber er weigert sich, es zuzugeben. Gehen Sie schon mal ins Wohnzimmer, ich bin gleich da.“

Rebeccas Haus ist genauso eingerichtet wie meines vor der Renovierung, ich brauche also keine Wegbeschreibung. Mein altes Haus wirkte müde und schäbig, ihres jedoch ist gemütlich und offensichtlich liebt sie bunte Farben. Obwohl die Wände in neutralen Tönen gestrichen sind, sprühen die Kunstwerke an den Wänden vor Farbe, ebenso wie die Kissen auf dem Sofa.

Das Sofa. Dort sitzt Johns Frau Alice und schwenkt ein Glas Wein, das so groß ist wie ein Goldfischglas. Ihre Augen sind leicht glasig, und ich vermute, dass dies nicht das erste Glas ist.

„Thea, nicht wahr?“, sagt sie leicht undeutlich. „Schön, Sie zu sehen. Nehmen Sie sich einen Drink.“ Sie winkt in Richtung eines Tisches in der Ecke, wo eine teuer aussehende Flasche in einem Weinkühler steht.

„Die ist aus Johns Keller“, sagt sie, während ich mir ein kleines Glas einschenke. „Das schien mir angemessen.“ Als ich mich umdrehe, schimpft sie: „Oh, um Himmels willen, gießen Sie sich ordentlich ein und leisten Sie mir Gesellschaft.“

Ich fülle mein Glas auf und lasse mich neben ihr auf das Sofa sinken. Ich brenne vor Neugierde über ihre Freundschaft mit Rebecca, finde aber nicht die richtigen Worte, um sie danach zu fragen, ohne aufdringlich zu wirken.

„Das ist schon in Ordnung“, sagt Alice nach einem Moment. „Sie können fragen. Ich werde nicht beleidigt sein.“

„Was fragen?“

„Wie ich die Anwesenheit der Geliebten meines Mannes ertragen kann, ohne sie zu ohrfeigen.“

„Das war nicht ganz die Frage.“

„Aber ich bin nahe dran, oder?“

„Es scheint eine ungewöhnliche Konstellation zu sein“, gebe ich vorsichtig zu.

Sie setzt sich auf, nimmt einen großen Schluck Wein und etwas davon tropft auf ihr Kinn. „Okay. Ich will ganz offen sein. Rebecca war weder Johns erste noch seine letzte Geliebte. Manchmal denke ich, dass er eine Zeitmaschine gehabt haben muss, denn wie sonst könnte er behaupten, dass er fast rund um die Uhr arbeitet und trotzdem Zeit gefunden hat, so viele junge Frauen zu vögeln? Wie auch immer, ich schweife ab. Rebecca war nur eine von vielen, und sie war mir gleichgültig, weil ich das inzwischen gewohnt war. Aber dann passierte etwas, was sie auszeichnete, was bedeutete, dass John sie nicht einfach so fallen lassen konnte wie all die anderen, wenn ihm langweilig wurde. Sie wurde schwanger.“

„Wie haben Sie sich dabei gefühlt?“, frage ich.

„Ich wusste es nicht. Jedenfalls nicht am Anfang. John ging damit um, wie er mit allem umging. Er drückte Rebecca Geld in die Hand für eine private Abtreibung und erwartete, dass die Sache damit erledigt sei.“

„Aber sie hat nicht abgetrieben.“

„Sie weigerte sich. Er war fuchsteufelswild. Er war es nicht gewohnt, dass man nein zu ihm sagte, und er hat es überhaupt nicht gut aufgenommen. Natürlich hatte ich keine Ahnung, was das Problem war, aber ich wusste, dass irgendetwas nicht stimmte, denn bei den seltenen Gelegenheiten, an denen er nach Hause kam, polterte und fauchte er, und das war ungewöhnlich.“ Als Rebecca zu uns stößt und ein weiteres Glas bis zum Rand füllt, sagt sie: „Ah, da bist du ja, Süße. Schläft Rollo?“

„Jawohl. Er hat sich gewehrt wie ein Soldat, aber jetzt ist er absolut erledigt. Ich glaube, wir könnten eine Techno-Party veranstalten und er würde es nicht merken. Das Bett im Gästezimmer ist bezogen, falls du bleiben willst.“

„Das ist sehr lieb von dir, aber die Jungs und ich übernachten heute in der Wohnung.“

„Was haben sie heute Abend vor?“

„Das Übliche, denke ich. Sie nutzen die Gelegenheit, wenn sie zusammen in London sind, um sich mit ein paar alten Freunden zu treffen und einen schönen Abend zu verbringen, bevor wir morgen alle wieder getrennte Wege gehen.“

„Es ist schon komisch, wie sehr sie sich von ihm unterscheiden, nicht wahr?“

„Ich danke Gott jeden Tag dafür. Kannst du dir vorstellen, sie wären wie John? Einer von seiner Sorte war schon schlimm genug. Da fällt mir ein, ich habe Thea gerade erzählt, wie wir uns kennengelernt haben.“

„Oh, ja? Wo seid ihr denn stehen geblieben?“

„John war sauer, als du dich geweigert hast, Rollo abzutreiben.“

Den beiden zuzuhören, ist seltsam. Abwechselnd erklären sie, wie John zunächst versuchte, sich aus der Affäre zu ziehen, Alice dann allerdings doch herausfand, was vor sich ging. Sie drohte, ihn bloßzustellen, wenn er nicht das Richtige für Rebecca täte. Ich erfahre, dass Rebeccas Haus, ihr Auto, Rollos gesamtes Schulgeld sowie seine außerschulischen Aktivitäten von John finanziert wurden, und das mit äußerstem Widerwillen. Ihrer beider Hass auf diesen Mann sitzt tief. Ich meine, ich mochte ihn auch nicht, aber das hier ist eine ganz andere Liga.

„Kann ich Sie etwas fragen?“, wendet sich Alice eine Weile später an mich.

„Klar.“

„Was gefällt Ihnen an Ihrem Job? Was ist es, das die Arbeit lohnenswert macht?“

Ich denke eine Weile über ihre Frage nach.

„Wenn ein Geschäft zustande kommt“, antworte ich schließlich. „Monatelange Arbeit, lange Nächte, das Aufsetzen und Überarbeiten von Verträgen und dann endlich die wichtigen Unterschriften, die das Geschäft abschließen. Das ist schon aufregend.“

„Sie lieben es, zu gewinnen“, stellt Alice fest.

„Ja, natürlich. Tut das nicht jeder?“

„Sicher, aber ich glaube, bei Anwälten ist es krankhaft. Jedenfalls war es bei ihm so. Bis zu seinem Tod hat er immer nach Möglichkeiten gesucht, sich an uns zu rächen.“

„Ich glaube, wir haben beide eine wertvolle Lektion gelernt“, fügt Rebecca hinzu. „Je weniger Anwälte man in seinem Leben hat, desto besser.“ Offensichtlich bemerkt sie ihren Fehler, denn sie fügt sofort hinzu: „Natürlich mit Ausnahme der anwesenden Personen.“

„Natürlich“, sage ich lächelnd. Aber der Schaden ist schon angerichtet. Die Ereignisse des Tages und ihre heftigen Angriffe auf John und seinen Beruf haben in mir einen Keim des Zweifels gepflanzt, und ich spüre, wie er mit jedem Schluck Wein Wurzeln schlägt.