Kapitel 1
Chris
Es war dunkel, kalt und grau. Die Wolken hingen tief an diesem Tag, es wollte gar nicht wirklich hell werden. Als würde selbst der Himmel trauern und Herbert Lammers die letzte Ehre erweisen wollen. Auf den anliegenden Feldern zog kalter Nebel auf, kroch durch die Hecke und umschlang unheilvoll die Grabsteine. Wartete. Wartete auf die kleine Trauergesellschaft, die gerade zum Klang der Kirchenglocke hinaus auf den Friedhof trat. Zwei Männer schlugen seufzend die Krägen ihrer Mäntel hoch. Eine alte Dame zog einen schwarzen Schirm aus ihrer Handtasche und ließ ihn mit einem Klick aufspringen.
Langsam schritt die Gruppe über den schmalen Weg zu einem frisch ausgehobenen Grab. Während die meisten wegen des Niesels die Gesichter verzogen, freute er sich darüber. Der Nebel war perfekt: die vollkommenen Tränen. Er trauerte nicht wirklich. Im Gegenteil: Als er vor dem Erdloch stand, das für seinen Vater ausgehoben worden war, musste er sich ein Grinsen verkneifen. Endlich war er ihn los. Mit gesenktem Kopf wischte er sich demonstrativ die Nebeltränen aus den Augen.
Der Pastor begann mit einer kurzen Ansprache. Christian Lammers hörte ihm gar nicht zu. Er hätte seinen Vater Herbert am liebsten still und heimlich unter die Erde gebracht. Doch anscheinend gab es ein paar Verwirrte, die dem Mistkerl nachtrauerten. Obwohl, eher seinem Geld als ihm. Herbert Lammers hatte zeitlebens monatlich eine beträchtliche Summe an die Kirche gespendet. So ein verdientes Mitglied der Gemeinde hatte doch ein anständiges Begräbnis verdient, wie der Pastor ihm nahegelegt hatte. Pah, von wegen! Freikaufen hatte der Alte sich wollen. Freikaufen von dem, was er ihm, seinem Sohn, angetan hatte. So sah es aus!
In den achtunddreißig Jahren seines Lebens hatte er ihn nie unterstützt. Stattdessen hatte er mit Füßen nach ihm getreten und dabei zugesehen, wie er mit seiner Firma zugrunde gegangen war. Hatte ihn in einer kleinen Ein-Zimmer-Wohnung mit Stütze versauern lassen. Er zog die Nase hoch und fuhr sich durch die nassen blonden Haare. Die abfälligen Blicke der Trauergäste trafen ihn.
Tuscheln sie über meinen Anzug? Hallo, ich kann mir keinen neuen leisten!
Für die Beerdigung war ihm das Geld ohnehin zu schade. Manche sagten, er wäre unscheinbar. Ein Typ, den man gerne übersah. Und das taten sie. Immer.
Neben ihm stand eine kleine Familie – Vater, Mutter und zwei Kinder. Wie reizend. Genervt verdrehte er die Augen, als sich das Mädchen weinend im Arm ihrer Mutter versteckte. Lisa Oorlog, zwölf Jahre alt. Erklärter Liebling von Herbert Lammers. Mutter Ute strich ihr tröstend über die langen braunen Haare. Ihr Bruder Kai blieb cool. Keine Tränen. Wie alt war der? Zehn? Chris mochte die Oorlogs nicht. Vater Norbert war so ein Selfmade-Fuzzi, der vor Geld stank. Vor ein paar Jahren hatten sie neben seinem Elternhaus einen Protzbau errichtet, und seitdem waren die Kinder und Opa Fehn, wie sie seinen Vater genannt hatten, ein Herz und eine Seele gewesen. Er könnte kotzen! Sie kannten ihn nicht so, wie er ihn kannte. Herbert Lammers war ein herrisches, geiziges und egoistisches Arschloch gewesen. Doch das hatte jetzt ein Ende. Genau wie Opa Fehn. Endlich!
Chris sah den irritierten Blick seiner Großtante mütterlicherseits. Was? Erst jetzt fiel ihm auf, dass er bei dem Gedanken an seinen Vater in der Holzkiste verächtlich gelächelt hatte. Hastig rieb er sich über die Augen, als könne er den Anblick des Sarges nicht ertragen, und gab ein lautes Schluchzen von sich. Großtante Irmgard nickte zufrieden.
Der Pastor beendete seine Andacht und gab ein Zeichen. Die vier Sargträger ließen den Eichensarg an Tauen hinunter in das feuchte Erdreich. Muffige Luft stieg ihm in die Nase. Mögen die Würmer dich zerfressen!, gab Chris seinem Vater in Gedanken einen letzten Gruß mit auf die Reise.
Die nächsten Minuten verbrachte er mit Händeschütteln und betreten gucken. Das hatte er extra noch vor dem Spiegel geübt. Und dankend nicken, das war genauso wichtig. Dabei ging er in Gedanken schon die Arbeiten durch, die im Haus, das jetzt seins war, zu machen waren. Sein Vater hatte nie renoviert – das blieb wieder an ihm hängen. Doch immerhin durfte er sich jetzt Hausbesitzer nennen. Auf Vaters Sparbuch sollte genug Geld sein, um die Umbauten zu bezahlen. Der Geizhals. Leider hatte er das Buch noch nicht gefunden.
»Danke, Frau Gruismann«, sagte Chris und tätschelte die Hand der alten Dame, während das Wasser von ihrem Regenschirm auf seinen Kopf und in seinen Nacken lief. Mit verzogenem Gesicht schob er sie zur Seite. Sie war die letzte Gratulantin, pardon, Kondolentin gewesen. Endlich. Chris lockerte seinen Schlips und blickte den anderen nach, die über den Friedhof in Richtung Parkplatz hasteten. Auf die sonst obligatorische Teetafel hatte er verzichtet. Das Geld konnte er besser für einen neuen Fernseher verwenden.
Nachdem auch der Pastor ihm überschwänglich die Hand geschüttelt und zurück in die Kirche geeilt war, trat er noch einmal an das offene Grab. Da lag er nun also, der große Herbert Lammers: Beamter auf Lebenszeit, klein und dick und ein Arschloch. Chris spuckte verächtlich auf den Sarg. Sein Blick fiel auf den Grabstein hinter dem Erdloch. Marianne Lammers. Gestorben 1996. Er schluckte. Seine Mutter war ganz anders gewesen als sein Vater, der ihn direkt nach ihrem Tod zu seiner verschrobenen Großtante verbannt hatte. Seine Mutter war … Er schob den Gedanken beiseite. Es war lange her.
Der Nebel kroch ihm langsam unter den Anzug, und er fröstelte. Ein letzter Blick auf den Sarg im dunklen Erdloch, bevor Chris sich umdrehte und gut gelaunt zum Parkplatz ging.
Dort stand noch der schwarze SUV von Familie Oorlog. Als Chris durch das kleine Tor trat, ließ Ute die Scheibe der Beifahrertür hinunter.
»Christian! Sollen wir dich mitnehmen?«, rief sie und winkte ihm gleichzeitig zu.
Augenblicklich wechselte er zurück in den Trauermodus, trat an den Wagen heran und blickte Ute mit hängenden Schultern an. Ute, die Gute. Er kannte sie noch aus der Schule. Eine Streberin war sie gewesen, durch und durch. Beliebt bei allen, auch bei seinem Vater.
Chris griff nach der Hand, die sie ihm aus dem Wagen entgegenstreckte. »Danke, lieb von Dir, Ute. Aber ich möchte allein sein, verstehst du?«, sagte er mit weinerlicher Stimme. »Ich fahr lieber in meine Wohnung. Im Haus ist alles noch zu frisch.«
Ute nickte. »Klar, das verstehen wir doch. Und wenn du Hilfe brauchst mit dem Haus oder einfach nur reden möchtest …«
»Können wir endlich?« Norbert Oorlog startete den Motor.
Chris ignorierte ihn. »Dann melde ich mich bei dir. Danke, Ute«, raunte er, entzog ihr die Hand und warf ihr einen dankbaren Blick zu – geübt war schließlich geübt.
»Wir sehen uns morgen bei der Testamentseröffnung!« Die Stimme von Norbert fand so gerade noch den Weg zu ihm, während seine Frau die Scheibe wieder hochfahren ließ. Norbert trat das Gaspedal durch; Splitt flog zur Seite – er liebte große Auftritte.
Chris hob die Hand und schickte ihm einen ausgestreckten Mittelfinger hinterher. So ein arroganter Arsch! Vor Wut schnaubend ging er zu seinem Fahrrad, das an der Friedhofsmauer lehnte, und schloss es auf. Er besaß keinen schicken SUV, nicht einmal ein Auto. Er hatte nur sein altes, klappriges Fahrrad.
Moment? Was hatte der Fatzke gesagt? Testamentseröffnung? Ernsthaft? Sein Alter hatte ein Testament gemacht? Und Familie Oorlog darin bedacht? Warum wusste er nichts davon? Seine gute Laune war endgültig verflogen. Er sprang aufs Rad und strampelte durch den Nebel nach Hause.
Chris
Die alte Türglocke protestierte heftig, als Chris der Tür zur kleinen Eckkneipe Bei Hinnerk einen starken Stoß versetzte.
»Moin, Chris! Immer man sachte«, rief der Kneipenwirt seinem Stammgast entgegen.
Chris kümmerte sich nicht darum, klopfte mit der Faust auf den Tresen. »Moin, Hinnerk. ’n doppelten!«
»Na, so siehst du auch aus.« Hinnerk Freese stellte ein Schnapsglas vor Chris und goss ihm zwei Fingerbreit Klaren ein.
Der griff danach, kippte alles in einem Zug hinunter. »Noch mal.«
Während Hinnerk ihm nachschenkte, sah Chris sich suchend um. Bei Hinnerk war sein zweites Zuhause. Eigentlich sein erstes, wenn er ehrlich war. Er war öfter in der Kneipe als in seiner ranzigen Bude. Sein Blick schweifte über die alten Tapeten. Alles schien in den Siebzigern stehen geblieben zu sein. Das Mobiliar hatte schon deutlich bessere Zeiten gesehen: die Kanten der Tische waren abgestoßen, die Bezüge der Bänke und Hocker zerschlissen. Zigarettenrauch hatte die Wände gelb verfärbt, weshalb die Bilder noch so hingen wie am ersten Tag. Chris mochte das. Hier war nicht viel los, oft waren er und seine Kumpels sogar die einzigen Gäste. Zu seinem Glück durfte man hier noch rauchen.
In einer Ecke entdeckte er seine Freunde. Zuverlässig wie jeden Abend saßen sie auf ihrem Stammplatz im hinteren Teil der Kneipe – zwei Helle vor sich und Willi wie immer mit einer Zigarette im Mund.
»Mach uns noch ’ne Runde«, brummte Chris und kippte den zweiten Schnaps hinunter, bevor er zu ihrem Tisch schlurfte. Dort klopfte er zur Begrüßung mit den Knöcheln auf den Tisch und plumpste auf die zerschlissene Sitzbank.
Wilhelm de Freese, Willi genannt, drückte einen Zigarettenstummel im Aschenbecher aus und legte seine fleischige Hand auf Chris’ Schulter. »Ist dein Alter wieder aus’m Grab gesprungen oder warum guckste wie Sauerbier?«
»Schlimmer«, brummte Chris, schob die Hand weg und starrte finster an die Wand.
Willi steckte die Daumen hinter die Träger seiner Latzhose, die deutlich über seinem dicken Bauch spannte. Seine Glatze glänzte speckig im fahlen Licht. »Wat, is dein Alter wieder auferstanden?«, fragte er und lachte.
Chris zuckte zusammen. Willis Lache war so laut und abstoßend, dass er damit Tote zum Leben erwecken konnte. »Der Scheißkerl hat ein Testament gemacht!« Er kramte in seiner Jackentasche und knallte einen Brief auf den Tisch, den er gerade aus dem Briefkasten geholt hatte.
Normalerweise ignorierte er Post, amtliche sowieso. Und diesen Brief hier hätte es gar nicht geben dürfen.
Harald Schmitz, Spitzname Schmitti, griff danach und faltete das zerknüllte Papier auseinander. Schon seit Kindertagen waren sie Freunde. Harald hatte ihm auch die Arbeit auf dem Schrottplatz von Willi besorgt. Gut, Willi war ein Sklaventreiber, es war nicht immer ein Zuckerschlecken mit ihm. Aber alles war besser als die Jobs, in die das Arbeitsamt in stecken wollte. Alles lief schwarz, da musste kein Amt etwas von wissen. Harald selbst arbeitete in einer Kfz-Werkstatt im gleichen Industriegebiet.
»Mann, Mann«, murmelte Harald und fuhr sich mit der Hand über die sorgfältig gegelten Haare. »Dein Alter hat den Oorlogs echt was vermacht? Weißt du was?«
»Ich habe keine Ahnung. Morgen um drei weiß ich mehr. Hinnerk! Wo bleibt das Bier?«, brüllte Chris in Richtung Tresen.
Doch der ließ sich nicht aus der Ruhe bringen und stellte die Biere nebst Schnäpsen langsam aufs Tablett.
»Oorlog?« Willi zog die Stirn kraus.
»Die Nachbarn«, erklärte Harald ihm.
»Die reichen Kotznachbarn«, fügte Chris hinzu und riss Hinnerk ein Schnapsglas vom Tablett, kippte den Inhalt hinunter und knallte das Glas auf den Tisch.
»Oorlog gehört doch der große Firmenkonzern in Leer, oder?«, erkundigte sich Hinnerk, während er die Biergläser auf dem Tisch verteilte.
Chris nickte. »Die stinken vor Geld.«
»Und denen hat dein Vater etwas vererbt?« Willi schüttelte den Kopf.
»Vielleicht den Kindern.« Chris griff das Bierglas. »Die sind Vaters Lieblinge gewesen. Opa Fehn«, äffte er die Kinder nach.
Harald schnappte sich ebenfalls ein Glas. »Ach, dann kriegen sie sicher nur ein kleines Erinnerungsstück. Haus und Geld sind doch für dich, das nimmt dir keiner weg.«
»Ich hab das Sparbuch noch nicht gefunden. Dabei brauch ich das Geld dringend für den Umbau.«
Willi hob sein Glas. »Das findet sich noch. Auf dass der Alte ewig ruhe!«
Chris lachte und stieß mit ihm an.
Kapitel 2
Chris
Erneut hatte Chris sich in seinen Anzug gezwängt und saß jetzt genervt bei dem Notar im Wartezimmer. Oorlogs waren noch nicht da. Logisch: Ein Oorlog wartete nicht, er ließ warten. Es kribbelte in seinem Nacken. Er und sein Vater hatten die letzten Jahre kein Wort miteinander gewechselt, über das Erbe schon gar nicht. Für ihn war immer klar gewesen, dass er Haus und Geld bekommen würde. Ein ungutes Gefühl beschlich ihn. Was, wenn sein Vater ihm sogar über den Tod hinaus noch Steine in den Weg warf? Was, wenn er den Kindern und der guten Ute tatsächlich das Haus hinterlassen hatte? Was … Chris schluckte schwer.
Bevor er sich weiter Gedanken machen konnte, ging die Tür zur Kanzlei auf und Familie Oorlog trat ein. Durch die halb offenstehende Tür des Wartezimmers konnte er sehen, wie Norbert an den Tresen trat und sie anmeldete. Die nette junge Dame wies auf das Wartezimmer. Pah, auch ein Oorlog musste heute warten! Genugtuung erfüllte ihn, während er rasch in den geübten Trauermodus wechselte.
Kai und Lisa traten als Erstes ins Wartezimmer. Lisa trug ein dunkelblaues Kleidchen; Kai tatsächlich einen Anzug. Ging es noch großspuriger?
Die beiden drängten sich gleichzeitig in den Ledersessel in der Ecke; ihre Stimmen wurden lauter. Ute folgte ihnen, ignorierte den Streit und ging zielstrebig auf ihn zu. Widerwillig stand er auf und ließ sich von ihr in den Arm nehmen.
»Mein Lieber, wie geht es dir?«, fragte sie, während sie ihm über den Rücken streichelte.
Chris befreite sich aus ihrer Umklammerung und nahm ihre Hand. »Es geht, danke.«
Jetzt trat auch Norbert ein, warf einen abfälligen Blick auf Chris und seine Frau. Mit schnellem Griff packte er seinen Sohn im Nacken. »Kai! Lass deine Schwester in Ruhe!«, brüllte er und drückte den Jungen auf einen freien Stuhl.
»Aber …«
Lisa streckte ihm hinter dem Rücken ihres Vaters die Zunge raus und ließ sich in den Sessel fallen. Doch ihr Triumph währte nicht lange: Ihr Vater baute sich vor ihr auf und deutete mit dem Daumen über seine Schulter. Lisa verzog das Gesicht, stand aber auf. Jetzt war es Kai, der ihr die Zunge herausstreckte. Norbert nahm in dem Ledersessel Platz. Logisch – der Großkotz thronte nur auf Leder. Chris verdrehte innerlich die Augen. Merkten die denn nicht, dass sie nervten? Alle vier?
Ute war dazu übergegangen, ihm die Hand zu tätscheln und unentwegt auf ihn einzureden. Wie schlimm doch alles war, wie lieb sein Vater zu den Kindern gewesen war, wie schwer der Verlust … Bla, bla, bla. Chris entzog ihr die Hand. Am liebsten hätte er sie alle angeschrien, aber solange er nicht wusste, was im Testament stand, musste er sich zusammenreißen. Hoffentlich kam der Notar bald. Er konnte diese Leute nicht mehr ertragen.
Nach weiteren fünf Minuten Dauerbeschallung von Ute wurde er endlich erlöst. Die junge Dame von der Anmeldung trat in den Türrahmen. »Herr Grabert hat jetzt Zeit für Sie.«
Chris lächelte sie an und drängte sich an ihr vorbei. Nicht ohne eine zufällige Berührung an ihrer Brust, wo sie da schon so einladend stand. Er hatte sich eine Entschädigung für die Wartezeit verdient.
Das Büro roch muffig und vergilbte Vorhänge und große Eichenmöbel ließen den Raum dunkel wirken. Vor einem Schreibtisch standen fünf Stühle.
Notar Kuno Grabert schloss geschäftig den Knopf seines Jacketts und trat mit betretenem Gesicht auf die Gruppe zu. Er streckte die Hand aus, und Chris wollte sie gerade ergreifen, als der Notar doch tatsächlich Norbert zuerst begrüßte!
»Mein aufrichtiges Beileid.«
Chris schäumte innerlich vor Wut. Er war der Sohn! Ihm hatte dieser Vollpfosten sein Beileid auszusprechen, nicht diesem Oorlog.
Grabert reichte jetzt den anderen die Hand und bat sie, Platz zu nehmen. Die Kinder waren von dem Mann anscheinend so eingeschüchtert, dass sie still und kerzengerade auf dem Stuhl saßen. Der strenge Blick ihres Vaters tat sicher sein Übriges.
Der Notar griff nach einem großen Umschlag, zog einen kleineren, dicken aus diesem heraus und räusperte sich feierlich. »Herbert Lammers hat sein Testament bei mir hinterlegt und bestimmt, dass folgende Personen an der Eröffnung teilhaben. Christian Lammers.« Der Notar blickte zu Norbert.
»Ich bin der Sohn!«, rief Chris und funkelte den Notar wütend an.
Dem traten Schweißperlen auf die Stirn. »Oh, natürlich. Entschuldigen Sie bitte. Ich bin untröstlich. Ich …«
»Schon gut. Machen Sie weiter.«
»Gut. Weiterhin geladen sind Herr Norbert Oorlog, Frau Ute Oorlog sowie Lisa und Kai Oorlog.«
Herr Oorlog … Sein Blut brodelte. Natürlich. Und er war nicht Herr Lammers oder was?
»Ich werde jetzt das Siegel dieses Umschlages aufbrechen und das Testament verlesen.«
Der Notar brach das Siegel auf der Rückseite des Umschlags auf und entnahm ihm ein Schriftstück, ein kleines schwarzes Kästchen und – Chris hielt die Luft an – das fehlende Sparbuch. In seinem Magen machte sich ein ungutes Gefühl breit. Er ahnte, was das zu bedeuten hatte.
Der Notar räusperte sich, bevor er mit feierlicher Stimme zu lesen begann: »Ich, Herbert Lammers, im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte …«
Bei dem Satz musste Chris lachen, bemerkte aber im selben Augenblick seinen Fauxpas. Er hustete, rieb sich über die Augen, als würde er sich die Tränen abwischen. Ute blickte ihn mitfühlend an.
»… bestimme hiermit für den Fall meines Todes Folgendes: Mein Haus soll mein Sohn Christian bekommen. Da ich davon ausgehe, dass er es gleich verkaufen und das Geld verprassen wird, muss er mindestens zwei Jahre warten, bevor er es verkaufen darf. Andernfalls fällt das Haus an die Kirchengemeinde.«
Chris’ Puls schoss in die Höhe; er atmete tief ein. Gut, sein Alter hatte recht gehabt. Plan war, das Haus zu verscherbeln und sich woanders etwas Neues aufzubauen. Er wollte weg hier, wo ihn alle für einen Versager hielten. Dabei hatten die Spießer hier doch keine Ahnung! Und jetzt sollte er weitere zwei Jahre in diesem piefigen Dorf festhängen? Aber gut, es war zumindest sein Haus. Fehlte nur noch das Geld, um die alte Bruchbude zu renovieren. Er starrte auf das Sparbuch auf dem Schreibtisch.
»Weiterhin möchte ich Lisa und Kai Oorlog, die mir in den letzten Jahren solch eine Freude bereitet haben, etwas hinterlassen. Sie sollen das Geld von meinem Sparbuch bekommen.«
Chris schluckte schwer; sein Magen krampfte sich zusammen. Das hatte sein Alter nicht gemacht. Oder doch?
Kai und Lisa strahlten sich an.
»Wie viel ist das?«
Klar, dass das das Einzige war, was Norbert interessierte. Die Luft im Raum wurde noch stickiger. Chris fasste sich an den Hals.
»Moment.« Grabert nahm sich das Sparbuch und blätterte darin. »Nun, so wie es aussieht, hat Herr Lammers jeden Monat fünfhundert Euro darauf eingezahlt. Es wurde aber seit etwas über einem Jahr, also seit er das Testament bei mir hinterlegt hat, nicht nachgetragen.«
»Wie viel?«, fragte Norbert.
Der Notar blätterte eine Seite um. »Der Buchsaldo beträgt 132.500 Euro.«
Norbert lächelte zufrieden. Die Kinder redeten wild durcheinander, was sie kaufen wollten. Ute blickte etwas betreten auf ihre Hände.
Wie versteinert saß Chris auf seinem Stuhl. Im Kopf rechnete er die Summe hoch. Über einhundertvierzigtausend Euro? Das war sein Geld! Diese missratenen Gören hatten doch alles. Er schluckte trocken. »Das kann nicht sein«, stammelte er.
Der Notar blickte erneut ins Buch und hielt es ihm hin. »Doch, sehen Sie?«
»Nicht die Summe, du Spacken! Das ist mein Geld!«, brüllte er und sprang auf. Er streckte die Hand nach dem Sparbuch aus, aber Norbert war schneller, riss das Sparbuch an sich und steckte es ruhig in seine Jackentasche.
»Christian, das hat dein Vater meinen Kindern vererbt. Setz dich.« Seine Stimme war kalt.
»Das habt ihr euch so gedacht!«, fauchte Chris. »Ihr habt die Kinder auf meinen Vater angesetzt, gebt es doch zu!«
Ute sprang auf, griff nach seiner Hand, aber Chris stieß sie weg. »Lass mich! Sind wir hier fertig?«
Notar Grabert schüttelte den Kopf. »Herr Lammers, bitte beruhigen Sie sich. Es war der letzte Wille Ihres Vaters, und ich kann Ihnen versichern, er war ganz klar, als er bei mir gewesen ist. Setzen Sie sich, es geht noch weiter.«
Sein Alter sollte klar bei Verstand gewesen sein? Mühsam riss Chris sich zusammen. Er musste sich konzentrieren, um wieder in die Rolle des trauernden Sohnes zu schlüpfen. »Entschuldigen Sie«, murmelte er. »Es ist nur alles so schwer für mich.« Er zog die Nase hoch, was Ute erneut dazu veranlasste, seine Hand zu nehmen. Dieses Mal hielt er durch und ließ sie gewähren.
»Das wissen wir doch, Christian. Alles gut.«
Norberts abfälliger Blick traf seinen, also drückte er Utes Hand extra fest. »Lesen Sie bitte weiter«, erklärte er mit erstickter Stimme. Da hatte sich das Üben wieder gelohnt. Was kommt denn jetzt noch?
»Nun gut. Also, wo war ich stehen geblieben? Ja, bekommen. Für meine liebe Lisa habe ich noch etwas ganz Besonderes. Sie hat mich immer sehr an meine Marianne erinnert. Daher soll sie die Kette erhalten, die meine geliebte Frau schon von ihrer Mutter geerbt hat. Gezeichnet: Herbert Lammers.«
Lisa strahlte, während Kai das Gesicht verzog.
Norbert klopfte zufrieden auf die Jackentasche mit dem Sparbuch.
Ute tätschelte weiter seine Hand und griff lächelnd mit der anderen nach der ihrer Tochter.
Chris war wie vor den Kopf geschlagen. Das Arschloch hatte ihm das Letzte genommen, was ihm noch etwas bedeutet hatte. Wortlos stand er auf und ging.
Chris
Mistkröten! Verwöhnte Blagen! Mit jedem Tritt in die Pedale wuchsen der Hass auf seinen Alten und auf die Oorlogs. Die lieben Kinderlein erbten sein Geld? Die Sonne ging gerade unter und tauchte die Landschaft in ein warmes Rot. Das Wasser der Wieke links neben der Straße reflektierte die letzten Sonnenstrahlen; eine Ente zog dort ihre Kreise. Eine wohltuende Stille lag über allem. Doch das Idyll konnte nicht über den Anblick hinwegtäuschen, der sich rechts von ihm bot.
Chris hielt an, kniff die Augen zusammen und begutachtete die Bruchbude, die er geerbt hatte. Es war ein altes Fehnhaus – vorn ein kleiner Wohntrakt, hinten die Scheune. Gebaut wurde es wohl irgendwann in den Fünfzigern. Der Garten war ungepflegt, die Fensterscheiben dreckig und das Dach der Scheune hing bedenklich weit durch. Hier hatte schon lange keiner mehr etwas getan.
Er schob das Rad über die zugewucherte Auffahrt und warf es achtlos auf den Boden. Die Haustür knarzte, als er sie aufstieß. Innen sah es nicht besser aus als von außen; die Luft roch muffig. Sein Vater hatte seit Jahrzehnten nicht renoviert. Mit einem Grummeln im Bauch ging Chris in den schmalen Flur. Sein rechter Fuß trat ins Leere, er stolperte vorwärts. »Scheiße!« Er fing sich an der alten Kommode ab. Der Spiegel darüber war so blind, dass ihm nur eine Fratze entgegenstarrte. Du mich auch! Er blickte zum Fußboden, wo die zahlreichen Dellen im abgewetzten Teppich den gebrochenen Holzdielenboden darunter zeigten. Die Tapeten lösten sich an einigen Stellen ab.
Hier sollte er die nächsten zwei Jahre wohnen? Eher hausen. Chris stöhnte auf. Die Leute vom Amt würden ihm seine Wohnung streichen, wenn sie von seinem neuen Besitz erfuhren.
Von dem schmalen Flur gingen vier Türen ab – Bad, Schlafzimmer, Wohnzimmer und hinten links die Küche.
Frustriert trat er ein und sah sich um. Der Zustand war nicht viel besser als der des Flures, der gammelige Geruch noch intensiver. Gegenüber der Tür gab es zwei Fenster zur Straße. Die dicken, alten Vorhänge ließen kaum noch Licht herein, waren im Laufe der Jahre stark vergilbt. Rechts stand ein Ostfriesensofa vor dem Tisch. Der Stoff war blank gesessen und an einigen Stellen quoll die Polsterung heraus. An der Wand gegenüber befanden sich ein Kühlschrank, eine Spüle und ein Herd, der vor Dreck strotzte. Daneben ein alter Geschirrschrank, dessen untere Türen nur noch an einem Scharnier hingen.
Übelkeit stieg in ihm auf. Wie hatte sein Alter nur so leben können? Der hatte Unmengen an Kohle gehabt! Wollte er ihn mit dieser Bruchbude erniedrigen? War das all die Jahre sein Plan gewesen? Doch warum? Was verdammt hatte er ihm getan?
Er riss die oberen Glastüren der Vitrine auf, die mit gehäkelten Spitzengardinen verhangen waren. Mit voller Wucht warf er einen Teller auf den Boden. Scherben verteilten sich auf dem ranzigen Teppich.
»Du verdammtes Arschloch!«
Eine Tasse folgte, gleich darauf ein weiterer Teller.
»Du alte Drecksau!«
Sein Puls raste, während er Teller für Teller zerschmiss.
»Ich bin dein Sohn, falls du es vergessen haben solltest. Ich!«, rief er. Trauer überwältigte ihn, ließ ihn auf die Knie sinken. Er sehnte sich nach der Zeit, als seine Mutter noch gelebt und das hier sein Zuhause gewesen war.
Ein Zuhause, das sein Alter mit Füßen getreten hatte. Verkommen zu einem Ort, aus dem jede Erinnerung an seine Mutter verbannt worden war – und er gleich mit. Chris rappelte sich auf. Auf dem Schrank lag ein Hammer. Er umfasste ihn mit beiden Händen, holte tief Luft und donnerte ihn gegen die Wand. Putz bröckelte hinunter, und er schlug erneut zu. »Du alter Pisser!«
Die Küchentür wurde aufgerissen und Chris taumelte erschrocken einen Schritt zurück.
Willi starrte ihn mit zusammengekniffenen Augen an. »Alles okay mit dir?«
»Was macht ihr hier?« Chris griff sich erneut den Hammer.
»Ist wohl eher die Frage, was du hier machst?« Harald schob sich an Willi vorbei in die Küche und sah sich kopfschüttelnd um. »Wir dachten, wir feiern ’ne Runde mit dir.«
»Feiern? Feiern?! Das tun die scheiß Gören von nebenan ganz bestimmt!«
»Wie jetzt? Du bist doch der Erbe.« Willi rieb sich über die Glatze.
»Schön wär’s. Das Haus, ja, das hat der Alte mir hinterlassen. Mit der Auflage, hier zwei Jahre zu wohnen, bevor ich es verkaufen kann. Wohnen? In dem Loch hier? Da ist meine Butze ein Palast gegen!«
Willi verzog das Gesicht. »Schöner Wohnen gewinnste hiermit nicht. Aber du kannst doch renovieren. Ist das Sparbuch noch nicht wieder aufgetaucht? Dein Alter hat doch eine gute Rente gehabt. So wenig, wie er hier gemacht hat, müsste doch eine gute Summe drauf sein.«
»Ist es auch.« Chris lachte bitter. »Über einhundertvierzigtausend sogar. Und was macht dieser verdammte Mistkerl? Vererbt das Sparbuch den armen, kleinen Kindern von nebenan. Die haben meinen Vater systematisch um den Finger gewickelt, um an sein Geld zu kommen. Mir steht das Geld zu. Mir! Wisst ihr noch, wie er mich bei meiner Insolvenz hat hängen lassen? Dieses Arschloch! Ich war sein Sohn, verdammt noch mal!« Mit rotem Kopf schleuderte er den Hammer zu Boden. »Aber ich werde mir jeden Cent davon wiederholen!«