Gewalt ist keine Lösung
»Haben Sie etwa gerade ein Ei nach mir geworfen?« Der Mann im eleganten Anzug starrt mich schockiert an und wischt sich mit dem Taschentuch die Reste meines Wurfgeschosses von der Stirn.
Ja, ich weiß selbst, dass ich ein bisschen überreagiert habe. Gewalt ist keine Lösung, aber Eier zu werfen manchmal schon. Denn ich habe echt die Nase voll von diesen Investorengeiern, die andauernd versuchen, uns den Hof abzuknöpfen. Nur weil sie gehört haben, dass es uns nicht so gut geht. Pah! Ich bin sonst wirklich nicht so hysterisch, gerade habe ich mich allerdings doch etwas verloren – oder das Ei mich.
»Verschwinden Sie jetzt, ernsthaft«, zische ich. »Wir verkaufen nicht und sind auch nicht interessiert. An gar nichts, verstanden?«
»Wie Sie meinen. Aber falls Sie es sich doch noch anders überlegen, melden Sie sich bitte bei mir. Ich lege Ihnen meine Karte hier auf den Tisch.« Er macht Anstalten, in die Innentasche seines Sakkos zu greifen, woraufhin meine Hand schnell wieder in den Korb mit den Eiern wandert, die ich vorhin aus dem Stall geholt habe. Abwehrend hebt er die Arme. »Okay, okay. Ich schicke Ihnen lieber eine E-Mail mit meinen Kontaktdaten.«
»Gehen Sie jetzt, aber wirklich!«, rufe ich und kneife drohend die Augen zusammen.
»Bin schon weg. Nichts für ungut.« Er winkt ab, steigt dann in seinen viel zu polierten anthrazitgrauen Sportwagen und braust davon.
So ein Idiot. Wo sind die Möwen, wenn man sie mal braucht?
»Ahhhh, ich drehe durch!«, schreie ich, denn ich bin jetzt wirklich aufgebracht. Ich habe so sehr die Nase voll von irgendwelchen Leuten, die ungefragt hier auftauchen und zu wissen glauben, was gut für uns oder den Hof wäre.
»Lina? Alles okay? Wer war denn das?« Meine Mama kommt zu mir her und mustert mich sorgenvoll.
»Ach, mal wieder so ein Investorenfritze. Ich sage es dir, es nervt einfach nur noch.«
»Herrje, ärgere dich nicht. Die guten Eier.« Sie blickt zu dem zerbrochenen Matsch, der auf dem Boden liegt.
»Das mache ich gleich weg«, sage ich und seufze.
Mama legt sanft ihre Hand auf meine Schulter. »Ist es wirklich nur deswegen? Oder liegt dir noch was auf dem Herzen?«
Nun, wenn ich ehrlich wäre, würde ich ihr jetzt sagen, dass es nicht besonders gut um den Hof steht und dass es im Moment vorne und hinten nicht reicht. Ich hatte vorhin unseren Bankberater Herrn Knebel am Telefon, um ihn um einen Kredit zu bitten, und er meinte, er könne den so nicht genehmigen, obwohl er uns wirklich mag. Es sollte dringend Geld reinkommen. Er werde noch mal alles durchrechnen, könne mir allerdings keine große Hoffnung machen.
Aber ich erzähle davon nichts, sondern schüttele nur den Kopf. »Alles okay, ich hätte mich einfach nicht so aufregen sollen.«
»Schon in Ordnung. Wo sind denn Piet und Elsa?«, will Mama wissen.
»Elsa ist drinnen im Laden, Piet fährt gerade die Bestellungen aus. Und ich muss jetzt dringend ins Lager, die Eier wollen gesäubert und aufgeräumt werden.«
Sie lächelt und greift nach meinem Korb. »Komm, gib her, ich mache das schnell für dich. Und du versuchst in der Zwischenzeit mal, dich zu beruhigen, ja?«
Eigentlich will ich Nein sagen, nicke jedoch. »Danke, Mama. Ich bin gleich wieder da, okay?«
»Kein Problem, Schatz. Und denk daran, du kannst mit mir über alles reden.«
»Das weiß ich doch.«
»Na schön. Es wird schon alles werden. Denk einfach daran, was Papa immer gesagt hat.«
»Das mache ich, Mama, das mache ich«, antworte ich rasch. Ich muss mich nur eben beruhigen, dann wird das schon wieder, denke ich und mache mich auf den Weg zum Strand.
Ein Seestern ohne Zacken
Egal, wie verregnet es auch ist, einmal Liebe, immer Liebe – Syltseeliebe.
Ja, das hat mein Papa immer gesagt. Mir fehlen seine leichten Sprüche, seine Zuversicht. Ich lächele, als ich aufs Meer blicke und meine Zehen im warmen Sand vergrabe. Seit ich denken kann, ist es ein Ritual von mir, hier an unserem kleinen Strandabschnitt, der über einen direkten Weg vom Hof erreichbar ist, Ruhe zu finden und den Kopf frei zu bekommen. Und das brauche ich nach dem Vorfall mit diesem Investorengeier dringend.
Das sanfte Rauschen der Wellen umhüllt mich wie eine beruhigende Melodie, während der salzige Duft meine Sinne erfüllt. Fast so, als würde das Meer seine Geheimnisse mit mir teilen. Diese Momente am Strand sind für mich wie ein kostbares Geschenk, das mir Kraft und Hoffnung gibt, ähnlich wie die süßen Leckereien und Kekse, die meine Schwester Elsa backt.
Von dieser Stelle aus kann ich sogar das Reetdach auf dem Haupthaus unseres Bauernhofs in Rantum erkennen. Man kann hier in einigen Minuten von einer Küste zur anderen spazieren, weswegen man Rantum auch den »Ort zwischen den Meeren« nennt. Und die Natur ist wunderschön: das Rantumbecken, der kleine Hafen … Wie lange war ich nicht mehr dort. Dafür besuche ich ab und an die Buhnen. Sie dienten einst dem Küstenschutz, hatten jedoch nicht den erhofften Effekt. Dennoch sind sie wirklich hübsch anzusehen.
Ja, alles passt so schön, auch unser Hof. Mein Urgroßvater hat ihn seinerzeit aufgebaut, und er ist nun schon in der vierten Generation im Besitz unserer Familie. Zum Hof gehören neben meiner Schwester Elsa, meinem Bruder Piet und meiner Mama Inga auch ein paar Arbeiter wie Lasse, seine Frau Astrid sowie Katharina, die ab und zu hier aushilft. Und dann natürlich die Stallungen, die Tiere und ein großer Obst- und Gemüsegarten. Vieles von dem, was wir hier anbauen, landet im Hofladen, dem ein kleiner Cafébereich angeschlossen ist. Und genau so soll es auch bleiben.
Papa hat immer gesagt, dass wir die Liebe zum Hof und zu Sylt bewahren müssen, egal, wie stürmisch es auch sein mag. Dass uns das Leben den Weg weist und wir auf die Zeichen achten sollen, so verrückt sie auch sein mögen. Doch das ist in der gegenwärtigen Situation gar nicht so leicht, denn ich frage mich gerade, wie das alles weiter funktionieren soll. Seit Papas unerwartetem Tod ist eben nichts mehr, wie es einmal war.
Schon wieder spüre ich diesen Druck in der Brust und blicke zu den Wellen, die sanft über den Sand rollen. Ist es wirklich genug, einfach nur das Land und den Hof zu lieben? Denn natürlich müssen wir das alles auch weiterhin finanzieren – nur Luft und Liebe allein reichen da ja nicht aus. Doch ich bin bereit, zu kämpfen und alles dafür zu geben.
Ich seufze. Wenigstens scheint heute die Sonne. »Das wird schon alles, oder? Hast du nicht ein Zeichen für mich, liebes Leben?«, frage ich und sehe in den Himmel, als könnte ich mir von ihm eine Antwort erhoffen. Einen Moment lang beobachte ich die Möwen, die dort kreisen.
Und auf einmal – plopp!
Ernsthaft? Entgeistert starre ich auf den Fleck auf meiner Schulter und dann zurück in den Himmel. »Vielen Dank auch! Als hättest du hier nicht genug Platz, musst du ausgerechnet mich treffen«, rufe ich der Möwe zu, die am Himmel ihre Runden zieht und mich gerade angekackt hat. Und das auch noch, während ich über das Leben nachgedacht und nach einem Zeichen gefragt habe. Ganz toll. »Willst du mir damit irgendwas sagen, Leben?« Genervt lasse ich einen Schrei los. Okay, ich bin eindeutig zu theatralisch.
»Es will damit höchstens sagen, dass man hin und wieder nicht an der richtigen Stelle steht.«
Ich zucke zusammen und drehe mich rasch um, denn ich habe nicht damit gerechnet, beobachtet zu werden. Ein älterer Mann mit einem gezwirbelten grauen Schnurrbart steht vor mir und zwinkert mir zu. Er reicht mir ein Taschentuch, das ich lächelnd entgegennehme.
»Danke, wie lieb von Ihnen.« Das Tuch ist mit kleinen Möwen bestickt, was ich irgendwie witzig finde. »So, weg damit.« Energisch reibe ich mir über die Schulter. Wenigstens ist die Hinterlassenschaft der Möwe noch nicht angetrocknet, sodass ich sie einigermaßen problemlos entfernen kann.
»Du bist Lina Sörens, oder? Vom Syltseehof?«, fragt er mich nun.
Woher weiß er das? Prompt verkrampfe ich mich. Er ist wohl doch nicht so nett, wie ich dachte.
»Ja, die bin ich. Und sagen Sie jetzt nicht, dass Sie zu diesen ekligen Zeitgenossen von Immobilienfritzen und Investoren gehören, die unseren Hof haben wollen. Erstens bin ich in dieser Hinsicht heute nicht zu Späßen aufgelegt. Und zweitens verkaufen wir nicht!«
Er lacht und zwirbelt mit den Fingerspitzen an seinem auffälligen Schnurrbart. »Ach du liebe Zeit, nein, nein, keine Sorge. Ich bin’s nur, der Heiner.«
Nur der Heiner, okay. »Entschuldigung.« Erleichtert atme ich auf. »Ich wollte nicht so direkt sein, aber wegen diesen Aasgeiern bin ich immer sehr skeptisch. Erst vorhin musste ich wieder einen verjagen. Eine Plage, schlimmer als Möwendreck.«
Er mustert mich einen Moment lang, dann tätschelt er meine Schulter. »Das mit Johann, deinem Papa, tut mir sehr leid. Er war ein feiner Kerl, wirklich.«
Damit habe ich nicht gerechnet. Ohne dass ich es will, zieht sich mein Herz etwas zusammen. »Haben Sie ihn denn gekannt?«
»Ach, wir haben uns immer mal wieder gesehen und miteinander geredet. Er war ja oft in Hörnum am Hafen oder im Ort unterwegs. Wenn es warm wurde, hat man das Brummen seines Motorrads schon von Weitem gehört.«
»Stimmt, er ist immer gern auf der Insel herumgefahren.« Gedankenverloren lasse ich meinen Blick über das Meer schweifen. »Das waren noch Zeiten. Es kommt mir vor, als wäre das ewig weit weg.«
Heiner nickt versonnen. »Und wie geht es so ohne ihn auf dem Hof?«
Ich sehe ihn an. Einen Moment lang denke ich nach, dann antworte ich: »Gegenfrage: Wie geht es einem Seestern ohne Zacken?«
»Ich verstehe.«
Seufzend streiche ich mir die Haare aus dem Gesicht. »Aber wir kriegen das schon hin, irgendwie. Es muss«, sage ich fest entschlossen.
Er reckt den Daumen nach oben. »Das ist die richtige Einstellung, die hatte Johann auch. Er hatte immer so viel Vertrauen in das Leben und war fest davon überzeugt, dass es uns Zeichen schickt.«
Ja, so war er, mein Papa.
»Auf jeden Fall wäre ein Zeichen, wie wir es hinbekommen sollen, ganz nett. Doch ich denke, heute werde ich dem Leben keine Fragen mehr stellen. Das hat nicht so gut geklappt.« Ich deute auf den Fleck.
»Was wolltest du wissen? Vielleicht kann ich dir helfen.«
»Also, wenn Sie mir verraten, wie ich den Hof finanziell stabilisieren kann, ohne in irgendwelche Fallen zu tappen, sind Sie mein Held«, entgegne ich freiheraus.
»Dann werde ich mir mal Mühe geben.« Er lacht. »Aber Spaß beiseite. Manchmal sind es die Kleinigkeiten, die alles drehen können. Wenn man offen dafür ist, dann passieren die schönsten Dinge, davon bin ich überzeugt. Ich meine, wir haben es doch gut hier, oder? Die sanften Wellen, die sich am Horizont brechen, und die salzige Brise in der Luft – das alles erinnert uns daran, dass selbst in den scheinbar unendlichen Weiten des Ozeans die kleinen Momente des Glücks zu finden sind. Wie sage ich immer? In jeder Muschel kann eine Perle stecken.«
»Das klingt schön. Manchmal ist es aber auch nicht gut, offen zu sein. Da kann man ganz schön auf die Nase fallen«, gebe ich zu bedenken.
»Das tut mir leid.« Ich merke, dass er es ehrlich meint. »Ist euch das passiert?«
»Kann man so sagen.«
»Das gehört dazu. Gerade die Rückschläge sind es, die uns stärker machen und uns zeigen, welcher Weg der richtige ist. Und man lernt, was wichtig ist. Allein schon, dass wir uns jetzt unterhalten, kann doch eine positive Auswirkung haben. Vielleicht hat mein Spaziergang mich nicht ohne Grund hierhergeführt.«
»Wer weiß. Papa meinte ja immer, das Leben bringt das zusammen, was zusammen sein soll.« Ich sehe ihn fragend an. »Oh Mann. Ist das nicht verrückt?«
»Ganz und gar nicht. Das klingt schön. Entscheidend ist doch, wie du das alles interpretierst. Und dass du Vertrauen in das Leben hast. Wenn du das erkennst, hast du den Schlüssel in der Hand.«
»Den Schlüssel?«
»Ja, den Schlüssel, der alles verbindet und dich diese kleinen Zeichen sehen lässt. Benutzen musst du ihn allerdings selbst.« Er nickt mir aufmunternd zu.
Einen Augenblick lang stehen wir schweigend da. Ob es so einen Schlüssel gibt? Wirkliche Zeichen? Ich weiß es nicht.
»Also gut, dann werde ich mich mal auf den Weg zurück machen«, unterbricht Heiner meine Gedanken.
»Ja, klar. Danke, es hat mich sehr gefreut.«
»Mich ebenso.« Mit einem Lächeln wendet er sich ab und geht davon.
Ob es wirklich so sein sollte, dass wir uns treffen? Keine Ahnung. Eines kann ich allerdings sagen: Diese Begegnung hat auf alle Fälle gutgetan.
Ein Kacktag ist das
»Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig …«
Während ich die Eier zähle und nach ihrer Größe sortiere, kaue ich auf einem Friesenkeks herum. Zucker hat eine fast genauso beruhigende Wirkung auf mich wie das Meer. Und noch viel beruhigender ist es, wenn das Gebäckstück von meiner Schwester Elsa stammt.
»Vierundzwanzig …«
Auf einmal wird die Tür aufgestoßen, und ich schrecke auf. Beinahe hätte ich das Ei in meiner Hand fallen gelassen.
»Lina, ich habe da was Geniales auf Instagram entdeckt, das muss ich euch zeigen. Es könnte die Lösung all unserer Probleme sein!«, ruft mein Bruder Piet, der nun, gefolgt von meiner Schwester Elsa, den Laden betritt.
Ich liebe meine Geschwister und weiß es zu schätzen, dass auch sie sich immer etwas Neues überlegen, um den Hof über Wasser zu halten. Aber oftmals sind es merkwürdige Ideen. Die letzte war, dass wir uns doch Ponys anschaffen sollten.
»Warte kurz«, murmele ich vor mich hin und versuche, mich wieder zu konzentrieren. »Siebenundzwanzig, achtundzwanzig …« Ich seufze. »Ach was, schon verzählt.«
»Oje, was ist denn los?«, will Elsa wissen. Ihre braunen Augen sind neugierig auf mich gerichtet, während sie das benutzte Geschirr der Gäste, das sie von draußen hereingebracht hat, auf der Theke abstellt.
»Nichts. Ich zähle Eier«, antworte ich und ringe mir ein Lächeln ab.
Elsa lehnt sich über die Theke zu mir. »Ach, komm schon. Immer wenn du laut zählst, ärgerst du dich insgeheim über irgendwas.«
»Raus mit der Sprache. Mama sagte, du hättest jemanden mit Eiern beworfen?«, fragt nun auch Piet, der genau wie Elsa ziemlich aufgeregt zu sein scheint.
Die beiden kennen mich zu gut.
»Okay, erwischt. Ehrlich gesagt habe ich mich geärgert, ja. Da war wieder so ein Immobilienheini und …« Ich nehme mein Handy, entriegle es und reiche es den beiden. »Lest das mal. Obwohl ich so sauer war, hat er doch tatsächlich eine E-Mail hinterhergeschickt, das hat mich dann nur noch mehr genervt. Dabei war ich auf so einem guten Weg. Und jetzt war ich gerade am Meer und habe versucht, mich zu beruhigen. Aber gut.«
Kurz sind meine Geschwister mit Lesen beschäftigt, dann wenden sie sich wieder mir zu. »Das braucht uns nicht zu interessieren«, meint Piet. »Es ist doch das Übliche, und wir haben sowieso kein Interesse, also ärgere dich nicht.«
Elsa nickt zustimmend, während sie mir das Handy zurückgibt. »Das sehe ich auch so. Wenn wir uns ärgern, hält uns das nur davon ab, positive Energie zu haben. Da werden ja die Eier schlecht – oder kaputt wie in deinem Fall. Und das wäre schade.«
»Hahaha. Ja, schon. Aber bei diesen Geldgeiern verstehe ich keinen Spaß mehr. Die fragen überall an, kaufen alles auf und reißen die alten Häuser ab, die seit Jahrhunderten bestehen. So nach dem Motto: Zack, das machen wir einfach neu. Oder sie tarnen sich als irgendwelche Experten.« Ich muss schlucken, wenn ich daran denke. »Das eigentliche Übel ist ja, dass man gezwungen ist, zu verkaufen, weil alles so teuer geworden ist. Leute, die schon seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten hier auf der Insel leben, können sich den Unterhalt ihrer Häuser nicht mehr leisten. Das kann es doch nicht sein, oder?« Auffordernd sehe ich Piet und Elsa an.
»Wolltest du nicht aufhören, dich zu ärgern?«, entgegnet Piet. »Das bringt doch nichts.«
»Das stimmt schon, nervt mich aber trotzdem.«
»Wir schaffen das, ganz sicher«, meint Elsa. »Wir fallen auf niemanden mehr rein.«
»Absolut nicht. Und jetzt erzähl du mal, Piet«, fordere ich ihn auf. »Was hast du denn auf Instagram entdeckt, das die Lösung unserer Probleme sein könnte?«
»Das sagst du so abwertend. Du wirst dich gleich ernsthaft wundern.« Er zieht sein Handy aus der Tasche, und ich muss grinsen.
»Na ja, ich hoffe mal, es ist nicht eine dieser Anzeigen, die gerade überall auftauchen. Du weißt schon, die dir deinen Seelenpartner vorschlagen wollen.«
»Nein, nein, also …« Er tippt kurz auf dem Display herum, und als er das Gesuchte gefunden hat, schiebt er mir das Telefon über den Tresen zu. »Schau dir das mal an. Da wird ein Hof auf Sylt gesucht, als Schauplatz für einen Film. Ich denke, das wäre eine tolle Chance für uns, um ein bisschen bekannter zu werden. Wir sollten uns bewerben. Elsa ist auch begeistert.«
Stirnrunzelnd betrachte ich die Anzeige. »Für Dreharbeiten zu einem Film wird ein uriger Bauernhof auf Sylt gesucht, der seine Türen für uns öffnet«, lese ich laut vor und sehe dann Piet an. »Und das soll seriös sein? Auf Instagram? Ich wäre da ganz vorsichtig.«
»Das ist seriös, da bin ich mir ganz sicher. Vielleicht ist es ja auch ein Zeichen. Ein Schlüssel zum neuen Glück.«
Ein Schlüssel? Sofort denke ich an meine Begegnung mit Heiner. Aber das ist doch Quatsch. Piet scheint jedoch ganz überzeugt davon zu sein.
Ich räuspere mich. »Ein Zeichen? Wie kommst du denn darauf?«
»Glaub mir, du bist nicht die Einzige hier, die sich Gedanken macht. Aber warum nicht? Es kann doch eine Chance sein.«
Erneut betrachte ich die Anzeige, dann schüttele ich den Kopf. »Ich glaube nicht, dass es wirklich etwas Professionelles ist. Die wollen nur Adressen und andere Daten sammeln. Und ihr wisst ja, was beim letzten Mal passiert ist.«
Piet nickt. »Ja, schon. Aber das ist was anderes. Ich finde, wir könnten genau dieser urige Hof sein.«
»Ich finde es auch superspannend«, pflichtet Elsa ihm bei, und ich höre deutliche Euphorie in ihrer Stimme.
Ich sehe die beiden ernst an. »Es wird ein Hof gesucht, schön und gut. Doch was bedeutet das alles? Stellt euch vor, wir werden genommen. Wollen die dann am Ende Geld von uns? Ich bin da echt vorsichtig. Und warum wird dir so was überhaupt angezeigt?«
»Keine Ahnung, aber ich habe ohnehin das Gefühl, dass unsere Handys Gespräche mithören können. Und wir reden ja oft darüber, was wir mit dem Hof machen sollen.«
»Hm, wie auch immer, ich traue der Sache nicht«, bekräftige ich noch einmal. »Was ist das denn für eine Produktionsfirma, die auf Instagram eine Anzeige schaltet? Und selbst wenn es seriös wäre, warum sollten wir davon profitieren? Was bringt es uns – außer mehr Arbeit?«
Piet lacht. »Was es bringt? Na, das liegt doch auf der Hand. Erstens steht da was von Vergütung. Natürlich bezahlen die uns und nicht umgekehrt. Zweitens steigt das Interesse der Leute, wenn unser Hof im Fernsehen gezeigt wird. Wir werden für die Touristen bekannter, attraktiver, da ist so vieles möglich.«
»Eben.« Elsa reckt entschlossen den Daumen nach oben. »Also, ich stimme Piet zu. Denkt mal an Serien wie den Landarzt oder den Bergdoktor. Die Leute pilgern in Scharen zu den Orten, an denen die Filme gedreht werden. Das wäre doch richtig top für uns. Ich finde, wir sollten es zumindest versuchen.«
Doch ich schüttele schnell den Kopf.
»Ach komm, Lina. Was ist denn schon dabei? Probieren könnten wir es wirklich mal.« Elsa tätschelt mich am Arm.
Könnte das tatsächlich eine Chance sein?
»Was muss man denn tun, um dabei zu sein?«, frage ich nun zögernd.
»Das ist ganz einfach. Hier ist ein Bewerbungsformular. Man lädt Fotos vom Hof hoch und schreibt ein bisschen was dazu. Wer wir sind, was wir machen …«
Ich schaue mir alles an, bin jedoch immer noch skeptisch. »Wir haben so viel zu tun mit dem Anbau und der Ernte, der Instandhaltung des Hofes, den Tieren, dem Hofladen … Wenn dann noch Dreharbeiten hier stattfinden, endet das doch unweigerlich in einem Chaos. Egal, wie man es dreht und wendet. Klar, wir müssen uns etwas überlegen, aber das hier ist Quatsch.«
»Das sehe ich nicht so. Es muss doch einen Grund geben, dass ich die Anzeige entdeckt habe.«
»Ja, und der ist, dass du dich eindeutig zu viel auf Instagram herumtreibst.«
Piet seufzt, und Elsa wirkt ebenfalls geknickt. »Na gut, ich gehe mal nach draußen zu den Gästen«, sagt sie und verlässt den Laden.
Piet atmet tief durch. »Denk wenigstens mal darüber nach, Lina, okay? Es wäre wirklich eine gute Chance. Ich weiß, du hast immer noch an dieser Sache zu knabbern, aber …«
Er kommt nicht mehr dazu, seinen Satz zu beenden, denn die Tür wird aufgerissen, und Lasses Frau Astrid stürzt herein. Sie ist kreidebleich, und der Schock steht ihr ins Gesicht geschrieben. Augenblicklich wird mir klar, dass etwas passiert sein muss.
»Lina, Piet, kommt schnell. Lasse, er …« Sie atmet schwer. »Er ist von der Leiter gefallen.«
Sofort machen wir uns auf den Weg, ihr zu folgen. Auch Elsa schließt sich uns an.
»Ich habe schon den Notarzt verständigt«, erzählt Astrid uns, während wir auf den Obstgarten zurennen. Unter einem der hohen Sanddornsträucher liegt Lasse mit geschlossenen Augen und stöhnt immer wieder leise.
Das darf doch nicht wahr sein.
»Lasse, was machst du nur für Sachen? Wie geht es dir?«, rufe ich, als ich neben ihm in die Hocke gehe.
»Mein Bein. Ich fürchte, es ist gebrochen.« Seine Stimme klingt ziemlich schwach, und ich bin erleichtert, als nun in der Ferne schon das Martinshorn zu hören ist.
»Das sieht nicht gut aus«, flüstert Elsa, und ich befürchte, dass sie recht hat.
Wenig später hält der Krankenwagen auf der Straße, an die der Obstgarten angrenzt. Mittlerweile haben alle auf dem Hof davon Wind bekommen, dass etwas passiert ist, darunter auch Mama, Katharina und ein paar Gäste des Hofcafés. Sie alle stehen stumm da und sehen betreten zu, wie Lasse in den Krankenwagen verladen wird.
Astrid begleitet ihn. »Ich melde mich, sobald ich etwas weiß«, sagt sie noch, dann schließen sich auch schon die Türen, und der Krankenwagen fährt los.
»So ein Mist«, murmele ich und merke, wie verzweifelt ich bin. Nicht nur, weil es ein Schock für uns alle ist.
Es ist immer schlimm, wenn Unfälle passieren. Aber dieser Vorfall ruft besonders auch die Erinnerung an jenen Tag in mir wach, als unser Papa wie aus heiterem Himmel plötzlich umkippte. Sein Herz hatte einfach aufgehört zu schlagen, und der Notarzt, den wir sofort gerufen hatten, konnte nur noch seinen Tod feststellen. Noch heute ist bei jedem Krankenwagen, den ich sehe, bei jedem Martinshorn, das ich höre, augenblicklich die Erinnerung wieder da.
»Das wird schon wieder«, sagt Mama. Ich weiß, sie möchte uns damit beruhigen, doch innerlich zittere ich noch immer.
Ja, sicher wird es wieder. Aber mit Lasses Unfall kommen weitere Probleme auf uns zu, denn mit ihm fällt eine wirklich gute und zuverlässige Arbeitskraft aus. Er hat nicht nur die Tiere versorgt und sich um den Anbau und die Ernte gekümmert, sondern auch regelmäßig die Bestellungen ausgeliefert und ist oft mit auf den Markt gefahren. Er weiß, wie alles hier auf dem Hof funktioniert.
Was ist das nur für ein Tag? Ich blicke auf meine Schulter, wo der helle Fleck noch ein klein wenig zu sehen ist. Ein Kacktag ist das, aber so was von.