Kapitel 1 - Freitag
Manuela Maurer
Manuela Maurer schob die Tür zum Kinderzimmer ein Stück weit auf, huschte hinein und warf einen Blick in die Wiege. Sie lächelte; ihr wurde warm ums Herz. Ihr größter Traum war wahr geworden und trug den Namen Emma. Die Kleine schlief und gab nur hin und wieder ein Glucksen von sich. Manuela strich ihr über die Wange. Ihre süße Maus war gerade einmal sechs Wochen alt und sie genoss jede Minute mit ihr. Eine Zeit lang blieb sie still am Bett stehen und beobachtete ihre Tochter. Schließlich schlich sie sich zurück in die Küche, ließ die Tür einen Spalt offen.
Im Ofen brutzelte ein köstlich duftender Braten langsam vor sich hin. Manuela schaltete das Radio ein und sang leise mit, während sie das Gemüse putzte. Es war ihr fünfter Hochzeitstag, und sie wollte ihren Mann Carsten mit einem Dinner zu zweit verwöhnen.
Ihr Haus war nicht besonders groß, aber sie hatte es heimelig eingerichtet und fühlte sich wohl hier. Wehmütig blickte sie aus dem Fenster in den Garten, in dem im hinteren Teil ein Ahornbaum seine Äste weit über das Gartenhaus spannte. Noch im Frühjahr hatte sie Gemüsebeete angelegt, Stauden gepflanzt und die freie Sicht in den Hammrich genossen. Nichts hatte den Blick in die unendlichen Weiten des Rheiderlandes gestört. Doch vor Kurzem war in der Nachbarschaft ein Baugebiet erschlossen worden, und ein Rohbau direkt hinter ihnen wuchs jeden Tag weiter in die Höhe. Es würde Jahre dauern, bis die neu gesetzte Hecke vor den Blicken der zukünftigen Nachbarn schützte. Das Schlimmste war für Manuela der Lärm. Jeden Tag fuhren Lkw am Haus vorbei, wurde gehämmert, geflext.
Heute war es erstaunlich ruhig und Manuela genoss es. Vielleicht sind die Rohbauarbeiten abgeschlossen und der Innenausbau wird leiser?
Sie wandte sich wieder dem Gemüse zu. Als sie kurz darauf erneut aus dem Fenster sah, stutzte sie. Sie kniff die Augen zusammen. Da waren Fremde auf ihrem Grundstück! Ihr Herz klopfte schneller; ein mulmiges Gefühl ergriff sie.
Drei Männer, der Kleidung nach Handwerker, kamen über den Rasen auf ihr Haus zu. Einer von ihnen wurde von einem anderen gestützt, der dritte winkte hektisch. Manuela ging zur Terrassentür. Was wollen die hier?
»Bitte, wir brauchen Hilfe!«, rief einer, durch die Scheibe der geschlossenen Terrassentür klang die Stimme seltsam dumpf. »Mein Kollege ist mit dem Werkzeug abgerutscht … Das Bein …« Er deutete auf den humpelnden Mann hinter sich.
Mit einem Kribbeln im Nacken sah sie sich die drei Männer an. Der Verletzte war der jüngste von ihnen. Das linke Hosenbein war rot. Blut? Er war recht groß und untersetzt, stützte sich auf einen etwas kleineren. Beide blickten starr auf den Boden. Der dritte Mann war ebenfalls recht groß, aber schlank, hatte eine Schirmmütze tief ins Gesicht gezogen. Alle trugen hellbraune Handwerkermonturen. Kommen sie von der Baustelle?
Etwas in ihr sagte ihr, dass sie die Tür geschlossen lassen sollte. Dass von den Fremden Gefahr ausging. Ihr kam das Ganze nicht geheuer vor – ihre Hände wurden nass. Sie schielte zur Uhr. Verdammt, Carsten kommt erst in einer Stunde. Der junge Mann draußen schrie auf. Sie vergaß alle Vorsicht, öffnete die Terrassentür, trat hinaus.
»Was ist denn passiert?«, fragte sie den großen Mann, der hastig auf sie zukam, den Blick immer auf seine zwei Begleiter gerichtet.
»Mein junger Kollege hier hat sich verletzt. Haben Sie Verbandszeug und ein Telefon?« Er war jetzt direkt vor ihr, hielt etwas längliches Schwarzes in der Hand.
Das mulmige Gefühl wuchs; eine Gänsehaut fuhr ihr über den Rücken. Jeder Handwerker hatte doch ein Smartphone dabei. Sie musste …
Bevor sie einen Ton sagen oder zurück ins Haus flüchten konnte, war es zu spät.
Mit einem schnellen Griff packte der Handwerker sie und drückte ihr das schwarze Klebeband auf den Mund, erstickte so jeden Schrei. Manuela krallte ihre Fingernägel in seine Jacke, trat nach ihm, aber er zog sie unbeeindruckt hinter sich her in die Küche. Die beiden anderen Männer folgten ihm. Von einer Verletzung war bei dem Jüngeren nichts mehr zu merken.
Sie haben mich in eine Falle gelockt! Emma!
Panik stieg in ihr auf, schnürte ihr den Hals zu. Sie ahnte, was ihr bevorstand. Der Mann verdrehte ihr die Hände auf dem Rücken. Sie trat wieder nach ihm, warf sich in Richtung Boden, um ihn zu Fall zu bringen. Der Mann lachte nur, zog sie hoch, presste sich an sie. Sein heißer Atem streifte ihren Hals; die Luft blieb ihr weg.
Der schmächtige Mann griff nach einer Rolle Klebeband, zog einen weiteren Streifen ab, trat näher. Manuela wandte den Kopf zur Seite.
»Schön stillhalten«, raunte eine Stimme ihr ins Ohr, als ein zweiter Klebestreifen auf ihre Augenlider geklebt wurde.
Sie erstarrte. Das Geräusch von zerspringendem Geschirr ertönte, bevor sie mit dem Bauch auf den Küchentisch gedrückt wurde. Jemand schob ihren Rock hoch. Wimmernd versteifte sie sich.
Emma weinte.
Nein!
»Hey, da ist ein Baby«, rief eine junge Stimme. »Das könnt ihr jetzt echt nicht bringen.«
»Halt die Klappe!«, schnauzte der Mann, der sie festhielt. »Schmeiß die Kamera an. Und du Mäuschen«, flüsterte er ihr ins Ohr, »bist ganz schön lieb zu mir, sonst kümmer ich mich um dein Blag. Verstanden?«
Die Stimme war eiskalt. Sie hatte keinen Zweifel daran, dass er seine Drohung auch wahr machen würde. Nicht Emma! Nicht ihr Kind!
Sie nickte, während Übelkeit in ihr aufstieg und ihr Herz zerbrach.
Carsten Maurer
Das Lied aus dem Radio mitsummend, parkte Carsten Maurer kurz nach 18 Uhr vor seiner Garage. Es war Freitag, ein schönes Wochenende mit seiner Frau und seiner kleinen Emma lag vor ihm. Der Dreißigjährige stieg aus und nahm seine Arbeitstasche vom Rücksitz. Er arbeitete als Ingenieur bei der Wonderland Werft in Papenburg. Zurzeit war viel zu tun: Das neue Kreuzfahrtschiff sollte nächste Woche ausgedockt werden. Eine Menge Überstunden standen an, aber dieses Wochenende hatte er sich freigehalten. Zum fünften Hochzeitstag würde er Manuela zu einem Ausflug nach Hamburg und einem Besuch im Musical entführen. Seine Mutter passte morgen auf Emma auf. Carsten holte einen großen Strauß mit roten Rosen und den Gutschein, den er dafür gebastelt hatte, aus dem Kofferraum und ging zur Haustür.
Ein verbrannter Geruch kroch ihm in die Nase. Als er die Tür öffnete, ließ er vor Schreck Blumen und Tasche fallen. Aus der Küche drang Qualm in den Flur. Emma schrie in ihrem Zimmer.
»Manu?«
Sein Puls schnellte in die Höhe, während er durch den Flur rannte. Was ist hier los? Er hielt sich das T-Shirt vors Gesicht und drückte die Tür zur Küche auf. Mit großen Augen blickte er auf das Chaos auf dem Boden. Aus dem Backofen drang schwarzer Rauch. Von seiner Frau war nichts zu sehen. Carsten hustete, suchte sich den Weg zur Terrassentür und riss sie weit auf. Er atmete einmal tief durch, lief zurück. Mit einem Handtuch zog er die Ofentür auf und beförderte die Reste des Bratens hinaus auf die Terrasse. Sein Herz pochte heftig gegen die Rippen, als er erneut durch die verqualmte Küche hastete. Emma! Zum Glück war die Tür verschlossen. Er drückte diese auf; der Rauch war noch nicht hineingezogen.
»Sch, kleine Maus, alles gut. Papa ist da«, sagte er, beugte sich hinunter zu Emma – und erstarrte.
Manuela saß in der Nische zwischen Wand und Kleiderschrank und blickte starr auf das kleine Kinderbett, in dem Emma lauthals schrie.
»Manu? Manu, was ist los?«
Carsten hockte sich vor sie und berührte sie am Arm. Manuela schrie auf und hielt sich die Hände vors Gesicht. In ihren Haaren hingen Reste von schwarzem Klebeband, ihr T-Shirt war zerrissen, der Rock ebenfalls.
Carsten ließ sich auf den Boden sinken, eine unsichtbare Faust schlug in seinen Magen. »Manu? Ich bin es, Carsten«, flüsterte er und tastete nach ihrer Hand. »Wer hat dir das angetan?«
Seine Frau reagierte nicht, starrte weiter auf das Kinderbett, zitterte am ganzen Körper. Wie ferngesteuert griff er nach seinem Smartphone, wählte 110.
»Notrufzentrale. Was kann ich für Sie tun?«
»Meine Frau ist überfallen worden.«
Johannes de Vries
In seinem Büro im zweiten Stock der Polizeiinspektion Leer wühlte sich Hauptkommissar Johannes de Vries durch einen bunten Wirrwarr von Papieren, Fotos und Schnellheftern auf dem Schreibtisch. Irgendwo muss der doch sein! Er nahm einen Stapel und ließ ihn auf den Boden fallen. Wo war dieser Brief? In der Schublade? Er brauchte eine gute Ausrede für den diesjährigen Sporttest, aber er hatte das Datum vergessen. Verflixt noch mal, wo ist die Einladung?
Ein Luftzug wirbelte die Zettel auf seinem Schreibtisch durcheinander. Johannes warf sich mit seiner vollen Größe von 1,96 Metern über sie, konnte aber nicht verhindern, dass einige der Papiere durch die Luft wirbelten. Von der Tür hörte er ein helles Lachen.
»Johannes! Was machst du da?«, rief seine Kollegin Natalie Janssen und lehnte sich an den Türrahmen.
»Mach die Tür wieder zu«, japste er. »Das Fenster ist doch auf.«
Natalie schloss die Tür und sah ihm grinsend zu, wie er von den Papierstapeln kroch. »Bei dem Chaos auf deinem Schreibtisch sollte man nicht meinen, dass du eigentlich ein ganz helles Kerlchen bist.«
Johannes quittierte das mit einem grimmigen Blick und durchwühlte weiter die Papiere.
Natalie fischte ein Schreiben vom Boden, welches ihr vor die Füße geweht war, und überflog es kurz. »Hast du das hier gesucht?« Sie hielt ihm den Brief unter die Nase. »Gibs zu, du willst dich wieder drücken.«
Johannes schnappte nach dem Zettel, aber seine Kollegin war viel zu flink für ihn. Schon saß sie auf seinem Schreibtischstuhl und las.
»Sehr geehrter Herr de Vries, wir erinnern Sie hiermit an den jährlichen Sporttest am … Hey!«
Johannes riss ihr den Brief aus der Hand, zerknüllte ihn und warf ihn in den Mülleimer. »Ich bin erst Mitte vierzig, ich brauch so einen Test nicht!«, schimpfte er. »Das hab ich gar nicht nötig.«
»Ja, sicher.« Natalie klopfte ihm mit einem Grinsen auf seinen runden Bauch. »Das ist alles nur Tarnung bei dir. Komm doch mal mit mir joggen, das wird dir sicher guttun.«
»Nix da. Ich geh jeden Abend eine Runde mit Happy laufen, das reicht. Und das werde ich jetzt auch tun. Feierabend.«
Das Telefon klingelte und Johannes angelte sich den Hörer. »De Vries.«
»Kramer, Weener. Wir brauchen euch hier. Eine Frau wurde in ihrem Haus überfallen.«
Johannes spannte die Muskeln an. »Raubüberfall?«, fragte er und hoffte auf ein Ja.
»Nein, leider nicht. Sie wurde vergewaltigt.«
»Scheiße. Schickt mir die Adresse aufs Smartphone, wir kommen.« Wut stieg in ihm auf, er knallte den Hörer auf.
»Hannes? Was ist passiert?«
»Wir müssen los. Vergewaltigung.«
Auf dem Weg nach Weener fokussierte Johannes die Straße. Er hatte keinen Blick für die Weite der Landschaft, die an ihm vorüberzog. Übergriffe auf Frauen gehörten zu den Fällen, die ihm zu schaffen machten. Wenn sich gestandene Männer die Köpfe einschlugen – sollten sie. Doch wenn sie sich an Frauen vergingen, erfasste ihn regelmäßig eine unbändige Wut gepaart mit Hilflosigkeit. Wie sollte er sich den Opfern gegenüber verhalten?
Er schielte zu Natalie, war froh, dass sie an seiner Seite war. Als Frau, die einen besseren Zugang zu den Opfern hatte – und als Freundin. Er konnte sich noch gut an den ersten Tag erinnern, an dem sie während ihrer Ausbildung in sein Büro gestürmt war, voller Tatendrang und Optimismus. Von Anfang an hatte zwischen ihnen die Chemie gestimmt. Nach kurzen Ausflügen in andere Abteilungen hatte man sie endgültig seinem Team zugeordnet – dafür hatte er gesorgt. Natalie hatte einen scharfen Verstand, aber auch ein ebenso großes Herz. Sie waren über die Arbeit hinaus gute Freunde geworden, verstanden sich blind. Und irgendwie war sie für ihn wie eine kleine Schwester.
Sie war jetzt fünfunddreißig, sah aber jünger aus, war schlank, durchtrainiert und hatte die schulterlangen braunen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden. Viele waren überrascht, dass sie Oberkommissarin war. Viele Täter hatten sie schon unterschätzt.
Ihr Ziel lag in einer alten Siedlung in Weener. Es war ruhig hier; die Häuser und Vorgärten gepflegt. Eigentlich kein Ort, an dem man so ein Verbrechen erwarten würde. Eher einer, an dem man sich sicher und geborgen fühlte. Vor einem der roten Backsteinhäuser stand ein Rettungswagen; ein Streifenwagen parkte auf dem Gehweg. Blaulicht reflektierte in den Fensterscheiben, während sich im Haus gegenüber eine Gardine bewegte. Johannes nickte dem Kollegen vom Streifendienst zu und folgte Natalie, die schon im Haus verschwunden war. Er nahm einen verbrannten Geruch wahr. Aus einem Zimmer links von ihm kam Stimmengewirr und er sah hinein. Der kleine, in Rosa und Weiß gestrichene Raum war mit zwei Sanitätern, der Notärztin und seiner Kollegin gedrängt voll.
»Natalie?« Er winkte sie zu sich.
Sie trat zu ihm, gab den Blick frei auf Manuela Maurer. Sie saß auf dem kleinen Sessel neben dem Kinderbett, die Augen weit aufgerissen, und ließ teilnahmslos die ersten Untersuchungen über sich ergehen.
»Sie redet kein Wort«, erklärte Natalie ihm leise. »Sie ist völlig traumatisiert. Wenn ich den Kerl erwische …«
Johannes legte ihr die Hand auf den Arm. »Noch wissen wir nicht, was überhaupt passiert ist. Warum riecht das hier so verbrannt?«
»Der Braten …« Eine männliche Stimme ließ Johannes herumfahren. »Sie wollte mein Lieblingsessen kochen.«
Ein Mann stand mit einem Baby auf dem Arm in der Tür zum Wohnzimmer. Es wimmerte leise, als würde es ahnen, was seiner Mutter angetan wurde.
»Herr Maurer? Hauptkommissar de Vries. Das ist meine Kollegin Janssen. Können Sie uns sagen, was hier passiert ist?«
Der Mann schüttelte den Kopf. »Wir haben heute Hochzeitstag. Und als ich von der Wonderland Werft gekommen bin … In der Ecke … Ich habe Manu in der Ecke vom Kinderzimmer gefunden. Emma hat geweint. Wenn ich nur eher …« Er brach ab und schloss kurz die Augen. »Wenn ich nur eher nach Hause gekommen wäre, dann hätte ich das vielleicht verhindern können!«
»Herr Maurer, machen Sie sich keine Vorwürfe«, sagte Natalie. »Ist Ihnen hier etwas aufgefallen, was anders war? Oder draußen vielleicht?«
»Die Küche ist total verwüstet.« Maurer deutete auf die Tür, die rechts vom Flur abging. »Sonst ist alles wie immer.«
Johannes öffnete die Tür und warf einen Blick hinein. Auf dem Boden lagen Scherben, geschnittene Kartoffeln und Gemüse wild durcheinander. Der Brandgeruch war hier stärker. Er zeigte auf die geöffnete Terrassentür. »Stand die auf, als sie gekommen sind?«
Bevor Maurer antworten konnte, traten die Sanitäter mit einer Trage herein und stellten sie im Flur ab.
»Was ist mit meiner Frau?«, fragte Maurer mit zitternder Stimme.
Die Notärztin kam aus dem Kinderzimmer. »Ihre Frau hat einen schweren Schock erlitten. Zudem weist ihr Körper zahlreiche Hämatome und Verletzungen auf. Wir nehmen sie zur weiteren Behandlung mit ins Krankenhaus.«
»Wurde sie …«
»Es deutet leider vieles darauf hin.«
Maurer wurde endgültig blass und lehnte sich an die Wand. Natalie kniff die Lippen zusammen. Einer der Sanitäter und die Notärztin stützten Manuela Maurer, während sie diese zu der Trage im Flur führten. Ihr Blick war leer, wanderte ziellos umher, traf schließlich auf Johannes. Augenblicklich versteifte sie sich. Ihr ganzer Körper zitterte, sie schrie auf, laut und schrill. Johannes fuhr eine Gänsehaut über den Rücken.
»Frau Maurer?« Die Notärztin beobachtete ihre Patientin mit gerunzelter Stirn. »Frau Maurer, sehen Sie mich an!«
Die sah weiter mit starrem Blick auf Johannes. Maurer drückte Natalie die kleine Emma in die Arme und kletterte über die Trage zu seiner Frau. Vorsichtig nahm er ihren Kopf in seine Hände.
»Manu? Manu, sieh mich an! Es ist alles gut, keiner tut dir hier was. Hörst du? Manu, ich bin hier und deine Emma …«
Sie drehte den Kopf zu ihm – langsam schien er zu ihr durchzudringen. Ihre Muskeln erschlafften, und ein Sanitäter fing sie auf, bevor sie zu Boden fiel.
»Auf die Trage und dann sofort in die Klinik!«, ordnete die Notärztin an. Gemeinsam hoben sie Manuela Maurer auf die Liege und die Sanitäter schoben sie in Richtung Rettungswagen.
Ihr Mann folgte ihnen. »Ich fahre mit ins Krankenhaus!«
»Okay, aber dann bitte vorn.« Die Notärztin hastete zum Rettungswagen.
Mit großen Augen stand Natalie mit dem Baby auf dem Arm im Hausflur und sah Johannes an. »Aber was ist mit Emma? Der kann doch nicht … Oder doch?« Eilig lief sie hinaus. »Herr Maurer! Was ist mit Emma?«
»Meine Mutter! Sie kommt gleich.« Er schlug die Beifahrertür zu.
»Aber …« Sprachlos sah sie dem Rettungswagen hinterher, der mit Blaulicht und Martinshorn um die nächste Ecke verschwand. Johannes trat neben sie. »Der kann doch nicht einfach sein Kind bei mir lassen!«, rief Natalie.
»Siehst du doch. Der war ja komplett von der Rolle. Lass uns reingehen. Wir müssen herausfinden, was hier passiert ist.« Johannes wandte sich an den Kollegen des Streifendienstes. »Kannst du die Spusi informieren? Die müssen sich die Küche ansehen und nach Einbruchsspuren suchen.«
»Die sind schon unterwegs.«
Johannes ging mit Natalie zurück in das Kinderzimmer. Dort legte sie Emma in ihr Bett, aber das Mädchen versteifte sich, weinte.
Natalie nahm sie wieder hoch. »Ist ja gut, Maus. So viel durcheinander hier, nicht wahr? Kannst du uns nicht sagen, was deiner Mama passiert ist?«
»Ein Glück, dass der Kleinen nichts geschehen ist.« Johannes sah sich im Kinderzimmer um. »Hier hat Herr Maurer seine Frau gefunden?«
»Ja, dort zwischen Schrank und Wand hat sie völlig verstört gesessen. Aber ich denke, die eigentliche Tat ist in der Küche passiert, so wüst wie es da aussieht. Sie wird sich hinterher hier versteckt haben.«
Johannes ging vor in die Küche. An der Tischkante hing ein Streifen eines schwarzen Klebebandes mit grober Struktur.
Er deutete darauf. »So wie es aussieht, war sie gefesselt. Der oder die Täter könnten durch die offene Terrassentür hereingekommen sein. Oder sie hat ihn durch die Haustür reingelassen.«
»Raus aus meinem Tatort!«, rief eine Stimme hinter ihnen.
Johannes drehte sich um. In der Tür stand Kollege Klaus Weinreich in einem weißen Anzug. »Hallo, Klaus, gut, dass ihr da seid. Gibt ne Menge Arbeit für euch.«
»Hallo, Hannes. Hey, Natalie, hab ich was verpasst?« Klaus grinste.
»Witzig. Das ist Emma, wahrscheinlich unsere einzige Tatzeugin.«
»Oh, der arme Wurm.« Klaus strich Emma kurz über die Wange. »Und jetzt raus mit euch – wir wollen arbeiten.«
Nebenan im Wohnzimmer gab es ein großes Kuschelsofa, auf dem die ganze Familie Platz hatte, einen Fernsehsessel und eine Spieldecke für die kleine Emma. An der Längsseite stand ein Schrank mit Fernseher und zahlreichen Büchern.
»Was machen wir denn jetzt mit dir, kleine Maus?«, fragte Natalie und schaukelte das Baby auf ihrem Arm. »Glaubst du, der Maurer hat seine Mutter wirklich angerufen? So durcheinander, wie der war?«
»Keine Ahnung.« Johannes sah sich um. Auf einem Regal entdeckte er ein schnurloses Telefon und tippte darauf herum. »Da haben wir sie doch. Mama Carsten. Ich ruf sie an.«
Ein paar Mal klingelte es am anderen Ende der Leitung, bis sich eine Frau meldete.
»Frau Maurer? Bitte nicht erschrecken. De Vries hier, Kripo Leer.«
»Kripo?«
»Sagen Sie, haben Sie die Möglichkeit, zum Haus Ihres Sohnes zu kommen? Am besten gleich? Wir bräuchten eine Aufsichtsperson für Emma.«
»Ja, klar. Aber was ist denn los? Ist was mit Carsten?« Die Stimme der Frau überschlug sich fast.
»Das erkläre ich Ihnen, wenn Sie hier sind. Bis gleich.« Johannes legte auf. »Sie kommt sofort.«
Keine zehn Minuten später stürmte eine Frau mit schneeweißem Haar in das Haus. »Emma! Emma!«
Johannes trat ihr entgegen. »Frau Maurer? Hauptkommissar de Vries. Kommen Sie, Emma ist bei meiner Kollegin im Wohnzimmer.«
Die Frau rannte an ihm vorbei und nahm sie Natalie vorsichtig ab. »Was ist denn passiert?«, fragte sie. »Warum sind Sie hier?«
»Nehmen Sie doch Platz.« Natalie deutete auf das Sofa. »Frau Maurer, so wie es momentan aussieht, wurde Ihre Schwiegertochter überfallen. Sie und Ihr Sohn sind jetzt im Klinikum.«
»Oh, mein Gott, wie geht es ihr?«
»Sie steht unter Schock und wird jetzt untersucht«, berichtete Johannes.
»Aber was ist denn passiert?«, wiederholte die Frau ihre erste Frage. »Überfall? Hier gibt es doch nichts zu holen. Und die Manu, die ist doch immer so vorsichtig.«
Natalie setzte sich neben sie und legte ihr die Hand auf den Arm. »Es war wahrscheinlich kein Raubüberfall«, erklärte sie ihr mit leiser Stimme.
»Kein …« Frau Maurer traten die Tränen in die Augen. »Die arme Manu«, murmelte sie. »Wer hat das getan?«
»Das wissen wir noch nicht, Ihre Schwiegertochter war nicht ansprechbar.«
»Frau Maurer, können Sie Emma erst einmal mit zu sich nehmen?«, fragte Johannes. »Ihr Sohn ist sicherlich noch länger bei seiner Frau im Krankenhaus. Und unsere Spurensicherung ist auch noch eine Weile hier beschäftigt.«
»Ja, ja, sicher.«
Zurück nach Leer fuhr Johannes. Er sah Natalie an, wie sehr der Fall sie aufwühlte. Mit leerem Blick kaute sie auf ihrer Unterlippe, war ungewöhnlich still.
»Wer macht nur so was?«, fragte er. »Einer Frau so etwas anzutun, das ist grausam. Hast du gemerkt, wie apathisch sie war? Sie hat ja nicht einmal mehr gemerkt, dass der Braten total verkohlt und die ganze Wohnung voller Rauch war. Und dass ihre Tochter die ganze Zeit geweint hat!«
»Dreckskerle«, murmelte Natalie.
»Du sagst es.« Johannes krallte die Hände ums Lenkrad. »Wir fahren gleich im Klinikum vorbei und erkundigen uns nach ihr.«
Johannes kam ein Gedanke. »Hast du gemerkt, wie panisch sie auf meinen Anblick reagiert hat?«
»Du meinst, das hatte etwas mit dir zu tun? So unheimlich siehst du doch gar nicht aus.«
»Überleg mal – alle anderen Männer hatte sie schon gesehen und sie hat sich ohne weiteres von den Sanitätern anfassen lassen. Bei meinem Anblick ist sie sofort in Panik ausgebrochen.«
»Du meinst, der Täter könnte dir ähnlich sehen?«
»Zumindest von der Statur her. Die Jungs vom RTW waren kleiner.«
Sie blickte ihn von oben bis unten an. »Und schlanker«, ergänzte sie mit einem Blick auf seinen runden Bauch.
Natalie Janssen
Das Krankenhaus lag mitten in Leer – ein moderner Bau mit diversen Flügeln und verzweigten Fluren. Im Inneren empfing sie der typische Geruch nach Putzmitteln und Krankheit. Die Empfangshalle erstreckte sich über zwei Geschosse; Glaswände trennten die Cafeteria zur rechten Seite hin ab. Ihre Schritte halten auf dem gefliesten Boden.
Natalie wäre am liebsten auf dem Absatz umgedreht. Sie verabscheute Krankenhäuser, vermied jeden unnötigen Besuch. Seit sie damals … Sie straffte die Schultern, schob den aufkommenden Gedanken weg, unterdrückte das damit verbundene Gefühl der Machtlosigkeit. Es war vorbei. Sie war Polizistin – heute konnte sie etwas tun.
An der Information erkundigte sie sich nach dem Zimmer von Manuela Maurer und folgte den Wegweisern in den zweiten Stock.
An der genannten Zimmertür angekommen, hielt Natalie Johannes auf. »Warte, lass mich zuerst allein mit ihr reden. Wenn du wirklich Ähnlichkeit mit dem Täter hast, dann versetzt du sie nur unnötig wieder in Panik.«
»Na gut, ich guck mal, ob ich einen Arzt finde, der uns etwas über die Verletzungen sagen kann.« Johannes ging in Richtung Schwesternzimmer davon.
Natalie zögerte einen Moment, bevor sie klopfte und vorsichtig die Tür öffnete. Das Bett des kleinen Einzelzimmers war leer. Am Fenster stand ein Mann, mit dem Rücken zur Tür.
»Herr Maurer?«
Carsten Maurer zuckte zusammen und drehte sich um. »Ach, Sie sind das. Wo ist Emma? Es tut mir leid …«
»Schon gut«, sagte Natalie. »Mit Emma ist alles in Ordnung. Wir haben Ihre Mutter erreicht – die hat sie erst einmal mit nach Hause genommen. Wie geht es Ihrer Frau?«
Maurer rieb sich die Augen.
Hat er geweint?
»Sie wird immer noch untersucht. Die Ärztin sagte, das wäre wichtig wegen der Spuren?« Als Natalie nickte, fuhr er fort. »Manu redet nicht. Sie hat kein einziges Wort gesagt, seit ich sie gefunden habe. Es ist so schrecklich, sie so zu sehen! Wenn ich den Kerl erwische, der ihr das angetan hat …« Er hob die Arme, ließ sie aber wieder sinken und setzte sich auf das Bett. »Haben Sie schon einen Verdacht?«
»Nein, leider nicht. Und solange Ihre Frau nicht redet, wird es schwierig, eine Spur zu finden. Wir wissen ja momentan nicht einmal, ob es sich um einen oder mehrere Täter handelt.«
Maurer sprang auf. »Mehrere? O mein Gott! Und ich war nicht da. Wenn ich doch nur eher Feierabend gemacht hätte!« Er lief schwer atmend im Zimmer hin und her.
»Wir wissen es doch gar nicht. Machen Sie sich keine Vorwürfe, Herr Maurer.«
»Aber ich hätte sie beschützen müssen!« Er blieb stehen.
Natalie sah den Schmerz in seinen Augen. »Sie hätten es nicht verhindern können«, flüsterte sie. »Wahrscheinlich war Ihre Frau nur ein Zufallsopfer. Wir werden herausfinden, wer das getan hat. Das verspreche ich Ihnen.« Ihr war klar, dass sie Opfern keine solchen Versprechungen machen durfte. Doch sie hatte es damit nicht nur dem Ehemann versprochen, sondern auch sich selbst. Dieser Täter würde nicht ungeschoren davonkommen. Sie zog ihre Visitenkarte und einen Kugelschreiber aus der Tasche und schrieb ihre Telefonnummer auf die Rückseite. »Unter der Nummer bin ich jederzeit erreichbar, wenn Ihnen noch etwas einfällt oder Ihre Frau mit mir reden möchte.«
Doch Maurer blickte wieder abwesend aus dem Fenster und murmelte unverständliche Dinge vor sich hin. Natalie legte die Karte auf den Nachttisch neben dem Bett und ging hinaus. Nachdem sie die Tür hinter sich zugezogen hatte, lehnte sie sich dagegen und atmete tief ein.
»Hey, alles in Ordnung mit dir?«
Die tiefe Stimme von Johannes ließ sie zusammenzucken. »Klar, ich mag nur diese Krankenhausluft nicht. Hast du einen Arzt erreicht?«
»Ja. Frau Maurer wird noch untersucht. Sie ist definitiv vergewaltigt worden, soviel konnte er uns schon sagen.«
»Ihr Mann hat mir erzählt, dass sie kein Wort mit ihm oder sonst jemandem geredet hat. Wir müssen diesen Mistkerl finden, der ihr das angetan hat!« Vor Wut schlug Natalie mit der Faust gegen die Wand.
Johannes sah sie mit gerunzelter Stirn an. »Sag mal, ist alles okay bei dir?«
Natalie rieb sich die schmerzende Hand. »Ja, entschuldige. Solche Kerle machen mich einfach nur wütend.«
»Mich doch auch. Der Arzt gibt uns Bescheid, sobald er die Untersuchungsergebnisse hat und Frau Maurer vernehmungsfähig ist. Vor morgen wird das nichts. Lass uns Feierabend machen. Die Kollegen aus Weener befragen die Nachbarschaft. Die Jungs von der Spusi sind auch noch nicht fertig – die müssen sich morgen erst die Kleidung von Frau Maurer vornehmen. Wir können heute nichts mehr ausrichten.«
Natalie wollte ihm widersprechen, aber er hatte recht. Ohne den kleinsten Anhaltspunkt konnten sie nichts machen, so schwer es ihr auch fiel. Ihr Hals schnürte sich zu; die Luft wurde noch stickiger. Wortlos wandte sie sich ab und eilte die Flure entlang. Sie musste raus hier!
Sie erreichte die Halle und stürmte nach draußen. Dort blieb sie stehen, schloss die Augen und atmete durch.
»Du legst ja ein Tempo vor«, japste Johannes hinter ihr. »Komm, ich fahr dich nach Hause.«
»Lass mal, ich lauf lieber.« Natalie schüttelte den Kopf. »Es ist schöne Luft, da geh ich zu Fuß. Durchpusten lassen.«
Vitaly Link
Vitaly lief die Auffahrt hinauf, die untergehende Sonne blendete ihn. Der verlassene Hof war von der Landstraße kaum zu erkennen. Die Einfahrt lag versteckt. Ein von Gras überwucherter Weg führte hinauf. Verwilderte Sträucher schossen aus dem Boden; Unkraut breitete sich zwischen den Steinen aus. Die Fensterscheiben waren blind vor Dreck; das Scheunentor hing schief in den Angeln. Blätterrauschen erfüllte die Luft, während die Vögel ihr Abendlied sangen.
Doch die Idylle trog, wie Vitaly mit Bitterkeit feststellte. Babygeschrei und Gewimmer drangen aus einem alten Wohnwagen, der unter einer Eiche stand. Ein Fenster war zerbrochen und mit Klebestreifen und Folie gesichert.
Vitaly ballte die Hand zur Faust, atmete durch und trat ein. Im Inneren sah es nicht besser aus. Ein unangenehmer Geruch nach Zigarettenrauch und ranzigem Fett lag in der Luft; dreckiges Geschirr stand herum.
Vitaly setzte sich mit verschränkten Armen auf einen wackeligen Hocker. Ihm war übel. Das, was er gerade gesehen, was er getan hatte … Das war doch nicht er!
Seine Kollegen Hans und Juri saßen vor dem Laptop und sahen sich das Video an, das er gefilmt hatte. Filmen musste! Es war so widerlich, wie sich die beiden freuten. Sie geilten sich an dem Leid auf, das sie der Frau angetan hatten.
»Mann, wat geil. Die Alte hat sich echt gelohnt!« Hans hielt Juri die Hand hin und die beiden klatschten sich ab.
»Geschrei von Baby nervt«, maulte Juri. »Wir müssen machen noch mal.«
Hans grinste. »Na, auf jeden Fall. Der Trick hat super funktioniert. Du hättest Schauspieler werden sollen, Vitaly!«
Der Achtzehnjährige blickte sie mit verkniffenen Lippen an. Er würde nicht noch einmal dabei mitmachen. Definitiv nicht.
Er war der Jüngste der drei. Juri hatte ihn hierhergebracht, damit er für seine Familie zu Hause Geld verdienen konnte. Hans war der Boss. Er hatte ein kleines, reisendes Unternehmen. Momentan arbeiteten sie für die Firma Trockenbau-Bingum als Subunternehmen für Deckenbau. Sie sprangen überall da ein, wo Not am Mann war.
Vitaly mochte Hans nicht. Er war ein Angeber, der gerne seine Muskeln spielen ließ und provozierte. Mit 1,90 Metern war er ein wenig größer als er. Hans zog ständig über ihn her, weil er untersetzt und unsportlich war.
Mit achtundzwanzig war Hans jünger als Juri mit seinen fast vierzig. Trotzdem ließ der sich von ihm ständig unterbuttern und mitreißen. Hans hatte die Idee mit dem Überfall gehabt. Völlig euphorisch war er gewesen. Juri war direkt drauf angesprungen.
Wieso habe ich da nur mitgemacht? Um nicht als Verlierer vor den anderen dazustehen? Weil er keinen Ärger wollte oder einfach nur feige war?
»Als Nächstes suchen wir eine Frau für dich aus, Vitaly!«, rief Hans. Mit einem anzüglichen Lächeln auf dem Gesicht klopfte er ihm auf die Schulter.
»Nein, ich mach nicht mehr mit.«
»Ach, nee, bist du doch so ein Weichei, wie ich gedacht habe?« Hans schnaubte. »Glaubst du im Ernst, dich lässt ne Frau freiwillig ran?« Er lachte; Juri stimmte mit ein.
»Du brauchen Frau, Vitaly. Wirst sehen, machen Spaß!«
Vitaly schüttelte den Kopf. Das, was er heute gesehen hatte, hatte ihm gereicht. Das wollte er nicht noch einmal.
Hans holte ohne Vorwarnung aus und schlug ihm mit der Faust ins Gesicht, sodass Vitaly rücklings von dem Hocker fiel. »Bei mir steigt keiner aus, hast du verstanden? Du wirst schön weiter mitmachen, sonst bist du schneller wieder zu Hause, als du gucken kannst!« Er wandte sich an Juri. »Los, lass den Film noch mal ohne Ton laufen.«
Mit der Hand an der schmerzenden Wange rappelte Vitaly sich auf und kroch in sein Bett. Zuhause. Seine Mutter. Sie und seine kleinen Geschwister waren auf das Geld angewiesen, das er ihnen schickte. Er hatte keine Wahl.
Kapitel 2 - Samstag
Johannes de Vries
Auf der Fahrt von seinem Wohnort Möhlenwarf zur Polizeiinspektion nach Leer hing Johannes seinen Gedanken nach. Es war Samstagmorgen und auf den Straßen kaum Verkehr. Kühe standen träge auf den Weiden; die Rotoren der Windkraftanlagen drehten sich nur langsam. Er wäre lieber im Bett geblieben, aber falls die Kollegen von der Spurensicherung etwas im Haus oder an der Kleidung von Manuela Maurer gefunden hatten, mussten sie schnell handeln. Als er die Jann-Berghaus-Brücke erreichte, schlossen sich gerade die Schranken. Die Klappen der Brücke erhoben sich gen Himmel. Neben dem Emstunnel im Zuge der A31 war die Brücke die einzige feste Überquerung vom Rheiderland in den restlichen Landkreis Leer.
»Mist!« Johannes stellte den Motor ab und stieg aus. Er ging zum Brückengeländer und blickte auf die Ems, um nach der Ursache für die unfreiwillige Pause Ausschau zu halten. Es war Hochwasser – die Wellen liefen sachte gegen die Ufer. In der Ferne sah er eine Segeljacht aus der Leda kommen. Mit ihrem hohen Mast passte sie nicht unter der Brücke durch.
»Na, toll! Für euren Wochenendausflug müssen wir jetzt warten.«
Erschrocken über seinen Ausbruch sah er sich um, aber niemand sonst war auf der Brücke. Was ist denn los mit mir? Johannes wunderte sich selbst, warum er schlechte Laune hatte. Wahrscheinlich lag ihm der Fall im Magen. Die Jacht erreichte die Brücke und er stieg wieder ins Auto. Gleich darauf senkten sich die zwei Brückenklappen und er hatte freie Fahrt.
Als er das Büro in der Polizeiinspektion betrat, saß Natalie bereits an ihrem Schreibtisch. Im Gegensatz zu seinem hatte dort alles seinen Platz und die Akten waren ordentlich in einzelnen Fächern sortiert. Seine Kollegin hatte einen Becher mit Tee in der Hand und starrte aus dem Fenster. Sie sah blass und müde aus.
»Guten Morgen«, begrüßte er sie. »Geht es dir nicht gut?« Er ließ sich auf seinen Stuhl fallen und stellte den PC an.
»Was? Ach, guten Morgen. Ich hab nicht wirklich geschlafen.« Natalie griff nach einem Schnellhefter und warf ihn zu Johannes herüber. »Der Bericht von der Spusi. In dem Haus gibt es keinerlei Einbruchspuren. Manuela Maurer muss dem oder den Tätern die Tür geöffnet haben. Kleidung dauert noch. Es gibt Fingerabdrücke am Klebeband, aber leider keine Übereinstimmung im System.«
Johannes nahm den Ordner und überflog den Text. »Schade. Ist das Opfer denn mittlerweile vernehmungsfähig?«
Natalie schüttelte den Kopf. »Leider nicht. Ich habe bereits mit dem Klinikum telefoniert. Frau Maurer schweigt weiterhin. Sie mussten sie mit starken Medikamenten ruhigstellen, weil sie letzte Nacht wohl eine schwere Panikattacke bekommen hat. Sag mal, wie krank muss man als Kerl eigentlich sein, um einer Frau so etwas anzutun?« Sie stellte den Becher heftig ab, sodass der Tee überschwappte.
»Ziemlich, würde ich sagen. So wirklich weiter kommen wir jetzt nicht.« Johannes stützte den Kopf auf die Hand und sah auf den PC. »Wir brauchen ihre Aussage.«
Natalie stand auf und nahm ihre Sweatjacke von der Stuhllehne. »Ich geh ins Klinikum zu Frau Maurer, auch wenn sie nicht redet. Aber dann kann ich wenigstens dem Arzt Feuer unterm Hintern machen, dass wir seinen Bericht brauchen – der fehlt nämlich noch.«
»Mach du das. Ich guck mal, ob wir in der letzten Zeit vergleichbare Fälle von Vergewaltigungen hatten.«
Nachdem Natalie gegangen war, durchforstete Johannes den Polizeicomputer nach Vergewaltigungen im Kreis Leer. Außer einem Bericht wegen häuslicher Gewalt fand er nichts. Er erweiterte den Radius auf Emden, Aurich und auf den Papenburger Raum, aber auch hier spuckte der Computer keine Ergebnisse aus. Mit gerunzelter Stirn blickte Johannes auf den Bildschirm. Ihre Suchanfrage ergab keine Treffer. Ohne eine Aussage von Frau Maurer und eine Täterbeschreibung konnte er nichts machen. Er griff zum Telefon und wählte die Nummer der Wache in Weener.
»Moin, Kollegen! Hat die Befragung der Nachbarn von Maurers was ergeben?«
Die Auskunft war leider nicht so, wie er erhofft hatte. Keiner hatte etwas gesehen, sie tappten nach wie vor im Dunkeln.
Natalie Janssen
Natalie blickte auf den großen, eckigen Neubau des Klinikums. Dieser moderne Bau hatte nichts mehr mit dem alten Klinkergebäude zu tun, in dem sie ihre schlimmsten Stunden verbracht hatte. Der ehemalige Eingang war auf der anderen Seite gewesen, direkt am Friedhof. Mit dem kleinen Teich mit Goldfischen unter der Treppe. Damals …
Sie schob den Gedanken beiseite. Der großzügige Eingang des Klinikums lag jetzt an der Augustenstraße. Das Zimmer von Frau Maurer befand sich in einem Seitenflügel des Neubaus. Nichts davon hatte mit dem alten Gefühl zu tun. Dennoch ließ sich das Unbehagen nicht ganz verscheuchen. Gestern mit Johannes an ihrer Seite war es einfacher gewesen. Der Anblick der verstörten Frau Maurer hatte sie so aufgewühlt, dass sie gar nicht weiter nachdenken konnte. Sie hatte funktioniert. Doch heute?
»Frau Janssen, du bist eine gestandene Oberkommissarin«, murmelte sie. »Was soll da drin schon passieren? Es ist alles nur dienstlich.«
Der Geruch von Kaffee und Desinfektionsmitteln im Eingangsbereich kribbelte in ihrer Nase. Etwas legte sich um ihren Hals und drückte ihr die Luft ab. Angst. Schuld. Natalie schluckte trocken und ging eilig weiter.
Einmal war sie bei der Vielzahl der Möglichkeiten falsch abgebogen, bevor sie das Zimmer von Frau Maurer wiedergefunden hatte. Sie klopfte an und öffnete die Tür. Die Frau lag auf dem Rücken im Bett und blickte nach oben an die Decke, reagierte nicht, als Natalie in das Zimmer trat. Carsten Maurer saß auf dem Stuhl neben ihr; sein Kopf war auf die Brust gesackt. Natalie räusperte sich und er schreckte hoch.
»Oh, Entschuldigung! Ich muss eingeschlafen sein.« Er stand auf und reichte ihr die Hand. »Kommen Sie, gehen wir vor die Tür«, sagte er und drängte sie nach draußen.
»Herr Maurer, wie geht es Ihrer Frau?«, fragte Natalie.
»Nicht gut. Sie liegt die ganze Zeit nur da und starrt an die Decke, sagt kein Wort.« Er rieb sich die Augen. »Nicht einmal auf Emma hat sie reagiert. Meine Mutter war gestern Abend kurz mit ihr hier.«
»Das tut mir leid.«
»Haben Sie schon eine Spur zum Täter?«
»Nein. An Ihrem Haus gibt es keine Einbruchspuren. Ihre Frau muss den oder die Täter reingelassen haben.«
Maurer kniff die Augen zusammen. »Wollen Sie damit sagen, dass meine Frau selbst schuld ist, dass man sie so zugerichtet hat?«
Natalie hob abwehrend die Hände. »Natürlich nicht! Ich wollte nur sagen, dass der Täter eventuell geklingelt haben könnte.«
Er fasste sie hart am Arm. »Finden Sie das Schwein, bevor ich es tue!«
»Herr Maurer!« Natalie riss sich los.
»Frau Janssen, es … tut mir leid. I-ich weiß gar nicht, was in mich gefahren ist.« Maurer wich zurück; Tränen schossen ihm in die Augen. »Ich fühle mich so hilflos. Finden Sie den Täter, bitte!«
»Wir werden alles tun, was in unserer Macht steht. Rufen Sie mich an, wenn es Ihrer Frau besser geht.«
»Ja, ja, mach ich.« Maurer zeigte auf die Tür hinter sich.
»Gehen Sie ruhig. Ich habe für den Moment keine weiteren Fragen.«
Natalie sah ihm zu, wie er eilig im Krankenzimmer seiner Frau verschwand. Sie rieb sich den Arm. Sein Ausbruch überraschte sie, wirkte er doch auf den ersten Blick eher ruhig und in sich gekehrt. Ob er seine Drohung ernst meinte?
Am Schwesternzimmer klopfte sie an die offene Tür. Eine Frau mit kurzen braunen Haaren drehte sich zu ihr um.
»Ja?«
»Janssen, Kripo Leer.« Natalie zeigte ihr ihren Dienstausweis. »Es geht um Frau Maurer. Ich hätte gerne mit dem zuständigen Arzt gesprochen.«
»Frau Maurer, ja, das ist schrecklich. Dr. Saathoff hat sie gestern untersucht. Aber er ist heute nicht im Hause. Wochenende.«
»Und was ist mit dem Untersuchungsbericht? Wir brauchen ihn für unsere Ermittlungen. Könnten Sie bitte danach gucken, Schwester?«
»Schwester Margret. Moment bitte.« Sie stand auf, suchte eine Akte aus einem Metallkasten und blätterte sie durch. »Es tut mir leid, den hat er wohl noch nicht fertig.«
»Sie wollen mir sagen, Dr. Saathoff ist nach der Behandlung von Frau Maurer einfach so ins Wochenende gegangen?« Ich fass es nicht!
Schwester Margret zuckte mit den Schultern.
»Könnten Sie ihn bitte anrufen? Ich muss mit ihm reden.«
»Ich weiß nicht. Wir haben die Anweisung, nur im Notfall …«
Natalie unterbrach sie. »Das ist ein Notfall. Da draußen rennt ein Kerl rum, der Frau Maurer so zugerichtet hat. Wer weiß, ob er es nicht noch einmal tut. Wir brauchen die Ergebnisse – jetzt!«
Wortlos nahm die Krankenschwester das Telefon und wählte. Schließlich reichte sie es schweigend an Natalie weiter.
»Dr. Saathoff? Janssen, Kripo Leer. Es geht um Frau Maurer.«
»Was ist mit ihr?«, fragte ein Mann.
»Wir brauchen Ihren Bericht«, erklärte Natalie knapp.
»Der muss in der Akte sein.« Die Stimme des Arztes klang rauchig.
»Schwester Margret hat nachgesehen und keinen gefunden.«
Am anderen Ende der Leitung herrschte kurzes Schweigen. »Ich hatte den Bericht gestern noch diktiert. Vielleicht gab es da ein Versehen und meine Sekretärin hat ihn in mein Fach gelegt, statt ihn an Sie weiterzuleiten.«
Natalie hielt eine Hand vor den Hörer. »Der Doktor meint, der Bericht könnte in seinem Fach liegen.«
Die Krankenschwester blätterte durch einen Stapel Papiere und nickte.
»Dr. Saathoff, wir haben den Bericht gefunden. Entschuldigen Sie die Störung.«
»Kein Problem. Haben Sie etwas zu schreiben? Dann gebe ich Ihnen meine Mobilnummer. Wenn Sie noch Fragen haben, rufen Sie mich gerne an.«
Natalie war positiv überrascht. Sie holte einen kleinen Block aus der hinteren Hosentasche und fischte einen Kugelschreiber vom Tisch der Stationsschwester. »Schießen Sie los.« Sie notierte die Nummer, die er ihr gab, bedankte sich und legte auf.
»Ich kopiere Ihnen den Bericht sofort«, meinte Schwester Margret und trat an den Kopierer.
»Danke. Geben Sie uns Bescheid, wenn sich der Zustand von Frau Maurer ändert?«
»Sicher.« Die Schwester reichte ihr die Kopien.
Natalie überflog den Befund über die Verletzungen von Manuela Maurer. Ihr wurde schlecht. Der Druck um den Hals verstärkte sich; ihr Nacken verkrampfte. Hastig faltete sie die Papiere zusammen, stopfte sie in die Jackentasche. Sie musste dringend an die frische Luft.
Hämatome … Fesselspuren … massives Eindringen …
Die Worte des Berichtes hallten in ihrem Kopf wider, während sie durch die Gänge eilte.
Vor dem Klinikum holte sie tief Luft und ging zu ihrem Fahrrad, das sie neben dem Eingang an die Wand gelehnt hatte. Ohne groß nachzudenken, setzte sie sich aufs Rad und fuhr los. Sie ließ die Innenstadt hinter sich, durchquerte die Altstadt und hatte bald die Jann-Berghaus-Brücke erreicht. Sie fuhr bis zur Mitte, stieg ab und lehnte sich mit den Armen aufs Brückengeländer. Die Autogeräusche blendete sie aus, ebenso wie die Zeilen, die sie gerade gelesen hatte. Sie ließ den Blick von der Mündung der Leda über das trübe Wasser der Ems bis zum Deich schweifen. Direkt an der Brücke gab es einen Rastplatz. Ein überdimensioniertes Rad aus Metall thronte über den Sitzbänken. Natalie schob ihr Rad dorthin und setzte sich auf den Tisch. Sie musste den ganzen Bericht lesen – daran führte kein Weg vorbei.
Verletzungen an den Augen, Hämatome am gesamten Körper, Verletzungen im Intimbereich … Mit jedem Wort wuchs ihre Wut. Manuela Maurer war auf brutalste Weise vergewaltigt worden.
Natalie ließ den Befund sinken und griff zum Telefon.
»Hey, konntest du mit Frau Maurer reden?«
»Hannes, bist du noch im Büro?«
»Nein, ich bin gerade zu Hause. Happy musste raus. Was ist denn? Soll ich zurückkommen?«
»Nein, ich komme bei dir vorbei.«
Natalie Janssen
Natalie ließ die Landschaft an sich vorbeiziehen, konzentrierte sich auf ihre Atmung und steigerte das Tempo. Sie musste die Wut loswerden. Das erneut auftauchende Gefühl der Hilflosigkeit, das sie mit Wucht ergriffen hatte. Immer wieder blitzten Bilder vor ihren Augen auf, brachten sie aus dem Tritt; warfen sie in der Zeit zurück.
Durchgeschwitzt erreichte sie nach einer guten halben Stunde Möhlenwarf. Als sie in die Sackgasse bog, in der Johannes wohnte, wurde sie langsamer und rollte auf die Auffahrt.
Hundegebell ertönte und gleich darauf schoss ein Beagle-Mix um die Ecke.
»Happy! Hallo, meine Süße!« Natalie stellte ihr Rad ab und knuddelte den Hund. »Wo ist denn dein Herrchen?« Sie folgte der Hündin in den Garten.
Johannes lag in einem Liegestuhl auf der Terrasse. »Moin«, sagte sie und ließ sich auf den freien Stuhl neben ihm fallen.
Johannes schob seine Sonnenbrille hoch. »War Stau oder warum brauchst du so lange?«
»Bin mit dem Rad.« Natalie kramte den Befund aus der Tasche. »Musste mich abreagieren.«
»Okay?« Er griff nach den Kopien und überflog den Text. »Der Kerl war nicht zimperlich.«
»Und dennoch vorsichtig. Die im Krankenhaus konnten keine Spermaspuren sichern. Wahrscheinlich hat er ein Kondom genutzt, was darauf schließen lässt, dass er sich vorbereitet hat. Hoffen wir mal, dass die Spusi etwas an der Kleidung findet.« Natalie zog ihre Jacke aus und rieb über eine Stelle am Unterarm, an der sich ein blauer Fleck bildete.
»Was ist mit deinem Arm?«, fragte Johannes.
»Ach, da hat Herr Maurer vorhin etwas fest zugepackt«, erklärte Natalie.
»Er hat dich angegriffen?« Johannes sprang auf.
»Hannes, beruhige dich. Es war nichts.« Natalie winkte ab. »Ich habe ihm von der Möglichkeit erzählt, dass seine Frau den Täter selbst reingelassen hat. Da hat er kurz die Beherrschung verloren und meinen Arm gegriffen. Johannes, der Mann ist völlig am Ende mit den Nerven.«
»Kann ja sein. Aber deshalb darf er dich noch lange nicht so anfassen.«
»Er hat sich gleich darauf bei mir entschuldigt. Der Maurer macht sich Vorwürfe, dass er den Überfall nicht verhindern konnte. Während er auf der Werft gearbeitet hat, haben die Täter seine Frau so zugerichtet. Er ist verzweifelt.«
»Okay. Konntest du denn mit Manuela Maurer sprechen?«
Natalie schüttelte den Kopf. »Sie redet kein Wort. Sie reagiert nicht einmal auf ihre Tochter.«
»Dann müssen wir leider warten, ob die Spurensicherung etwas findet. Vielleicht haben wir ja Glück und Frau Maurer hat den Täter gekratzt und die Kollegen können unter ihren Fingernägeln DNA sicherstellen.«
»Hoffentlich. Wir müssen die Schweine erwischen.« Natalie verschränkte die Arme im Nacken, blinzelte die aufsteigenden Tränen weg. Es ist nicht wie früher … »Hast du was Kaltes zu trinken für mich? Ich verdurste.«
Hans Schoon
Hans saß vor dem Wohnwagen und streichelte selbstverliebt sein braun gebranntes Sixpack. Schade, dass das Mäuschen gestern den nicht bewundern konnte. »Sieh es dir an, Juri. So muss ein Bauch aussehen.«
Juri saß neben ihm vor dem Wohnwagen. Die blasse Haut seines Oberkörpers reflektierte die Sonne – von Muskeln keine Spur. »Bei uns Frauen sagen, an Mann muss was sein dran!« Er fuhr sich über seine stoppeligen blonden Haare. »Ich habe Langeweile. Wollen wir eine Frau suchen? Für Vitaly?«
Hm, an sich keine schlechte Idee. Doch er schüttelte den Kopf. »Heute arbeitet doch keiner auf den Baustellen. Das würde auffallen, wenn wir da rumstreunen. Wir können Montag nach Bunde in das Neubaugebiet fahren.«
»Komm, lass uns schon mal da rumfahren!« Juri stand auf. »Wir nur sehen.«
Hans überlegte. Das gestern war ein spontaner, erster Versuch gewesen. Sie waren wieder die letzten Deppen gewesen, die an einem Freitag Überstunden machten, weil sie fertig werden mussten. Als er die Frau aus dem Dachgeschoss des Rohbaus gesehen hatte, wie sie in der Küche die Möhren wusch … Mit einem Mal war da diese große Lust gewesen. Er hatte sie haben wollen – und zwar sofort.
Juri und Vitaly hatte er leicht von seinem Plan überzeugt. Juri fraß ihm aus der Hand, machte alles, was er wollte. Und Vitaly, das Weichei! Bei ihm genügte ein böser Blick, und der Milchbubi knickte ein. Hans grinste. Das Ding gestern hatte sich definitiv gelohnt – und es schrie nach einer Wiederholung. Er stand auf.
»Gut, lass uns ein wenig die Häuser abchecken. Kann nicht schaden. Spart uns Zeit.«
»Was ist mit Vitaly?«
»Ach, den lass mal lieber hier. Reicht, wenn er Montag mit dabei ist.«
Hans warf sich ein T-Shirt über und stieg in den weißen Bulli, mit dem sie immer unterwegs waren. Juri erklomm den Beifahrersitz. Der Wagen war alt. An den Seiten waren noch Schemen der vorigen Aufschrift zu erahnen. Hans hatte sie mühsam abgekratzt und sein selbstentworfenes Logo auf die Seite aufgemalt: Einen Hammer gekreuzt von einer Axt in einem Kreis. Sogar Arbeitskleidung mit dem Zeichen auf dem Rücken hatte er für sich und die Jungs bestellt. Ordnung musste sein. Er war zufrieden mit seinem kleinen Unternehmen.
Mit einem lauten Knall startete der Bulli; eine Wolke aus schwarzem Rauch schoss aus dem Auspuff.
In Bunde fuhren sie eine Weile ziellos durch die Gegend, hielten Ausschau nach Rohbauten, die sie für ihr Vorhaben nutzen konnten. Der Trick hatte einmal funktioniert, warum nicht ein weiteres Mal. Sie kamen an einem großen, kahlen Bau vorbei und Hans stoppte.
»Was ist los?«, fragte Juri.
Hans deutete aus dem Bullifenster auf das kleine Haus links daneben. Vor dessen Tür hielt ein Mädchen von vielleicht fünfzehn Jahren mit ihrem Fahrrad, nahm eine Tasche mit Einkäufen aus dem Korb und schloss die Tür auf. »Die, mein Lieber, ist genau die Richtige für unseren Vitaly. Jung, sehr hübsch. Sie wird ihm gefallen.«
»Das stimmt. Woher willst du wissen, wann Mädchen allein?«
»Wir bleiben noch ein bisschen hier und beobachten. Der Rest wird sich Montag finden.« Hans zog sein Smartphone aus der Tasche und fotografierte das Haus. Schließlich griff er nach einer Schachtel Zigaretten und zündete sich eine an; Juri tat es ihm gleich.
Eine halbe Stunde passierte nichts. Schließlich öffnete sich die Haustür und ein älterer Mann kam heraus. Er mochte Mitte sechzig sein, war klein, schmächtig und stützte sich schwer auf eine Frau, die neben ihm ging. Sie war vielleicht vierzig, unauffällig gekleidet. Hinter den beiden tauchte das Mädchen auf.
Hans nahm sich sein Telefon und zoomte sie heran. »Wunderschön«, raunte er.
Das Mädchen verabschiedete sich von dem Mann und der Frau und ging wieder zurück ins Haus. Die beiden anderen stiegen in einen Kleinwagen, der vor dem Haus an der Straße geparkt war, und fuhren davon. Auch von dem Auto machte Hans ein Foto.
»Schade, dass wir Vitaly nicht mitgenommen haben. Das wäre die perfekte Gelegenheit.« Hans sah auf die Uhr. »Ich hab Hunger. Und neue Kondome brauchen wir auch.«
Kapitel 3 - Sonntag
Johannes de Vries
Johannes hatte kaum geschlafen; der Fall ließ ihm keine Ruhe. Eine junge Frau war in ihrem vermeintlich sicheren Zuhause überwältigt und missbraucht worden. Der oder die Täter hatten viel riskiert. Hatte er die Maurers vorher ausspioniert? Woher wusste er, dass Manuela zu diesem Zeitpunkt allein war? Oder wusste er es nicht und es gab ihm einen ganz besonderen Kick?
Ein Gedanke ließ Johannes einen kalten Schauder über den Rücken laufen. In Weener lebte auch seine Ex-Frau Katja. Hätte es auch sie treffen können?
Er angelte nach seinem Smartphone auf dem Nachttisch, rief ihre Nummer auf. Sein Daumen verharrte über der Wahltaste. Die Trennung war erst ein paar Monate her, er fühlte sich immer noch für sie verantwortlich. Er wollte sie beschützen. Als Paar hatten sie nicht funktioniert, als Freunde verstanden sie sich sehr gut. Sollte er sie wirklich unnötig in Aufruhr versetzen? Er entschied sich dagegen, wischte die Nummer weg und rief stattdessen bei seinem Kollegen Klaus Weinreich von der Spurensicherung an.
»Guten Morgen. Habt ihr was für mich?«
»Ich hätte gerne, hab ich aber nicht. Fingerabdrücke haben wir ein paar, aber zu wem die gehören, kann ich dir noch nicht sagen. Der oder die Täter sind auf jeden Fall nicht mit Gewalt ins Haus eingedrungen.«
»Das spricht dafür, dass sie die Männer selbst hereingelassen hat. Ob Frau Maurer sie oder ihn gekannt hat?«
»Das müsst ihr herausfinden. Unter ihren Fingernägeln gab es nur Spuren von Gemüse, keinerlei Hautreste der Täter. An der Kleidung sind wir noch dran. Ich will dir da nicht zu viel versprechen.«
»Mist. Danke dir, Klaus.« Johannes legte auf und drehte das Telefon in seinen Händen. Manuela Maurer musste komplett überrumpelt gewesen sein, wenn sie es nicht einmal geschafft hatte, den Täter zu kratzen. Es gab also keine DNA-Spuren, um diese Mistkerle zu überführen. Sie brauchten die Aussage von der Frau – ohne kamen sie keinen Schritt weiter.
Er wählte die Nummer vom Klinikum. »De Vries, Kripo Leer. Können Sie mir bitte sagen, ob Frau Maurer vernehmungsfähig ist?«
»Tut mir leid, sie spricht immer noch kein Wort. Die arme Frau ist völlig apathisch.«
»Danke.« Johannes warf das Telefon auf das Sofa und tätschelte Happy. »Was meinst du, wollen wir zwei Brötchen holen gehen?«
Happy sprang freudig an ihm hoch.
Manuela Maurer
Manuela starrte an die weiße Zimmerdecke. Das Licht der Neonröhre flackerte kaum merklich, sirrte leise. Sie konnte die Augen nicht schließen. Mit der Dunkelheit überrollte sie die Angst. Sie hatte immer noch das Gefühl des Klebestreifens in ihrem Gesicht. Sein Atem auf ihrer Haut. Die Schmerzen …
Carsten war endlich gegangen, passte auf Emma auf. Er konnte das. Er hätte sie nicht so leichtsinnig in Gefahr gebracht. Nicht wie sie, die so dumm und naiv gewesen war, die Bedrohung nicht zu erkennen.
Er sprach es nicht aus, aber bestimmt verachtete er sie für ihre Dummheit. Sie krallte die Hände in das Bettlaken. Sie war unfähig. Unfähig und beschmutzt. Benutzt. Dreckig. Sie schämte sich dafür.
Ihre Augen brannten, fielen ihr einen Moment lang zu.
Schön brav sein …
Sie riss die Augen wieder auf, schnappte nach Luft.
Warum ich?
Johannes de Vries
Johannes hatte die Untätigkeit nicht ausgehalten und war am späten Nachmittag doch nach Leer ins Büro gefahren. Eine Mail von Klaus war eingetroffen: Sie hatten auf dem Shirt von Manuela Speichel sichern können. Der DNA-Abgleich lief, würde aber frühestens am nächsten Tag Ergebnisse liefern.
Und nun?
Das Telefon klingelte. »De Vries?«
»Moin, Hanken aus Weener. Wir haben die Befragung von Maurers Nachbarschaft jetzt beendet. Ein Nachbar erinnert sich an einen Pizzaboten, der sich zur Tatzeit länger in der Nähe des Hauses rumgedrückt hat. Irgendwann war er verschwunden und nur sein Rad stand noch dort.«
»Kann er ihn näher beschreiben? Und wo genau hat er das Rad gesehen?«
»Neben dem Haus der Maurers verläuft ein Entwässerungsgraben. Dort stand es, als unser Zeuge weggefahren ist. Genau erkennen konnte er den Pizzaboten leider nicht, weil der eine Schirmmütze tief im Gesicht hatte. Vielleicht hat der noch was gesehen oder …«
»Er ist unser Mann. Wissen wir, bei welcher Pizzeria er arbeitet?«
»Der Nachbar hat uns das Symbol auf der Jacke beschrieben. Danach müsste das die Pizzeria Perfekto aus Weener sein.«
»Sehr gut. Danke!« Johannes legte auf. Endlich gab es eine Spur. Er wählte die Nummer von Natalie.
»Hey. Hast du was?«, fragte sie direkt.
»Lust auf Pizza? Bin in zehn Minuten bei dir.«
Johannes hatte Natalie abgeholt und steuerte jetzt in Weener die Pizzeria an. Direkt vor dem kleinen Laden hielt er an. Hinter der großen Schaufensterscheibe konnte er die Schemen von Personen erkennen. Er war angespannt, was ihn wunderte. Doch dann fiel ihm auf, dass Katja nur eine Straße weiter wohnte.
»Scheint geöffnet zu sein.« Natalie löste ihren Sicherheitsgurt und stieg aus.
Im Laden erwartete sie der köstliche Duft nach Pizza und Nudeln. Johannes’ Magen reagierte prompt mit einem Grummeln. Hinter der Theke hantierte ein Mann um die fünfzig mit Tomatensauce; ein Paar stand vor dem Tresen und unterhielt sich leise.
»Moin. Sind Sie hier der Chef?«
»Jo. Was darf’s denn sein.«
»Nur eine Auskunft. De Vries, Kripo Leer.« Johannes hielt dem Mann seinen Dienstausweis hin.
»Kripo. Wie komm ich denn zu der Ehre?«, fragte der Mann, während er die frisch belegte Pizza in den Ofen schob.
»Wir müssten einmal von Ihnen wissen, welcher Ihrer Fahrer am Freitag so gegen 17 Uhr unterwegs gewesen ist.«
»Hat der Vito wieder was angestellt?«
»Vito?«, fragte Natalie. »Ist er Ihr einziger Fahrer?«
»Jap. Der Junge verdient sich gelegentlich was dazu. Der ist sonst auf dem Bau. Hat gerade für sich selbst Pizza geholt. Wenn Sie Glück haben, erwischen Sie ihn noch.« Der Mann deutete zu einem Hinterzimmer.
Johannes nickte Natalie zu, die sich an dem Pizzabäcker vorbeidrängte und im Hinterzimmer verschwand. Johannes trat durch die Vordertür und sah sich um. Ein paar Meter weiter führte eine gepflasterte Auffahrt hinter das Haus. Er hatte gerade die Hausecke erreicht, als er Natalies Stimme hörte.
»Stehenbleiben! Polizei!«
Ein Motor heulte auf, gleich darauf fuhr ein Roller um die Ecke und auf Johannes zu. Er breitete die Arme aus, doch der Fahrer hielt weiter auf ihn zu.
»Stopp!«, rief er, sein Puls schoss in die Höhe.
Der Motor heulte auf. Johannes hechtete zur Seite, rollte sich im angrenzenden Blumenbeet ab.
Natalie rannte an ihm vorbei. »Stehenbleiben!«
Während Natalie hinter dem Roller her rannte, rappelte Johannes sich auf, sprang in den Wagen und gab Gas. Der Roller vor ihm schlingerte, fing sich aber wieder und bog in die nächste Straße ab. Fußgänger stoben gestikulierend zur Seite. Johannes bremste scharf ab, um keinen zu überfahren.
Natalie sprang auf den Beifahrersitz, angelte das Blaulicht aus dem Fußraum und knallte es aufs Dach. »Gib Gas! Ich will diesen Scheißkerl in die Finger kriegen.«
»Was war los?«, fragte Johannes.
»Sobald er das Wort Polizei gehört hat, ist er stiften gegangen. Er hat deine Statur. Das ist unser Mann, jede Wette.«
Mit Tempo achtzig ging es durch Weener. In den engen Straßen der Altstadt hatte Johannes einige Mühe, dem wendigen Roller zu folgen.
»Ist der lebensmüde?« Johannes wich einem Radfahrer aus, den der Rollerfahrer zur Seite gedrängt hatte.
»Scheint so. Der Roller ist auf jeden Fall frisiert.«
Mit steigendem Puls folgte Johannes dem Roller; mehrfach kam es fast zu Zusammenstößen mit Fußgängern und Pkw. Gib doch auf, Junge.
»Wo will der hin?« Johannes lenkte den Wagen in eine weitere Seitenstraße und trat abrupt in die Eisen. »Verdammt!« Vor ihnen verschwand der Verdächtige über eine kleine Fußgängerbrücke in Richtung Deich. »Gib eine Fahndung raus.«
»Schon dabei.« Natalie hatte das Telefon bereits am Ohr und instruierte die Kollegen.
Mit finsterer Miene legte Johannes den Rückwärtsgang ein und wendete. »Das muss der Täter sein. Warum sollte er sonst abhauen?«
»Den kriegen wir. Der Pizzabäcker wird uns gleich den vollständigen Namen und die Adresse von diesem Vito geben und dann holen wir ihn ab.« Natalie starrte mit finsterem Blick auf die Straße.
Johannes lenkte den Wagen zurück zur Pizzeria, fuhr dort direkt auf den Fußweg. Das Blaulicht spiegelte sich im Fenster der Pizzeria; Passanten blieben auf der Gegenseite der Straße stehen und tuschelten.
Der Pizzabäcker lehnte an der Theke und blickte Johannes und Natalie mit gerunzelter Stirn an. »Was war da gerade los? Was wollen Sie von Vito?«
»Darüber können wir Ihnen keine Auskunft geben. Wir bräuchten den vollständigen Namen und die Adresse von ihm«, sagte Natalie und holte ihren Block aus der Tasche.
»Tja, ähm, das kann ich Ihnen nicht sagen.«
»Wollen oder können Sie nicht?«, fragte Johannes.
»Können. Ja, gut, der Junge fährt ab und zu Pizza für mich aus. Dafür bekommt er von mir ein Taschengeld oder wie heute Pizza umsonst. Als ich nach seinem Namen gefragt habe, meinte er, Vito wäre cool italienisch, besser als sein echter. Hab nicht weiter nachgefragt. Ich weiß nur, dass er mit zwei Kollegen zusammenlebt. Aber wo?« Der Pizzabäcker hob die Hände.
»Na prima. Dann sperren Sie jetzt bitte den Laden zu und kommen mit aufs Kommissariat.« Natalie steckte den Block wieder ein.
»Muss das sein? Jetzt beginnt mein Hauptgeschäft!«
Johannes nickte. »Wir brauchen Ihre Hilfe bei der Erstellung eines Phantombildes. Wenn Sie ordentliche Papiere für ihn hätten, könnten wir uns das sparen. Also, Ofen aus und mitkommen.«
Vitaly Link
Vitaly lief der Schweiß über den Rücken, während er die Auffahrt entlangrannte. Er war zu spät – Hans würde ihm den Kopf abreißen. Wenn er Hunger hatte, war er noch unausstehlicher als sonst.
Er stolperte über den unebenen Boden, konnte den obersten Pizzakarton gerade noch festhalten. Verdammt, warum lief denn heute alles schief?
Aus dem Wohnwagen drang fahles Licht nach draußen, ebenso die Stimmen von Hans und Juri. Vitaly öffnete die Tür, sprang die zwei Stufen hinauf und legte die Pizzakartons auf den Tisch.
»Wurd ja auch Zeit!« Hans stieß ihm mit der Faust gegen die Schulter. »Noch mal so spät und es setzt einen, klar?«
Vitaly nickte, griff sich einen Pizzakarton und flüchtete aus dem Wohnwagen in die Scheune. Er konnte die Anwesenheit der beiden nur noch schwer ertragen. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken, als er an die Frau und das weinende Baby dachte. Sein Magen verknotete sich, er warf den Pizzakarton zur Seite, rannte vor das Tor und übergab sich.